Marie C. Grasmeier
2019
Das Schiff als sozialer Ort
Vortrag zur Sitzung „Das Schiff – Ort außerhalb von Orten“ im Rahmen der Ringvorlesung „Der
Mensch und das Meer – wie Erzählungen unseren Umgang mit dem Ozean beeinflussen” an der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 20. November 2019
Marie C. Grasmeier, Universität Bremen
(Kontakt: Marie.C.Grasmeier@gmail.com)
Guten Abend und herzlich willkommen zu meinem Vortrag über das Schiff als sozialer Ort. Ganz herzlichen Dank an Ulrike Kronfeld-Goharani für die Einladung,
hier heute Abend sprechen zu dürfen.
Das Thema meines Vortrages ist Teil meiner Dissertationsschrift über die Arbeitskultur und die Konstruktion der Berufsidentitäten von Seeleuten auf international
besetzten Handelsschiffen.
Methoden
Die Daten zur Bearbeitung meines Dissertationsthemas habe ich unter anderem
während einer etwa zweimonatigen Feldforschung an Bord eines Containerschiffes sowie in Interviews mit Seeleuten an Bord und an Land erhoben. Zudem greife
ich auf eigene biographische Erfahrungen aus meiner Zeit als Mitglied meines
Forschungsfeldes zurück. Diese stehen mir deshalb zur Verfügung, weil ich zuvor
selbst die Ausbildung zur nautischen Schiffsoffizierin durchlaufen hatte, wobei ich
etwa zwölf Monate auf international besetzten Handelsschiffen zur See gefahren
bin, und nach meinem Studium mehrere Jahre als Dozentin an einer Seefahrtschule sowie als Ladungsinspektorin im Hafen tätig war, wo meine Aufgabe darin bestand, die Aufsicht über das Be- und Entladen von Seeschiffen zu führen.
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Fragestellung
In meinem Vortrag wird es darum gehen, was den Ort „Schiff“ als sozialen oder
gesellschaftlichen Ort oder Raum auszeichnet. Dabei werde ich drei Theorien einführen und diskutieren, die Sozialwissenschaftler*innen verwendet haben, um
über das Leben auf Schiffen nachzudenken: die Theorie der Totalen Institution
von Erving Goffman, Heide Gerstenbergers und Ulrich Welkes Metapher eines
Niemandslandes sowie die in eine ähnliche Richtung gehende Vorstellung des
Schiffes als Hyperraum oder „hyperspace“, die durch die Schifffahrtsforscherin
Helen Sampson in die Debatte eingeführt wurde.
Totale Institution
Mit dem Begriff der Totalen Institution wollte Goffman bestimmte gesellschaftliche Räume charakterisieren, die sich dadurch auszeichnen, in mehr oder weniger
großem Maße allumfassend – in diesem Sinne total – zu sein. Totale Institutionen
zeichnen sich laut Goffman dadurch aus, dass sie von der Außenwelt mehr oder
weniger abgeschlossen sind, dass das gesamte Leben am gleichen Ort unter der
gleichen Autorität stattfindet, dass die Insassen gleichartigen Tätigkeiten in großen Gruppen nachgehen, dass das alles unter einem System strenger formaler Regeln abläuft und einem einzelnen Plan folgt und – und das ist laut Goffman das
wichtigste Kriterium – dass es eine strikte Trennung gibt zwischen Aufsehern und
Insassen der Institution (Goffman 1961: 6ff.).
Das Forschungsfeld, an dem Goffman das Konzept empirisch entwickelt hatte,
war eine geschlossene psychiatrische Anstalt in den USA. Daneben zählt er Orte
wie Gefängnisse, Konzentrationslager, Waisenhäuser, Internate, Militärkasernen
und eben Schiffe zu Vertretern dieser Gattung (Goffman 1961: 4f.). Heute setzen
die meisten schifffahrtssoziologischen Studien die Annahme, dass es sich bei einem Handelsschiff um eine Totale Institution handele, als mehr oder weniger
selbstverständlich voraus (vgl.: Theotokas, Lagoudis und Kotsiopoulos 2014: 328
ff. vgl.: Simons 2013; Lamvik 2002; Fernandez und Krootjes 2007; Knudsen
2005: 11; Rodríguez-Martos Dauer 2009: 14ff. Kitada 2010: 23f.).
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Totale Institution Schiff?
Allerdings gibt es auch Kritik an dem Konzept und seiner Anwendbarkeit auf die
Lebenswelt eines Handelsschiffes. So argumentieren Heide Gerstenberger und Ulrich Welke, dass es sich bei Handelsschiffen um wirtschaftliche Betriebe handele,
deren Zweck nicht – wie in den meisten von Goffmans Beispielen – in der Disziplinierung der „Insassen“, sondern in der Erwirtschaftung von Profit bestehe. Die
Abschließung der Institution nach außen sei damit auch nicht einer Intention geschuldet, Seeleute zu isolieren, sondern resultiere aus der technischen Nutzung
des Schiffes – wenn es sich auf See befindet, kann man eben nicht weg
(Gerstenberger und Welke 2004: 24f.).
In der Tat beziehen sich die allermeisten Beispiele, die Goffman in seiner Studie
bemüht, auf Disziplinarinstitutionen, auch wenn er den Begriff in seiner Definition nicht auf solche beschränkt wissen will (vgl.: Goffman 1961: 4f.). Lediglich
an zwei Stellen zitiert er eine empirische Studie über die Handelsschifffahrt (vgl.:
Richardson 1956).
Die ehemalige Seefrau und Schifffahrtsethnologin Camilla Mevik (2016: 32)
spricht stattdessen auch von der Schifffahrt als „total occupation“, also einem totalen Beruf, um einerseits dem allumfassenden Charakter der Arbeit im Alltag von
Seeleuten gerecht zu werden, andererseits aber auch der berechtigten Kritik an
Goffmans Analyse.
In der Hinsicht, dass es sich bei Schiffen nicht im strukturellen Sinn um Totale Institutionen handelt, folge ich dieser Kritik. Insbesondere die Behauptung einer
Trennung von „Aufsehern“ und „Insassen“ sehe ich dabei als nicht haltbar an.
Denn die Seeleute auf einem Schiff sind alle angestellt, um die wirtschaftlichen
Zwecke der Reederei zu verwirklichen und die Ränge sind zudem nach unten hin
abgestuft. Je nach Rang sind die meisten Besatzungsmitglieder gleichzeitig Aufseher und Insassen, weil fast alle irgendwem vorgesetzt oder untergeordnet sind. Es
gibt nahezu keine Peer-Groups, deren Mitglieder sich in ihrem Status genau gleichen würden.
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Totale Institution als Metapher
Wenn es allerdings um die alltäglichen kulturellen Bedeutungsproduktionen geht,
welche Seeleute in ihrer Selbstbeschreibung und Erzählungen über ihre Lebenswelt hervorbringen, fällt auf, dass sie dabei immer wieder diese Vorstellung zitieren: Immer wieder vergleichen Seeleute ihre Situation mit derjenigen der Insassen
eines Gefängnisses und unter philippinischen Seeleuten ist es geläufig, den Arbeitsvertrag als „sentensiya“ – Gerichtsurteil – zu bezeichnen (Lamvik 2002: 67
ff.). Eine Reederei, an Bord derer Schiffe sie die Arbeitsbedingungen für wenig
zumutbar hielten, bezeichneten zwei deutsche Seeleute im Gespräch mit mir als
„schwimmendes Arbeitslager“. Auch finden sich in meinen eigenen Beobachtungen aus der Feldforschung nicht wenige interaktive Situationen, in welchen sich
Seeleute performativ in den Rollen von „Aufsehern“ und „Insassen“ inszenierten
und damit das Bild der Totalen Institution auch auf einer nichtsprachlichen Ebene
heraufbeschworen. Ich bitte zu entschuldigen, dass ich aufgrund der kürze der Zeit
hier keines dieser Beispiele ausführen kann. Diese Erzählungen der Seeleute treffen sich mit Goffmans Theorie. Die Selbsterzählung könnte aber auch im Sinne
einer „doppelte Hermeneutik“ (Giddens 1984: 374) selbst durch die Goffman‘sche
Begrifflichkeit inspiriert sein, weil Seeleute oftmals schon in der Seefahrtschule
lernen, dass ihr künftiger Arbeitsplatz eine Totale Institution sei.
Heterotopie
Ein weiteres Konzept, das sich großer Beliebtheit in der Schifffahrtsforschung erfreut, ist Michel Foucaults Begriff der Heterotopie (vgl.: Rankin und Collins
2017; Symes 2012; Fajardo 2011; Mack 2010; Stanley 2002:12; Foucault 1986).
Auf diesen Begriff werde ich hier nicht näher eingehen. Die oben skizzierte Kritik
am Begriff der Totalen Institution trifft meines Erachtens auch weitgehend auf die
Vorstellung des Schiffes als Heterotopie zu.
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Das Schiff als „Niemandsland“
Heide Gerstenberger und Ulrich Welke bezeichnen das Handelsschiff mit Blick
auf die Globalisierung und die damit einhergehende Entwicklung der politökonomischen Strukturen in der Schifffahrt als „Niemandsland“. Diese Charakterisierung richtet sich auf die Frage nach dessen nationalstaatlicher Zugehörigkeit: die
wenigsten Schiffe führen heute die Flagge desjenigen Landes, in dem das Eigentum oder das Management des Schiffes seinen Sitz hat. Stattdessen bieten Flaggenstaaten mit so genannten offenen Schiffsregistern ihre Souveränität auf dem
Weltmarkt jedem Reeder an, der bereit ist, die entsprechenden Registergebühren
zu zahlen. Beispiele für bedeutende Flaggenstaaten sind Antigua und Barbuda
oder Liberia, wo die meisten deutschen Containerschiffe registriert sind oder die
Bahamas, welche einen großen Anteil der weltweiten Kreuzfahrtschiffe unter ihrer
Flagge haben. Ein weiterer bedeutender und auch der weltgrößte Flaggenstaat ist
Panama. Diese Staaten versprechen sich von den Registergebühren einen Beitrag
zu ihrem Staatshaushalt Gerstenberger und Welke 2004: 36ff.).
Bei dieser Ausflaggung geht es vor allem darum, dass die Flaggenstaaten mit offenen Registern keine Vorschriften über die Nationalität der Besatzung machen. Damit steht ein globaler Arbeitsmarkt für die Besetzung der Schiffe offen. Reeder
können sich die Besatzungen nach Kostengesichtspunkten auswählen, die Konkurrenz unter den Seeleuten um Arbeitsplätze ist globalisiert (Gerstenberger und
Welke 2004: 43ff.). Die Nachfrage nach preiswerter Arbeitskraft trifft auf ein Angebot so genannter Labour Supply Countries im globalen Süden, welche ihre
Wirtschaftspolitik daraufhin ausrichten, ihre Büger*innen zur Arbeitsmigration zu
ermutigen, unter anderem in der Seeschifffahrt. Prominentestes Beispiel hierfür
sind die Philippinen. Weil das Land wirtschaftlich am Weltmarkt nicht mithalten
konnte, entdeckte das Regime von Ferdinand Marcos in den führen 70er Jahren
die Bevölkerung als Ressource, die sich global vermarkten ließe. Der erwartete
volkswirtschaftliche
Nutzen
besteht
dabei
vor
allem
darin,
dass
Arbeitsmigrant*innen – so genannte Overseas Filipino Workers – von denen ein
großer Teil als Seeleute arbeiten, einen Teil ihres im Ausland verdienten Lohns in
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die Heimat überweisen, um ihre Familien zu unterstützen. Damit soll die heimische Wirtschaft mit Devisen versorgt und das Zahlungsbilanzdefizit ausgeglichen
werden (Duaqui 2014; Asis 2008; Asis 2006).
Die konkrete Praxis der Schiffsbesetzung sieht dann so aus, dass die Seeleute der
unteren Ränge aus Labour Supply Countries des globalen Südens rekrutiert werden, während die meisten Führungspositionen auf den Schiffen – Kapitän*innen
und Chiefs – mit Seeleuten aus dem Heimatland des Managements oder Kapitals
oder aus anderen Herkunftsländern des globalen Nordens – hier allem voran Osteuropa – besetzt werden. Europäische Unternehmen versprechen sich von
europäischen Schiffsführungen eine größere Loyalität, während sie gleichzeitig
auf die kostengünstige Arbeitskraft von Seeleuten aus dem globalen Süden zugreifen können. Das Resultat sind internationale Schiffsbesatzungen, deren hierarchische Struktur die Machtverhältnisse zwischen den Nationalstaaten und Regionen
des Weltsystems abbildet.
Hyperraum!
In eine ähnliche Richtung, wie das Bild eines Niemandslandes, geht die Metapher
des Schiffes als Hyperspace oder Hyperraum. Die Metapher wurde durch die englische Soziologin Helen Sampson (2013; 2003) in die Schifffahrtsforschung eingeführt. Gemeint ist damit, dass Schiffe eigentlich über keinerlei geographisch
oder national bestimmbare kulturelle Eigenschaften verfügen. Baulich und ästhetisch sehen Schiffe überall ungefähr gleich aus und auch die Organisationskultur
ist weltweit weitgehend standardisiert (Shea 2005: 109). Man fühlt sich auf einem
Schiff nicht in Thailand, Deutschland oder Schweden, nicht in Asien, Afrika oder
Europa, sondern einfach nur auf einem Schiff (Sampson 2013: 18). Insofern befinden sich alle Seeleute auf dem Schiff in einer kulturellen Fremde, niemand ist dort
wirklich zuhause. Während sich die Metapher des Niemandslandes auf politökonomische Gegebenheiten bezieht, steht bei derjenigen des Hyperraums das Kulturelle im Vordergrund. Der Hyperraum ist sozusagen die adäquate kulturelle Ausdrucksform des Niemandslandes.
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Hyperraum?
Bei dieser Vorstellung (national)kultureller Unbestimmtheit des Schiffes sind allerdings gewisse Einschränkungen angebracht. So stellen Gerstenberger und Welke fest, dass es sich bei internationalen Schiffen um ein Produkt und Abbild westlicher Industriegesellschaften handelt, einen [...] Betrieb, der nur aus Sachzwängen zu bestehen scheint: aus Technik, Bürokratie und Zeitregime.“ (Gerstenberger
und Welke
2004:
285),
eine
„[…]
Verlängerung
westlicher
Kultur“
(Gerstenberger und Welke 2004: 286). Westliche Seeleute, welche solche Strukturen aus ihrem heimischen Alltag gewohnt seien, hätten dementsprechend einen
kulturellen Vorteil, sich in der Welt des Schiffes zurechtzufinden.
Dazu ließe sich ergänzen, dass Seeleute des globalen Nordens aufgrund der ethnisierten oder rassifizierten Verteilung der Positionen in der Hierarchie der Berufe in
den meisten Fällen diejenigen sind, die an Bord das Sagen haben. Sie sind damit
zu einem gewissen Grade imstande, eine kulturelle Hegemonie auszuüben und
empfinden sich nicht selten gegenüber den Kollegen aus dem globalen Süden als
die legitimen Eingeborenen an Bord. Wie ich letzte Woche in einem anderen Vortrag an empirischen Beispielen aus der Feldforschung gezeigt habe, fühlen sich
deutsche Seeleute ihrem deutschen Unternehmen unter Absehung von der Klassenlage oftmals sozial näher, als ihren philippinischen Kollegen (Grasmeier
2019).
Postkolonialer Hyperraum
Strukturell:
Für die Beschreibung des Schiffes als sozialem Raum schlage ich daher vor, von
einem postkolonialen Hyperraum zu sprechen, in welchem sich die Seeleute aus
den verschiedenen Weltgegenden keineswegs auf Augenhöhe begegnen, sondern
in den vielmehr die Dominanz- und Abhängigkeitsverhältnisse im Welt-System
eingeschrieben sind. Dies zeigt sich empirisch auf verschiedenen Ebenen:
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Strukturell gibt es eine globale Nord-Süd-Arbeitsteilung zwischen den Staaten, in
welchen die großen Schifffahrtskapitale beheimatet sind – vor allem Europa,
USA, Japan und die ostasiatischen „Tigerstaaten“ – und den Flaggenstaaten sowie
Labour Supply Countries des globalen Südens. Bei letzteren handelt es sich fast
ausnahmslos um postkoloniale Staaten (vgl.: Mbembe 2001) der Peripherien, welche die entsprechenden Funktionen deshalb einnehmen, weil sie von der kapitalistischen Weltmarktkonkurrenz weitgehend abgehängt sind (vgl.: Pettinger 2019:
38; Gerstenberger 2017: 215; Rodney 1973). Die heutige politische Ökonomie der
Schifffahrtsindustrie, insbesondere des globalen Arbeitsmarkts für Seeleute, ist daher aufs Engste mit der Kolonialgeschichte verwoben (Fajardo 2011).
Symbolische Repräsentation
Auf der Ebene symbolischer Repräsentationen gibt es einen Diskurs des interkulturellen Managements in der Schifffahrt, der an die durchaus als neo-kolonial zu
qualifizierenden Überlegungen Geert Hofsteedes anschließt (vgl.: Hofstede 1991;
Fougère und Moulettes 2007). Entsprechend wird dann festgestellt, dass sich europäische Seeleute aufgrund ihrer besonderen kulturellen Disposition besonders
gut als Führer ihrer Kollegen aus dem globalen Süden eigneten, welchen wiederum aufgrund der gleichen deterministischen Vorstellungen die subalternen Positionen zugeschrieben werden (vgl.: Russo, Popović, und Tomić 2014: 175;
Theotokas et al. 2007:10).
Alltägliche Identitätsarbeit
Auf der Ebene der alltäglichen Identitätsarbeit- und Performanz ist erstens augenfällig, dass die Organisationshierarchie entsprechend der rassifizieren Verteilung
ihrer Positionen als eher ethnische denn als funktionale Differenz interpretiert
wird. So antwortete ein Seemann auf meine Frage, welche Berufe bzw. Funktionen es auf einem Schiff denn gäbe – ich war damals noch nicht mit dem Feld vertraut und stellte solche Fragen – „Kapitän, Offiziere, Inginieure, Schiffsmechaniker und Philippinos.“ „Welchem Job haben denn die Philippinos?“ „Die sind halt
einfach Philippinos“. Eine Berufsidentität und damit einen Rang in der funktiona-
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len Struktur des Sozialsystems „Schiff“ gesteht dieser Seemann nur den weißen
Seeleuten zu, die anderen zählen für ihn nicht. Formal besteht eine hierarchische
Trennung zwischen Offizieren und so genannten Ratings – das sind diejenigen
Seeleute, die keine Offiziere sind. In der Alltagspraxis wird diese jedoch oftmals
als Grenze zwischen weißen und Seeleuten of color interpretiert, wenn etwa die
deutschen Kadetten und der polnische Elektriker selbstverständlich mit der
Schiffsführung in der Offiziersmesse, die philippinischen Junior Officers dagegen
mit ihren Landsleuten in der Mannschaftsmesse essen.
Zweitens zitieren europäische Seeleute mitunter koloniale Diskurse bei der identitären Abgrenzung zu ihren Kollegen aus dem globalen Süden. So äußerte ein
deutscher Kapitän während eines meiner Praxissemester über die philippinischen
Besatzungsmitglieder: „Die Ausländer sind wie Kinder“. Neben der auf Außenstehende etwas skurril anmutenden Bezeichnung der Philippinos durch einen Deutschen auf einem Schiff unter liberianischer Flagge als „Ausländer“, welche auf
den oben angesprochenen Hegemonieanspruch westlicher Seeleute über die nationalkulturelle Zugehörigkeit des Schiffes verweist, erinnert die Qualifizierung derselben als „wie Kinder“ an den unter anderem durch den postkolonialen Theoretiker Edward Said (1979) beschriebenen historischen Diskurs, der die Kolonisierten
als unreif, irrational, rückständig – kurz: als kindlich und durch den aufgeklärten
Westen zu erziehen – konstruierte.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich also zeigen, dass die These vom Schiff als Hyperraum keineswegs bedeuten kann, dass es sich dabei um einen idealen „dritten
Raum“ (Bhaba) handelt, in welchem die Seeleute als Gleiche, so zu sagen auf Augenhöhe, eine transnationale Berufskultur aushandelten. Vielmehr stellt das Schiff
einen von globalen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen durchdrungenen postkolonialen Raum oder Ort außerhalb aller Orte dar, um wieder zum Motto des
heutigen Abends zurück zu kehren.
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