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„Mehr als Elia“ Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund der Wunder Jesu ____________________________________________ Hanna Stettler Die Wunderfrage ist kein Nebenschauplatz der Theologie. Vielmehr hängt mit der Frage nach den Wundern die Frage nach der Möglichkeit des Wirkens Gottes in der Welt überhaupt zusammen. „Ohne Handeln Gottes in der Welt keine Auferstehung Jesu Christi. Ohne Auferstehung Christi kein Christentum als belastbare Weltanschauung.“1 Aber hat nicht die neutestamentliche Wissenschaft gezeigt, dass es sich insbesondere bei den Wundererzählungen der Evangelien lediglich um Anleihen aus der religionsgeschichtlichen Umwelt des Neuen Testaments handelt, die mehr oder weniger frei geschaffen wurden, um das urchristliche Kerygma zu illustrieren? 1. Die Unterscheidung von Heilungs- und Naturwundern in der bisherigen Forschung Nach Theissen/Merz kann man „die sechs Typen von Wundererzählungen … anhand folgender Übersicht darstellen:“2 Nachwirkungen des historischen Jesus Vorausgesetzter Osterglaube Exorzismen Therapien Normenwunder Rettungswunder Geschenkwunder Epiphanien Kürzer kann man die Meinung der Forschungsmehrheit kaum darstellen: Heilungen und Exorzismen haben einen wie auch immer gearteten Anhalt an der Geschichte Jesu (z. B. als psychosomatische Einwirkung Jesu auf die Kranken), Epiphanien und Naturwunder (wie die Rettungs- und Geschenkwunder seit Bultmann oft genannt werden)3 nicht. Letzteren, so die Annahme, liegen lediglich „Erinnerungen an den historischen Jesus“ wie etwa „tatsächliche Bootsreisen“ (Sturmstillung), oder „tatsächliche ‚Speisungen‘ “ (Speisung der 4 000 oder 5 000) zugrunde;4 diese seien erst nachträglich – nach Ostern – ins Wunderbare gesteigert worden, um Jesus als göttliche Gestalt darzustel- 1 2 3 4 B. P. Göcke, R. Schneider, Gibt es einen prinzipiellen Konflikt von Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft?, in: dieselben (Hrsg.), Gottes Handeln in der Welt, Regensburg 2017, 7–38, 7. G. Theißen, A. Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1996, 268. Dazu werden gezählt: Sturmstillung (Mk 4,35ff ), Seewandel (Mk 6,45ff ), Weinwunder (Joh 2), wunderbarer Fischfang (Lk 5/Joh 21), Münze im Fisch (Mt 17,24–27), Verfluchung des Feigenbaumes (Mk 11). Theissen/Merz, Jesus 269. Ähnlich z. B. M. Wohlers, ZNT 4 (2001), 49–53; E. Eve, The Growth of the Nature Miracles, in: The Nature Miracles of Jesus, hrsg. von G. H. Twelftree, Eugene OR, 2017, 66–85, 85. theologische beiträge 51. Jg. (2020), 169–185 169 len. Man löst sich mit dieser Deutung einerseits von der bis zum Beginn der Neuzeit selbstverständlichen supranaturalistischen Deutung der Naturwunder, andererseits auch von jenem Rationalismus, der für alle Wunder Jesu eine natürliche Erklärung fand (C. F. Bahrdt; H. E. G. Paulus) und deutet sie, wie schon D. F. Strauß und R. Bultmann mythisch bzw. kerygmatisch, d. h. als Geschichten, die gar nicht den Anspruch auf Historizität erheben, sondern eine tiefer liegende Wahrheit zum Ausdruck bringen wollen, sei es die „messianische Idee“ von der Göttlichkeit aller Menschen (Strauß) oder den Glauben, dass Gott in diesem Menschen gehandelt hat (Bultmann). Doch wird eine solche Unterscheidung den Texten nicht gerecht:5 Denn zum einen stellen auch Heilungswunder wie die Reinigung Aussätziger, die Heilung eines Mannes, der 38 Jahre lang gelähmt war, oder die Auferweckung Toter „krasse Wunder“ dar, die jegliche Normen in Frage stellen – auch nach antikem Verständnis.6 Zum andern ist es auch gattungsmäßig nicht legitim, die sogenannten Naturwunder-Erzählungen von den übrigen Wundererzählungen künstlich abzutrennen.7 Denn alle Wundererzählungen in den Evangelien werden, wie R. Zimmermann ganz richtig feststellt, „narratologisch betrachtet“ als „faktuale Erzählungen“ präsentiert, d. h. als Geschichten, die einen Anspruch auf historische Referenzialität erheben, „auch wenn der Erzählinhalt die gewohnte Realität durchbricht“8. Darin unterscheiden sich die Wundererzählungen des NTs, und zwar auch die „Naturwundererzählungen“, von antiken Mythen.9 Die Spannung zwischen „faktualer Erzählung“ und dem Übersteigen des Normalen ist für die Wundererzählungen ebenso konstitutiv wie die Tatsache, dass das erzählte Geschehen Furcht und Verwirrung hervorruft – bei den Umstehenden in der Erzählung wie auch bei den Lesern – denn „sie unterwandern und stören das vertraute Regelwerk von Sinn und Verstehen“.10 Es muss deshalb als unangemessene „Zähmung“ gelten, wenn man die Naturwunder aufgrund des Analogieprinzips kategorisch ablehnt und die Heilungswunder auf psychosomatische Wirkungen zurückführt, ihnen damit ihren übernatürlichen Charakter nimmt und sie so ebenfalls dem Analogieprinzip unterwirft, 5 Siehe für die Geschichte dieses Zweifels R. Zimmermann, Re-Counting the Impossible, in: Nature Miracles (siehe Anm. 4), 107–127, 109f und G. H. Twelftree, Nature Miracles and the Historical Jesus, a. a. O., 3–37, 5f. 6 Vgl. R. Zimmermann, Von der Wut des Wunderverstehens, in: Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen, WUNT 339, hrsg. von B. Kollmann und R. Zimmermann, Tübingen 2014, 27–52, 34. 7 Zimmermann, Re-Counting 127. 8 Zimmermann, Wut 35.37; ders., Gattung ,Wundererzählung‘. Eine literaturwissenschaftliche Definition, in: Hermeneutik (siehe Anm. 6), 311–343, 322. 9 Dieser „faktuale Anspruch“ ist, wie S. Luther (Erdichtete Wahrheit oder bezeugte Fiktion, in: Hermeneutik, siehe Anm. 6, 345–368, 363) mit Recht feststellt, bei den Wundererzählungen des NTs „nicht aus dem Einzeltext zu erheben, sondern lässt sich allein aus dem Anspruch des Gesamtwerks ableiten“, welcher z. B. für das Lk-Evangelium aus Lk 1,1–4 zu entnehmen ist. 10 Zimmermann, Wut 42. Nach Zimmermann (Re-Counting 120) ist deshalb jedes Wunder ein „Normenwunder“, da alle Wunder das, was „normal“ ist, übersteigen. Dass die Speisung der 5 000 „hard to imagine“ ist (so Eve, Growth 80), ist charakteristisch für diese Wundererzählungen und spricht nicht gegen ihren faktualen Anspruch. 170 wonach prinzipiell nur das als geschehen anzusehen ist, wozu es auch heute Analogien gibt.11 „Wer die Wundererzählungen ‚nur‘ symbolisch erklärt, missachtet nicht nur deren faktualen Anspruch, sondern entzieht auch der theologischen Überzeugung den Boden, dass Gottes Wirken sinnlich erfahrbare Wirklichkeit werden kann.“12 Der vorliegende Aufsatz möchte zeigen, dass die Einteilung der Wunder Jesu in „mögliche“ Heilungswunder und „unmögliche“ Naturwunder nicht nur gattungsmäßig, sondern auch vom religionsgeschichtlichen Hintergrund her nicht haltbar ist. 2. Der religionsgeschichtliche Hintergrund der Wunder Jesu in der gegenwärtigen Forschung Hatte man erst einmal ausgeschlossen, dass Jesus die im NT berichteten Wunder tatsächlich getan haben konnte, bot sich der religionsgeschichtliche Vergleich an, um die Entstehung der zahlreichen Wundergeschichten im NT zu erklären. R. Bultmann folgte D. F. Strauß in seiner Beurteilung der neutestamentlichen Wundererzählungen als „Mythen“ und erklärte ihre Entstehung mit dem Bestreben der frühen Christenheit, Jesu Überlegenheit gegenüber den Heroen der Umwelt zu demonstrieren. Während Strauß dabei auf die alttestamentliche Tradition zurückgriff, nahm Bultmann im Anschluss an die religionsgeschichtliche Schule für die meisten Wundergeschichten einen hellenistischen Hintergrund an, vor allem das Idealbild des sogenannten „Theios Aner“. Heute wird oft von einer Motivmischung ausgegangen. So sind beispielsweise nach B. Kollmann die Naturwunder „legendarische Glaubenszeugnisse der frühen Christenheit, die unter Rückgriff auf alttestamentliche wie hellenistische Wundertradition das Bekenntnis zum gekreuzigten und auferstandenen Herrn entfalten.“13 Kollmann führt als religionsgeschichtlichen Hintergrund der Wunder Asklepiosheiligtümer, „göttliche Menschen“, jüdische Wundercharismatiker und magische Papyri auf.14 Zugleich zieht er immer wieder auch die alttestamentliche Tradition heran und interpretiert beispielsweise das Weinwunder zu Kana aus Joh 2 als Ergebnis „einer gegenseitigen Befruchtung“ des Dionysoskultes und der alttestamentlich-jüdischen Tradition, wo- 11 So z. B. B. Kollmann, Neutestamentliche Wundergeschichten, 2., durchges. und erg. Aufl., Stuttgart 2007, 92. Ohnehin sollten wir, wenn wir denn Troeltschs Analogieprinzip anwenden, nicht den begrenzten Horizont unserer westlichen Welt als Norm zugrunde legen, sondern uns diesen Horizont durch den weltweiten Erfahrungsschatz der Christenheit weiten lassen. Siehe hierzu C. S. Keener, Miracle Reports: Perspectives, Analogies, Explanations, in: Hermeneutik (siehe Anm. 6), 53–65, 58–61 und ders., Miracles: The Credibility of the New Testament Accounts, Grand Rapids 2011 (2 Bd.e). 12 Zimmermann, Wut 44. Vgl. auch R. Deines, God’s Role in History as a Methodological Problem for Exegesis, in: ders., Acts of God in History, hrsg. von C. Ochs und P. Watts, WUNT 317, Tübingen 2013, 1–26. 13 Kollmann, Wundergeschichten, 102. Auch bei Theissen/Merz ( Jesus 257f.275–279) entsteht der Eindruck einer solchen Motivmischung. 14 Kollmann, Wundergeschichten, 30–57. 171 nach die Fülle von Wein Sinnbild der Heilszeit ist.15 Dieses disparate Bild ist sowohl historisch unwahrscheinlich als auch theologisch unbefriedigend. 3. Das Alte Testament als Hintergrund der Wunder Jesu Deshalb soll im Folgenden noch einmal neu nach dem religionsgeschichtlichen Hintergrund der Wunder Jesu gefragt werden. Wir beschränken uns dabei im Wesentlichen auf die synoptischen Wundererzählungen, denn die johanneischen „Zeichen“ bedürften einer ganz eigenen Behandlung. Zunächst ist mit Otto Betz festzuhalten: „Grundsätzlich ist das Alte Testament ein viel sicherer Boden als manche vermutete nicht-christliche Quelle, da es die Bibel Jesu und der neutestamentlichen Autoren war.“16 Dass sie dieses kannten, wissen wir mit Sicherheit. Inwieweit sie mit hellenistischen Heldengeschichten vertraut waren, ist ungewiss. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Menschen, die von Jesus Heilung erhoffen, ihn nach Mt und Mk mit dem jüdischen Titel „Sohn Davids“ anrufen (Mt 9,27; 15,22; Mk 10,47parr), und dass die, die der Wunder Jesu ansichtig geworden sind, nach Mt 15,31 „den Gott Israels“ (vgl. Ps 41,14 u. ö.) preisen. Damit soll gar nicht geleugnet werden, dass sich in den antiken Texten gewisse Parallelen zu den neutestamentlichen Wundererzählungen finden. Diese können uns helfen zu verstehen, welche Assoziationen die Wundererzählungen bei hellenistischen Hörern geweckt haben dürften. Doch dürfen solche religionsgeschichtlichen Parallelen nicht unter der Hand zu Quellen der neutestamentlichen Wundergeschichten mutieren.17 Dass einzelne Heilpraktiken Jesu Parallelen in der jüdischen und hellenistischen Umwelt haben, wie beispielsweise die Verwendung von Speichel in Mk 7,31–37; 8,22–26; Joh 9,1–7), ist nicht zu bestreiten, und ein Einfluss aus der Umwelt sogar auf Jesus selbst ist nicht völlig auszuschließen.18 Doch kann der Sinn der Wunder Jesu nicht von solchen Parallelen abgeleitet werden; sie machen aus Jesus noch keinen „Schamane[n] oder … Magier der besonderen Art.“19 15 A. a. O. 99f. Für die relevanten außerbiblischen Texte siehe K. Erlemann, Kaum zu glauben, NeukirchenVluyn 2016, 200–210. 16 O. Betz, Die traditionsgeschichtliche Exegese als Beitrag zur theologischen Toleranz, in: ders., Jesus. Der Herr der Kirche, WUNT 52, Tübingen 1990, 407–424, 416. 17 Vgl. O. Betz, W. Grimm, Wesen und Wirklichkeit der Wunder Jesu. Heilungen – Rettungen – Zeichen – Aufleuchtungen, Frankfurt am Main, Bern, Las Vegas 1977, 53. 18 Siehe z. B. die Belege für die Heilkraft von Speichel bei Kollmann, Wundererzählungen 80f. Mit R. Zimmermann ist es als „Fehlinterpretation der älteren Forschung“ einzustufen, „dass sie postulierte, in den Evangelien sollten konkrete Handlungen möglichst vermieden werden und Jesus wirke – in Abgrenzung von zeitgenössischen Wundertätern – nur durch das ‚reine Wort‘ “ (Gattung 333). 19 So D. Dormeyer, Wundergeschichten in der hellenistischen Medizin, in: Hermeneutik (siehe Anm. 6), 127–151, 149. 172 4. Heilungen 4.1. Die Perspektive der Synoptiker: Heilungswunder als Wiederherstellung der Schöpfung Wunder wurden und werden vielfach abgelehnt, weil es sich dabei um einen Eingriff in die gottgegebene Schöpfungsordnung handle.20 Wer so argumentiert, lässt außer Acht, dass die Schöpfung seit dem Sündenfall nicht mehr intakt, sondern zutiefst verdorben ist. Insofern sind Wunder kein störender Eingriff in eine gute Schöpfung, sondern ein Akt der Wiederherstellung einer ursprünglich guten (Gen 1,31), jetzt aber von Leid geplagten, „seufzenden“ (Röm 8,22) Schöpfung. Wenn es in Mk 7,37 heißt: Gut hat er alles gemacht, und er macht die Tauben hören und die Stummen reden, wird damit das in Jes 35,5f angekündigte Geschehen in Analogie zu Gottes Schöpfungswerk beschrieben21: Man vergleiche das καλῶς πάντα πεποίηκεν von Mk 7,37 mit καὶ εἶδεν ὁ θεὸς τὰ πάντα ὅσα ἐποίησεν καὶ ἰδοὺ καλὰ λίαν von Gen 1,31LXX. Und wenn in Mk 3,5 und 8,25 die Heilung einer verdorrten Hand bzw. eines Blinden als „Wiederherstellung“ bezeichnet wird (ἀπεκατεστάθη bzw. ἀπεκατέστη), so kommt darin ebenfalls das Verständnis der Wunder Jesus als Wiederherstellung zum Ausdruck.22 Vor diesem Hintergrund geht es auch bei den von Theissen als „Normenwundern“ bezeichneten Wundern nicht einfach um eine „Entschärfung der Thora“,23 sondern um die Vollendung der Schöpfung als das dem Sabbat gemäße Werk. Lk beschreibt die Heilung einer verkrümmten Frau und eines wassersüchtigen Mannes am Sabbat (Lk 13,10–17; 14,1–6) als „Lösen“ (ἀπολύειν) von ihrer Krankheit; die Frau wird dabei explizit als „Tochter Abrahams“ angesprochen. Damit wird Jesu Tat unter das Vorzeichen der „Wiederherstellung Israels“ und des Anbruchs des endzeitlichen Sabbats, von dem auch Jes 61,2 spricht, gestellt. “The claim was that the sabbath day was the most appropriate day, because that day celebrated release from captivity, from bondage, as well as from work.”24 Dass die Krankheit in Lk 13,16 auf das Wirken Satans zurückgeführt wird, bestätigt die Perspektive, wonach es um die Wiederherstellung der durch den Teufel gestörten Schöpfung geht. „Für den Menschen in Israel und überhaupt für den antiken Menschen lauert überall das Chaos. Es zeigt sich in vielerlei Krankheiten … Verunstaltungen, Verletzungen, in sozialer Isolierung, in den Naturgewalten und dann vor allem im Tod … Wenn Jesus Kranke heilt, Dämonen austreibt, die Wasser bändigt und Tote auferweckt, geschieht im Grunde überall das Gleiche: Er geht gegen die Chaosmächte an, er besiegt die Dämonen, er heilt die beschädigte und entstellte Welt, damit die Gottesherrschaft sichtbar wird und die Schöpfung zu der Integrität und Schönheit findet, die ihr von Gott zugedacht ist.“25 Wenn Jesus in Mk 2,1–12 einen 20 Die Geschichte dieser Ablehnung reicht von Sokrates über die Philosophie der Stoa, der Aufklärung, den theologischen Rationalismus, die mythische und kerygmatische Wunderdeutung bis in unsere Zeit. 21 Vgl. Betz/Grimm, Wesen, 33. 22 Vgl. ebd. 23 Theissen/Merz, Jesus, Göttingen 1996, 266. 24 N. T. Wright, Jesus and the Victory of God, London 1996, 394. 25 G. Lohfink, Jesus von Nazaret, Freiburg i. Br. 2011, 197. 173 Gelähmten nicht nur heilt, sondern ihm zuvor die Vergebung seiner Sünden zuspricht, stellt er ihn damit an Leib und Seele wieder her – und zwar in der Vollmacht Gottes, der nach Ps 103,3 „alle deine Sünden vergibt und heilt alle deine Gebrechen“.26 4.2. Jesu eigene Aussagen über seine Heilungswunder: Elia und Messias Jesus spricht an zwei Stellen selbst darüber, wie seine Wunder zu verstehen sind – einmal im lukanischen Sondergut, einmal in der Q-Tradition. Nach Lk 4,18–21 hat Jesus die messianische Weissagung aus Jes 61,1–2 vorgelesen und mit den Worten kommentiert: Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren (4,21). In derselben Rede nimmt er auf die Elia/Elisa-Tradition Bezug (vgl. Lk 4,25–27 mit 1Kön 17,1ff; 2Kön 5,14). Er sieht also seine Heilungswunder zugleich in der messianischen Perspektive von Jes 61,1–227 und der Elia-Tradition. „Die Jesajastelle begründet das Vollmachtsbewusstsein Jesu; die Elia-Stellen begründen eine Begrenzung der Möglichkeiten Jesu – wunderbare Heilungen sind nur partiell zu erwarten, nur da möglich, wo Jesus auf einen intensiven Glauben stößt – und legitimieren zugleich eine Ausweitung: das Heil kommt zu den Heiden.“28 Dieser Befund wird durch Mt 11,5–6par bestätigt – eine Stelle, die selbst R. Bultmann für authentisch hielt,29 wo Jesus als Antwort auf die Frage nach seiner Identität eine Reihe von Wundern aufzählt, die er getan hat und die nach dem Buch Jesaja und im Frühjudentum abgesehen von der Heilung Aussätziger alle für die messianische Endzeit als Taten Gottes bzw. seines Messias erwartet wurden (vgl. Jes 26,19; 35,5–6; 61,1–2 mit 4Q521):30 Lahme gehen, Blinde sehen, Tote werden auferweckt und den Armen wird frohe Botschaft verkündigt. Menschen, denen der Zugang zum Volk Gottes verwehrt war,31 werden wieder in dieses Volk aufgenommen. Es geht hier um die Restitution des Gottesvolkes durch den Messias. Jesus wiederholt zwar in gewisser Weise mit seinen Heilungen und Auferweckungen auch die Wunder Elia-Elisas, tut aber darüber hinaus die Wunder, die von Gott selbst bzw. von seinem Messias im Eschaton zu erwarten waren. „Seine Taten weisen ihn also als messianischen Repräsentanten Gottes aus,“32 mit dem Gottes Herrschaft anbricht (vgl. auch Jesu Aussage über den Anbruch der Gottesherrschaft in seinen Exorzismen in Lk 11,20). Von daher sind 26 Vgl. O. Betz, Jesu Lieblingspsalm, in: ders., Jesus. Der Messias Israels, WUNT 42, Tübingen 1987, 185–201, 198–199. 27 Das εὐαγγελίσασθαι πτωχοῖς aus Jes 61,1 (vgl. 11Q13, Kol II,18) ist das Werk des Gesalbten. Vgl. hierzu R. Riesner, Verschwörung um Qumran? Hrsg. O. Betz, R. Riesner, München 2007, 188. 28 Betz/Grimm, Wesen und Wirklichkeit, 31f, Anm. 41. 29 Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT NF 12, Göttingen 91979, 133. 30 Siehe hierzu Th. Pola, Zu „den Werken des Gesalbten“ (Mt 11,2–6par) vor dem Hintergrunde der alttestamentlichen und frühjüdischen Traditionsgeschichte, in: Der jüdische Messias Jesus, FS für R. Riesner, WUNT 2,425, Tübingen 2016, 9–47, 40. 31 Vgl. CD XV,15–17; 1Q28a II,3–10; 1QM VII,4–6 und dazu H. Stettler, Die Bedeutung der Täuferanfrage in Matthäus 11,2–6 par Lk 7,18–23 für die Christologie, Biblica 89 (2008), 173–200, 181. 32 P. Stuhlmacher, Die Verkündigung des Christus Jesus, Wuppertal 2003, 20. 174 auch die Weherufe in Mt 11,20–24parr zu verstehen, in denen Jesus seinen Wundern so hohe Bedeutung beimisst, dass er denen, die sich durch sie nicht zur Umkehr rufen lassen, Gottes Gericht ansagt. Dieser Bezug auf die anbrechende Gottesherrschaft fehlt sowohl bei den Heilungen an den Asklepiosheiligtümern, zu denen außerdem im Gegensatz zu den Wundern Jesu mehrheitlich Traumepiphanien gehören, als auch bei Vespasian33 und dem jüdischen Wundercharismatiker Chanina ben Dosa (Mitte des 1. Jh.s n. Chr., wie Jesus aus der Nähe von Sepphoris stammend),34 der um die Heilung von Kranken betete (bBerachot 34b). 4.3. Heilung Aussätziger Die in Mt 11,5 ebenfalls erwähnte und von Jesus praktizierte (Mk 1,40–45parr; Lk 17,11–19) Heilung Aussätziger fehlt bei Jesaja und auch in 4Q521. Sie weist in die Elia-Elisa-Tradition: Im AT werden nur zwei Aussätzigenheilungen überliefert – bei Mose (Num 12,10–16; vgl. auch das Zeichen in Ex 4,6–7) und Elisa (2Kön 5). Auf letztere Heilung nimmt Jesus nach Lk 4,27 Bezug. Für sie ist charakteristisch, dass Elisa nicht, wie von Naeman erwartet (2Kön 5,11), nach Art des Baalskultes Naturkräfte mobilisiert, sondern vollkommen „supranaturalistisch“ handelt, indem er Naeman ohne ihn überhaupt zu empfangen aufträgt, sich siebenmal im Jordan unterzutauchen.35 Auch die Heilung einer verdorrten Hand in Mk 3,1–6 hat mit 1Kön 13,4–7 eine Parallele bei Elia.36 4.4. Totenauferweckungen (Mk 5,35–43parr; Lk 7,11–17; Joh 11) Die Totenauferweckungen durch Jesus werden vielfach als nachträglich gesteigerte Heilungserzählungen interpretiert und mit hellenistischen Traditionen in Zusammenhang gebracht. Zur „Erhellung der Entstehungsgeschichte“ der Erzählung von der Auferweckung des Jünglings zu Nain aus dem lukanischen Sondergut in Lk 7,11–17 sind nach Kollmann neben der „Erinnerung an das Wunder des Propheten Elia (1Kön 17,17–24)“ die hellenistischen „Erzählungen über Asklepiades von Prusa und Apollonius von Tyana“ beizuziehen.37 33 Die Erzählungen über Vespasian (69–79 n. Chr. römischer Kaiser), wonach dieser einen Blinden mit Speichel und ein Leiden an einer Hand durch Berührung mit seiner Fußsohle heilte (Tacitus, Historien 4,81), weisen oberflächlich betrachtet erstaunliche Ähnlichkeiten mit manchen neutestamentlichen Wundererzählungen auf: vgl. M. Clauss, Wunder und Kaiserkult, in: Hermeneutik (siehe Anm. 6), 153–164, 155. 34 Vgl. dazu G. Vermes, Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1993, 55–66. 35 H. Gese, „Zur Bedeutung Elias für die biblische Theologie“ in: Evangelium – Schriftauslegung – Kirche. Festschrift für Peter Stuhlmacher zum 65. Geburtstag, hrsg. von J. Ådna, S. J. Hafemann und O. Hofius, 1997, 126–150, 138. 36 Von den Strafwundern Elias distanziert Jesus sich freilich: vgl. Lk 9,52 mit 2Kön1,9–12 und Sir 48,3. 37 Kollmann, Wundergeschichten, 93. 175 Berichte über erfolgte Totenerweckungen werden im AT nur in der Elia-Elisa-Tradition38 überliefert (vgl. 1Kön 17,17–24; 2Kön 4,18–37; auch Sir 48,5). Die Geschichten stimmen mit der in Lk 7 darin überein, dass es sich jeweils um den einzigen Sohn einer Witwe handelt, und dass dieser nach seiner Auferweckung seiner Mutter übergeben wird (vgl. 1Kön 17,23 und 2Kön 4,36 mit Lk 7,14). Doch fällt auf, dass sowohl Elia als auch Elisa die Auferweckung von Gott erbitten (1Kön 17,21; 2Kön 4,33) und gewisse Wiederbelebungshandlungen ausführen (1Kön 17,21; 2Kön 4,33f ). Jesus dagegen befiehlt (Mk 5,41par; Lk 7,14). Wir müssen deshalb auch hier neben der Elia-Elisa-Tradition die Verheißung beiziehen, wonach in der messianischen Heilszeit Gott die Toten auferwecken wird (vgl. Mt 11,5par mit Jes 26,19 und 4Q521 Frg. II, Kol. 2). Es ist im Licht dieser Verheißung zu verstehen, wenn Jesus allein durch sein Wort Tote auferweckt und damit seine Macht über den Tod demonstriert. Wie steht es demgegenüber mit den hellenistischen „Vorbildern“ Asklepiades und Apollonius?39 Asklepiades lebte im 1. Jh. v. Chr., Apollonius im 1. Jh. n. Chr. Kollmann nennt die Geschichte über Asklepiades, welche durch Celsus (25 v.–50 n. Chr.) und Apuleius (2. Jh. n. Chr., 123–170) berichtet wird, zunächst eine „Wiederbelebung“, was sie als Parallele zu der von Jesus vollbrachten Auferweckung erscheinen lässt, gibt dann aber zu, dass es sich dort um einen Scheintoten handelt, bei dem „noch Spuren verborgenen Lebens“ zu ertasten sind, welche Asklepiades durch „ärztliches Eingreifen“ wieder entfacht.40 Die Geschichte kann also kaum als Beleg dafür gelten, dass „der Typus der hellenistischen Totenerweckungserzählung… zeitlich weit zurückreicht“, wie Kollmann behauptet.41 Die Parallele zu Apollonius von Tyana wird oft als sehr bedeutsam eingestuft, lebte Apollonius doch im selben Jahrhundert und im selben Kulturraum wie Jesus. Tatsächlich sind die Parallelen zwischen der Apolloniuserzählung und den beiden synoptischen Auferweckungserzählungen in Mk 5,35–43parr und Lk 7,11–17 so frappierend, dass ein Zusammenhang zwischen den beiden Überlieferungen wahrscheinlich erscheint. Gleichwohl ist auch hier Zurückhaltung geboten: Da die Geschichte erst bei Philostrat im 3. Jh. schriftlich überliefert ist, ist die Annahme einer Abhängigkeit der synoptischen Tradition von dieser Geschichte sehr gewagt.42 38 Siehe zum Zusammenhang zwischen beiden Gese, Zur Bedeutung Elias 127. Elisa bekommt nach 2Kön 2,9ff „zwei Drittel vom Geist Elias“, also den Anteil, der nach Dtn 21,17 dem Erstgeborenen zusteht. 39 In den 70 Wundererzählungen vom Asklepiosheiligtum in Epidauros kommt keine Totenerweckung vor (Dormeyer, Wundergeschichten 134). 40 Vgl. Apuleius, Florida 19: „… etiam atque etiam pertrectavit corpus hominis et invenit in illo vitam latentem. Confestim exclamavit vivere hominem...“ 41 Neutestamentliche Wundergeschichten 94. 42 Philostrats Behauptung, er stütze sich auf die Aufzeichnungen des Apollonius-Schülers Damis, ist als literarische Fiktion einzustufen. Die älteste Erwähnung des Apollonius stammt von Lukian von Samosata (spätes 2. Jh.) und trägt inhaltlich für unser Thema nichts aus. Vgl. auch die Kritik an Bultmanns Missachtung dieser chronologischen Erwägungen bei E. Koskenniemi: Apollonios von Tyana in der neutestamentlichen Exegese, WUNT 2,61, Tübingen 1994, 42–47.203–229. “Apollonius, as we know him from Philostratus‘ work, is a creation of the third century sophist, partly based on elder tradition” 176 Dagegen könnte die Apollonioserzählung ein bewusster Gegenentwurf zu den beiden synoptischen Erzählungen sein, zumal sie Züge aus beiden Erzählungen addiert43: Es handelt sich um ein Mädchen (Mk 5), das auf einer Bahre liegt (Lk 7). Der Heiler begegnet dem Trauerzug und hält ihn von sich aus an (Lk 7). Er berührt die Tote und spricht zu ihr (Mk 5), diese erwacht und kehrt in ihr Elternhaus zurück. Dabei ist zwar zunächst von einer „Toten“ die Rede, doch zieht Philostrat dann ausdrücklich in Betracht, dass Apollonius sie womöglich „aus dem Scheintode“ erweckte und „noch einen Lebensfunken an ihr wahrgenommen hatte“.44 Martin Hengel ist deshalb zuzustimmen, wenn er die Apolloniuserzählung des Philostrat als Persiflage auf die Wundererzählungen der Evangelien einstuft, mit der dieser sich über den Glauben der Christen lustig machen wollte, und wenn er urteilt, dass diese Erzählung „sehr viel mehr romanhafte als biographische Züge trägt und darin gerade nicht den synoptischen Evangelien gleicht“.45 Einen „hellenistischen Typus der Totenerweckungserzählung“ (s. o.) geben diese Beispiele schlechterdings nicht her, so dass es auch nicht möglich ist, die neutestamentlichen Auferweckungserzählungen in ihn einzuordnen.46 5. Naturwunder Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die „Rettungs- und Geschenkwunder“ unter den Naturwundern, denn die Epiphanien sind eigentlich Wunder an Jesus, nicht von ihm.47 Nach Kollmann handelt es sich „bei den Naturwundern ganz eindeutig um theo- 43 44 45 46 47 (ders., Apollonius of Tyana, the Greek Miracle Workers in the Time of Jesus and the New Testament, in: Hermeneutik, siehe Anm. 6, 165–181, 181). Ganz abgesehen von der zeitlichen Priorität der Synoptiker muss es als viel plausibler gelten, dass aus zwei Erzählungen mit ähnlichem Inhalt eine gemacht wurde, als dass die Motive der einen Erzählung bei Philostrat auf zwei Erzählungen in den Evangelien verteilt wurden. Koskenniemi vermutet, dass die Verschmelzung – wenn hier überhaupt mit einer Beeinflussung zu rechnen ist – „schon vor Philostratos“ stattgefunden hat (Apollonius von Tyana 198). Text bei Theissen/Merz, Jesus, 257. M. Hengel/A. M. Schwemer, Jesus und das Judentum, Tübingen 2007, 194f, Anm. 6. Nach Hengel/ Schwemer handelt es sich dabei um „eine Art von philosophischem ‚Antievangelium‘, verfaßt auf Wunsch der Kaiserin Julia Domna nach deren Tod 217, zu einer Zeit, als das Christentum großen Einfluß gewann“ (ebd.). Nach G. Theissen „können fast alle antiken Totenerweckungen durch Wundertäter als Wiedererweckung Scheintoter verstanden werden …, ferner sind die typischen Motive dieselben: Die Kraftübertragung geht hier wie dort durch Berührung vor sich“ (Urchristliche Wundergeschichten, SUNT 8, Gütersloh 1974, 98, Anm. 25). Bemerkenswerter Weise fallen aber „gleich zwei der nur drei evangelischen Totenerweckungen aus diesem formgeschichtlichen Schema … Was immer man von der Geschichtlichkeit der Auferweckung des Lazarus halten mag, die Erweckung eines Scheintoten ist sie jedenfalls nicht ( Joh 11,39). Und wenn Jesus beim Jüngling von Nain an die Totenbahre greift, dann nicht, um Kraft zu übertragen, sondern um den Trauerzug aufzuhalten (Lk 7,14)“ – so R. Riesner, Jesus – Jüdischer Wundertäter und epiphaner Gottessohn, ZNT 4 (2001), 54–58, 57. Vgl. Zimmermann, Gattung 329. 177 logische Lehrerzählungen, die hochgradig durch alttestamentliche oder hellenistische Wundertradition beeinflusst sind“ und „vom Osterglauben her die göttliche Macht des erhöhten Christus veranschaulichen“.48 Diese pauschalen Behauptungen lassen sich freilich nicht an den Texten festmachen. Lediglich für die Geschichte vom wunderbaren Fischzug in Lk 5,1–11 existiert mit Joh 21,1–14 möglicher Weise eine nachösterliche Parallele. Lägen auch den anderen „Naturwundern“ nachösterliche Erfahrungen zugrunde, müsste man erklären, wie es dem kollektiven christlichen Gedächtnis gelungen sein sollte, dieses nachösterliche Setting in sämtlichen Erzählungen zu verdrängen.49 Sucht man nach Parallelen im AT, stößt man, wie sich im Folgenden zeigen wird, wiederum einerseits auf Mose und Elia-Elisa, andererseits auf das Wirken Gottes, des Schöpfers bzw. seines messianischen Repräsentanten. 5.1. Sturmstillung (Mk 4,35–41parr) Zunächst fällt eine begrenzte Ähnlichkeit zwischen Jona 1,4–5.15–16 und Mk 4,37–41 ins Auge: In beiden Texten kommt ein heftiger Sturm über dem See auf, wobei Jesus wie Jona ( Jon 1,4–5) schläft. In beiden Fällen löst das Wunder große Furcht aus (καὶ ἐφοβήθησαν – Mk 4,41: φόβον μέγαν, Jon 1,16LXX: φόβῷ μέγᾷ). Aber hier endet bereits die Ähnlichkeit, denn während bei Jona das Schiff „zu zerbrechen drohte“, „füllte es sich“ nach Mk. Jona „schlief im untersten Schiffsraum“, Jesus (nach Mk) „auf einem Kissen“. Diese Unterschiede machen es unwahrscheinlich, dass hier einfach das Jonawunder auf Jesus übertragen wurde. Eher wurde ein tatsächliches Wunder Jesu mit den Farben des Jonawunders gezeichnet. Jesus war weder auf der Flucht vor seinem Auftrag, noch musste er ins Wasser geworfen werden, um den Sturm zu stillen. Sein Wort reicht aus. Während die Männer, nachdem der Sturm aufgehört hat, dem Gott Israels (‫ליהוה‬/τῷ κυρίῳ) opfern, fragen die Jüngern staunend nach der Identität Jesu. Hier ist also „mehr als Jona“ (Mt 12,41par Lk 11,32). Auch zum Schilfmeerwunder bestehen Parallelen: das Hindurchziehen durch das Wasser (vgl. Ex 14,16 mit Mk 4,35) in der Nacht (vgl. Ex 14,20 mit Mk 4,35); Furcht und (ansatzweiser) Glaube „an den Herrn und an Mose, seinen Diener“ als Resultat (Ex 14,31; vgl. Mk 4,41). Es gab in der alttestamentlich-jüdischen Tradition mehrere re-enactments des Schilfmeerwunders: bei Josua: ( Jos 3,14ff ), bei Elia und Elisa (2. Könige 2,8.13f ), bei Johannes dem Täufer, der als Elia redivivus mit seiner Taufe am Jordan den Eisodus ins Land abbildet,50 sowie bei Theudas ( Josephus Ant. 20,97). Ist Jesus also ein neuer Mose oder ein Abbild Elias? Nein, er ist mehr als dies, denn er bedrohte den Wind und sprach zu dem See: Schweig, verstumme! (Mk 4,39). D. h., er übernimmt nicht die Rolle Moses, sondern Gottes, der als Schöpfer im Exodus die 48 Kollmann, Wundergeschichten 99; vgl. Wohlers, Jesus, der Heiler 51. 49 So richtig Eve, Growth 84 im Blick auf den Seewandel. 50 Vgl. H. Gese, Der Johannesprolog, in: Ders., Zur biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge, 3., verb. Aufl., Tübingen 1989, 152–201, 200. 178 bedrohlich gewordene Schöpfung in ihre schöpfungsmäßigen Schranken weist, wie dies in Ps 106,9 (Er bedrohte das Schilfmeer; da wurde es trocken) und Ps 107,29 (Er verwandelte den Sturm in Stille, und es legten sich die Wellen) geschildert wird. Auch der Befehl an die Jünger, „hinüberzufahren“ in Mk 4,35 entspricht Gottes Befehl in Ex 14,15.51 Demgegenüber sind sogenannte hellenistische „Parallelen“ weiter von den neutestamentlichen Erzählungen entfernt: Wenn Dormeyer schreibt: „Aristides … vermag mit der Anrufung ‚O Asklepios‘ einen Sturm [zu] stillen (Plut., Arist. 2,11f ),“52 so ist diese Formulierung irreführend, denn sie suggeriert, dass Aristides den Sturm gestillt hat, während es doch Asklepios gewesen sein soll. Im Gegensatz dazu ruft Jesus keinen anderen Gott um Hilfe an, – er gebietet selbst dem Sturm, was zu der Frage in Mk 4,41 führt: Wer ist dieser, dass selbst Wind und das Meer ihm gehorchen? Nach Jes 43,16–21 (vgl. 1QM 11,10) ist das Schilfmeerwunder das Modell der endzeitlichen Erlösung des auserwählten Volkes Gottes. Somit vollzieht Jesus mit der Sturmstillung real-symbolisch die Erlösung des neuen Gottesvolkes, symbolisiert durch die Zwölf als Kern seiner Jüngergemeinde.53 „Die Erzählungen von der Sturmstillung … sind eine Art eschatologisches Gegenstück zu jenen ‚Urtaten‘ Jahwes, der als Schöpfer die Chaosfluten besiegte und als Retter Israels durch die Schilfmeerwasser hindurchzog.“54 Schon in der alttestamentlich-jüdischen Tradition konnte deshalb das Schilfmeerwunder in mythischer Sprache beschrieben werden, so z. B. in Jes 51,9f. 5.2. Brotvermehrungsgeschichten (Mk 6,30–44parr; 8,1–10par) Die Brotvermehrungsgeschichten lassen mehrere alttestamentliche Traditionen anklingen. Einerseits erinnern sie an das Brotwunder Elisas, der 100 Menschen mit 20 Broten sättigte (2Kön 4,42–44 – vgl. insbesondere die Aufforderung in 2Kön 4,42: Gib es dem Volk, damit sie zu essen haben und den Einwand in 2Kön 4,43: Wie soll ich das hundert Männern vorsetzen? mit Mk 6,37, sowie die abschließende Bemerkung in 2Kön 4,44 und sie aßen und ließen übrig nach dem Wort des Herrn mit Mk 6,42–43). Aufgrund der Zahl der Gesättigten sowie der Menge an Resten stellen Jesu Speisungswunder Elisas Speisung in den Schatten. 51 Nicht erst die Zusammenstellung mit der Geschichte vom Gerasener in Mk 5,1–20 „creates an allusion to the crossing of the Red Sea“ (so aber Eve, Growth 77). Vgl. zur Symbolik der Gerasenergeschichte, die ebenfalls auf das Schilfmeerwunder anspielt, O. Betz, The Concept of the So-Called „Divine Man“ in Mark‘s Christology, in: ders., Jesus. Der Messias Israels (siehe Anm. 26), 273–284, 281–283: “As the army of the Egyptians was drowned in the Red Sea, so the legion of demons perished in the Galilean Sea” (a. a. O. 282). 52 Dormeyer, Wundergeschichten 147. 53 Vgl. Betz, Divine Man 280. 54 Betz/Grimm, Wesen 56. Vgl. B. L. Blackburn, Artikel: Miracles and Miracle Stories, Dictionary of Jesus and the Gospels, hrsg. von J. B. Green, S. McKnight, I. H. Marshall, Downers Grove, IL, 1992, 549–560, 559: “The two rescue miracles, Jesus’ calming of and walking on the sea, are meaningful against the horizon of Yahwe’s assertion of his sovereignty over the sea in creation ( Job 26:12–13; Ps 74:12–15), the Exodus (Ps 77:16–20) and the eschaton (Is 27:1; cf. Rev 21:1).” 179 Zum andern spielt Mk (nicht aber Mt und Lk) mit dem „Lagern im grünen Gras“ (Mk 6,39) auf Ps 23,2 an; Mk 6,34 zitiert Num 27,17, wonach Mose sagte: Die Gemeinde des Herrn soll nicht sein wie Schafe, die keinen Hirten haben. Der Hirte Israels ist nach Jes 63,11 Mose, nach Ez 34,5.23 (vgl. PsSal 17,40) Gott selbst bzw. der von ihm eingesetzte Messias, welcher das Volk im Gegensatz zu den falschen Hirten weiden und heilen wird (Ez 34,4).55 Und schließlich erinnern diese Geschichten an die Speisung des Volkes Israel mit Manna durch Mose in Ex 16: Sie finden wie das Mannawunder in der Wüste statt (vgl. Mk 6,35 sowie 8,3 mit Ex 16,1; Ps 107,4–5).56 Die Aufteilung in Gruppen von 100 und 50 (Mk 6,40) erinnert an die Lagerordnung der Israeliten in der Wüste (Ex 18,25), der in Qumran im Kontext des endzeitlichen messianischen Mahls (vgl. Jes 25,6) Bedeutung beigemessen wird: vgl. 1QSa 1,14f; 1,27–2,1; 2,11–22. Damit „wird die Menge als endzeitliches Gottesvolk charakterisiert, das Jesus als messianischer Hirte nährt und erhält, wie es Gott bei der Wüstenwanderung gegenüber Israel getan hat“.57 Von daher ist es nur folgerichtig, wenn die Brotrede in Joh 6,31–33 explizit auf das Mannawunder in der Wüste rekurriert, und die Menge in Joh 6,14 in Jesus die messianische Gestalt des „Propheten wie Mose“ von Dtn 18,15.18 erkennt. Die Speisungswunder lassen also nicht nur die Elia-Elisa-Tradition anklingen, sondern werden auch „als endzeitliche Entsprechungen der urzeitlichen Exodus-Heilstaten“ interpretiert und haben messianischen Klang.58 Sie gelten dem restituierten Gottesvolk (Speisung der 5 000 mit 12 Körben an Resten – Mk 6,43) und den neu zu diesem Gottesvolk zugelassenen Heiden (Speisung der 4 000 mit 7 Körben an Resten – Mk 8,8). Tritt Jesus nun hier als neuer Elisa oder Mose auf ? Nein, denn während Elisa sagt: So spricht der Herr: Man wird essen und übriglassen (2Kön 4,43) und Gott ankündigt: Ihr werdet satt werden von Brot, und ihr werdet erkennen, dass ich der Herr bin, euer Gott, woraufhin Mose Israel das Manna ankündigt als das Brot, das der Herr euch zu essen gegeben hat (Ex 16,15.12 – vgl. Joh 6,32: nicht Mose, sondern mein Vater!), ist es nach Mk 6,41parr und 8,6parr Jesus, der den Jüngern das Brot zum Verteilen gibt. Er übernimmt hier also nicht die Rolle Moses, sondern die seines Vaters im Himmel. Dass dies die Erzählintention ist, bestätigt die Bemerkung in Mk 6,52, die das Entsetzen der Jünger über die erneute Sturmstillung durch Jesus mit den Worten kommentiert: Denn sie waren nicht zur Einsicht gekommen, als das mit den Broten geschah. Demnach 55 Deshalb ist in der Hirtenmetaphorik das entscheidende Bindeglied zwischen der jüdischen Messiaserwartung und den Heilungen Jesu zu sehen; vgl. Y. S. Chae, Jesus as the Eschatological Davidic Shepherd, WUNT 2,216, Tübingen 2006, 388. 56 Ob die Anklänge an die Elisageschichte zuerst waren und die an die Mannaerzählung einem sekundären Wachstum zuzuschreiben sind (so Eve, Growth 81), lässt sich nicht entscheiden, da bereits in der ältesten uns zugänglichen Überlieferung, bei Mk, beides da ist. 57 Kollmann, Wundererzählungen 298. 58 Betz/Grimm, Wesen und Wirklichkeit 54. 180 hätten die Jünger schon dort erkennen müssen, dass sie es mit dem Handeln Gottes zu tun hatten. Auch von Chanina ben Dosa wird in bTaanith 24bf ein (allerdings ganz „privates“) Brotwunder erzählt, und „Numa bewirtet wunderbar eine Volksmenge (Plut., Num. 15)“59, doch fehlt dort jeweils der Israel-Bezug, der hier konstitutiv ist. 5.3. Seewandel (Mk 6,45–52parr) Jesu Seewandel mutet wie eine Darstellung der poetischen Aussage aus Hiob 9,8 im Sinne einer „acted parable“ an; vor allem der LXX-Text stimmt fast wörtlich mit Mk 6,48 überein: vgl. περιπατῶν … ἐπὶ θαλάσσης mit περιπατῶν ἐπὶ τῆς θαλάσσης bei Mk.60 Jesu Absicht, an den Jüngern „vorüberzugehen“ (Mk 6,48), soll möglicherweise die Theophanien in Ex 33,19; 34,6 und 1Kön 19,11 in Erinnerung rufen, wo Gott an Mose bzw. Elia „vorübergeht“.61 Eine andere Möglichkeit wäre, dieses παρέρχεσθαι von Hi 9,11LXX her zu verstehen und mit dem Nichterkennen der Jünger (Mk 6,49parr) in Verbindung zu bringen: Wenn er [Gott] an mir vorübergeht (παρέλθῃ), erkenne ich (ihn) dennoch nicht. Jesu ἐγώ εἰμι in Mk 6,50parr ist hier im Sinne von Gottes Selbstoffenbarungsformel in Ex 3,14; Jes 41,1 u. ö. zu verstehen.62 Dieses ἐγώ εἰμι steht bei den Synoptikern am Ende des Wunderzyklus als Antwort auf die Frage: Wer ist dieser? (Mk 4,41parr). Die hellenistische Literatur bietet einige Parallelen für das Laufen auf dem Wasser. So berichtet Hesiod in Frgm. 182 über Orion, ihm sei „die Gabe gegeben, dass er auf den Wogen gehen könne wie auf der Erde“.63 Doch ist die engste Parallele zweifellos Hi 9,8.11LXX. Wenn Jesus nicht nur über das Wasser läuft, sondern auch der Wind (und somit die Wellen) sich legt (Mk 6,51par), so ist darin das Handeln Gottes zu erkennen, der als Schöpfer über die Chaoswasser regiert. 59 Dormeyer, Wundergeschichten 147. Bei Chanina ist überdies nicht deutlich, ob das Wunder nicht nur in der Illusion besteht, dass Brot im Ofen sei. 60 Vgl. ferner Ps 77,20 Gen 1,2.7.9 sowie Ps 65,8; 89,10; 107,29; Hi 38,8 zu Gottes Herrschaft über das Wasser. 61 Vgl. auch R. A. Guelich, Mark Bd. 1, WBC 34a, Nashville 1989, 350f. Anders D. du Toit, der vorschlägt, παρέρχεσθαι hier nicht mit „vorübergehen“, sondern mit „erreichen“ zu übersetzen (Vom Winde verweht, in: Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen Bd. 1, hrsg. von R. Zimmermann, Gütersloh 2013, 304–312, 305f ). 62 Vgl. Johannes Richter, Ani hu und ego eimi, Diss. masch. Erlangen 1956, 64f: „Die Verbindung mit dem ‚Fürchtet euch nicht!‘, wie das Entsetzen der Jünger, sind Merkmale göttlicher Offenbarung und charakteristisch für den Epiphaniestil.“ Das bestätigt auch die mk Anmerkung über die „Verhärtung“ der Jünger in 6,52 (ἦν αὐτῶν ἡ καρδία πεπωρωμένη), „denn eine ‚Verstockung‘ ist sonst nur Gott gegenüber möglich“ (ebd.). 63 Text bei Erlemann, Kaum zu glauben 204. Weitere, jedoch weniger enge Parallelen bei Guelich, Mark Bd. 1, 351. 181 5.4. Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12–14.20–25parr) Dieses Wunder wird in der deutschen Forschung zumeist als „Strafwunder“ klassifiziert; doch würde man besser auch hier von einer „acted parable“ oder einer „prophetischen Zeichenhandlung“ sprechen, mit der Jesus das Jerusalem bevorstehende Gericht ankündigte.64 Die Symbolik dieses Wunders ist aus dem AT zu verstehen, wo das Verwelken oder die Unfruchtbarkeit von Feigenbäumen (und Weinstöcken) eine stehende Metapher für Gottes Gericht über Israel ist – insbesondere von Jer 8,13, wonach Gott sein Volk richten wird, weil er keine Feigen am Feigenbaum findet.65 Jesus handelt hier also symbolisch an Gottes statt. Bei Mk unterstreicht die enge Verzahnung mit der Tempelreinigung (11,15–19) diesen Aspekt. 5.5. Wunderbarer Fischfang (Lk 5,1–11; Joh 21,1–14) und Münze im Fisch (Mt 17,24–27) Für die Erzählungen vom wunderbaren Fischfang und von der Münze im Fisch lassen sich in den uns bekannten frühjüdischen oder paganen Schriften keine direkten Parallelen finden.66 Doch könnte man fragen, ob hier vielleicht ein Bezug zu Ez 47,1–12 gegeben ist, wo es in v. 9–10 von dem Strom der aus dem eschatologischen Tempel ins Tote Meer fließt, heißt: Und es wird sehr viele Fische dort geben … Und es wird geschehen, dass Fischer an ihm stehen werden: von En-Gedi bis En-Eglajim werden Trockenplätze für Netze sein. Fische von jeder Art werden in ihm sein, sehr zahlreich, wie die Fische des großen Meeres. Der Schauplatz von Ez 47 ist das Tote Meer, nicht der See Genezareth, aber hier wie dort geht es um das Motiv der endzeitlichen Fülle in der neuen Schöpfung.67 Jesus tritt also auch in diesem Wunder als der Schöpfer auf, der im Eschaton seine Schöpfung vollendet. 6. Die Bedeutung der Wunder Jesu vor ihrem religionsgeschichtlichen Hintergrund Was ist nun der Sinn der Wunder Jesu nach den Synoptikern? Wir haben festgestellt, dass sie ihre engsten Parallelen im AT selbst haben. Manche Wunder hellenistischer Heroen stellen zwar eine gewisse Analogie dazu dar, sind aber viel weiter von Jesu Wundern 64 C. E. B. Cranfield, The Gospel according to St. Mark, CGTC, 2. Aufl., Cambridge 1963, 356f. R. Schwindt, Jesu Hunger nach Erfüllung der Zeit, in: Kompendium (siehe Anm. 61), 371–376, 374. 65 Vgl. auch Hos 2,14; Joel 1,7.12; Amos 4,9; Hab 3,17. 66 Siehe G. Gäbel, Einmal Fischer, immer Fischer?, in: Kompendium (siehe Anm. 61), 543–558, 553. Die Ähnlichkeit zu dem Motiv „des Verlierens und Wiederfindens“, das schon in Herodots Erzählung vom Ring des Polykrates (Hdt. 3,42,1–3) auftaucht, ist nicht groß genug, um eine Abhängigkeit zu postulieren. Es scheint dort eher um allgemein menschliche Erfahrungen zu gehen. Weitere Unterschiede siehe bei S. Luther, Steuersünder mit Angellizenz?, in: Kompendium (siehe Anm. 61), 485–494, 490. 67 Übersetzung ELB 2006. Den Hinweis auf den Zusammenhang mit Ez 47 verdanke ich Prof. Dr. Thomas Pola. 182 entfernt. Der These, wonach sie „Ausfluss hellenistischer Religionspropaganda“68 seien, ist somit der Boden entzogen.69 Aber auch die Geschichten über jüdische Wundercharismatiker wie Chanina (bTa‘anit 24b.25a) und Choni (um 65 v. Chr.; mTaanijot 3,8; bTaanith 23a) sind, trotz ihrer zeitlichen und geographischen Nähe zu Jesus,70 nicht als Quelle, sondern lediglich als eine gewisse Analogie zu den Wundergeschichten der Evangelien zu sehen. Denn „nicht sie, sondern Gott wirkt ihre Wunder“71 auf ihr Gebet hin, was sie auf ihre Weise in die Elia-Elisa-Tradition stellt. Jesus knüpft sowohl mit seinen Heilungs- als auch mit den sogenannten Naturwundern an die Wunder Moses und Elias/Elisas an, überbietet sie aber immer wieder und tritt als der messianische Repräsentant Gottes auf, der als der Schöpfer seine Herrschaft über seine (gefallene) Schöpfung ausübt und sie in Ordnung bringt. Jesu Heilungswunder sind nicht nur Zeichen, sondern „Ereignisse des Reiches Gottes“, denn sie „werden als Werke des Messias erzählt, mit denen die Herrschaft Gottes kommt“.72 Das gilt auch für die Naturwunder: In ihnen unterwirft Jesus zeichenhaft die ursprünglich gute Schöpfung wieder ihrem Schöpfer. Damit haben sowohl die Heilungs- als auch die „Natur“-Wunder dieselbe christologische Botschaft wie auch die Gleichnisse Jesu, nämlich den partikularen Anbruch der Herrschaft Gottes in seiner Person.73 „Die jesuanische Verkündigung der βασιλεία τοῦ θεοῦ bedarf … der im Summarium Mt 11,2–6par. genannten, als Bestätigungszeichen von Gott her fungierenden ‚Werke des Messias‘.“74 Die Anknüpfung an die Elia/Elisa-Tradition bei gleichzeitiger Überbietung ist charakteristisch für das Wirken Jesu überhaupt:75 Mk 8,28 zeigt, dass sein Auftreten an Elia erinnerte. „Jesus hat Jünger berufen wie einst Elia den Elisa (vgl. 1Kön 19,19–21) und sie in gleicher Radikalität aufgefordert, alle Bindungen zugunsten der Schicksalsgemeinschaft mit dem unbehausten Menschensohn (Lk 9,58/Mt 8,20) aufzugeben ... Dennoch geht sein 68 B. Kollmann, Von der Rehabilitierung mythischen Denkens und der Wiederentdeckung Jesu als Wundertäter, in: Hermeneutik (Anm. 6), 2–25, 13. 69 Die immer wieder angeführte strukturelle Ähnlichkeit der neutestamentlichen zu den hellenistischen Wundererzählungen (vgl. z. B. Theissen/Merz, Jesus 258f ) ist wenig aussagekräftig. Schon A. Richardson, The Miracle Stories of the Gospels, 1941, 28f, hat darauf hingewiesen, dass man von Heilungen kaum anders erzählen kann, als indem man nach einer Exposition Heilungsvorgang und Approbation berichtet. Insofern erscheint mir beispielsweise Dormeyers Behauptung, die Heilungsgeschichte von der Schwiegermutter des Petrus sei „an den Wundergeschichten von Epidauros orientiert“, äußerst wagemutig (Wundergeschichten 147). Allzu groß sind – bei aller notwendig vorhandenen Ähnlichkeit – die Unterschiede (keine Traumepiphanie, keine Inkubation im Heiligtum). 70 Vgl. Vermes, Jesus 58; aufgeschrieben wurden sie freilich erst lange nach dem jeweiligen Auftreten der beiden. 71 Theissen/Merz, Jesus 278. 72 Betz/Grimm, Wesen 30.28. 73 Es ist daher, wie C. Blomberg festgestellt hat, nicht schlüssig, zu diametrisch entgegengesetzten Schlüssen hinsichtlich ihrer historischen Bewertung zu gelangen (The Miracles as Parables, in: Gospel Perspectives 6, hrsg. von D. Wenham und C. Blomberg, Eugene, OR 1986, 327–359, 347). 74 Pola, „Werke des Gesalbten“ 41. 75 Vgl. Ph. Guillaume, Miracles Miraculously Repeated, BN 98 (1999), 21–23 für eine informative, wenngleich stellenweise wesentlich zu weit gehende Übersicht möglicher Parallelen. 183 Anspruch über den eines eschatologischen Propheten, wie sie im 1. Jh. in Palästina aufgetreten sind …, weit hinaus“,76 und Jesus deutete nicht sich, sondern Johannes den Täufer als den wiederkommenden Elia (vgl. Mt 11,10.14 par mit Mk 1,2b–6 und Mt 17,12f ). Warum dann überhaupt der Rückgriff auf Mose und Elia? Mose und Elia sind die beiden Kronzeugen des alten Bundes: Mose steht am Anfang der Tora, Elia am Anfang der Schriftprophetie.77 Mal 3,22–24 bestätigt die grundlegende Bedeutung dieser beiden.78 Dabei handelt Elia „wie ein zweiter Mose“.79 Im Gegensatz zu den Baalspriestern zapft er nach 1Kön 18 nicht wie ein Zauberer natürliche Kräfte an. Vielmehr „künden diese Wundergeschichten“ – wie auch die von Elisas Befehl an Naeman – von einer geistigen Transzendenz, von einer absoluten Unterschiedenheit Gottes gegenüber der natürlichen Welt.“80 So ist es kein Zufall, dass auch auf dem Berg der Verklärung in einer an die Sinaioffenbarung erinnernden Szene Mose und Elia als die beiden „Großen“ des Alten Testaments Jesus erscheinen, wobei dieser bezeichnenderweise als der sie beide überbietende „Sohn“ (Mk 9,7par) präsentiert wird. Mit den Dtn 18,15 aufnehmenden Worten „hört auf ihn“ wird er zugleich als der eschatologische „Prophet wie Mose“ ausgewiesen (vgl. auch Apg 3,22f; 7,37). Damit wird deutlich, dass Jesus „nicht nur in der Nachfolge Moses“ steht „wie jeder wahre Prophet, sondern … der endzeitliche messianische Prophet [ist], den Mose angekündigt hat und der in einzigartiger Autorität als der geliebte Sohn seine Lehre erteilt“ (vgl. Jesu „Ich aber sage euch“ in der Bergpredigt).81 Heilungs- wie Naturwunder bezeugen also, dass im messianischen Handeln Jesu der Schöpfer selbst auf den Plan tritt und seine Herrschaft über seine gefallene Schöpfung ausübt, wie es später das Bekenntnis zu seiner Schöpfungsmittlerschaft aussagen wird (vgl. 1Kor 8,6; Kol 1,15–20; Joh 1,1ff; Heb 1,1–3). Diese Erkenntnis wird zunächst noch eher abtastend geäußert, in Fragen wie Wer ist dieser? (Mk 1,27; 4,41) oder durch den Hinweis auf Jesu messianische Taten zur Beantwortung der Frage nach seiner Identität (Mt 11,5f ). Erst „im Gesamtkontext der Makroerzählung“ wird die volle christologische Aussage „der Gottesnähe bzw. des Gottseins Jesu erkennbar.“82 76 P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, 3. Aufl. Göttingen, 2005, 110. 77 Sowohl Am 1,2 als auch Jes 9,7–16 nehmen auf Elia Bezug. Vgl. Gese, Zur Bedeutung Elias, 143–145. 78 Zur Parallele zwischen Mose und Elia siehe Gese, Zur Bedeutung Elias 139: „In der Kraft der Engelspeisung geht Elia [in 1Kön 19] in vierzig Tagen die vierzig Jahre des vom Sinai her wandernden Gottesvolkes zurück zum Ursprung, zum Ort der Moseoffenbarung, [nämlich dem Sinai-Horeb] an dem er nächtigend das die Gerichtsprophetie begründende JHWH-Wort… in Analogie zum mosaischen Urwort empfängt. Wir sehen damit die prophetische successio Mosaica des Deuteronomium (18,15ff ) vorgebildet.“ Nur von ihnen und Henoch wird berichtet, dass sie an ihrem Lebensende entrückt wurden (vgl. Dtn 24,6 mit 2Kön 2,11). 79 Gese, Zur Bedeutung Elias 132.131. 80 Gese, Zur Bedeutung Elias 138. 81 A. M. Schwemer, Jesus Christus als Prophet, König und Priester, in: M. Hengel/A. M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu, WUNT 138, Tübingen 2001, 165–230, 214f. Vgl. zum Nebeneinander von Elia, (Prophet wie) Mose und Messias auch Joh 1,20–25 und Offb 11,6. 82 Zimmermann, Gattung 338. 184 Dieses in sich geschlossene Bild lässt sich nicht auf „viele Namenlose“ zurückführen, die „sich durch Weitergabe des Überlieferten, durch Veränderung oder Vermehrung schaffend betätigten“,83 indem sie bald bei alttestamentlichen Vorbildern, bald bei hellenistischen Heroen Anleihen machten (so Kollmann, s. o.). Wäre dies der Fall, wäre ein wesentlich disparateres Bild zu erwarten. Es ist auch nicht das Konstrukt eines Evangelisten, denn es zieht sich durch sämtliche Schichten der Evangelientradition und begegnet – wie dargelegt – bei Mk, in Q und im lukanischen Sondergut. Nicht jede Assoziation an das AT darf als nachträgliche Assimilation beurteilt werden. „Wirkliche Ereignisse können im Licht des Alten Testaments als messianische Erfüllung erzählt worden sein und man kann sogar erwägen, ob Jesus selbst so etwas [im Sinn von acted parables] bewusst inszeniert hat.“84 Mit Klaus Berger wären die Erzählungen über Jesu Wunder dann als real-symbolische Erzählungen einzustufen, die als Zeichen Anteil an der Wirklichkeit haben, die sie abbilden und nicht „bloß“ Zeichen ohne dahinterliegende Wirklichkeit sind.85 Summary In recent research a distinction has been made between the healing miracles of Jesus and his socalled nature miracles. Whereas the former are considered as possible (be it as real miracles or as psycho-somatic phenomena), the latter are said to be post-Easter enhancements of normal events in the life of Jesus, such as eating or going in a boat together. R. Zimmermann has argued that this distinction is untenable on literary grounds: Both kinds of stories are presented as factual stories, claiming to report real events in the life of Jesus. The present paper argues that that distinction is also untenable because both kinds of stories share the same conceptual background. They all present Jesus as the one who performed miracles like the miracles of Moses and Elijah/Elisha, but at the same time superseded them. As the Son of God he brought about the kingdom of God in his healing miracles and restored the rule of God over his creation through his nature miracles. _________________________________________________ Hanna Stettler Dr. theol. habil., Apl. Prof. für NT an der Universität Tübingen, Pfarrerin der reformierten Kirche in Flaach im Kanton Zürich, Mitglied des Beirates der ThBeitr. https://independent.academia.edu/HannaStettler – stettler-richter@gmx.net – GND 115730907 83 M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 5. Aufl. 1966, 1. 84 R. Riesner, Messias Jesus, Gießen 2019, 167; weitere Forscher, welche die Naturwunder als Reflexionen von realen Ereignissen im Leben Jesu ansehen, siehe bei Twelftree, Nature Miracles 33. 85 K. Berger, Biblisches Christentum als Heilungsreligion, in: Heilung – Energie – Geist, hrsg. von W. H. Ritter und B. Wolf, Göttingen 2005, 244. 185 www.theologische-beitraege.de · ISSN 0342-2372 G 12944 theologische beiträge Schwerpunkt: WUNDER – Rainer Riesner zum 70. Geburtstag Biblische Besinnung 135–139 Ad Personam 140–142 143–156 Thomas Pola Erkenntnis „von unten“. Predigt über Prov 1,1–7. Clemens Hägele „Bei Riesner in Dortmund“. R. Braun/ Hp. Hempelmann Wissen, wer Jesus ist. Zum 100. Geburtstag von Otto Rodenberg. Aufsätze 157–168 Detlef Häußer Jesusüberlieferung im 2. Korintherbrief. 169–185 Hanna Stettler „Mehr als Elia“. Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund der Wunder Jesu. 186–199 Peter C. Hägele Sind Wunder aus naturwissenschaftlicher Sicht denkbar? 200–216 Heinzpeter Hempelmann Wunder als Zeichen. Acht Thesen aus wissenschaftstheoretischer Perspektive. 217–220 Klaus Haacker Paulus als Anstands-Apostel (1Kor 11,2–16). Berichte 221–224 Hanna Stettler Ertrag eines ganzen Forscherlebens: Rainer Riesner über den Messias Jesus. Friedmann Eißler Jesusglaube in frühislamischen Schriften. Lehren der Bergpredigt für den Dialog aus islamischer Sicht. 225–226 Bücher 227–228 20-3 51. Jahrgang · Juni 2020