Dreams, no. 10
Manfred Engel, Literatur-/Kulturgeschichte des Traumes. In: Dream Images in German,
Austrian and Swiss Literature and Culture. Ed. by Hanna Castein and Rüdiger Görner.
München: iudicium 2002 (Publications of the Institute of Germanic Studies 78), 13–31.
Manfred Engel
LITERATUR-/KuLTURGESCHICHTE
DES TRAUMES
1. STATT EINER EINLEITUNG
Einen Email-Anhang mit dem Titel ,I love you' hätte ich wohl nicht geöffnet;
der ganz einfach ,Dream' hieß, kOIU1te ich nicht widerstehen
bei diesem abel~
- auch weIU1 ieh sehr wohl sah, daß er die gefährliche Dateikennung .exe trug.
Die zugehörige Email war recht unspektakulär gewesen; der Textteil bestand
aus nichts anderem als den vier lapidaren Worten: ,Dem Traumforscher und
Literaturwissenschaftler', die Betreff-Zeile war leer (,None') und die Absenderangabe Gle1U1.Freedman@Traumland.de erwies sich, bei näherer N achprüfung, als offensichtlich falsch.
Mulmig war mir allerdings schon, als sich nach dem kühn-entschlossenen
Tastendruck mein Präsentationsprogramm ganz von selbst öffnete. Abgespielt wurde eine Bilderfolge mit Texteinlagen und Sprechblasen - also eine
Art Comie, aber gemalt mit ganz altmeisterlichem Realismus und großer
Liebe zum Detail. Als die Präsentation beendet war, muß sich die Datei selbst
gelöscht haben - jedenfalls war nirgendwo auf der Festplatte eine Spur von ihr
zu finden. Ich habe den dargestellten Traum also nur einmal gesehen - und
eriIU1ere mich doch so lebhaft an ilu1 wie an Altvertrautes. Zuerst erschien
(und blieb lange stehen) eine Titelseite, so wie wir sie von Stummfilmen her
kennen: Da war in altmodischen Lettern zu lesen: Glenn Freedmans Traum von
Gegenwart und Zukunft der Literaturwissenschaft. Und daIU1 begaIU1, gerade so
langsam, daß man sich den vielen Details gut widmen kOIU1te, und schnell
genug, um den Eindruck eines ablaufenden Geschehens zu vermitteln, die Bilderfolge. Um wenigstens einen ungefähren Eindruck von dem Gesehenen zu
geben, will ich im folgenden versuchen, sie im Erlebnisstil nachzuerzählen:
mit camera-eye point-of-view, im Präsens und in der ersten Person Plural -,
sozusagen als unser aller kollektiver Traum:
Wir stehen vor einem überaus bizarren Gebäude, auf dem mit großen
Buchstaben ,Traumtheater' geschrieben steht (ein erstes Beispiel für die etwas
aufdringlichen Allegorien, von denen der Traum voll ist - n1m, es ist eben
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Manfred Engel
höchstwahrscheinlich der Traum eines Literaturwissenschaftlers ... ). Wir verscheuchen, mit einiger Mime, einen Türsteher, der uns w1bedingt einen
500seitigen Traktat verkaufen will, barock betitelt als: Kompletter Traumschlüssel mit Auflösung aller Allegorien und Benennung von 334 Prä- und Subtexten,
nebst historisch-kritischem Apparat, Stellenkommentar und editorischem Vorwort.
Dann durchqueren wir das leere Theater, was im Traum ja glücklicherweise
im Nu geht, und springen auf die Bühne. Statt eines Vorhangs hängen dort
lmzählige Spruchbänder. Wir lesen im Durchschlängeln etwa ,Nosee te ipsum', oder, besonders abgeschmackt, ,Magisches Theater - nur für Literaturwissenschaftler'. Dann sind wir endlich durch lmd stehen mitten auf der
Szene.
Es ist eine weite Tiefebene, etwas versumpft, leicht geneigt. Ganz klar: Es
geht bergab, lange schon offensichtlich, denn soweit zurück man auch schaut,
immer die gleiche, leicht geneigte Landschaft. Auf der Ebene zieht oder lagert
ein ziemlich heruntergekommener Haufen. Wir wissen (wie man solche Dinge
im Traum eben einfach weiß): Es handelt sich um eine geschlagene Armee auf
dem Rückzug. Eigenwillig die Bewaffnw1g: Einige haben übergroße Füllfederhalter geschultert, andere tragen Computermäuse im baumelnden Halfter
und haben, wie eine Art Bauchladen, Tastaturen umgeschnallt. Da die Tornister löchrig sind, kann man gut erkennen, daß sie Bücher enthalten. Schwer
müssen sie wiegen, denn die Helden gehen weit nach vorne gebeugt, mit
krummen Rücken. Einer scheint sich Marscherleichtenmg verschaffen zu
wollen: ,Verdammter erweiterter Literaturbegriff' , ruft er aus, kramt eine
Reihe alter Scharteken aus dem Rucksack und wirft sie auf den Boden. Nur ein
paar Comic-Hefte sind leicht und offensichtlich geliebt genug, um aufbewahrt
zu werden. Diese hält er, wie ein geheimes Kem1zeichen, einem besonders wilden Haufen entgegen, der ihn auch prompt passieren läßt. Da hat er Glück
gehabt, dem1 die Leute sehen wirklich gefährlich aus: Mit rollenden Augen
und drohend gezückten Füllern rufen sie nach einem St. Kanonikus und erklären, diesen gnadenlos massakrieren zu wollen, denn er sei ein ruchloser Tyrann. Unseren ratlosen Blick sehend, flüstert W1S ein Beiseitestehender kopfschüttelnd zu, daß St. Kanonikus ein ,old white man' von feiner Lebensart und
strengen, aber gerechten Sitten gewesen sei - gewesen, denn er sei schon
lange, lange tot. Kaum hat er dies gesagt, durchbohrt ihn von hinten ein Füllfederhalter.
Wir wenden uns ab und sehen, daß die weggeworfenen Bücher einen
Liebhaber gefunden haben, der sie in die turmhohen Bücherstapel einordnet,
die er um sich aufgehäuft hat. ,Archive, ich baue Archive', ruft er lmd versinkt
dam1 wieder in seiner Lektüre. Nur von Zeit zu Zeit schaut er auf, zupft dann
Vorbeigehende am Rock und flüstert ilu1en mit wichtiger Miene zu, er wisse
nW1, wie alles eigentlich gewesen und gemeint gewesen sei. Das kam1 natürlich
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Literatur-/Kulturgeschichte des Traumes
niemand ernst nehmen. Und so gehen auch alle gelangweilt oder gar angewidert vorüber. Nur einer bleibt kurz stehen lmd macht ein Polaroidphoto. Mit
dickem Filzstift schreibt er darauf: ,Der letzte Intentionalist' und klebt es in
sein Wissenschaftsalbum.
Als wir wieder aufschauen, sehen wir, daß sich das Sumpfland jäh verwandelt hat. Jetzt ist es eine Ansammlung riesiger Ruinen. Nur sehr wenige
sind im Krieg zerstört lmd dann mehr oder weniger geschleift worden. Die
große Mehrheit dagegen - und gerade die, die von besonders gigantomanischer Anlage sind - zeigen keine Spuren von Beschädigungen. Sie wurden
schlicht und einfach nie fertiggestellt. Die meisten davon sind offensichtlich
gegen alle Regeln der Baukunst errichtet worden: Auf dünne Stahlskelette hat
man riesige Dachkonstruktionen gesetzt und liebevoll ausgebaut; die unteren
Stockwerke dagegen blieben unausgeführt - und um Fundamente hat man
sich gleich gar nicht gekümmert. In vielen Fällen ist schwer zu unterscheiden,
ob das Gebäude noch im Bau ist oder schon vor sich hin verfällt.
In all diesen Ruinen oder Baustellen sehen wir größere oder kleinere Gruppen von Menschen. In geschlossenen Kreisen aufgestellt, die Rücken nach außen gekehrt, sind sie nur miteinander beschäftigt. Unmöglich, sie alle zu beschreiben. Die einen scheinen ein Abzählspiel zu spielen, jedenfalls rufen sie
laut: ,E-ne-me-ne-mu - de-kon-stru-iert-bist-Du'. Bei einer anderen Gruppe
laufen immer wieder einige mit geschlossenen Augen in den Kreis und ordnen sich dort zu immer neuen Kleingruppen. Die draußen rezitieren feierlich:
,Wir beobachten euch', darauf öffnen die drim1en die Augen lmd respondieren, Wir beobachten euch beim Beobachten'. In einem etwas abseits liegenden
Haus findet sich eine Gruppe, die fast nur aus Frauen besteht (bei den anderen
Gruppen sind diese deutlich in der Minderheit). Sie scheinen mit einer Art
Doktorspiel zur ErgrÜ11dung des Geschlechtlichen beschäftigt; Genaueres
kann mein offensichtlich zu männlicher Blick nicht erkennen.
All diesen Gruppen ist gemeinsam, daß sie selbstvergessen spielen, mit
dem unendlichen Ernst und dem unendlichen Wichtigkeitsgefühl, wie nur
Kinder es haben köm1en. Und solange sie spielen, haben sie die Misere um
sich herum vergessen und scheinen glücklich zu sein.
Nur die Mitglieder einer Gruppe sind ebenso mürrisch wie die vielen Einzeh1en ringsum. Es handelt sich um einen großen Kreis graubärtiger Männer,
die Flasche und Pfeife kreisen lassen und, heftig durcheinanderredend, von
den großen Siegen erzählen, die sie in einem sagenhaften Jahr 68 erfochten
hätten. Seitdem sei es freilich nur bergab gegangen.
Plötzlich kommt Bewegung in die Szene. Mit regem Zulauf aus den unterschiedlichsten Gruppen formieren sich um mehrere strahlend-gekleidete Werbergestalten zwei Heerhaufen, die schöne neue Uniformen anlegen und fröhlich in eine neue Schlacht ziehen. Und während wir noch nach jemandem su15
Man/red Engel
chen, der uns Auskunft geben könnte, erscheinen die lmvenneidlichen
Spruchbänder: Das über dem rechten Haufen lautet ,Medienwissenschaft',
das über dem linken ,Kulturwissenschaft'. Und dam1 erscheint sogar noch,
ganz hoch im Himmel und getragen von den himmlischen Heerscharen
höchstselbst, ein Spruchband, das ,Medienkulturwissenschaft' lautet. Das ist
lms dann doch zuviel, lmd wir wachen auf.
Soweit der Traum, der wohl keiner Deutung bedarf. Allenfalls köm1te man
fragen, ob er wahr oder ein Trugbild ist. Das, wir wissen es, hängt davon ab,
ob er aus einer Pforte aus Horn oder einer Pforte aus Elfenbein kam. Soweit
ich mich aber erim1ern kam1, war es eine aus Papier - insofern wird jeder die
Frage für sich selbst beantworten müssen.
Ich gebe also auch nur meine ganz persönlichen Antworten, die immerhin den
Vorteil haben werden, nach soviel angewandter Traumpoesie nun endlich
zum Hauptteil des Aufsatzes überzuleiten.
(1) Die Lage der Literaturwissenschaft ist offensichtlich ernst. Allerdings
muß ich gestehen, daß ich die gebotene Beunruhigung allenfalls mit AnstrengUl1g aufbringen kann. Daß sich die Literaturwissenschaft in einer Krise befindet, habe ich zuerst 1972 bei meinem Studienbegim1 im Einführungskurs gehört. Damals hat es mich sehr erschreckt, inzwischen bin ich etwas abgestumpft. Das ist wohl so älu1lich wie mit Umweltkatastrophenmeldungen
oder mit der Web-Collapse-Clock, die seit Jahren auf 5 vor 12 steht: Man kam1
einfach nicht im Dauerzustand Alarmist sein.
(2) Die Zukunftslöslmg einer ,Medienwissenschaft' scheint mir wissenschaftspolitisch sehr plausibel. Allerdings glaube ich nicht daran, daß die Literaturwissenschaft sozusagen im Handstreich die Medienforschung als deren selbsternannte ,Leitwissenschaft' wird annektieren können. Eher handelt
es sich hier wohl um ein Umschulungsprogramm, mit dem man zwar Arbeitsplätze retten wird, nicht aber die Literaturwissenschaft. Für alle, die (wie ich)
an ihrer disziplinären Identität gerne festhalten würden, sähe die Zukunft
dam1 wohl so aus: Wir werden unsere Arbeitszimmer in Instituten für Medienwissenschaft haben, und an lmseren Türen wird stehen: ,Ältere Abteillmg'
oder ,Abteilung für ältere Medien'; vielleicht werden wir die Bereiche Keilschrifttafeln, Hinkelsteine, Pergamente und Papyri mit übernehmen müssen,
aber damit können wir sicher leben, zumal wir, endlich im Orchideenfach angekommen, sehr viel Zeit zum Forschen haben werden.
(3) Die Geschichte mit der ,Medienkulturwissenschaft' überzeugt mich dagegen wenig; das scheint mir allzu külu1er Bottomianismus zu sein, frei nach
des Weber Bottoms Ausruf: ,Let me play the lion too'. Da Literaturwissenschaftler heute aber eher als graue Mäuse gelten, wird dieser Anspruch kaum
auf große Akzeptanz stoßen.
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Literatur-/Kulturgeschichte des Traumes
Bleibt also (4) die Option: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft.I
Das halte ich in der Tat für die zukunfts trächtigste Löslmg - auch wenn (oder
vielleicht ja auch: gerade weil) eine präzise Konturierung dieses Projekts noch
aussteht. Kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft ist zunächst einmal von
ihrem thematischen Interesse her bestimmt. Sie betrachtet Literatur als Teil
der Gesamtkultur, also in ihrer Mitwirkung an Konstitution, Tradierung und
Veränderung von kulturellen Sim1- und Zeichenbildungen. Daher interessiert
sie sich besonders für anthropologische Grundthemen (wie etwa: Liebe, Tod,
Rausch, Wahnsinn, Traum, Körperlichkeit, Sozialkonventionen, Geschlechterrollen) und die zugehörigen Kulturtechniken sowie für interkulturelle Kontakte lmd Konflikte. Sie lmtersucht Wechselwirkungen zwischen der Literatur
und dem Wissenssystem, zwischen Literatur lmd anderen Medien (Intermedialität und Medienkonkurrenz) und den literatureigenen medialen Beitrag
zu kultureller Kommunikation, Zeichenbildung und Wahrnehmungsformung. Sie fragt aber auch nach dem Poetischen in der KUlt~
nach proto-poetischen Elementen im Wissenssystem, in den Medien, den sozialen Verkehrsformen, dem Alltagsleben.
Mit all dem ist über die spezifische Methode freilich noch nichts ausgesagt.
Die vorliegenden ausformulierten Theorieangebote - also etwa: Neohistorismus, Diskursanalyse, Cultural Studies - scheinen mir nur sehr partikulare Zugangsweisen zu bezeiclu1en, die keinen Monopolanspruch auf kulturwissenschaftliches Arbeiten erheben köm1en. Kulturwissenschaft ist wohl auch
kaum über die zahlreichen postmodernen Ideologeme zu definieren, die sich
ihr in der zeitgenössischen Diskussion so häufig anlagern - also die kurrenten
Absagen an Kategorien wie Einheit, Sim1, Subjekt, Intention, Referenz/Repräsentanz, Werk, Kanon. Natürlich kann man Kulturwissenschaft so - also postmodern - betreiben; mit dem Begriff der Kulturwissenschaft allein sind solche
Ideologeme aber nicht notwendigerweise impliziert.
Impliziert ist aber sicher mehr als positivistische Einflußanalyse, Realienkommentar oder traditionelle Kontextstudie. Von kulturwissenschaftlicher
Forschlmg würde ich nicht schon da sprechen wollen, wo zwischen einem literarischen Text oder Textelement und einem extra-literarischen Kulturelement ein punktueller, meist kausal gedachter Bezug hergestellt wird. Kulturwissenschaftlich sind solche Verknüpfungen nur, wem1 sie die Elemente nicht
direkt, sondern, wie bei den Schenkeln eines Dreiecks, über ein gemeinsames,
drittes, gesamtkulturell relevantes Element verbinden. Wie ein solcher, methodologisch relativ offener kulturwissenschaftlicher Zugang aussehen
1
Vgl. zu einer ausfiü1l"lichen Diskussion von Problemen und Positionen meinen Aufsatz:
Kulturwissenschaft/ en - Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft - kulturgeschichtliche Literahlrwissenschaft. In: KulturPoetilc 1 (2001), S. 8-36.
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Literatur-/Kulturgeschichte des Traumes
Manfred Engel
köm1te, der zudem ein dezidiert literaturwissenschaftlicher bliebe, will ich
nun am Beispiel einer Kultur- lmd Literaturgeschichte des Traumes zu skizzieren suchen. 2
2. EIN PSYCHOLOGE UND DIE TRÄUME DER DICHTER
Irgendwann im Jahr 1911 oder 1912 erhalten eine Reihe deutscher Dichter Post
von einem Wiener Psychologen. Der Absender ist Wilhelm Stekel (1868-1940),
einer der vielen mehr oder weniger wohlgeratenen geistigen Söhne Sigmund
Freuds, jedenfalls ein psychologicus minor. Die Adressaten sind, passenderweise, poetae minores - zumindest die 42, deren Namen wir kennen, weil sie
geantwortet haben. Ich nem1e nur die, die mir 0lu1e Nachschlagen bekam1t
waren: Paul Heyse, Roda Roda, Will1elm von Scholz, Walter von Molo, Hugo
Salus, Josef Popper-Lynkeus, Heiluich Vierordt, Ernst von Wolzogen, Peter
Rosegl~
Friedrich Huch.
Stekels Brief enthielt einen Fragebogen mit den folgenden sechs Fragen:
1. Haben Sie typische (sich wiederholende) Träume?
2. Können Sie mir eil1en Traum mitteilen, der Ihnen einen gros sen Eindruck gemacht hat?
3. Haben Sie Tagträume?
4. Haben Sie in ll1ren Träumen kriminellen Einschlag?
5. Sind Ihre Träume nüchtern oder phantastisch?
6. Verwerten Sie Ihre Träume zur dichterischen Produktion?3
2
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Dies ist ein Forschungsprojekt, das ich seit einiger Zeit verfolge und aus dem bisher die
folgenden Aufsatzpublikationen hervorgegangen sind: (1) Traumtheorie und literarische
Träume im 18. Jahrhundert. Eine Fallstudie zum Verhälh1is von Wissen und Literatur. In:
Scientia Poetica 2 (1998), S. 97-128; (2) ,Träumen lmd Nichtträumen zugleich'. Novalis'
Theorie und Poetik des Traums zwischen Aufklänmg lmd Hochromantik. In: Novalis und
die Wissenschaften. Hg. v. Herbert Uerlings. Tübingen 1997, S. 143-168; (3) The Theory of
the Dream in Romantic Antlu·opology. In: Romantic Dreams. Hg. v. Sheila Dickson u. Mark
Ward. Glasgow 1998; (4) Naturphilosophisches Wissen und romantische Literatur. Am
Beispiel von Traumtheorie und Traumdichhmg der Romantik. In: Wissen und Literatur im
19. Jahrhundert. Hg. v. Lutz Dam1eberg u. Friedrich Vollhardt (erscheint: Tübingen 2002);
(5) Frührealismus und romantisches Erbe. Mythos, Traum und Märchen bei Karl Immermalm. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 114 (1995), S. 199-218; (6) Der literarische Traum
im Spätrealismus am Beispiel C. F. Meyers. In: C. F. Meyer. Hg. v. Monika Ritzer. Tübingen
2001, S. 74-93. (7) Traumnotat, literarischer Traum und traumhaftes Schreiben bei Franz
Kafka. Ein Beitrag zur Oneiropoetik der Moderne. In: Träumungen. Trau11lerzählungen in
Literatur und Film. Hg. v. Bernard Dieterle. St. Augustin 1998 (Filmstudien 9), S. 233-262;
(8) Der Traum zwischen Psychologie lmd Literatur. In: Schweizer Monatshefte 80 (2000) H.
9, S. 26-29.
Wil11elm Stekel, Die Träume der Dichter. Eine vergleichende Untersuchung der unbewußten Triebkräfte bei Dichtern, Neurotikern lmd Verbrechern (Bausteine zur Psychologie
des Künstlers und des Kunstwerkes). Wiesbaden 1912, S. 36.
Die erhaltenen Antworten hat Stekel1912 in einem Buch veröffentlicht: Die
Träume der Dichter. Eine vergleichende Untersuchung der unbewußten Trieb7cräfte
bei Dichtern, Neurotikern und Verbrechern.
Ganz zweifellos haben die so gesammelten Materialien4 einen sehr hohen
Quellenwert. Wir erfahren daraus beispielsweise etwas über die Geschichte
des Träumens, seine Geschichtlichkeit (Wie und wovon träumen Menschen
um 1910?), über die damals kurrente Technik des Traurrmotats (Wie zeiclu1en
Menschen, und hier besonders Dichtel~
ihre Träume auf?), über einen Teilaspekt von Schaffenspraxis und Produktions ästhetik (Nutzen die befragten Autoren Träume in ihren Werken? Und wie bewerten sie solch ,unbewußte' Produkte im Vergleich mit ihrem ,bewußten' Schaffen?); wir erhalten Quellenmaterial zu den Dichtungen (Wie wurde ein übernommener Traum umgestaltet,
in ein fiktionales Werk eingebunden lmd so u. U. völlig neu funktionalisiert?)
und zur mehr oder minder elaborierten Traumtheorie der Autoren (also ihre
Antworten auf die Fragen: Wie entstehen Träume? Haben Sie Bedeutung? Wie
kann/ soll man sie deuten?), etc., etc. Nicht zuletzt lassen sich aus Stekels Material auch Rückschlüsse auf die Rezeption der Freudschen Traumtheorie ziehen. Schon die Bereitschaft, mit der die Befragten geantwortet haben, mehr
noch aber ihre impliziten und expliziten traumtheoretischen Aussagen zeigen
sehr deutlich, daß Freuds Traumtheorie lmter Intellektuellen um 1910 kaum
bekannt ist; nur zwei der 42 Autoren scheinen mit ihr vertraut zu sein. 5
All dies interessiert Stekel selbst allerdings nicht. Er verwendet die erhaltenen Antworten vor allem als empirisches Beweismaterial für seine Theorie
vom Traum und vom Zusammenhang zwischen Traum und dichterischer Produktion. In nuce ist seine Hauptthese schon im bereits genam1ten Untertitel
seines Buches enthalten. Diesen hat Stekel den befragten Autoren wohlweislich vorenthalten - sonst hätten die sich wohl auch kaum so bereitwillig um
Kopf und Kragen geschrieben.
Knapp gesagt, geht es Stekel um folgendes: Kinder, Neurotiker (fiir Stekel
all die, die nicht sicher zwischen Realität und Phantasieprodukt unterscheiden köm1en), Verbrecher und Dichter haben eine wichtige Gemeinsamkeit:
Anders als der wohlangepaßte Kulturmensch unterdrücken sie ihre Triebe
nicht, sind also ,kriminell und pervers in bezug auf die Sitten und Gesetze der
herrschenden Kultur' (S. 28). Die Besonderheit des Dichters besteht dabei
darin, daß er sich durch seine Klmst von solchen kriminellen Trieben befreien
4
S
Leider hat Stekel die erhaltenen Antworten nicht im Wortlaut veröffentlicht, sondern nur
in einer Mischlmg aus Zitat lmd Referat.
Bezeiclmenderweise besteht der einzige wirkliche ,Freudianer' darauf, daß sein Name
nicht genalmt wird - im Buch heißt es: ein ,bekam1ter Lyriker', ,bezeiclmen wir ilm als
Herrn B. v. X.' (Stekel, S. 63). Max Burckhard, der andere Freud-Kelmer, leImt Freuds
Traumtheorie energisch ab und legt seiner Antwort gleich einen Anti-Freud-Aufsatz bei.
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kann, statt sie ausleben zu müssen. Stekel hat also zwei Ziele: Er will aus den
Träumen der Dichter deren überdurchsclmittliche kriminelle Energie nachweisen, und er will zeigen, daß zwischen Träumen und dichterischer Produktion ein unmittelbarer Zusammenhang besteht: Der Traum ,enthüllt die Wurzeln des künstlerischen Schaffens' (S. 33).
Mit all dem habe ich als Literaturwissenschaftler nicht zu rechten. Als professionellem Textausleger fällt mir auf, daß Stekel einer der interpretes terribiles ist, die jeden Text so deuten köm1en, daß er zu ihrer vorgefaßten Meinung
paßt. Das mag eine Spezialität von Tiefenpsychologen sein, für die eine Banane nie einfach eine Banane sein darf - aber ich keIme genug Literaturwissenschaftler, die sich nicht anders verhalten. Als Psychologiehistoriker, der ich
im Nebenberuf inzwischen auch ein wenig bin, fällt mir auf, daß Stekel Holzschnitte anfertigt, wo Freud radiert - aber das ist nur ein gradueller Unterschied.
3. LITERATURWISSENSCHAFTLER ALS TRAUMPSYCHOLOGEN
Die Auswahl meines Beispieltextes ist hier noch weit zufälliger als im vorangehenden Kapitel. Ich veranschauliche die literaturpsychologische Vorgehensweise anhand einer 1983 erschienenen Monographie von Carl PietzckI~
betitelt: Einfilhrung in die Psychoanalyse des literarischen Kunstwerkes am Beispiel
von fean Pauls ,Rede des toten Christus'.6 Pietzckers Studie erschließt ihren Text
in drei Durchgängen: Auf eine psychoanalytische h1terpretation ,Das Kunstwerk - ein Phantasieprodukt' folgt als zweiter Schritt eine Analyse der ,Kunstarbeit', in der Pietzcker die Genese des Jean Paulschen Textes anhand seiner
verschiedenen Fassungen nachvollzieht, lmd schließlich ein weiter sozialgeschichtlicher Ausgriff, betitelt ,Der Text als individuelle Einheit gesellschaftlicher Widersprüche' (woran sich leicht ablesen läßt, daß Pietzckers Untersuchung auf der für die Freud-Rezeption der 70er Jahre so prägenden FreudMarx-Connection beruht). All dies lasse ich hier unberücksichtigt und beschränke mich ganz auf den ersten Teil, genauer: auf den ersten Teil des ersten
Teils, der die ,ödipalen Phantasien' behandelt (die dann im zweiten Unterkapitel um die ,narzißtischen Phantasien' ergänzt werden). Ich gestehe so bereitwillig ein, daß mein Mini-Referat Pietzckers Arbeit in keiner Weise gerecht
wird - aber darum geht es mir ja auch gar nicht. Ich nutze seine Studie nur, um
an einem Beispiel den Umgang mit literarischen Träumen zu demonstrieren,
der in der Literaturwissenschaft ganz eindeutig der meistverbreitete ist: eine
6
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Würzburg 1983.
Literatur-/Kulturgeschichte des Traumes
Traumanalyse, die auf den psychoanalytischen Klassikern basiert (wobei
Freud mit deutlichem Abstand vor Jung und vor Lacan rangiert).
Jean Pauls Traumdichtung Rede des todten Christus vom Weltgebällde herab,
daß kein Gott sei (das Erste Blumenstück aus dem Siebenkäs) thematisiert die desaströsen Konsequenzen eines atheistischen Weltbildes - was Pietzcker freilich nur bedingt interessiert. Wie deutet er die Rede? Er liest den Traum - freudianisch schulgerecht - als Wunscherfüllung. Der erfüllte Wunsch ist der nach
dem Tod des Christen-Gottes, der, natürlich, eine Vater-Imago darstellt. Im
Kern geht es in der Rede also um den Ödipus-Komplex, die Erfüllung des ,unbewußten infantilen Wunsches [ ... ], seinen Vater zu töten' (S. 22). Dargeboten
wird diese ödipale Phantasie - so argumentiert Pietzcker wiederum ganz
schulgerecht - in einem Kompromiß aus ,Wunscherfüllung und Strafe' (S. 23):
Der erfolgreiche Vatermord löst eine geradezu kosmische Trauer aus.
Außerdem gelingt es dem psychologisch geschulten Blick auch noch, in
der Rede eine Inzestphantasie und die berühmte ,Urszene' - ,das Kind beobachtet den Koitus der Eltern' (S. 28) - zu entdecken. Die entsprechende Textstelle lautet übrigens:
Die Kirche schwankte auf und nieder von zwei unaufhörlichen Mistönen,
die in ihr miteinander kämpften und vergeblich zu einem Wohllaut zusammenfließen wollten (S. 28).
Anders als die meisten literaturpsychologischen Interpreten ist sich
Pietzcker des Unterschiedes zwischen authentischem und literarischem
Traum sehr wohl bewußt. Letzterer entspringe aber (so Pietzckers wiederum
ganz orthodox freudianische Argumentation) einer Phantasietätigkeit, die genauso strukturiert sei wie die, die authentische Träume hervorbringt - allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Das Kunstwerk ist ,eine in die
Gesellschaft hinausgesprochene Phantasie' (S. 18), also ,als Mitteilung gestaltet, auf Verständlichkeit ausgerichtet'; es bindet daher seine Wunscherfüllung
in einen ,Vorstellungsablauf' ein, ,der für das bewußte Denken nicht mehr anstößig ist' (S. 18f.). Sehr grob gesprochen ist dieser ,Vorstellungsablauf' der
philosophische Gehalt des Textes, also das, was manche Interpreten (wie etwa
ich) den intendierten Textsim1 nem1en würden; der ist für Pietzcker aber eben
nur der manifeste Inhalt, der die eigentlichen, ,latenten' Gedanken verdeckt
und verschleiert.
Mit all dem will ich nicht rechten, weil dies nur Verschwendung von Energie und Zeit wäre. Die gängigen Einwände - gewichtige Einwände, wie ich
meine - gegen eine literaturpsychologische Vorgehensweise wurden in der literaturwissenschaftlichen Methodendiskussion schon vor Jahrzelu1ten benmmt. Auf Literaturpsychologen haben sie nie Eindruck gemacht, lmd die
Wahrscheinlichkeit, daß eine Wiederholung dieser Einwände durch mich eine
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Manfred Engel
Literatur-/Kulturgescllicllte des Traumes
durchschlagendere Wirkung erzielen könnte, ist wohl gering? Im Zeichen des
literaturwissenschaftlichen Pluralismus werden wir sagen müssen: Wer (a)
ein Erkem1tnisinteresse verfolgt, das sich auf die unbewußten Entstehungsgründe von Texten richtet, lrnd wer (b) der Meinung ist, daß die Freudsche
Traumtheorie nicht einfach ein historisch bedingtes und denkgeschichtlich zu
analysierendes Kulturprodukt, sondern schlechthin wahr sei, der wird so vorgehen wie Pietzcker - und wird sich damit abfinden müssen, daß diejenigen
Lesl~
die sein (a) und (b) nicht nachbuchstabieren können, an seinen Deutungen kein sonderliches Interesse haben (was natürlich auch vice versa gilt).
4. ZWISCHENBILANZ
Was mich an den beiden bisher vorgestellten Beispielen allein interessiert, ist
die Klassifizierung der jeweiligen Vorgehensweise von einem kulturwissenschaftlichen Standplrnkt aus. Beide Varianten der Traumdeutung sind sicher
nicht kulturwissenschaftlich zu nennen: Der Psychoanalytiker Stekel verrichtet mit der Analyse von Träumen sein ureigenes disziplinäres Geschäft. Daß
er sich mit Träumen von Dichtem beschäftigt, ist nicht spektakulär, da es ihm
ja letztlich um die Analyse der dichterischen Phantasie geht. Und daß diese
mit den Mechanismen des Traums eng verwandt sei, ist eine bekannte
Grundthese der Psychoanalyse. Der Literaturpsychologe dagegen - ja, was tut
er eigentlich? Arbeitet er interdisziplinär? Wohl nicht wirklich; allenfalls geht
Pietzcker bi-disziplinär vor - und selbst das gilt nur sehr bedingt. Seine Leitwissenschaft ist und bleibt die Psychoanalyse, ihr verdankt er alle Basisaxiome seiner Arbeit, ihr gilt sein Erkem1tnisinteresse; mit vollem Recht heißt
das Buch ,Einführung in die Psychoanalyse des literarischen Kunstwerkes'. Die
schulgerecht literaturwissenschaftliche Untersuchung, die Pietzcker auch
durchführt - etwa in der von mir nicht referierten Analyse der Textgenese
durch mehrere Fassungen hindurch - bleibt in jedem Plrnkt psychoanalytisch
perspektiviert. Der Literahlrpsychologe ist also ein in der Wolle gefärbter Psychoanalytiker. Um es in seinem Jargon zu sagen: Er erfüllt sich den verborgenen Wunsch, Psychoanalytiker zu sein, und zensiert diese Wunscherfüllw1g,
indem er weiter als Literaturwissenschaftler firmiert.
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Pietzcker selbst zitiert all diese Einwände, ohne durch sie im mindesten in seinem Vorgehen verunsichert zu werden.
5. DER TRAUM ALS OBJEKT DER KULTURWISSENSCHAFT:
EIN TRANSDISZIPLINÄRES KULTURPHÄNOMEN
Gegen diese Kapitelüberschrift ließe sich leicht protestieren: Ist der Traum
nicht vielmehr ein Naturphänomen? Nicht für den Kulturwissenschaftler,
dessen Blick sich von vornherein auf die Ebene kultureller Vermittlung richtet.
Dabei hat dieser im Falle des Traumes besonders starke Argumente: Dem1 den
reinen, unverfälschten Traum kem1t nur der Träumer - und auch das nur, während er träumt. Was lrns vorliegt, sind einzig und allein (1) mündliche Traumberichte oder Traumaufzeichnungen, Traul1motate; (2) Reden und Schriften
über den Traum, der sogenam1te Traumdiskurs, der von Alltagsrede und Alltagswissen bis hinein in die sich mit dem Traum beschäftigenden Disziplinen
des institutionalisierten Wissenssystems reicht; (3) Traumgestalhrngen in verschiedenen Medien (wie: bildende Klrnst, Musik, Film, Literatur).
Das also ist unser Material. Wie sähe nun der kulturwissenschaftliche Zugang zu ihm aus? Ich konzentriere mich zunächst einmal auf die Rede über
den Traum, den Traumdiskurs. Unter Diskurs soll hier übrigens nichts Geheinmisvolleres verstanden werden als - so hat es Michael Titzmann vorgeschlagen ein System des Denkens und Argumentierens, das von einer Textmenge
abstrahiert und erstens durch einen Redegegenstand, zweitens durch Regularitäten der Rede, drittens durch interdiskursive Relationen zu anderen Diskursen [und dem von diesen gebildeten Wissenssystem] charakterisiert ist. 8
Was nun ist der kulhlrelle Ort dieses Traumdiskurses? Offensichtlich gehört
der Traum zu den anthropologischen Grundphänomenen, die - wie Liebe, Sexualität oder Tod - die Menschen aller Zeiten und Kulturen seit je beschäftigt
8
Michael TitzmatU1, Skizze einer integrativen Literahlrgeschichte. In: Ders. (Hg.), Modelle
des literarischen 5trulcturwandels. Tübingen 1991, S. 395-438, hier S. 406; in einer Vorstudie
dazu (M. T., Kulturelles Wissen - Diskurs - Denl<system. Zu einigen Grundbegriffen der
Literahlrgeschichtsschreibung. In: Zf5L 99 (1969), S. 47-61) gehörte der Zusatz in eckigen
Klammern noch direkt zur dritten Bestimmung: ,definiert [... ] durch seine Relationen zu
anderen Diskursen lmd eventuell den von diesen entworfenen Wissenssystemen' (S. 53).
Das ,Wissenssystem' einer Kultur bestimmt TitzmatU1 als ,die systematisch geordnete
Menge aller Wissenselemente' (1991, S. 403), wobei das ,kulturelle Wissen' - ,die Menge
aller Propositionen, die die Mitglieder eines kulturellen Systems für wahr halten' (S. 402)
- sowohl ,das vortheoretische, partiell nicht explizite, partiell nirgends artikulierte Alltagswissen wie das theoretische, spezialisierte Wissen der Theologien, Philosophien, Wissenschaften umfaßt' (S. 403). Das ,Wissens system' einer Kultur bzw. Epoche und ihre
,Denl<strul<tur' - ,die geordnete Menge' ihrer ,epistemologischen Basisprämissen' (S. 408),
also Foucaults ,Episteme' - bilden zusammen ,das Denksystem der Kultur', das deren
,Wahrnehmung und Interpretation der Realität' regelt (S. 408).
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Mallfred Engel
haben. Der Grund für dieses Interesse liegt, denke ich, auf der Hand: Der
Traum irritiert und fasziniert, weil er uns mit einer Erlebniswelt und einer
Erlebensweise konfrontiert, die auf ebenso offensichtliche wie rätselhafte
Weise anders sind als die unsres wachen Lebens. Diese Differenzerfahrung
verbindet den Traum mit Rausch und Wahnsim1. Das sind allerdings Ausnahmezustände - künstlich herbeigeführt oder nur selten und wenigen zugänglich. Der Traum dagegen ist das alltägliche - das allnächtliche - Andere: für
jedermam1 und zu jeder Zeit. Selbst wem1 wir uns unserer Träume nur selten
erim1ern sollten, wissen wir doch, daß es sie gibt, und daß wir jede Nacht in
ilu1en leben.
Dieser elementare Dualismus zweier Erfahrungswelten ist das Grundproblem, an dem der Traumdiskurs sich abarbeitet. Er gehört zum Typus der
Grenzdiskurse, in denen, grob gesagt, darüber entschieden wird, was im Rahmen einer Kultur als akzeptabel und tolerabel gelten soll. Dabei muß zum einen eine Grenze gezogen lmd ilu Diesseits und Jenseits bestimmt werden;
zum anderen ist der Umgang mit der Grenzlinie und dem jenseits von ihr
liegenden Gebiet zu regeln.
Dafür gibt es eine Reihe bewährtel' Strategien, die den Traumdiskurs und
die ihm angelagerten kulturellen Praktiken prägen. Sie lassen sich weitestgehend auf zwei Grundtypen reduzieren: die Depotenzierung lmd die exterritoriale Verortung - beide sind uralt. Die Depotenzierung erklärt das Andere des
Traumes aus (unterschiedlich begründeten) Fehlfunktionen lU1serer Erkem1tnisorgane im Schlaf; sie versteht den Traum also nicht als ein genuin ,Anderes', sondern als einen defizitären Erkem1h1ismodus, als ein verzerrtes Abbild
von Elementen der Wachwelt. Von der Metapher der Grenze hel~
wäre dies ein
Verfahren der Annexion: Der fremde Raum wird dem eigenen eingegliedert.
Die exterritoriale Verortung dagegen leitet die Andersartigkeit des Traums
aus dem Sonderstatus seines Ursprungsortes ab - einem Ort, der zwar von
unserer alltäglichen Lebenswelt geschieden, in unserer kulturellen Topographie aber wohl definiert ist. Die zwei kulturgeschichtlich erfolgreichsten Verortungsvarianten sind (a) die im Übernatürlichen und (b) die in einem unbewußten Teilbereich der Seele. 9 Beide Varianten zielen auf ein Verfahren, das
man den ,geregelten Grenzverkehr' nennen könnte: Ist der andere Raum einmal benannt und bestimmt, so lassen sich Regeln für den Umgang mit ilun
aufstellen. Dieses Commercium-Verhälh1is kam1 dam1 sehr unterschiedlich
Literatllr-/Klllturgesclziclzte des Traumes
ausgestaltet werden: als fairer Tauschhandel, als einseitige Kolonialisierung,
etc.
Solche Strategien sind die Konstanten des Traumdiskurses, sozusagen
seine einfache Tiefenstruktur unter der Oberfläche der historisch variablen
Ideen und Konzepte. lO Über diese Strategien und Konzepte ließe sich der
Traumdiskurs systematisch beschreiben und historisch ausdifferenzieren und
dabei auch auf seinem Weg durch die Disziplinen verfolgen, die zu lmterschiedlichen Zeiten und in der je unterschiedlichen Ausformung des Wissenssystems Erkennh1iskompetenz für den Traum beansprucht haben - etwa die
Mantik, Philosophie, Theologie, Medizin, Anthropologie, Physiologie, Neurologie, Psychologie, Psychoanalyse.
Dabei wäre schließlich auch noch zu beachten, daß sich an die Rede über
den Traum zahlreiche Medien, kulturelle Praktiken oder Techniken und Institutionalisierungen in mehr oder minder starker Ausprägung anlagern: beispielsweise die Textsorten des Traumbuchs und des Traumtagebuchs und die
Praktiken des Inkubationstraums, des magnetistischen SOllli1ambulismus, der
Traumdeutung im Gesprächsritual der Psychoanalyse, etc.
Das alles und einiges mehr gehört zur kulturellen Arbeit am Traum wahrlich ein weites Feld, das wohl kein einzelner Wissenschaftler je zur
Gänze ausmessen wird. Und viele Teilbereiche sind wohl überhaupt nicht
mehr rekonstruierbar, da sie gar nicht oder nur in kaum zugänglichen Quellen
dokumentiert sind. Wie häufig bei Kulturphänomenen wird die Rekonstruktionsarbeit so weitgehend am Expertenwissen ansetzen, das zudem den Vorteil einer wesentlich markanteren historischen Strukturierung aufweist. Mindestens in Ansätzen werden dabei aber auch das Traum-Alltagswissen und
die Traummentalität (also die vorbewußte Einstellung dem Traum gegenüber)
in den Blick kommen.
An dieser Stelle breche ich zunächst einmal ab und füge zwei Erklärungen
ein, die mir sehr wichtig sind. (1) Was ich hier als kulturwissenschaftliche
Traumanalyse skizziert habe, ist in keiner Weise besser oder wahrer als, sagen
wü~
der psychologische Zugang. Aber sie ist anders - in ihrem Erkenntnisinteresse wie in ihrer Vorgehensweise. Dieses Anderssein verdankt sich einem
anderen Blick, der auf ein transdisziplinäres anthropologisches Phänomen
10
9
24
Andere Varianten wären: Erscheinung und Idee, Körper und Geist, Rationales und Irrationales, Bewußtes lmd Unbewußtes, Ich und Es, etc. Alle diese Erklärungsformen sind
miteinander kombinierbar. Solche Kombinationen stellen den Normfall des Traumdiskurses dar; streng monokausale Tramntheorien, wie die Freudsche, die alle Träume in ein
Erklärungsmodell zwingen wollen, sind demgegenüber seltene Ausnalunefälle.
Doch auch die Oberfläche des Traumdiskurses, sein vielgestaltiges Ideenrepertoire weist
erstaunliche Konstanten auf, besonders im Bereich des Alltagswissens - man denke nur
an den schier unausrottbaren Glauben an die prophetische Potenz des Traumes. Selbst im
Bereich des Expertenwissens stoßen wir auf eine erstaunliche Konstanz der Konzepte was, so füge ich in Parenthese ein, vermutlich für alle Diskurse über anthropologische
Grundphänomene gilt: So viele Ideen, die ,gut zu denken' sind, gibt es eben nicht. Jedenfalls sind Variationen, Neugruppierungen und Umakzentuienmgen wesentlich häufiger
als wirklich grundlegende I1movationen.
25
Literatur-/Kulturgeschichte des Traumes
Man/red Engel
und auf die an diesem verrichtete kulturelle Deutungsarbeit fokussiert ist.
(2) Wichtig ist mir weiterhin, daß der von mir skizzierte kulturwissenschaftliche Zugang nur einer von mehreren möglichen ist. Die Konzepte, deren ich
mich bedient habe, sind ja wohl offensichtlich. Ich habe miteinander kombiniert: einen anthropologischen Ansatz, das altehrwürdige hermeneutische
Gnmdmuster von Frage und Lösungsversuch und einige Topoi der Diskursanalyse. Das mag man für sinnvoll und legitim halten oder auch nicht - darauf
kommt es mir hier nicht an. Wichtig ist mir nicht die konzeptuelle Fülllmg,
sondern die Grundstruktur meines Ansatzes: Mein Erkenntnisinteresse richtet sich nicht auf den Traum selbst - dafür habe ich keine disziplinäre Kompetenz -, sondern auf die kulturelle Arbeit am Traum in Reden und kulturellen
Praktiken.
6. DER TRAUM UND DIE LITERATURWISSENSCHAFT: EIN PROBLEMAUFRISS
Die künstlerische Arbeit am Traum im allgemeinen w1d die literarische im
besonderen habe ich bisher sehr bewußt ausgegrenzt. Das liegt nicht in der
Logik der Sache, in der alles mit allem unauflöslich zusammenhängt, sondern
in der disziplinären Logik des literaturwissenschaftlichen Blickes, der die
Welt der Phänomene binär in Literatur und Nicht-Literatur spaltet.
Dies ist eine in der Tat höchst künstliche Trennlmg. Denn Literarisierungsformen bestimmen den Traumdiskurs natürlich auf allen seinen Ebenen. Denken wir etwa an die Traumerzählung bzw. das Traurnnotat. Immer, wenn wir
einen Traum erzählen, greifen wir auf narrative Schemata zurück - also eben
auf elementare literarische Formen. Oder denken wir - ein zweites, ganz anders Beispiel- an Freuds Traumdeutungsschriften, denen man nicht zu Unrecht literarische Qualitäten nachsagt. Natürlich lassen sich auch diese lmd
andere Aspekte mit der besonderen disziplinären Kompetenz des Literaturwissenschaftlers lmtersuchen. Das ist aber kein Widerspruch zur zlmächst
vorgenommenen Ausgrenzung, sondern nur ihr Komplement: Der LiteraturwissenschaftleI' kann alle Texte mit literaturwissenschaftlichem Blick betrachten, es gibt jedoch einen Kernbereich von Texten, an denen er diesen Blick bevorzugt übt lmd schärft. In lmserem Fall sind das die literarischen Träume, die
sich im wesentlichen auf drei große Traditionslinien verteilen lassen:
(1) Die der rhetorischen Traumverwendung - vor allem in Traumsatiren,
Traumparabeln, Traumallegorien, Traumreisen und Traumutopien: Hier geht
es nicht um die Fingierung von authentischer Traumhaftigkeit. Der Traum
wird vielmehr als bloße Rahmenkonstruktion verwendet, die nur dazu dient,
uneigentliche Rede zu markieren oder eine Minimalkonzession an das Gebot
der Wahrscheinlichkeit zu machen.
26
(2) Die literarische Traumfingierung im engeren Sinne, die sich - nach den
Vorgaben der jeweils aktuellen Traumtheorien, teilweise sicher auch geleitet
vom je eigenen Traumwissen des Autors - darum bemüht, Träume zu erfinden, die zumindest ein Minimum an Traumhaftigkeit aufweisen.
(3) Vor allem in der Romantik lmd der Moderne geht aus Texten der zweiten Traditionslinie eine dritte hervor: die der traumhaften Darstellung. Mit ihr
lösen sich Schreibweisen, die dem Traum abgeschaut sind, vom literarischen
Traum ab und werden bestimmend für Textteile oder ganze Texte, die nicht
mehr ausdrücklich als Traum markiert sind.
Was nun ist die besondere Eigenart literarischer Träume, worin liegt ihr
spezifischer Beitrag zur kulturellen Arbeit am Traum? Um das dieser Frage
gewidmete Kapitel nicht so abstrakt werden zu lassen wie das letzte, gehe ich
von einem Beispiel aus, das allgemein bekam1t sein dürfte.
Im ersten Kapitel von Novalis' Roman Heinrich von Ofterdingen findet sich
Heinrichs berühmter Traum von der blauen Blume. Daran schließt sich ein
Gespräch über diesen Traum an, das der erwachte Heinrich mit seinen Eltern
führt; in dessen Verlauf erzählt dam1 auch Heinrichs Vater einen Traum. All
dies kann lmd will ich hier nicht ausführlich interpretierenIl, sondern nur als
Demonstrationsbeispiel nutzen. Wie also verhält sich Novalis' Dichtung zum
extra-literarischen Traumdiskurs?
Wer als Kulturwissenschaftler seine Hausaufgaben gemacht, d.h. in Bibliotheken und Archiven möglichst viele der längst vergessenen Schriften des
Traumdiskurses ermittelt und studiert hat, wird schnell erkem1en, daß Heinrichs Eltern im Traumgespräch des Kapitels auf gängige Topoi des aufklärerischen Traumdiskurses zurückgreifen - wie etwa: ,Träume sind Schäume', die
Beschäftiglmg mit ilmen sei ,unnütz' und ,schädlich'; ,göttliche Gesichte' mögen sie friU1er gewesen sein, heute aber gebe es solche direkten transzendenten Eingriffe in den natürlichen Gang der Dinge nicht mehr; Heinrichs Traum
lasse sich ganz ,natürlich' erklären - etwa aus der Körperhaltung des Schläfers
(,du hast dich gewiß auf den Rücken gelegt', räsoniert die Mutter) oder aus
Tagesresten, aus ,fremden Gedanken' beim Einschlafen, etc.1 2
In Novalis' Roman werden solche Topoi des aufklärerischen Traumdiskurses freilich nicht nur herbeizitiert, sondern auch gleich widerlegt. Dies geschieht nicht argumentativ - Heinrichs eigene Überlegungen zur Verteidigung des Traumes als Durchbrechung der ,Regelmäßigkeit' und ,Gewöhnlichkeit' des in der Erwachsenenwelt dominierenden Wirklichkeitsprinzips blei11
12
Vgl. dazu den in Anm. 2 als NI'. 4 genam1ten Aufsatz.
Alle Zitate nach: Schrijtm. Die Werke Friedrich von Hardmbergs. Begründet von Paul Kluckhohn lmd Richard Samuel. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. 3. Auflage in vier Bden. mit einem Begleitband. Shlttgart
1977-88, Bd. I, S. 198f.
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Manfred Engel
ben durchaus vorläufig 13 -, sondern mit Hilfe der indirekten Argumentationsstrategien eines narrativen Textes: Daß Heinrichs Traum hochbedeutsam ist,
zeigt sich vor allem durch den weiteren Erzählverlauf; doch wird der halbwegs findige Leser auch schon im ersten Kapitel ahnen, daß Heinrichs Vater
unrecht hat: Ohne es zu merken, widerlegt er sich selbst, indem er einen
Traum erzählt, der dem des Sohnes auf verblüffende Weise ähnelt.
Halten wir hier kurz inne und verallgemeinern unseren Befund: Ein erster
Beitrag von literarischen Texten zur kulturellen Arbeit am Traum besteht also
darin, daß sie den extra-literarischen Traumdiskurs abbilden und weiterführen. Literatur ist - auch - ein Umschlagplatz kulturellen Wissens und kultureller Praktiken. Alles, was zum Alltagswissen, aber auch zum disziplinären
Spezialwissen einer Epoche gehört, kann im literarischen Werk vorkommen.
Jürgen Link hat Literatur deswegen als einen ,Interdiskurs' bezeichnet, als ein
Medium, das den zunehmenden Spezialisierungstendenzen im Wissenssystem entgegenwirkt und einen Beitrag zur ,Wissensintegration in modernen
funktionsteiligen Gesellschaften' leistet. 14 Literatur bildet den extra-literarischen Traumdiskurs also ab lmd bezieht dabei zugleich - mit argumentativen
und/ oder literarischen Strategien - Stellung, stärkt extra-literarisch vorgegebene Positionen oder lmterminiert sie.
Über diese parteiliche Abbildung hinaus kann Literatur natürlich auch,
zweitens, implizit oder explizit, neue Theorieelemente oder auch Theorien
zum Traumdiskurs beisteuern. Das funktioniert dort am effektivsten, wo die
Disziplinen des Wissenssystems noch nicht so stark gegeneinander und gegen
das Laienwissen abgeschottet sind, daß Laienbeiträge als von vornherein
nicht satisfaktionsfähig gelten. Um 1800 ist das, mindestens im Bereich von
Anthropologie und Psychologie, sicher noch nicht der Fall. Und in der Tat leistet Novalis' Ofterdingen einen ganz eigenständigen und iIu10vativen Beitrag
zur Traumtheorie - wem1 auch in selu· impliziter Weise. Schwer zu sagen, ob
die Zeitgenossen imstande waren, die implizite Traumtheorie des Romans zu
rekonstruieren. Schwer zu sagen, ob Gotthilf Heinrich Schubert - der mit seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) lmd vor allem mit
seiI1er Symbolik des Traums (1814) als Vater der Traumtheorie der Romantischen Anthropologie gelten darf - durch Novalis' Roman beeinflußt war.
Durchaus möglich, daß er, mit Hilfe der SchelliI1gschen Naturphilosophie und
13
14
28
,Mich dünkt der Traum eine Schutzwehr gegen die Regelmäßigkeit lmd Gewölmlichkeit
des Lebens, eine freye Erholung der gebundenen Fantasie, wo sie alle Bilder des Lebens
durcheinanderwirft, lmd die beständige Ernsthaftigkeit des erwachsenen Menschen
durch ein fröhliches Kinderspiellmterbricht' (S. 199).
Vgl. Jürgen Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik im Kollektivsymbol. In: Jürgen Fohrmalm/Harro Müller (Hrsg.),
Diskurstheorie und LiteratuJ"Iuissensclzajt. Frankfurt/M. 1988, S. 284-307; Zitat: S. 289.
Literatur-/Kulturgeschichte des Traumes
des Magnetismus, die romantische Traumtheorie noch einmal neu erfunden
hat. Für uns aber, die wir sowohl die Traumlehre der Romantischen Anthropologie wie auch die einschlägigen Fragmente von Novalis kem1en, ist die implizite Traumtheorie des Ofterdingen durchaus rekonsh·uierbar. Sie ergibt sich
- fast möchte man sagen: zwingend - aus dem naturphilosophisch-triadischen Denken, in dessen Theorierahmen sie sich, wie in eine vorgegebene
Leerstelle, paßgerecht einfügt. Diese Traumlehre hat vor allem zwei wichtige
Bausteine: (1) eiI1e implizite Theorie des romantischen Unbewußten, das man
besser nicht mit dem Freuds verwechseln sollte, obwohl es als sein wunittelbarer Vorläufer gelten darf: Unbewußt ist hier nicht die Individual-, sondern
die Gattungsgeschichte des Ich, das stammesgeschichtlich Ältere in uns, das
der Entstehung von Bewußtsein und Individualität vorausliegt. Dieses romantische Unbewußte wirkt vor allem in den Lebensprozessen unseres Leibes, mit denen wir ins allgemeine Naturleben verwoben sind. Träume sind
eine der Möglichkeiten, eine Ananmesis dieses ursprünglichen EiI1hei tszustandes auszulösen. (2) Der andere Baustein ist - und damit kommt das triadische Denken ins Spiel- eine spezifisch frühromantische Theorie des Imaginationsgebrauchs: Wie die Erlebenswelt des KiI1des, wie Märchen und Mythen gehören für Novalis auch Träume zur ,Naturpoesie', zum vorbewußtautomatischen Phantasiegebrauch; literarische Träume dagegen sind keine
Naturpoesie, sondern Kunstpoesie, also eine von Bewußtsein lmd Klmstwollen begleitete Phantasieproduktion - daher auch ihre klar profilierte lmd verdichtete Semantik. 15
Literarische Texte wie der Ofterdingen spiegeln also den extra-literarischen
Traumdiskurs, beziehen in ihm Stelllmg, steuern eigene Elemente zu ihm bei.
Einfach gesagt: Sie sind Teil des Traumdiskurses. Worin aber liegt ilu ganz
eigener, literaturspezifischer Beitrag, der literaturspezifische Teil der kulturellen Arbeit am Traum? Die Antwort darauf ist, denke ich, einfach: Die literaturspezifische Traumarbeit besteht im Gebrauch des Traumes, in seiner literarischen Nach- und Weitergestalhmg, seiner Funktionalisierung als Text und
Textelement und in der Ausbeuhmg seines poetologischen Im10vationspotentials. Diese literarische Arbeit am Traum läßt sich als präzises Komplement
zur begrifflichen Deutw1gsarbeit im Traumdiskurs begreifen lmd mit den
gleichen Strategien beschreiben: Sie ist geprägt von der gleichen Dialektik von
Öffnung und Ausgrenzung, wie sie für jeden kulturellen Umgang mit dem
Anderen, Fremden charakteristisch ist: Durch ihre vielfältige Funktionalisierung - etwa zur Textstrukhlrierung, Figurencharakteristik, zum Aufbau einer
15
Das übrigens ist ein Beispiel für einen Sonderaspekt der in literarischen Texten entfalteten
Traumtheorie-Elemente: die implizite oder explizite Traumpoetik, eine Produktionsästhetik des natiirlichen und/ oder des poetischen Traumes.
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Mrl11fred Engel
Literatur-/Kulturgeschichte des Traumes
Schicksalssemantik, zur Entfalhmg einer textprägenden Bild- und Symbolschicht etc. - sind literarische Träume strukturierter und in ihrer Semantik
meist weit klarer festgelegt als reale Träume; als Schreibweisen werden sie gar,
über eine formulierbare Poetik, zu verfügbaren Ausdrucksmitteln. Das nimmt
dem Traum mindestens einen Teil seiner irritierenden Fremdheit - zugleich
aber importiert es etwas von der Andersartigkeit des Traumes in unsere Tagwelt. Im Falle von Novalis ist dieses Andere vor allem das eigentümlich
Fluide der Traumwelt, ihre offenen Grenzen zwischen verschiedenen Ich-Zuständen wie zwischen Ich und Welt. 16
zu verlieren, gibt sie literarischen Texten so ihren ,Sitz im Leben' und ordnet
sie ein in den ständigen Prozeß der menschlichen Selbst- und Weltauslegung,
dessen Produkte wir ,Kultur' nennen.
*
Ich versuche ein kurzes Fazit: Die Literahlrgeschichte des Traumes im engsten
Sinne wäre die Geschichte literarischer Traumgestaltungen - als Geschichte
der jeweils dominierenden Traumtypen und der vielfältigen literaturinternen
Funktionalisierungen von Traumdichtlmgen, deren weitreichendste darin
liegt, den Traum als literarisches Experimentierlabor zu nutzen, also als Mittel
zur Entwicklung ,traumhafter' Schreibweisen, die sich dam1 auch von der
Darstelllmg von Träumen ablösen köm1en.
Diese Literaturgeschichte des Traumes ist auf vielfältige Weise mit seiner
Kulturgeschichte verschränkt, olu1e doch einfach mit ihr zusammenzufallen.
Geschieden sind sie durch die beschriebene Spezifik des literarischen Beitrags
zur gesamtkulturellen Arbeit am Traum, aber auch durch diverse Asynchronizitäten. Solche Ungleichzeitigkeiten köm1en etwa durch Trägheitstendenzen
des literarischen Systems entstehen - das beispielsweise am gut etablierten
und ftmktionalisierten prophetischen Traum festzuhalten sucht, auch wenn
dieser im Traumdiskurs definitiv auf die Out-Liste gesetzt wird. Sie entstehen
aber auch aus Eigendynamiken des literarischen Systems - etwa dem Bedürfnis nach erzählerisch unvermittelter Darstellung von Bewußtseinsprozessen
im Spätrealismus (man denke etwa an die Traumdichhmgen C. F. Meyers)P
Einer kulhlrgeschichtlichen Literahlrwissenschaft wäre es aufgegeben, die
extra-literarischen und die literarischen Reihen der Traumarbeit immer wieder in Bezug zueinander zu setzen - und sie zugleich getrem1t lmd in ihrer
Eigendynamik zu betrachten. Olme die Eigenart von Literatur aus den Augen
16
17
30
Literarische Träume wie der im Ofterdingel1 können übrigens dann natürlich wieder vielfältig zurückwirken auf Traumdiskurs wie Traumpragmatik: als fiktionale Fallbeispiele,
die von Traumtheoretikern wie authentische verwendet werden, als Beeinflussung der
Traummentalität, vielleicht sogar als ,cultural patterns', die durchaus traumprägend sein
können.
Vgl. dazu den in Anm. 2 als Nr. 6 genalU1ten Aufsatz.
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University of London School of Advanced Study
Institute of Germanic Studies
Dream Images
in German, Austrian and Swiss
Literature and Culture
edited by
HANNE CASTEIN
AND
RÜDIGER GÖRNER
iudicium
Dieses Buch erscheint gleichzeitig als Bd. 78 der Reihe
Publications of the Institute of Germanie Studies
(University of London School of Advanced Study)
ISBN 085457-199-X
INHALT
Hanne Castein/Rüdiger Gömer
Dream Images. An Introduction
:
/{
Redaktionsassistenz: Karin Sousa
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Dream images in German, Austrian and Swiss literature and culture /
University of London School of Advanced Study, Institute of Germanic
Studies. Ed. by Hanne Castein and Rüdiger GÖrner.München: Iudicium-Verl., 2002
(Publications of the Institute of Germanic Studies,
University of London ; Bd. 78)
ISBN 3-89129-051-9
ISBN 0-85457-199-X
© IUDICIUM Verlag GmbH München 2002
Druck- und Bindearbeiten: Difo Druck, Bamberg
Printed in Germany
Imprime en Allemagne
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Manfred Engel
Literatur- /Kulturgeschichte des Traumes
13
Michael Molnar
Traumdeutung, Travel, Translation
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Paul Bishop
Jtmg' s Reception of Freud' s Traumdeutung
40
Rüdiger Görner
Lichtenberg oder der Traum (in) der Aufklärung
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Anthony Phelan
Novalis and the Hidden Door of Dream
64
Marle G. Ward
Grillparzer's Dreams
79
Peter Horst Neumann
Wahrheit, Trost und Schrecken. Jean Pauls Rede des toten Christus
91
Alexander Stillmarle
Interpreting Trakl' s Dreams with the Help of Edgar A. Poe
99
Manfred Dierles
,Ein schöner Unsilu1.' Hans Castorps Träume im Zauberberg
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