Forschungsjournal
Forschungsjournal
Neue Soziale Bewegungen
Gegründet 1988, Jg. 16, Heft 2, Juni 2003
Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft m.b.H. • Gerokstraße 51 • 70184 Stuttgart
Fax 0711/242088 • e-mail: lucius@luciusverlag.com • www.luciusverlag.com
NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003
Inhalt zyxwvutsr
Ludwig Pott
Editorial zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Die Enquete-Kommission
Konturen der Zivilgesellschaft 97
Zur Profilierung eines Begriffs
2 als soziales System
Michael Opielka
Call for Papers
Bürgergesellschaft und Sozialpolitik
Symbole,
Ästhetik
und
Medien
NSB herausgegeben von Dr. Ansgar Klein; Jupp Legrand; Dr. Thomas Leif zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Für die ForschungsgruppezywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
in sozialen Bewegungen
6 Entscheidungspfade grüner Sozialpolitik... 107
Redaktion: Nele Boehme, Berlin; Alexander Flohe, Düsseldorf; Dr. Ansgar Klein, Berlin; Ludger Klein, St. Augustin;
Peter Kuleßa, Berlin; Jupp Legrand, Wiesbaden; Dr. Thomas Leif, Wiesbaden; Markus Rohde, Bonn; Dr. Jochen Roose,
Leipzig; Dr. Rudolf Speth, Berlin
Redaktionelle Mitarbeiter: Anja Corinna Baukloh, Berlin; Sabine Krüger, Berlin; Astrid Weiher, Berlin
Verantwortlich für denThemenschwerpunkt dieser Ausgabe: Markus Rohde (v.i.S.d.R); Konzept: Dr. Ansgar
Klein; vetantwortlich für Pulsschlag: Alexander Flohe, Remscheider Str. 18,40215 Düsseldorf, e-mail: alex.florie@web.de;
fürTreibgut: Astrid Weiher, Im Krausfeld 30,53111 Bonn, e-mail: astridweiler@web.de; für Literatur:Ue\e Boehme,
Graefestr. 14,10967 Berlin, e-mail: schand @ zedat.fu-berlin .de
Beratung und wissenschaftlicher Beirat: Dr. Karin Ben2-Overhage, Frankfurt/M.; Prof. Dr. Andreas Büro,
Grävenwiesbach; Volkmar Deile, Berlin; Dr. Warnfried Dettling, Berlin; Prof. Dr. Ute Gerhard-Teuscher, Frankfurt/
M.; Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach SJ, Frankfurt/M.; Prof. Dr. Robert Jungk (t); Ulrike Poppe, Berlin; Prof. Dr.
Joachim Raschke, Hamburg; Prof. Dr. Roland Roth, Berlin; Prof. Dr. Dieter Rucht, Berlin; Wolfgang Thierse,
Berlin; Dr. Antje Vollmer, Berlin; Heidemarie Wieczorek-Zeul, Berlin
Redaktionsanschrift: Forschungsgruppe NSB, c/o Dr. Ansgar Klein, Mahlower Straße 25/26,12049 Berlin, email: ansgar.klein@snafu.de
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© 2003 Lucius & Lucius Verlagsges. mbH, Stuttgart
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Das Forschungsjournal wird durch SOLIS, IPSA (International Political Science Abstracts), IBSS (International
Bibliography of the Social Sciences), sociological abstracts und BLPES (International Bibliography of Sociology)
bibliographisch ausgewertet.
Karikaturen: Gerhard Mester, Wiesbaden
Umschlag: Nina Faber de.sign, Wiesbaden
Satz: m.o.p.s. Klemm & Wenner, Mainz
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßtitz
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.
Printed in Germany
ISSN 0933-9361
Essay/Aktuelle Analyse zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFED
Pulsschlag
Andreas Büro
Christina Stecker/Annette Zimmer
Friedensbewegung in Protest
7 Aktivierender Staat,
Dieter Rucht
Die Friedensdemonstranten Wer sind sie, wofür stehen sie?
10
15-jähriges Jubiläum des Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen
Joachim Raschke
Bewegung, Reform, Protest Blockaden und Veränderungen
14
Ansgar Klein
Diskurspolitischer Interventionismus
24
Themenschwerpunkt
Jürgen Kocka
Zivilgesellschaft in historischer
Perspektive
29
Paul Nolte
Zivilgesellschaft und
soziale Ungleichheit
38
Detlef Pollack
Zivilgesellschaft und Staat
in der Demokratie
46
Roland Roth
Die dunklen Seiten
der Zivilgesellschaft
59
Annette Zimmer
Rahmenbedingungen
der Zivilgesellschaft
Helmut Anheier/Nuno Themundo/
Matthias Freise
Transnationale Zivilgesellschaft
und Organisationsentwicklung
Ehrenamt und Frauen
115
OlafEbert/Birger Hartnuß
Freiwilligenagenturen in Deutschland
120
Peter Wahl
Die Dialektik des Erfolgs
Das Dritte Weltsozialforum
125
Peter Ulrich
Bounded Identity und Frameanpassung
Die Mobilisierung nach Genua
127
Ingmar Cario/Thomas Leif
Das Scheitern als Chance begreifen
Überforderung der Politik durch die
Informationsfreiheit
132
Esra Erdem
Organisationen
Anatolisch-Deutscher Frauen
136
Treibgut
Materialien, Notizen, Hinweise
141
Literatur
Gemeinwohl aus vier Perspektiven
{Rudolf Speth)
146
Altes und Neues über Zivilgesellschaft
{Roland Roth)
149
Solidarität in Bewegung
74
87
{Michael Krämer)
153
Annotationen
155
Aktuelle Bibliographie
158
Abstracts
162
2 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Editorial
Editorial zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
nellen Klärungsbedarf aufmerksam. Vor diebar, die Gegensätze zwischen dem TugenddisKonturen der Zivilgesellschaft sem Hintergrund möchte das ForschungsjourZur Profilierung eines Begriffs zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
kurs der republikanischen Theorietradition und
nal einen Beitrag nicht nur für die laufenden
dem liberalen Interessendiskurs durch ein deKonzeptdiskussionen leisten, sondern auch die
Der Begriff der Zivilgesellschaft hat seit den mokratietheoretisches Neuarrangement abzuanalytische Tiefenschärfe und die politischen
1980er Jahren eine steile Karriere durchlaufen. schwächen. Auf der demokratietheoretischen
Implikationen der Konzeptdiskussion in den
In den westlichen Demokratien haben in den Agenda steht mithin die Demokratisierung, der
Vordergrund rücken.
1980er Jahren vor allem soziale Bewegungen liberalen Demokratie unter Einbezug nicht nur
und NGOs die Diskussion bestimmt. Seit den der politischen, sondern auch der gesellschaftliAus Sicht eines soziohistorischen Zugangs be1990er Jahren beteiligen sich auch Verbände, chen Institutionen . Zivilgesellschaft steht in
gründet Jürgen Kocka die Unterscheidung der
Parteien, Wirtschaftsakteure sowie nationale, diesem Zusammenhang für eine Konzeption
Zivilgesellschaft von Staat und Markt. Erst sie
europäische und internationale Organisationen des Politischen, die sich nicht auf die staatliche
ermöglicht die Analyse der wechselseitigen
und Institutionen an dem Diskurs der Zivilge- Verfasstheit der Politik reduziert.
Beeinflussung dieser drei gesellschaftlichen
sellschaft. In der deutschen Diskussion hat in Wissenschaftlich schließt die Diskussion an
Sektoren. Für Kocka ist das Konzept der Zivilden letzten beiden Jahren insbesondere die En- aktuelle Diskussionen in der politischen Theogesellschaft eng mit normativen Annahmen verquete-Kommission ,Zukunft des Bürgerschaft- rie, der Demokratietheorie, der politischen Sobunden, die es nicht nur kritisch zu prüfen,
lichen Engagements' die reformpolitischen Po- ziologie und auch an zahlreiche Politikfeldanasondern auch analytisch fruchtbar zu machen
tentiale der Zivilgesellschaft ausgeleuchtet und lysen an. Den normativ aufgeladenen Begriff
gilt. Paul Nolte macht dies am Beispiel der
den engen Zusammenhang von Engagement- der Zivilgesellschaft gilt es in diesem ZusamUngleichheitsproblematik deutlich: Die Zivilund Demokratiepolitik herausgearbeitet (En- menhang analytisch fruchtbar zu machen, ohne
gesellschaft ist positiv wie negativ mit den Strukquete-Kommission 2002; Evers.a. 2002) . Das in schlechten Normativismus mit entsprechenForschungsjournal hat sich bereits mit mehre- den Blickverengungen zu verfallen.
Reformpolitisch wird der Zusammenhang von
ren Heften an dieser Diskussion beteiligt .
Im normativen Zentrum des Diskurses steht ein Demokratiepolitik und Engagementpolitik ausFreiheitskonzept, das - so auch die aktuellen geleuchtet. Die demokratiepolitischen ZielsetDemokratietheorien mit Blick auf die Zivilge- zungen gelten einer weitergehenden Bürgerbesellschaft - das liberale Erbe des Rechtsstaats teiligung im institutionellen politischen Raum.
mit dem republikanischen Erbe demokratischer An die Politik wird die Erwartung gerichtet,
Selbstbestimmung verbindet. Allzu selbstver- Rahmenbedingungen und Infrastruktur des bürständlich wird jedoch zumeist auf politisch wie gerschaftlichen Engagements zu stärken. Als
sozial integrative Effekte der Zivilgesellschaft- notwendig gilt auch eine Öffnung der geselldas berühmte,soziale Kapital' verwiesen. Nicht schaftlichen Institutionen für Beteiligungsannur die segregativen Effekte der Zivilgesell- sprüche der Zivilgesellschaft.
schaft und die Gleichzeitigkeit ziviler wie unzi- Insgesamt ist zu beobachten, dass der Zivilgeviler Entwicklungen, sondern auch die Ungleich- sellschaftsdiskurs von den unterschiedlichen
heiten in der Zivilgesellschaft werden dabei Akteuren und deren jeweiligen Perspektiven
und Interessenlagen geprägt wird. Die begrifflioftmals unterschlagen.
che Konjunktur von ,Bürgergesellschaft', ,ZiNach wie vor ist der Diskurs durch sehr vervilgesellschaft' oder ,civil society' in wissenschiedene Zugänge, unterschiedliche Konzepte
schaftlichen wie politischen Debatten hat nicht
und eine oftmals unscharfe Begrifflichkeit geunbedingt zu einer konzeptionellen Schärfung
prägt. Die für unser Themenheft wichtigsten
beigetragen. Die hohe Anschlussfähigkeit der
Diskussionsstränge seien im Folgenden kurz
öffentlichen Begriffsverwendung und oftmals
erwähnt:
vage und halbherzige politische SchlussfolgeInzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
derdemokratietheoretischenDiskussion über
rungen machen auf den steigenden konzeptiodie Zivilgesellschaft wird das Bemühen erkenn3
1
2
4
3
turen sozialer Ungleichheit verknüpft. Die Dominanz der Mittelschichten als soziale Trägergruppen der Zivilgesellschaft verdient erhöhte
Aufmerksamkeit der Forschung wie auch der
Politik. Die Frage der Gerechtigkeit ist auch für
die Zivilgesellschaft zu stellen.
Detlef Pollack plädiert für eine analytische Konzeption der Zivilgesellschaft und erläutert deren
demokratietheoretische Anschlussfähigkeit unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Zivilgesellschaft auf Input und Output des politischen Systems. Doch kommt auch er nicht ohne
die normativen Mmimalbedingungen der Toleranz und des Gewaltverzichts aus. Normative
Überhöhungen der Zivilgesellschaft, dies auch
die These von Roland Roth, fuhren analytisch in
die Irre. Sein Konzept der ,realen Zivilgesellschaft' demonstriert eindrucksvoll, dass die Zivilgesellschaft immer auch ,dunkle Seiten' auf-
4 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
weist. Sie werden erst im Zusammenspiel endogener und exogener Faktoren, also unter Berücksichtigung nicht nur der inneren Entwicklung der Zivilgesellschaft, sondern auch der sie
prägenden politischen, sozialen und kulturellen
gesellschaftlichen Kontexte deutlich. Der realistische Blick bewahrt vor Überschätzungen
und Verklärungen der Zivilgesellschaft und
bringt zentrale Probleme des gesellschaftlichen
Kontextes in ihren Auswirkungen auf die Verfasstheit der Zivilgesellschaft wieder verstärkt
ins Spiel. Zu den Problemen ,realer Zivilgesellschaften' gehören u.a. politische Segmentierung, subkulturelle Abschottung, soziale Abgrenzung, ungleiche Ressourcenausstattungund
Durchsetzungskraft, Klientelismus und Korruption. Vor Augen tritt so die ,Jtonfliktträchtige
Gleichzeitigkeit von zivilen und unzivilen Tendenzen und deren Zusammenspiel in realen
Zivilgesellschaften" (Roth in diesem Heft).
Die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Organisationsformen behandelt unser Themenheft
zum einen mit Blick auf die prägende Rolle
nationalstaatlicher Rahmenbedingungen (Annette Zimmer) und einen entsprechenden Reformbedarf als auch mit dem Fokus auf den
Organisationswandel von internationalen Nichtregierungsorganisationen und Netzwerken (Anheier u.a.).
Editorial
Editorial zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
lenAspekten der Zivilgesellschaft (Drittes Weltsozialforum und Mobilisierung nach Genua).
Der Literaturteil bietet eine Sammelrezension
zur Zivilgesellschaft, zu den 4 Bänden Gemeinwohl und Gemeinsinn' der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
und zur globalisierungskritischen Bewegung.
Die Beiträge des Themenschwerpunktes sind
zum größten Teil aus dem Kongress Demokratie und Sozialkapital - die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure' hervorgegangen. Der Berliner Kongress hatte drei inhaltliche Schwerpunkte: Neben (1) einer historischen Perspektive auf die Entwicklung von Bürgergesellschaft
und ,civil society' standen (2) demokratietheoretische Analysen zur sozialen und politischen
Integrationswirkung von Zivilgesellschaft und
(3) Perspektiven des .Dritten Sektors' auf dem
Programm. Diese inhaltliche Vielfalt findet sich
auch im vorliegenden Themenheft. Noch in
diesem Jahr werden die überarbeiteten Beiträge
des Kongresses in drei Bänden im Verlag
Leske+Budrich in der neuen Reihe ,Bürgergesellschaft und Demokratie' erscheinen .
Der Kongress wurde im Juni 2002 von der
Redaktion des Forschungsjournals gemeinsam
mit den DVPW-Arbeitskreisen ,Soziale Bewegungen' und, Verbände'und dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung durchgeführt. Gefördert wurde er durch die BundeszenIn kritischer Reaktion auf einen Beitrag von
trale für Politische Bildung, die Heinrich-BöllFrank Nullmeier im Forschungsjournal (Heft 4/
Stiftung, die Friedrich-Ebert-Stiftung, die Hans02) plädiert Michael Opielka für eine SozialpoliBöckler-Stiftung, die Otto-Brenner-Stiftungund
tik, die Fragen der gesellschaftlichen Umverteidas Wissenschaftszentrum für Sozialforschung
lung als Voraussetzung einer Stärkung der ZivilBerlin. Ihnen sei an dieser Stelle für ihre Untergesellschaft versteht. Er zielt dabei insbesondere
stützung gedankt .
auf die sozialpolitischen Überlegungen der Grünen. Ludwig Pott gibt einen Inneneinblick in die Zusätzlich zum Themenschwerpunkt dieser
Arbeit der Enquete-Kommission ,Zukunft des Ausgabe finden sich zwei Beiträge zur bundesBürgerschaftlichen Engagements'.
deutschen Friedensbewegung von Andreas Büro
Auch unsere Rubriken stehen diesmal ganz im und Dieter Rucht. Die Analysen unserer beiden
Zeichen des Themenschwerpunkt. Hier finden Beiratsmitglieder gelten mit einem Fokus auf
sich Analysen zum Verhältnis von aktivieren- Deutschland der Protestmobilisierung gegen den
dem Staat, Frauen und Ehrenamt und zu Frei- im März 2003 begonnenen Krieg im Irak und
willigenagenturen, aber auch zu transnationa- der Verfasstheit der Friedensbewegung.
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6
5 zyxwvutsr
15 Jahre Forschungsjournal
zivilgesellschaftliche Entwicklungen des sogeAnlässlich des 15-jährigen Jubiläums des Pro- nannten .Dritten Sektors' als intermediärer gejekts Forschungsjournal Neue Soziale Bewe- sellschaftlicher Sphäre zwischen Markt und
gungen veranstaltete die Redaktion im Rahmen Staat. Konzepte, Forschungen und Fallstudien
einer Fachtagung zu .Lobbyismus in Deutsch- zu nicht profitorientierten Organisationen stanland' im Januar 2003 einen Festakt in den Räu- den seinerzeit im Mittelpunkt. Zu Beginn des
men der Heinrich-Böll-Stiftung . Der Festvor- Jahres 1994 erschien ein Themenheft zu den
trag von Joachim Raschke - eines Weggefähr- demokratietheoretischen Implikationen des Ziten unserer Zeitschrift von Beginn an und Mit- vilgesellschaftsdiskurses. Heft 2 des Jahrgangs
glied unseres Beirats - untersucht die Auswir- 1996behandelte Entwicklungen einer internatikungen sozialer Bewegungen seit der Studen- onalen Zivilgesellschaft. Analysiert wurden
tenbewegung auf die Reformpolitik. Die rot- Arbeit, Funktionsweisen und Strukturen von
grüne Bundesregierung ist ein später Sieg der Nichtregierungsorganisationen. Heft 1 des Folneuen sozialen Bewegungen, aber dieser Erfolg gejahrgangs 1997 untersuchte die Rolle zivilgekann rasch verspielt werden. Ansgar Klein be- sellschaftlicher Akteure in demokratischen
schreibt das Selbstverständnis der Redaktion Transformationsprozessen in Südostasien, Laalseinen,diskurspolitischen Interventionismus'. teinamerika und Südeuropa.
15 Jahre ehrenamtliche Redaktionsarbeit sind
Der Beitrag von Ingmar Cario und Thomas
auch mit Blick nach vorn ein gewichtiger Grund Leif zur aktuellen Diskussion über das Informafür weitere Danksagungen. Diese gelten Herrn tionsfreiheitsgesetz gibt beispielhaft Einblicke
von Lucius und seinem Verlagsteam, unseren in die beobachtbaren Widerstände gegen weiKolleginnen und Kollegen in der Redaktion, tergehender Demokratisierung.
Volker Klemm im Satzbüro, Nina Faber für die
In der aktuellen reformpolitischen Praxis etwa
Titelgestaltung und unserem Karikaturisten spielt die Förderung von Zivilgesellschaft und
Gerhard Mester. Und natürlich gilt unser Dank bürgerschaftlichem Engagement nur eine nachauch unseren Leserinnen und Lesern und unse- geordente Rolle.
ren Autorinnen und Autoren. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Jessen, Ralph/Reichardt, Sven/Klein, Ansgar
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(Hg.): Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien
Ansgar Klein, Frankfurt/Berlin; Markus Rohde, zum 19. und 20. Jahrhundert; Ansgar Klein/
Kristine Kern/Brigitte Geißel/Maria Berger
Bonn (für Herausgeber und Redaktion)
(Hg.): Zivilgesellschaft, Demokratie und Sozialkapital. Herausforderungen politischer und
Anmerkungen
sozialer Integration; Karl Birkhölzer/Ansgar
Mittlerweile sind im Verlag Leske+Budrich Klein/Eckhard Friller/Annette Zimmer (Hg.):
auch alle 10 Gutachterbände der Enquete-Kom- Dritter Sektor/Drittes System: Theorie, Funktionswandel und zivilgesellschaftliche Perspekmission erschienen.
Spätestens seitdem sich die reformorientierten tiven. Alle drei Bände erscheinen in der neuen
Bürgerbewegungen während der ,samtenen Buchreihe „Bürgergesellschaft und DemokraRevolution' der 1980er Jahre in Osteuropa auf tie" (sie wird herausgegeben von Ansgar Klein,
das Konzept der Zivilgesellschaft beriefen, er- Ralf Kleinfeld, Frank Nullmeier, Dieter Rucht,
lebt der Begriff Bürger-/Zivilgesellschaft in der Heike Walk und Annette Zimmer).
wissenschaftlichen wie politischen Diskussion
Die Hans-Böckler-Stiftung hat durch einen
eine Konjunktur. Schon 1992 analysierte das Zuschuss auch den Überumfang des vorliegenForschungsjournal Neue Soziale Bewegungen den Heftes ermöglicht.
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6 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Forschungsjoumal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003
Editorial zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Andreas Büro
Lobbyismus ist auch der Themenschwerpunkt Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfädes Heftes 3 dieses Jahrgangs. Der Heinrich- hige Bürgergesellschaft, Opladen.
Böll-Stiftung danken wir für die Unterstützung Evers,Adalbert/Kortmann, Karin/Olk, Thomas/
unserer Festveranstaltung. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Roth, Roland 2002: Engagementpolitik als Demokratiepolitik: Reformpolitische Perspektiven
für Politik und Bürgergesellschaft, 13 Thesen
Literatur zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
und 13 politische Antworten. In: Georg LohDer 15. Februar 2003 war ein wichtiger Tag
Enquete-Kommission „Zukunft des Bürger- mann (Hg.): Demokratische Zivilgesellschaft
für die Friedensbewegung - Massendemonstschaftlichen Engagements "/DeutscherBundes- und Bürgertugenden in Ost und West. Frankrationen in Berlin und in der ganzen Welt. Sie
tag (Hg.) 2002: Bericht: Bürgerschaftliches furt/M. u.a.: Peter Zang
waren besonders dort stark, wo die Regierungen auf klarem Kriegskurs segeln, also in England, Italien und Spanien. Alle sind sich bewusst, dass der Stärkung der US-Friedensbewegung eine besondere Bedeutung zukommt,
aber auch dass der europäische Protest dafür
wichtig ist. Gab es schon früher bei den Ostermärschen eine internationale Synchronisation,
so liegt hier ein weiterer Schritt vor, der im
Gefolge des internationalen Protestes gegen die
kapitalistische Globalisierung zu verorten ist.
Die Friedensproblematik wird als wesentlicher
Bestandteil einbezogen, wofür auch das starke
Engagement von attac bei den ProtestdemonsTagungsankündigung/Call for Papers
trationen steht. Die New York Times schrieb,
es gäbe zwei Supermächte auf der Welt, die
USA und die Weltöffentlichkeit.
Symbole, Ästhetik und Medien in sozialen Bewegungen
7
7
Friedensbewegung in Protest
Am 3./4. Oktober 2003 findet im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ein
Workshop zum Thema: ,Symbole, Ästhetik und Medien in sozialen Bewegungen' statt.
Symbole, Slogans, Kleidung und sonstige Ausdrucksformen von Werten, Positionen und
Identitäten in sozialen Bewegungen und Protestgruppen werden oft nur als Beiwerk der
eigentlich politischen und ,instrumenteilen' Praktiken des Protests gesehen. Der geplante
Workshop soll diese zumeist wenig beachteten Ausdrucksformen in den Mittelpunkt rücken
und ihre Bedeutung, ihre Funktionen und Variationen sichtbar machen. Gedacht ist dabei nicht
an trockene akademische Vorträge, sondern vor allem an Präsentationen und Deutungen
akustischen und/oder visuellen Materials, zum Beispiel von politischen Symbolen, Slogans,
Plakaten, Filmen, Fotos, Karikaturen, Theaterstücken, freien Radios, Video-Gruppen, alternativen Mediengruppen sowie subversiv-ästhetischen Protestpraktiken. Erwünscht sind auch
experimentelle Formen der Präsentation, die das Publikum aktiv einbeziehen. Erbeten werden
neben eigenen Vorschlägen für Präsentationen bzw. Referate auch Hinweise auf mögliche
Referentinnen und Referenten zu diesem Themenbereich.
Kontakt: Prof. Dieter Rucht, Wissenschaftszentrum Berlin, Reichpietschufer 50,10785 Berlin,
eMail: rucht@wz-berlin.de.
Die Protestierenden kamen aus fast allen
Schichten der Gesellschaft und Altersstufen.
Das zeigt, wie sehr die Gesellschaft über den
aufkommenden Konflikt beunruhigt ist. Zu erinnern ist, dass die Friedensbewegung auch in
ihren früheren Stadien heterogen war. Im Protest der 1950er und 1960er Jahre trafen sich
Linke aus allen Schattierungen mit Sozialdemokraten, liberalen Christen und Nationalkonservativen. So war es auch in den 1980er Jahren, als sich fast alle durch den NATO-Doppelbeschluß auf das Äußerste bedroht fühlten.
In Berlin gab es eine zusätzliche Neuheit: Dort
trafen sich erstmals zur Groß-Demonstration
Menschen aus ,Ost und West', deren Friedenskultur sich in der früheren Zeit getrennt entwi-
ckelt hatte. Aus dieser Breite der gesellschaftlichen Beteiligung ergab sich notwendig auch
eine zusätzliche Breite unterschiedlicher Aussagen und Motivationen, denn einen gemeinsamen politischen und sozialen Lernprozess
hatten diese Menschen bisher nicht durchlaufen.
Zur Breite der Mobilisierung läßt sich eine
weitere Aussage treffen: Soziale Bewegungen,
zu denen die Friedensbewegung zweifellos gehört, setzen sich aus konzentrischen Kreisen
von Menschen zusammen. Es gibt die .Sympathisierenden', die sich jedoch kaum beteiligen, allenfalls Geld spenden und Aufrufe unterschreiben. Näher stehen die ,Engagierten',
die sich beteiligen und einzelne Arbeiten und
Funktionen übernehmen, wenn die Kampagnen laufen. Der Friedensbewegung geben jedoch erst die , sensibel und dauerhaft Betroffenen' Kontinuität. Sie empfinden die Bedrohung aus den allgemeinen Entwicklungen, reagieren darauf und leisten dauerhaft Friedensarbeit. Sie bilden den Kern der Friedensbewegung auch in Zeiten geringer Mobilisierung.
Wasser kommt in verschiedenen Aggregatzuständen vor: als Eis, flüssiges Wasser und
Dampf. Auch die Friedenbewegung hat verschiedene Aggregatzustände: Vor allem ihr
Kern betreibt analytisch-politische Arbeit professioneller Art. Sie engagiert sich auch in auswärtigen Konflikten, z.B. in Bosnien, der Türkei oder Palästina, was sehr wichtig ist, aber
die Menschen in Deutschland nicht mobilisiert. Des weiteren mobilisiert sich die Friedensbewegung in mehr oder weniger großer
Breite in Konflikten, durch die sich die Menschen im eigenen Lande direkt berührt fühlen.
8 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA Andreas Büro zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Friedensbewegung in Protest
In der gegenwärtigen Situation hat sich nun
auch der äußerste Kreis, die Sympathisierenden', mobilisiert und sogar Aussenstehende am
Protest beteiligt.
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was nichts mit einem Sympathiebeweis für Sativationen, sonst ziehen die Menschen es vor, erhebliche Zeit zur Mobilisierung. Die ewige
dam Hussein und sein Regime zu tun hatte.
als Betrachter zu Hause zu bleiben. Die Moti- Frage, wo denn die Friedenbewegung bleibe,
Beide Aussagen wurden vor dem Hintergrund
ve sind oftmals nicht identisch mit den politi- die ja auch diesmal bis zum Überdruss von
gemacht, dass es in der gegenwärtigen Situatischen Aussagen und Begründungen. Vielleicht den Medien gestellt wurde, beruht auf diesem
on keine ernsthafte Bedrohung durch den Irak
sind sie den Protestierenden selbst nicht voll- Unverständnis. Wir haben bisher noch in allen
ständig bewusst. Sicher gehen sie auch auf Konflikten mit einer Jnkubationszeit' von eiFälschlicherweise wird die Friedensbewegung in gebe und also entsprechende Zeit für eine EntUnterbewusstes zurück, wie vielfach ebenfalls nigen Monaten bis zur Mobilisierung zu rechden ersten beiden Aggregatzuständen in der Öf- waffnung durch die Inspektoren zur Verfügung
bei rational begründeten Aussagen.
nen gehabt.
fentlichkeit meist für ,tot' erklärt. Dabei wird stünde. Hinzu kam die Einschätzung, den USA
verkannt, dass Friedensbewusstsein in der Be- ginge es um ganz andere Ziele, die nichts mit
völkerung nicht zugleich bedeutet, die Menschen den offiziell im Sicherheitsrat diskutierten TheIch kenne keine gründlichen Untersuchungen Derzeit wird gefragt, ob es eine neue Friemüssten sich ständig in einem .mobilisierten Zu- men zu tun hätten. Eine grundsätzliche paziüber derzeitige Motivationen und muss speku- densbewegung gibt? Die Frage ist falsch gestand' befinden. Erst in Zeiten, in denen Krieg fistische Haltung kann danach sicherlich nicht
lieren: Da ist das Mitgefühl für die zukünfti- stellt. Sie muss lauten: Wird aus der jetzigen
droht, zeigt sich, wie weit Friedensbewusstsein allen Protestierenden unterstellt werden, wohl
gen Opfer und Zerstörungen eines Krieges; Mobilisierung ein stärkeres, kontinuierliches
und eine Kultur des Friedens verbreitet ist und aber eine Anti-Kriegshaltung. Dementspregibt es das Unverständnis für eine Forderung Engagement gegen Aufrüstung und militäriwie sehr die Menschen in konkreten Situationen chend werden viele zu der jüngsten EU-Resonach Krieg bei fehlender aktueller Bedrohung; schen Konfliktaustrag und für friedliche zivile
lution, in der erneut der Krieg als letztes Mitbereit sind, dafür einzustehen.
fragt man sich, warum wollen die USA und Konfliktlösungen entstehen? Für die Antwort
tel genannt wird, eine unentschiedene Haltung
England unbedingt Krieg, wenn es friedliche sind vor allem die Dauer des Konfliktes und
Lösungsmöglichkeiten gibt? Warum darf Isra- der Mobilisierung, die dabei vollzogenen soziTrotz der Vielfalt im einzelnen standen am 15. haben.
el alle Beschlüsse des Sicherheitsrats missach- alen Lernprozesse, die Bildung von lokalen
Februar zwei gemeinsame Aussagen unverten und hat alle Massenvernichtungswaffen, Gruppen als ,Werkstätten des Friedens' und
kennbar im Vordergrund: Das ,Nein' zu einer Sich an Demonstrationen zu beteiligen, erforwährend der Irak, der in beachtlichem Maß die Entfaltung vor Ort zu bearbeitender Promilitärischen Lösung des Irak-Konflikts und dert in der Regel, Hemmschwellen zu überabgerüstet worden ist, bombardiert werden soll? jekte mit längerer Perspektive entscheidend.
das Ja' zu seiner friedlichen, zivilen Lösung, schreiten. Es bedarf hierzu also kräftiger Mo-zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Viele fühlen sich durch die „Arroganz der Die Stärkung lokaler Gruppen liegt in der Hand
Macht" (Fulbright) der USA gedemütigt, als der Friedensbewegung, die Länge und Intensisei es unehrenhaft für friedliche Konfliktlö- tät des Konflikts nicht.
sung einzutreten. Dabei gehen Gefühle der Ablehnung der US-Rolle als Blockierer von Re- In dem Kultfilm ,Casablanca' befiehlt der Po1
formen im sozialen, ökologischen und interna- lizeichef nach dem politischen Mord an einem
tional-rechtlichen Bereich ein. Man hofft auf SS-Offizier: „Verhaften sie die üblichen Verdie UN und versteht, wie sehr die unilaterale dächtigen!" Dieser Satz ist zu einem geflügel'S
Kriegspolitik der USA, die sich über den Si- ten Wort für Rituale geworden, die nichts mit
cherheitsrat stellt, diese beschädigen kann. Aber der realen Situation zu tun haben. Für die üblies ist auch die Angst vor den wirtschaftlichen che Diffamierung der Friedensbewegung könnund sozialen Folgen eines Krieges. Das alles te man ihn übersetzen: „Beschuldigen Sie die
geht tief unter die Haut. Man will daher der Friedensbewegung des Anti-Amerikanismus!"
rot-grünen Regierung den Rücken für ihre Ab- Das wird seitens der politischen Klasse nun
sage an Kriegsbeteiligung stärken, obwohl man schon seit gut 50 Jahren wie ein Ritual ohne
ihr in vielfacher Hinsicht nach dem Jugoslawi- Wirklichkeitsgehalt betrieben. Die zweite Krien-Krieg friedenspolitisch zutiefst misstraut.
tik lautet, die Friedensbewegung habe keine
Alternative. Sie ist genauso falsch, denn diese
Da die Friedensbewegung kein bürokratischer hat seit ebenfalls 50 Jahren realpolitische KonApparat wie Ministerien oder Bundeswehr ist, zepte für friedliche Lösung entwickelt. Dies
sondern auf der Meinungsbildung und Moti- gilt bis zur Gegenwart im Kampf um eine friedvation der Bürgerinnen beruht, benötigt sie stets liche Lösung des Irak-Konflikts.
10 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Forschungsjournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003
Dieter Rucht zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
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Die Friedensdemonstranten Wer sind sie, wofür stehen sie?
,No war'. In vielen Sprachen formuliert, war
dies der kleinste gemeinsame Nenner der Friedensdemonstrationen am 15. Februar 2003. Im
Takt der Zeitverschiebung berichteten die
Nachrichtensender über das sich nach Westen
ausbreitende Lauffeuer von Demonstrationen.
Es reichte von der Ostküste Australiens über
Japan, Korea und Europa bis zur Westküste
Nordamerikas - eine Globalisierung anderer
Art. Je nach Quellen waren zwischen acht und
vierzehn Millionen in zahlreichen Städten versammelt, um ihr Nein zu einem drohenden
Krieg gegen den Irak zu bekunden. In Großbritannien, Italien und Spanien als den großen
europäischen Ländern, deren Regierungen sich
entgegen der überwiegenden Meinung ihrer
Bevölkerung hinter die Bush-Regierung gestellt
hatten, waren die mächtigsten Demonstrationen zu verzeichnen. Die Londoner Kundgebung gilt als die größte in der Geschichte des
Landes. Berlin hatte in seiner bewegten Vergangenheit mehrfach größere Demonstrationen
gesehen. Aber noch nie zuvor hatte in Deutschland ein auch nur annähernd so großer Friedensprotest wie am 15. Februar stattgefunden
(500.000 Teilnehmer).
päischen Ländern und drei Städten der USA
eine Reihe von Sozialwissenschaftlern und
zahlreiche Helfer unterwegs, um einen weitgehend standardisierten zehnseitigen Fragebogen in der jeweiligen Landessprache auszugeben. In einigen Städten wurden zusätzlich Hunderte von direkten Interviews am Ort der Demonstration durchgeführt. Die Berliner Befragung wurde logistisch und finanziell von Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung
(WZB) unterstützt. Rund dreißig freiwillige
Helfer verteilten an drei Versammlungsorten
insgesamt 1430 zehnseitige Fragebögen mit
der Bitte, diese zu Hause auszufüllen und im
beigegebenen frankierten und adressierten
Umschlag zurückzusenden.
Ergebnisse:
Ein sehr spezieller Personenkreis
Das Bild der Demonstranten als eines breiten
Querschnitts der Bevölkerung erweist sich im
Großen und Ganzen als falsch. Es handelt sich
vielmehr um einen sehr speziellen Personenkreis, der keineswegs ein verkleinertes Abbild
der Gesamtbevölkerung darstellt
Abgesehen von der Überraschung über die Grö- Die Verteilung der Geschlechter unter den Deße des Protests wurde in den Medien vor allem monstranten (53 Prozent Frauen) entspricht
seine gesellschaftliche Breite hervorgehoben. nahezu der in der Gesamtbevölkerung. GleiTrotz aller medialer Schlaglichter bleibt die ches gilt für die mittleren Altersgruppen von
Frage: Wer hat hier demonstriert und wo ste- 25 bis 44 und 45 bis 64 Jahren. Dagegen sind
die 15 bis 24jährigen unter den Demonstranhen diese Menschen politisch?
ten in Relation zur Gesamtbevölkerung deutZusammen mit den Millionen von Demon- lich überrepräsentiert und die über 65jährigen
stranten waren am 15. Februar in sieben euro- deutlich unterrepräsentiert. 97,7 Prozent der
Die Friedensdemonstranten
- Wer sind sie, wofür stehen sie?
Befragten, und damit deutlich mehr als in der
Gesamtbevölkerung (91,2 Prozent), besitzen
die deutsche Staatsbürgerschaft. Helfer der
Untersuchung berichteten allerdings, dass einige ausländisch aussehende Angesprochene
die Annahme des Fragebogens verweigert hätten.
Frappierend ist der weit über dem Durchschnitt
liegende Bildungsstand der Demonstranten.
Nach ihrem höchsten Ausbildungsgrad befragt,
nannten lediglich 1,4 Prozent die Haupt- oder
Grundschule und 10,1 Prozent die Realschule
oder Lehre. Dagegen hatten 17,2 Prozent das
Abitur, weitere 50,8 Prozent einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss und zusätzliche 7,9 Prozent sogar eine Promotion. Zusammengerechnet beträgt somit der Anteil von
Personen mit Abitur 75,9 Prozent. Arbeiter sind
mit lediglich 4,4 Prozent vertreten, einfache
Angestellte und Beamte mit 18 Prozent, Freiberufler mit 8,7 Prozent, Schüler, Studenten
und Lehrlinge mit 32,5 Prozent und Arbeitslose mit 6,4 Prozent. Bei den beruflichen Tätigkeitsfeldern zeigt sich ein hohe Konzentration
auf den Bereich Gesundheit, Erziehung, Pflege, Wohlfahrt und Forschung (31,8 Prozent).
Schwach repräsentiert sind dagegen der traditionelle industrielle Bereich einschließlich der
Bauwirtschaft mit 5 Prozent und die Landwirtschaft mit 1,1 Prozent.
Der Anteil von Personen ohne Religionszugehörigkeit ist mit 65,5 Prozent außerordentlich
hoch (Gesamtbevölkerung ca. 35 Prozent). Von
den übrigen Befragten sind 23,2 Prozent evangelisch und lediglich 7,4 Prozent katholisch
(Gesamtbevölkerung: 32,4 Prozent evangelisch
und 32,6 Prozent katholisch).
Ein weiteres, in dieser Deutlichkeit überraschendes Ergebnis ist die allgemeine politische Positionierung der Demonstranten. Unter
denen, die an den letzten Bundestagswahlen
n
teilgenommen hatten, nannten lediglich ein Prozent die CDU/CSU und 1,4 Prozent die FDP.
Alle übrigen Stimmen konzentrierten sich,
teilweise in unterschiedlichen Kombinationen
von Erst- und Zweitstimmen, auf SPD, PDS
und Grüne sowie - zu einem sehr geringen
Anteil - auf Kleinparteien (Tierschutzpartei,
Graue Panther, Feministische Partei). Niemand
der Befragten hatte seine Stimme einer rechtsradikalen Partei gegeben. Die Antworten auf
die ,Sonntagsfrage' (,Wenn morgen Bundestagswahlen wären, für welche Partei würden
Sie stimmen?') unterstreichen das Bild einer
enorm starken Linkslastigkeit der Friedensdemonstranten. Die Grünen erhielten 52,9 Prozent, die SPD 20,8 Prozent und die PDS 19,8
Prozent der Stimmen. Dagegen landeten CDU/
CSU bei 1,7 Prozent und die FDP bei 1,2 Prozent. Die Selbsteinstufung auf der Links/
Rechts-Skala mit Positionen von 0 (ganz links)
bis 10 (ganz rechts) weist in die gleiche Richtung. Das rechte Spektrum (Werte von 7 bis
10) ist mit 1,1 Prozent fast verwaist und der
mittlere Bereich (Werte von 4 bis 6) mit 16
Prozent relativ schwach vertreten. Dem linken
Spektrum ordnen sich insgesamt 82,9 Prozent
zu; immerhin 6 Prozent belegen den äußersten
linken Rand (Skalenwert 0). Mit einem Mittelwert von 2,7 auf der 11-Punkte-Skala weichen
die Demonstrierenden weit vom bundesdeutschen Durchschnitt ab, der verschiedenen Umfragen zufolge ziemlich genau in der Mitte der
Skala liegt.
Die Demonstrationsteilnehmer sind in hohem
Maße politisch interessiert (82 Prozent) und in
diversen Zusammenhängen politisch aktiv.
Lediglich 22,7 Prozent von ihnen hatten sich
in den vergangenen fünf Jahren an keiner Demonstrationen beteiligt, darunter weniger Frauen als Männer. Die übrigen, befragt nach dem
Anliegen von Demonstrationen, an denen sie
teilgenommen hatten, nannten am häufigsten
Frieden (65 Prozent), Anti-Rassismus (43,6
12 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Dieter Rucht zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Die Friedensdemonstranten - Wer sind sie, wofür stehen sie?
Prozent) und soziale Anliegen einschließlich in andere gesellschaftliche Gruppen und Instigewerkschaftlicher Themen (36,1 Prozent), tutionen deutlich geringer (zum Beispiel BunSehr hoch ist auch die Beteiligung an anderen despräsident 45,5 Prozent, Rechtssystem 32,8
politischen oder sozialen Aktivitäten, etwa an Prozent, Gewerkschaften 23,4 Prozent). Das
Verbraucherboykotten, Petitionen, Volksent- Schlusslicht bilden die politischen Parteien,
scheiden und Spendenaufrufen. In Relation zur denen nur 3,4 Prozent viel Vertrauen und keiGesamtbevölkerung bezeichnen sich über- ner der Befragten völliges Vertrauen ausspredurchschnittlich viele Demonstranten (43,6 chen. Hinter den Vereinten Nationen (31,3 ProProzent) alszyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
aktives Mitglied einer Gruppe oder zent), der Europäischen Union (18,5 Prozent)
Organisation, darunter einer Partei (9,7 Pro- und der Bundesregierung (13,6 Prozent) lanzent), einer Organisation für globale soziale det der Bundestag bei 12,5 Prozent.
Gerechtigkeit (8,7 Prozent), einer Friedensorganisation (7,5 Prozent), einer Umweltorgani- Der Aussage ,Die meisten Politiker verspresation (7,1 Prozent), einer Organisation für chen viel, aber tun in Wirklichkeit nichts'
Frauenrechte (4,7 Prozent) und/oder einer an- stimmt die Hälfte der Befragten zu (49,4 Protirassistischen Organisation (4,3 Prozent).
zent). Noch mehr (52,1 Prozent) bejahen den
Die durchaus vorhandene Akzeptanz des politischen Systems paart sich also mit einem außergewöhnlich höhen Misstrauen gegenüber
Parteien und Politikern.
Welche Positionen vertreten die Befragten im
Hinblick auf die Irak-Krise und die beteiligten
Regierungen? Obgleich die Bundesregierung
generell kein hohes Vertrauen unter den Demonstranten genießt, urteilt doch die große
Mehrheit der Befragten positiv über die Anstrengungen ihrer Regierung, einen Krieg zu
verhindern. In dieser Hinsicht zeigen sich 58,4
Prozent zufrieden und weitere 9,7 Prozent völlig zufrieden. Als wichtigste Aufgabe wird der
Bundesregierung aufgetragen, eine diplomatische Lösung im Irak-Konflikt zu suchen (44,5
Prozent sehen darin das wichtigste Ziel und
weitere 19,3 Prozent das zweitwichtigste unter
einer Reihe von Zielen).
Satz .Politische Parteien sind nur an meiner
Während rund drei Viertel (74,2 Prozent) aller Stimme, aber nicht an meinen Ideen und MeiBefragten ihre Sympathie für die Bewegung nungen interessiert'. Dennoch handelt es sich
gegen neoliberale Globalisierung bekunden und bei den Demonstranten nicht nur um eine Anfast zwei Drittel (63,6 Prozent) sozialen Be-zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Sammlung von Skeptikern. Lediglich 15 Prowegungen/Bürgerinitiativen viel oder völliges zent sind .überhaupt nicht zufrieden' mit dem
Nicht überraschend ist dagegen die überwieVertrauen entgegenbringen, ist das Vertrauen Funktionieren der Demokratie in Deutschland.
gend kritische Sicht auf das Mittel des Krieges
und die Haltung der US-Regierung in der IrakFrage. Die Aussage, ein Krieg sei gerechtfertigt, um ein diktatorisches Regime abzuschaffen, lehnen 84,4 Prozent der Befragten ab. Dass
Kriege immer falsch seien, glauben 76,1 Prozent. Ein fast gleicher Prozentsatz (75,9) lehnt
konsequenterweise einen Krieg gegen den Irak
auch dann ab, wenn dieser vom UN-Sicherheitsrat gebilligt würde. Dass die USA einen
,Feldzug gegen den Islam' fuhren, glauben 39
Prozent der Befragten; dass dieser Angriff erfolge, um die Ölversorgung der USA zu sichern, meinen 86 Prozent. Zugleich stimmen
aber auch 47,2 Prozent der Aussage zu, das
irakische Regime müsse zu Fall gebracht werden, um das Leiden des dortigen Volkes zu
beenden, während 21,1 Prozent diese Aussage
ablehnen.
13
der Demonstration, wobei freilich deutlich zwischen öffentlicher Wirkung und dem Effekt
auf politische Entscheidungsträger unterschieden wird. Der Aussage, Demonstrationen verbesserten das Verständnis der Öffentlichkeit für
die erhobenen Forderungen, stimmen 83,4 Prozent zu (davon 40,7 Prozent ,völlig'). Jedoch
sind lediglich 7 Prozent .völlig' der Meinung,
dass die politischen Entscheidungsträger die
Forderungen, die auf großen Demonstrationen
erhoben werden, auch berücksichtigen. Dagegen bleibt in dieser Hinsicht über die Hälfte
der Befragten (54,5 Prozent) unentschieden
oder skeptisch. Der Schlüsselfrage, ob die Demonstration die Chance einer Verhinderung des
Krieges erhöhe, stimmen 42,1 Prozent zu und
weitere 21,1 Prozent .völlig zu', während
insgesamt 12 Prozent die Frage verneinen.
Gleichwohl ist auch diese Gruppe von Pessimisten zur Demonstration gekommen. Auch
sie haben teilweise lange Wege (29 Prozent
nannten einen Anfahrtsweg von mindestens 150
Kilometern) und stundenlanges Herumstehen
in beißender Kälte in Kauf genommen.
Dieter Rucht ist Professor für Soziologie und
Leiter der Arbeitsgruppe politische Öffentlichkeit und Mobilisierung' am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
Kontakt: rucht@wz-berlin.de zyxwvutsrqponmlkjih
Anmerkung
1
Leicht gekürzte Fassung eines Beitrags, der
zuerst in der Frankfurter Rundschau vom 21.
März 2003 erschienen ist. Das gesamte Projekt wurde initiiert von Prof. Stefaan Walgrave, Universität von Antwerpen. Die vergleichenden Befunde zu den USA (San Francisco,
Seattle, Washington, DC), Belgien, Deutschland, Großbritannien (London und Glasgow),
Überwiegend optimistisch zeigen sich die Teil- Holland, Italien, der Schweiz und Spanien wernehmer hinsichtlich der erwarteten Wirkung den erst in einigen Monaten vorliegen.
14 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Forschungsjournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003
Joachim Raschke zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Bewegung, Reform, Protest Blockaden und Veränderungen
Vortrag zum Festakt 15 Jahre Forschungsjournal NSB
„Nichts kommt von selbst, und nur wenig ist
von Dauer." Das ist nicht der Spruch eines
Bewegungsaktivisten. Das sagte Willy Brandt
am Ende eines langen politischen Lebens, 125
Jahre Sozialdemokratie im Rücken. Für Euch,
die Erfinder und Macher des Forschungsjournals, gilt es auch. .Nichts kommt von selbst' das ist präzise die Sprache der Ehrenamtlichen. ,Nur wenig ist von Dauer' - vor dem
Hintergrund sind 15 Jahre schon eine beeindruckende Zeit. Das ist möglich nur durch
Transformationen, zumal wenn - wie bei Euch
- der Ausgangspunkt soziale Bewegungen sind.
Und über Transformationen muss ich sprechen,
wenn ich über Bewegung und Reform etwas
sagen soll.
ser erkennbar wird jetzt auch ihr Fundament
aus zwei gesellschaftlichen Mehrheiten: einer
ökologisch-kulturellen Mehrheit und einer
Mehrheit, die für soziale Gerechtigkeit eintritt
- gegen eine dritte, ökonomische Mehrheit,
die mit den bürgerlichen Parteien in Opposition gegangen ist. Bei den Landtagswahlen in
Hessen und Niedersachsen war zu erleben, wie
diese andere, die ökonomische Mehrheit zum
Zuge kommt; wegen der jämmerlichen Performance von Rot-Grün auf genau diesem Feld
nach der Bundestagswahl. (Noch bei der Bundestagswahl kam Rot-Grün in Niedersachsen
auf 56 Prozent, 15 Punkte Vörsprung vor
Schwarz-Gelb!)
Bewegung, Reform, Protest - Blockaden und Veränderungen
nem Fragezeichen abgeliefert. Aber Verlage
wollen Eindeutigkeit, jedenfalls bei den Auflagezahlen. Also wurde das Fragezeichen gestrichen. Die .andere Gesellschaft' - geht man
nach den hochgestochenen Absichten der Bewegungsakteure - bleibt natürlich aus. Wenn
kaum noch jemand weiß, was die ,neuen sozialen Bewegungen' (die NSB, wie das Fach
sagt) einmal waren, erst dann tritt deren machtpolitisch wichtigste Wirkung ein. Ich werde
Spätwirkung und Transformationen dieser Bewegungsinputs zum Ausgangspunkt nehmen
für Überlegungen, die dann zu Chancen und
Grenzen von Reformpolitik und zu Fragen einer blockierten Republik führen.
15
aler Bewegungen weisen die Alterskohorten.
Erstmals 1972 schlug die Schubkraft der 68er
zu Buche: Damals wählten 55 Prozent der
18- bis 24-jährigen die SPD. Viele von ihnen zugleich Willy- und APO-Wähler. Das
waren fast 20 Prozent mehr als die Union
bei den Jungwählern erreichte, 8 Prozent
mehr als die sozialdemokratische Wählerschaft insgesamt. Der kurze Weg der Bewegung führte zur SPD.
In den 80er Jahren wandten sich die von den
NSB Inspirierten den Grünen zu. Die holte bei
den unter 35-jährigen zweistellige Erfolge. Die
abflachende Erfolgskurve der Grünen bei den
Jüngeren in den 90ern ist auch Ausdruck nachDamit umgehe ich Spekulationen über die Zu- lassender Mobilisierung der NSB seit der zweikunft der vielleicht ersten eigenständigen Be- ten Hälfte der 80er Jahre. Die Wahrscheinlichwegung nach den NSB, die globalisierungs- keit, dass Jungwähler ihre erste Parteipräfekritische Bewegung. Zwar war die 68er Stu- renz beibehalten, ist generell sehr groß. Das
dentenbewegung die erste globalisierte Bewe- erklärt, dass Rot-Grün heute in allen Altersgung in der Geschichte moderner Sozialbewe- gruppen bis 60 die Mehrheit stellt, am meisten
gungen, die ungefähr zeitgleich fast weltweit bei den 35-50jährigen, deren Generationen
auftrat. Aber die heutige Bewegung macht Glo- durch Bewegungen geprägt wurden. Erst die
balisierung selbst erstmals zum kritischen The- Kumulation solcher Generationen über einen
ma und sie agiert erstmals als globalisierter längeren Zeitraum schafft eine neue Mehrheit.
Akteur. Für die NSB-Forscher endlich mal Das ,Ergrauen' der Grünen ist - so gesehen wieder eine Bewegung, die sich noch bewegt, kein Schwächezeichen, sondern eine Bedingung für die Spätwirkung der NSB.
bei der alles offen ist.
Die zwei Mehrheiten, auf denen Rot-Grün aufDer Sieg bei der Bundestagswahl am 22. Sep- baut, wollen: die offene, wirklich plurale Getember, sagt Gerhard Schröder seinen Genos- sellschaft, die ökologische Mäßigung der Ökosen, sei nur ihm zu verdanken. Genauso redet nomie, das Beharren auf sozialer GerechtigAls empirisch-analytischer Zeitgenosse weiß
Joschka Fischer gegenüber seinen Parteifreun- keit auch unter Bedingungen globalisierter
man nur wenig über die Zukunft. Aber man
den. Als Politologen würden wir aber sagen: Konkurrenz, die Ablehnung von Krieg ohne
kann erzählen und analysieren, wie es der VörMehr als anderes war es derzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
späte Sieg der zwingende menschenrechtliche Gründe. Die
läuferbewegung ergangen ist. Vielleicht lässt
sozialen Bewegungen seit den 60er Jahren. Spuren der Bewegungen sind darin erkennbar:
sich daraus ja etwas lernen über die WirkungsOhne die Studentenbewegung, vor allem ohne der Neuen Sozialen Bewegungen (NSB) und
weise dieses neuen Typs postindustrieller Bedie sich anschließenden neuen sozialen Bewe- übrigens auch noch die der älteren, der Arbeiwegungen, mit dem wir es spätestens seit den
gungen wären Schröder/Fischer nicht erfolg- terbewegung, aus denen die SPD hervorging 1960er Jahren zu tun haben.
reich gewesen. An der rot-grünen Mehrheit mit den Wertorientierungen Anti-Krieg und
wurde 30 Jahre gearbeitet. Wer nach der Wir- Pro-Gerechtigkeit.
Es ist nicht einfach, Genaueres zur Wirkung
kung sozialer Bewegungen fragt, muss sich
sozialer Bewegungen zu sagen. Und die Wisauf lange Zeiträume einlassen.
Als Zeitgenosse tappt man im Dunkeln. Karlsenschaft hat die Frage, was dabei letztlich
Werner Brand und andere schrieben Anfang
herauskommt, bisher weitgehend umgangen.
Erst seit dem 22. September hat Rot-Grün ein der 80er Jahre ein Buch, Titel: ,Aufbruch in
Einen Pfad für die Wirkungsgeschichte soziausdrückliches und verbindliches Mandat. Bes- eine andere Gesellschaft', dem Verlag mit ei-
Ein zweiter Ursachenfaktor für rot-grüne Mehrheiten ist der postmaterielle Wertewandel. Im
Zeitverlauf zeigt sich eine parallele Entwicklung zum Auf und Ab der NSB: ansteigend in
den 70ern, Höhepunkte erreichend in den
80ern, abflachend in den 90ern, als Brot-undButter-Fragen auf dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit wieder dominierten und zum
Beispiel Umweltschutz aus der politischen
Agenda weitgehend verschwand. Postmaterieller Wertwandel ist zwar zu erklären durch
längere Phasen materieller und physischer Sicherheit und ist deshalb in prosperierenden
Gesellschaften ein verbreitetes Phänomen. Star-
Bewegung, Reform, Protest - Blockaden und Veränderungen
16 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Joachim Raschke zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
ke Bewegungen - wie in Deutschland - tragen
aber zusätzlich zu seiner Stärkung bei. Nur relevante Bewegungen schaffen die Intensität öffentlicher Konflikte, die es braucht, um politisch geprägte Generationen hervorzubringen. Dies hat
20 Jahre lang, zwischen Ende der 60er und Ende
der 80er Jahre, stattgefunden. Und das ist heute
die Kernwählerschaft von Rot-Grün.
Die Initialzündung wurde durch eine Verbindung von alternativem Praxisbeispiel und Konflikt ausgelöst. Ich greife nur ein Beispiel
heraus. Ende der 60er Jahre gab es einige
wenige Kinderläden hier in Berlin, eine provozierende Störung deutscher Ordnungsvorstellungen, es kommt zu breiten Debatten über
anti-autoritäre Kindererziehung (ein Begriff,
der 1972 70 Prozent der Bevölkerung geläuDie Logik der postindustriellen Bewegungen fig war, 45 Prozent dafür) - ein paar Dutzend
ist doppelpolig. Sie ist zugleich auf Politik- Akteure mit einer kulturrevolutionären Wirund Gesellschaftswandel gerichtet: Wertwan- kung. Gefragt nach ihren Erziehungszielen
del, Selbstveränderung, revidierte Lebenspra- hatten die Menschen jahrzehntelang der Antxis in der Gesellschaft, Einfluss- und Macht- wort .Selbständigkeit und freier Wille' einen
gewinn im politischen System. Am Anfang niedrigen Stellenwert gegeben. In drei Jahren
läuft alles durcheinander, mit der Zeit aber sind sprang die Zustimmungsrate von 31 Prozent
Differenzierungen notwendig, weil insbeson- auf 45 Prozent (1969) - das ist bei Wertfradere das politische System über eine - macht- gen wirklich sensationell. Seit den 70er Jahgestützte - Speziallogik verfügt. Trotz aller ren ist dies der klare Mehrheitswert, .GehorDurchmischungen drängen sich Unterscheidun- sam und Unterordnung' wollte niemand mehr.
gen inzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
macht- und kulturorientierte Bewegungen auf. Die Friedensbewegung beispielsweise Die Millimeterarbeit des alltäglichen Feminisoperiert eher staatszentriert, weil zur unmittel- mus, die Ökologisierung des Alltags, die gebaren Erreichung ihrer Ziele die staatliche Mi- sellschaftliche Legitimierung gleichgeschlechtlitär- und Außenpolitik geändert werden müss- licher Lebensformen lange bevor daraus ein
te, die Frauenbewegung orientiert sich stärker Gesetz wurde, Formen kritischen Konsums...
auf sozio-kulturelle Veränderungen, weil wich- Der Wandel am Staat vorbei ist eine höchst
tige ihrer Ziele nicht durch Gesetzesänderung effektive Wirkungsweise der postindustriellen
erreicht werden können. Das Strategieproblem Bewegungen, gerade wegen ihrer beträchtlistellt sich für Bewegungen am stärksten dort, chen kulturorientierten Anteile.
wo macht- und strategieorientierte Akteure das
Feld bestimmen, im ausdifferenzierten politi- Allerdings kommt es auch auf dieser Ebene
schen System; dazv später.
mit der Zeit zu Abschwächungen und KcmZunächst zum Pfad, den kulturorientierte Bewegungen nehmen. Die antiautoritäre Studentenbewegung hatte einen kurzen Sommer von
gut zwei Jahren, vollgepackt mit politischen
Absichtserklärungen und Aktivismus. Es war
leicht, sie hinterher besser zu verstehen als sie
selbst sich verstehen konnte. Von ihren Hauptakteuren als hochpolitisch-machtorientiert deklariert, hatte sie ihre wichtigste Wirkung als
kulturorientierte Bewegung.
promissbildungen. Institutionalisierung hebt
zwar die Bewegungen nicht auf, verringert aber
ihre Dynamik. Kooperation wird wichtiger als
Konflikt. Auch der postmaterielle Wertwandel
selbst wandert, durch Abschwächung, vom
Rand in die Mitte der Gesellschaft, wie zuletzt
die Shell-Studie 2002 gezeigt hat. Wertsynthesen mit ökonomischen Eigeninteressen werden stärker seit den 90er Jahren, aber der Postmaterialismus behält seinen Einfluss auf das
gesellschaftliche Wertprofil.
Der kulturorientierte Wärmestrom der Bewegungen stärkt die Zivilgesellschaft. Gleichzeitig forciert er die Entkopplung und Entfremdung zwischen Zivilgesellschaft und politischem System. Zivilgesellschaft wirkt weder
subversiv noch konformistisch gegenüber der
organisierten Politik, sie geht ihren eigenen
Weg. Klammer bleiben die nach wie vor hohe
Wahlbeteiligung und gemeinsame Wertbezüge. Im übrigen verstehen sich Zivilgesellschaft
und Politik immer weniger. Die gesellschaftliche Praxis der Zivilgesellschaft wird nicht Politik genannt, die etablierte Politik dagegen
überzeugt die Bürger immer weniger. Konsequenz ist eine Doppelstrategie der Bürger, die
in beachtlichem Umfang aktiv sind, sich aber
aus den Organisationen des politischen Systems, den Parteien und Verbänden, zurückziehen. Auf der anderen Seite tritt eine Doppelstrategie der etablierten Politik zutage, die ihre
umstrittenen Problemlösungen verschwinden
lässt hinter Personalisierungs- und Kommunikationsstrategien.
17
men sein, Themen mit lebensweltlicher Präsenz und dem Potential, in die ganze Gesellschaft zu reichen. Dazu gehört aber auch die
breitere Mobilisierung gegen ein nicht nur verständnisvolles, sondern auch repressives Establishment.
Neben den Konflikten braucht es für den Erfolg Transformationsstrategien. An der Transformation wird von zwei Enden gearbeitet: von
pragmatischen Bewegungsakteuren, die sich
stärker auf die Bedingungen des politischen
Systems einlassen, um Bewegungsziele durchzusetzen, am anderen Ende von innovativen,
etablierten Politikakteuren, die ihre Macht im
politischen System mit Hilfe der Bewegungen
verbreitern wollen.
Man kann solche Tranformations-Akteure benennen: Bewegungsorganisationen, die in den
Grenzbereich zu Pressure-groups hineinwachsen (z.B. BUND); Oppositionsgruppen in etablierten Parteien (Beispiel: SPD-Linke); Parteiführer von im Wertehaushalt verwandten ParLängerfristig und bei linearer Entwicklung ist teien, die eine strategische Öffnung zu den
in der Entkopplung von politisierter Zivilge- Bewegungen betreiben (z.B. Willy Brandts Einsellschaft und politischem System ein Krisen- ladung an die APO, später an die Friedensbepotential angelegt. Die berufsmäßigen Politik- wegung); schließlich eine neu gegründete Parakteure, die ihre Mehrheit früheren Bewegungs- tei (wie die Grünen). Da die neuen Bewegunmobilisierungen verdanken, sind bewegungs- gen ohne Zentrale sind, gibt es auch keine
vergessen. Eine wesentliche Leistung zur Un- Möglichkeit zu einer vereinheitlichten Strateterstützung von Bürgerengagement ist der rot- gie. Aktivisten und Sympathisanten der Bewegrünen Bundesregierung nicht zuzuschreiben. gungen gehen deshalb auf eigene Faust alle
Sie reklamiert die Bürgergesellschaft für sich diese unterschiedlichen Wege in das politische
und nutzt sie für sozialpolitische Entlastungs- System.
strategien, sie selbst hat aber kein wirkliches
Förderungsprogramm für eine ,aktive Gesell- Revisionismus in Permanenz ist einer der
schaft'.
Preise für erfolgreiche Transformation. Die
Grünen, wenn man sie als typisches BeiZurück zum Pfad machtorientierter Bewegun- spiel heranzieht, sind als Gegner - unter angen. Das Geheimnis des späten rot-grünen Er- derem - von Kapitalismus, Industrialismus,
folgs der Bewegungen heißt Konflikt und Trans- Repräsentativdemokratie, staatlichem Geformation. Zuerst sind es die produktiven Kon- waltmonopol, Militär (und vielem anderem)
flikte. Es müssen natürlich die richtigen The- gestartet. Heute würden sie all diese Struk-
18 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Bewegung, Reform, Protest - Blockaden und Veränderungen
Joachim Raschke zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
turen schützen gegen Versuche, sie abzuschaffen.
Ohne eigene Partei kann ich mir einen längerfristigen Interventionsversuch starker Bewegungen immer noch nicht vorstellen. Die ,Bewegungspartei' stabilisiert sonst flüchtige, mit den
Bewegungen verbundene Potentiale. Vor allem
verbreitert sie die Mobilisierungsbasis, arbeitet an Bündnissen und schafft Durchsetzungschancen - auch durch Verdünnung der
Bewegungsziele. Sie verrät die Bewegungen,
um zu retten, was von ihnen zu retten ist.
Transformation erfolgt in Schritten von der
Bewegungspartei über die parlamentarische
Oppositions- zur Regierungspartei. Allerdings
sind es andere Personen, die sich dabei durchsetzen. Authentische Bewegungseliten, die anfangs noch die Grünen bestimmten, wurden
verdrängt von politischen Machteliten. Dabei
hatten Vertreter dezidiert machtorientierter Bewegungsorganisationen einen besonderen Vorteil. Noch heute, 30 Jahre später, kommen von
den sieben Spitzenvertretern der Grünen fünf
aus dem Bereich der K-Gruppen bzw. des
Frankfurter .Revolutionären Kampfes'.
Trotz aller Anreize für Transformationsstrategien gibt es immer auch Kräfte, die die Autonomie der Bewegungen hochhalten. Sie am
ehesten verfolgen die ursprüngliche Bewegungsstrategie: Konfliktmobilisierung und Aufbau externen Drucks. Je stärker allerdings
Transformationsakteure innerhalb des politischen Systems am Werke sind, desto dringender wird auch für Bewegungsakteure eine bündnispolitische Orientierung. Mit der Zeit verschiebt sich der Schwerpunkt auch bei den
Bewegungen in Richtung auf Kooperationsund Verhandlungsstrategien.
Der richtige Schritt zur richtigen Zeit ist auch
hier Ausdruck klugen strategischen Handelns.
Fast hätte man schon 1966 eine neue Partei
gegründet; sie wäre erbärmlich gescheitert.
Wütend über die Bildung der Großen Koalition in Bonn kamen am 29. November 1966
hier in der Nähe, in der Neuköllner ,Neuen
Welt', mehr als tausend enttäuschte SPD-Linke, Falken, Gewerkschafter, aber auch viele
Akteure aus der frühen Studentenbewegung um
Rudi Dutschke zusammen. Man war kurz
davor, eine neue USPD zu gründen, um der
SPD von links Beine zu machen. Es blieb beim
Plan. Dutschke versprach sich mehr von einer
unkonventionell operierenden, autonomen außerparlamentarischen Opposition. Die sozialdemokratische Linke wollte sich doch nicht
von der Partei trennen. Noch hatte der Postmaterialismus nicht seine kritische Masse erreicht, die Bewegungsbasis war noch schmal,
das Linkssozialistische war ein altes Thema all das hatte sich geändert, als man in den
späten 70er Jahren an die Bildung grüner und
alternativer Listen, dann auch der grünen Partei ging. Die Ahnung, dass man auch eine Partei zur Intervention in das politische System
braucht, war schon 1966 richtig. Aber es
stimmt: Die Situation muss reif dafür sein. 1980
war sie es.
Bewegungen sind der Rohstoff von Politik. Erst
durch Bearbeitung kann die für die gesamte
Gesellschaft verträgliche Produktivkraft einer
Bewegung entfaltet werden. I:l-Umsetzungen
von Bewegungszielen sind selten wünschenswert. Manchmal müssen schon die Themen
der Bewegungen übersetzt werden.
Was war denn das Thema der 68er Studentenbewegung? Nun endlich der wahre Sozialismus - davon sprachen die Hauptakteure vom
SDS. Das Rätesystem: Christian Semler, Bernd
Rabehl, Rudi Dutschke 1968 glaubten wirklich, kurz vor dem politischen Zusammenbruch
Westberlins und vor der Einführung der Räterepublik - zunächst mal auf Berliner Boden! -
zu stehen. Willy Brandt hat sich mit solchen
Neuinszenierungen aus dem sozialistischen
Fundus nicht aufgehalten. Er hat von sich aus
.Demokratisierung' als den Hauptnenner der
gesellschaftlichen Bewegung definiert: .Mehr
Demokratie wagen'. Das war seine Transformationsleistung, angesichts reichlich diffuser
Motive gerade der außerparlamentarischen Opposition. Übrigens nicht in direkter Auseinandersetzung mit der APO, sondern nach der Lektüre eines Aufsatzes über Demokratisierung in
der konservativen Zeitschrift ,Die Politische
Meinung'. Dort fand er die These, Demokratie
sei nicht ausweitbar, sie sei ebenso wenig in
Gefängnissen wie in Betrieben möglich. Autor
war Bruno Heck, damaliger Generalsekretär
der CDU.
19
sel für Reform? Was bedeutet es für eine Reauch auf
gierung, wenn sie ihren Stammbaumzyxwvutsrqponmlkj
soziale Bewegungen zurückführen kann? Es
gibt ihr Unterstützung - das haben wir gesehen -, die nicht nur aus Treibsand, sondern
aus einem gemeinsamen Werthorizont besteht.
Es liefert ihr zwei, drei Themen. Und es befrachtet sie mit eher hohen Erwartungen. Aber
sonst?
Die feste Überzeugung der 70er Jahre, dass
eine Reformregierung nur unter dem Druck
sozialer Bewegungen erfolgreich sein könne,
war eine Verkürzung, um nicht zu sagen, sie
war falsch. Die Variation von Reform und Bewegung ist viel größer. Es gibt ohne soziale
Bewegungen erfolgreiche Reformpolitik, und
unter dem Druck starker sozialer Bewegungen
stehende Regierungen, wie die von 1918/19,
können scheitern.
Man kann es auch an einem aktuellen Thema
verdeutlichen: der Irakfrage. Von einer Einszu-Eins-Umsetzung der Ziele der Friedensbewegung durch die rot-grüne Bundesregierung
kann überhaupt nicht die Rede sein. Es ist natürlich keine pazifistische Position, kein Regierungs-Pazifismus, sondern eine mit den konkreten Folgen in diesem spezifischen Fall argumentierende, bedingte Ablehnung der Regierung. In anderen Fällen wird auch eine rotgrüne Regierung sich wieder an einem Krieg
beteiligen. Es ist eine Position, die - so kann
man hoffen - im Kern hart, die aber jetzt schon
an den Rändern weich ist (Überflugsrechte,
Awacs-Debatte und vieles andere). Man könnte sogar sagen: Die Position ist gleich weit von
den Amerikanern wie von der Friedensbewegung entfernt. Und dennoch: Es gäbe selbst
diese Form des Nein nicht ohne eine kumulative Geschichte von Friedensbewegungen in
Deutschland.
Soziale Bewegungen können günstige Voraussetzungen der Reform schaffen, für die Durchsetzung von Reformen bieten sie meist wenig
Hilfe. Selbst wenn man, scheinbar bescheiden,
nur ,Definitionsmacht' als die wichtigste Wirkungsebene sozialer Bewegungen betont, bleibt
offen, wieweit ihnen damit Problemdeutung,
Problemlösung oder doch vorzugsweise nur
die Thematisierung eines Problems gelingt. Der
Atomausstieg ist ein Beispiel dafür, dass es
eine Bewegung schafft, Begründungen für das
Thema, aber nicht die Kriterien für die Behandlung oder gar die Lösung des Problems
durchzusetzen. Von der Atomenergie als
(Über-)Lebensfrage mit möglichst kurzen Ausstiegsfristen zu einem ,entschädigungsfreien'
Ausstieg über sehr lange Zeiträume führt, bei
Lichte besehen, keine Brücke.
Die Bewegungen haben Rot-Grün gemacht,
aber was macht Rot-Grün mit seiner Mehrheit? Konflikt und Transformation waren das
Geheimnis des Erfolgs, aber was ist der Schlüs-
So ungewiss also der Wirkungsradius, so offenkundig ist das negative Erbe sozialer Bewegungen für die aus ihnen - in langen Zeitketten - hervorgehenden Regierungen. Struk-
20 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Bewegung, Reform, Protest - Blockaden und Veränderungen
Joachim Raschke zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
tur-, Orientierungs- und Kommunikationsprobleme der Grünen haben hier ihre Wurzel. Noch
Jahrzehnte später schwächen sie beim Regieren.
Schließlich könnten auch Ambivalenzen rotgrüner Führungsstile auf Bewegungen zurückgeführt werden. Sozialdarwinismus unter A l tersgleichen, Situationismus, Überredungsrhetorik wären solche Beispiele. Robustheit und
Glaubwürdigkeitsdefizite gehen dabei Hand in
Hand. Ein weites Feld.
Landtagswahlen, am Widerspruch zwischen
verschärfter Parteienkonkurrenz- und unausweichlicher Verhandlungsdemokratie, an den
heterogenen Großparteien oder am Zwang zu
Koalitionsregierungen. Gegner und Verbündete haben gewechselt, aber die Reformen bremsende Grundstruktur ist die gleiche geblieben.
Auch nicht neu, aber deutlich verstärkt wirken
drei machtpolitische Rahmenbedingungen: das
Gleichgewicht der parteipolitischen Lager, die
neue Beweglichkeit unverändert sozialstaatlich
orientierter Wähler und die Medien-Jagd, die
Das alles war noch der Blick zurück, auf den überwiegend hinter dem neoliberalen Banner
positiven und den negativen Input von Bewe- herläuft. Diese Bedingungen machen das Regungen für Reformregierungen. Beim Blick gieren zusätzlich schwerer, aber sie sind legitinach vorn, auf die ganze Gesellschaft, die durch mer, demokratischer Strukturwandel, mit dem
die Reformregierung verändert werden soll, man leben muss.
wechseln - für Akteure, die aus Bewegungen
kommen - erst einmal die relevanten Refe- Theoretisch könnte eine Verfassungsreform, die
renzpunkte. Bewegungen verlieren an Bedeu- vor allem den machtbremsenden Verflechtungstung bis hin zur Irrelevanz. Wie eng das aktive Föderalismus und die ihn begleitende FinanzBewegungssegment war, wird erst jetzt klar.
ordnung verändern würde, auch zu einem größeren Spielraum der Bundespolitik führen. Eine
Aus der Bewegungsperspektive erscheinen die grundlegende Reform des Föderalismus ist aber
Herrschenden als die Leute mit dem falschen nur in einer Konstellation denkbar, wo es keiBewusstsein und dem schlechten Willen, un- ne große Oppositionspartei mehr gibt, die das
fähig, richtig zu regieren. Später lernt man, Eigeninteresse verfolgt, über den Bundesrat
dass die Bundesrepublik, schon aus institutio- mitzuregieren oder zu blockieren. Diese Konnellen Gründen, ein Land mit geringer Reich- stellation heißt große Koalition. Der ,Staat der
weite der Reformpolitik ist: Immer schon und großen Koalition' könnte nur durch eine große
ganz unabhängig von sozialen Bewegungen Koalition abgeschafft werden. Die ist nicht in
oder Rot-Grün, ein ,Staat der großen Koaliti- Sicht, solange Rot-Grün seine Chance nutzt.
on', wie Manfred Schmidt analysiert hat, ein
,halb-souveräner Staat', so Peter Katzenstein, Rot-Grün, das bedeutet dies auch, kann mit
immer wieder zu Reformen fähig, aber nie zu der eigenen Mehrheit an den Rahmenbedingrundlegenden Veränderungen in einem Zu- gungen seines Regierens nichts, jedenfalls nicht
griff. DerzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
deutsche Reformweg heißt: kleine viel ändern. Also müssen, das ist die nächste
bis mittlere Reformen über längere Zeit.
Konsequenz, seine Akteure in besonderem
Maße ,will and skill', politischen Willen und
Nichts hat sich seit 1998 geändert am partei- strategisches Geschick entwickeln, um innerpolitisierten Föderalismus, an der Bremswir- halb dieser Strukturen erfolgreich Reformpokung des Verfassungsgerichts, am Einspruch litik zu betreiben. Erfolgreiche Reformpolitik
der Pressure-groups, an der Terminstreuung von heißt in Deutschland: besonders intelligente
keit. Beides gehört bisher nicht zu den Markenzeichen von Rot-Grün.
Nun gibt es in der öffentlichen Debatte eine
zuspitzende Kritik an struktureller Reformschwäche. Sie drückt sich aus in der Formel
blockierte Republik. Dies ist die Neuauflage
der .Unregierbarkeitsdebatte' Ende der 70er
Jahre, die damals die Ernüchterung nach der
Reformphase 1966-1974 aufarbeiten sollte.
Seinerzeit konnte man eine konservative von
einer progressiven Variante unterscheiden.
Diesmal gibt es keine Blockade-Theorie von
links. Im politischen Diskurs ist ,blockierte
Republik' heute vor allem eine Antreiberformel des Neoliberalismus.
21
ten. Sie ist zugleich das Minimum, das eine
Regierung der sozialen Mehrheit nicht unterschreiten darf, will sie nicht ihre gesellschaftliche Basis verlieren.
Bei den ökologischen und kulturellen Reformen wurden die durchsetzbaren, genuinen Themen der Grünen in der ersten Periode abgehandelt. Diese Reformen hatten Themenbezug
auf die NSB: Atomausstieg, Umwelt-, Zuwanderungs-, gleichgeschlechtliche PartnerschaftsReformen. Dem deutschen Politikmuster entsprechend, waren es Reformen mit geringer
Eingriffstiefe. Bremser waren die Industrie,
insbesondere die Atomindustrie, die Union sowie Schröder und Schily. Dabei haben die Grünen Konzessionen gemacht, blockiert haben
Tatsächlich haben jeweils andere Akteure öko- hier andere (ohne dass es hier so genannt wurlogische, soziale oder wirtschaftliche Refor- de).
men betrieben oder blockiert. .Blockade' bezeichnet keinen ,objektiven' Diskurs, sondern Größere Projekte auf den ökologisch-kulturel- in eigener Unschuld - immer den Vorwurf len Politikfeldern stehen in der zweiten rotan andere. Deshalb muss man fragen: welche grünen Periode nicht an. Dennoch war eine
Blockierung? Wer blockiert wo und warum? Verlängerung des rot-grünen Mandats gerade
Das heißt: welche Agenda, welche Akteure, für diese Bereiche notwendig. Bei einem
Machtwechsel hätte es ein Roll-back gegeben
welche Interessen?
(beim Zuwanderungsgesetz ist es jetzt noch
Die verschiedenen Politikfelder zeigen unter- möglich). Zum Andern ist eine größere Reschiedliche Reform- und Blockadeprofile. Seit formtiefe nur zu erreichen durch Verstetigung
den ersten Gesetzen der rot-grünen Regierung (vor allem der ökologischen Reformen und der
Anfang 1999 standen keine .sozialen' Refor- Energiepolitik) und durch Erweiterung des Bemen mehr auf der Tagesordnung, das heißt pro- gonnenen (Beispiele: Vereinbarkeit von Famiaktive Sozialrefcnnen, die mit dem Ziel initi- lie und Beruf für Frauen, wirtschaftlicher Veriert werden, mehr soziale Gerechtigkeit herzu- braucherschutz). Nur so ist diese Rcformlinie
stellen. Solche Reformen sind schon allein zu sichern und zu vertiefen Die Weichen sind
durch das bürgerliche Lager blockiert. Es galt gestellt, der Zug muss rollen. Nur wenn er
die .Berücksichtigung', nicht das Forcieren so- lange genug rollt, gibt es Annäherungen an
zialer Gesichtspunkte, also die reaktive Sozi- das Ziel.
alreform. Die beansprucht, unter den Bedingungen der Globalisierung vom Sozialstaat zu Die Zukunft von Rot-Grün entscheidet sich
retten, was zu retten ist. Soziale Gerechtigkeit nicht bei diesen grün- und ursprünglich beweist für Rot-Grün kein Projekt, sondern ein Kor- gungsnahen Themen. Auch ihr Schicksal ist,
rektiv. Diese Anspruchsminderung muss man wieder einmal, die Ökonomie. Die Wettbebei aller Rhetorik der Akteure im Auge behal- werbs- und Wachstumsfähigkeit der Wirtschaft
Bewegung, Reform, Protest - Blockaden und Veränderungen
22 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Joachim Raschke zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
zu steigern, das Beschäftigungs- und die sozialen Sicherungssysteme an die Bedingungen
verschärfter Konkurrenz anzupassen, das sind
die Hauptaufgaben des zweiten rot-grünen
Durchgangs hier in Berlin.
nicht zuletzt an dem, der in einer Bundesregierung die Weichen zu stellen hätte: dem
Kanzler. Gerhard Schröder hat starke taktische Fähigkeiten, bei weitgehender Abwesenheit strategischer Politikorientierung. Er
ist taktischer Situationist und hält ganz einfach nichts von Strategie in der Politik. Weil
er sie nicht für möglich hält, sorgt er auch
nicht für den Aufbau strategischer Kapazitäten. Der oft beobachtete Zick-Zack-Kurs ist
durch ihn auch einer von Rot-Grün. Weil
Schröder oft Glück gehabt und weil er wichtige Situationen gemeistert hat, fühlt er sich
in seinem situativen, anti-strategischen PoliRandbemerkung: Ohne größere Streitfragen auf tikansatz bestätigt. Damit werden Potentiale
ökologisch-kulturellen Feldern könnte die verschenkt, wird der Absturz riskiert, wie
Funktion der Grünen verblassen - grüne Pro- nun schon zum dritten Mal in der kurzen
Geschichte von Rot-Grün. Nicht immer
bleme von morgen.
schickt ein gnädiger Deus ex machina Flut
Rot-Grün bleibt unter seinen Möglichkeiten, und Krieg.
weil die Regierungsfähigkeit auf einer Skala
von 0 bis 10 nur einen Wert von, sagen wir, Blockierung' klingt schlechter als ,checks and
zwischen drei und fünf erreicht. Die Regier- balances'. Aber eigentlich ginge es um Gegenbarkeit der deutschen Verhältnisse - ,Schwer- und Gleichgewichte gegenüber einer moderregierbarkeit' genannt - liegt ebenfalls in der nen Gesellschaft, die immer in Gefahr ist, ihre
unteren Hälfte einer Regierbarkeits-Skala. Zu- Balance zu verlieren. Die Behebung von Stösammen genommen ist vom Regieren in rungen des gesamtgesellschaftlichen GleichDeutschland nicht all zu viel zu erwarten. Und gewichts - das wäre die positiv gewendete Idee
das ist auch die Grundeinstellung der Leute. von Blockierung. Die Rolle ist noch unbesetzt.
Deswegen bleiben sie immer häufiger bei den Auf Grund ihrer sozialen und normativen VorZwischenwahlen zu Hause, schimpfen am aussetzungen wären die Grünen für die Aufgazustimmungspflichtige und nicht zustimmungsmeisten über die, die sie gewählt haben, geben ben einer modernisierungskritischen, zwischen
pflichtige Teile, Quasi-Plebiszite über Blockaauf Fragen der Demoskopen - die schlech- den Polen vermittelnden linken Mitte prädestiden, zum Beispiel bei Landtagswahlen, das
testen Noten, sind aber bei den Wahlen, auf niert wie sonst niemand. Auch dies ein VerAusnutzen vonzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
.Windows of opportunity' bzw.
die es wirklich ankommt - den Bundestags- such, die NSB wenn nicht besser, so doch
Reformfenstern (wie bei der BSE- oder der
wahlen - wieder zur Stelle - als Experten des anders zu verstehen als sie sich selbst. Das
BfA-Krise) und schließlich die - allerdings
Ende der Transformationen ist noch nicht erkleineren
Übels, auf allen Seiten.
aufwendige und ungewisse - Überzeugungsreicht...
arbeit.
Schwierige, ,schwer regierbare' Verhältnisse erforderten eigentlich eine besondere Re- Joachim Raschke ist Professor für PolitikwisDie wichtigste Strategie der kommenden Jahre
gierungskunst. Die Strategiefähigkeit von senschaft an der Universität Hamburg und reaber wird die Kooperation mit den UnionsparRot-Grün aber ist begrenzt, und das liegt nommierter Parteienforscher.
teien im Bundesrat auf den ökonomischen Feldern sein. Eine strategische Doppelkoalition
liegt im Interesse der Grünen, vorausgesetzt es
der neoliberalen Messlatte weit zurückbleiben, aber immer auch soziale Schutz- und
Gewohnheitsinteressen massiv beeinträchtigen. Am .historischen Tiefstand' der Sozialdemokraten, den die Demoskopen derzeit
messen, bei gleichzeitig relativ guten Werten
Die anstehendenzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Reformen sozialer Markt- für die mitregierenden Grünen, wird ersichtwirtschaft haben einen dualen Charakter. Die lich, dass dies in ganz besonderer Weise ProErwartung des Wirtschaftswachstums wird der bleme der SPD sind.
Union, die Erwartung sozialer Gerechtigkeit
der SPD zugeordnet. Allerdings haben auch Es war nicht immer zu sehen, aber zu vermudie Arbeitnehmer, die von sozialen Sicher- ten, dass die NSB als Bewegungen von Besheitsinteressen bestimmt werden, mehr als sergebildeten später auch Besserverdienende
eine Option. Sie können mit der Union deren hervorbringen würden. Die Wählerschaft der
Wachstumsversprechen wählen, wenn sie da- Grünen - das sind heute die Besserverdienenrin den Schlüssel für materiellen Wohlstand den - stellt die Besonderheit einer zugleich
sehen. Das haben bei der letzten Bundestags- marktorientierten wie solidarischen Trägergrupwahl insbesondere Arbeiter reichlich prakti- pe dar. Auch dies ist eine Spätwirkung der
ziert. Die SPD kann größere Teile ihrer Wäh- postindustriellen Bewegungen, in denen das
lerschaft nur gewinnen, wenn sie in deren Motiv sozialer Gerechtigkeit seit der StudenAugen über hinreichende ökonomische Kom- tenbewegung eine große Rolle spielte. Darin
petenz verfügt. Allein soziale Kompetenz ist steckt eine Chance für die rot-grüne Reformauf Dauer nicht tragfähig. Sozialstaatsreform regierung mit dem Aufgabenprofil ihrer zweiund Wirtschaftsbelebung hängen sachlich, ten Phase.
aber auch interessenpolitisch zusammen. Nur
wenn es der SPD gelingt, mit ihrem Instru- Es gibt eine Reihe von Strategien gegen Blomentenkasten wirtschaftliche Dynamik vor- ckaden, unterhalb der Verfassungsreform, zum
anzubringen, kann sie auch die Akzeptanz ih- Teil wurden sie auch angewandt, wie das Unrer Klientel beim Umbau der Sozialsysteme terlaufen einer drohenden Bundesrats-Blockagewinnen.
de durch Aufspalten von Gesetzesprojekten in
Die herrschende Wirtschaftstheorie dient, interessenpolitisch gesehen, wichtigen Teilen in
der Klientel der bürgerlichen Parteien, bei bestenfalls - ungewissen Effekten für die gesamte Bevölkerung. Schon deshalb kann die
Sozialdemokratie sich der neoliberalen Doktrin als Schlüsselkonzept nicht anschließen.
Sie muss einen eigenen Mix entwickeln, in
dem Effizienzsteigerungen, soziale Symmetrie (.sozial ausgewogene Belastungen') und
die Verstärkung marktliberaler Instrumente
(einschließlich stärkerer Eigenverantwortung)
miteinander verbunden sind. Das wird hinter
23
geht darum, eine Reform von Sozialstaat und
Ökonomie ohne neöliberalen Durchmarsch zu
ermöglichen und das Zurückdrehen genuin grüner Reformen zu verhindern. Doppelkoalition
heißt: Rot-Grün im Bundestag, Rot-GrünSchwarz im Bundesrat. Die letzte Konsequenz
der rot-grünen Regierung, die als Bewegungsderivat verstanden werden kann, heißt also: die
Politik des Bewegungsgegners zu übernehmen,
um die bewegungs-bezogenen Themen zu sichern. Das ist nur dann zu ertragen, wenn es auf
einem anderen Feld geschieht als auf dem der
Ökologie und der kulturellen Freiheiten.
24 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Forschungsjournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003
Ansgar Klein zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Diskurspolitischer Interventionismus
Zum Selbstverständnis und Anspruch
des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen
Das 15jährige Bestehen des Forschungsjournals bietet Anlass, das eigene Selbstverständnis und die eigenen Ansprüche zu reflektieren.
Im Rahmen unserer Festveranstaltung am 15.
Januar in der Heinrich Böll-Stiftung (Dank an
sie und die Bundeszentrale für politische Bildung) habe ich den Versuch unternommen, für
die Redaktion in einigen knappen Stichworten
Perspektiven und Probleme der Arbeit zu skizzieren.
Immer wieder sprechen wir für einen Themenschwerpunkt nicht nur die Bewegungsforschung, sondern auch die Forschungen zu
NGOs, Verbänden und Parteien an. Wir greifen auch zu auf die politische Theorie, die
Ökonomie, die Sozialpsychologie, die Philosophie oder die Medienwissenschaften.
Die Separierung der Analyse zerschneidet die
gegebenen Zusammenhänge und wirkt so auch
kontraproduktiv. Dies gilt auch für das bisheriDas FJNSB ist 1988 entstanden, als der Mobi- ge Nebeneinander von wissenschaftlichen Dislisierungsgrad der NSB bereits rückläufig war. kursen zu Zivilgesellschaft und Drittem SekDas Wort von Hegel, dass die Wissenschaft tor, das die Zusammenhänge zwischen politider ,EuIe der Minerva' gleicht, die erst in der schen und ökonomischen Dimensionen soziaDämmerung ihren Flug beginnt, scheint auf ler Bewegungen, zwischen bürgerschaftlichem
den ersten Blick auch für unsere Arbeit zuzu- Engagement und non-profit-Bereich ausblentreffen. Die wissenschaftliche Reflektion hinkt det.
der Praxis hinterher, doch kann sie ihr - so
unser nach wie vor bestehender politischer Optimismus - auch Impulse geben. Das FJNSB Den interdisziplinären Zugriff auf die Theorie
hat sich den Platz zwischen Praxis und Theo- verbindet das FJNSB mit dem publizistischen
rie ausgesucht und sich als Beobachter und Anspruch der Intervention in die politische PraKommentator gleichsam zwischen den Stüh- xis. Wir wollen - mit den beschränkten Mitteln unserer Zeitschrift - diskurspolitisch inlen eingerichtet.
tervenieren.
Das FJNSB hat sich schon sehr bald nach seiner Gründung von den blickverengenden Vorgaben der ausdifferenzierten Teil- und Bindestrichdisziplinen der Sozialwissenschaften gelöst. Mit Blick auf praxisrelevante Diskurse
haben wir negativen Effekten der wissenschaftlichen Spezialisierung, die erst allmählich auch
im eingefahrenen Wissenschaftsbetrieb als problematisch erkannt werden, gegenzusteuern
versucht.
Diskurspolitik ist ein sperriges Wort. Es verbindet die Diskurse in Wissenschaft und Öffentlichkeit - immer auch normativ aufgeladen, aber ebenso empirisch unterfuttert - mit
dem Anspruch der Einflussnahme auf politische Gestaltung. Diskurspolitik zielt auf den
Aufbau von Handlungsverbindlichkeiten
entlang thematischer Fokussierungen. Aus Reden soll Handeln entstehen.
Diskurspolitischer
Interventionismus
25
Das FJNSB versteht sich selber als Akteur Dies möchte ich in den folgenden 5 Aspekten
eines ,Diskurses der Zivilgesellschaft' und der Diskurspolitik ausführen. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcb
einer gesellschaftspolitischen Reformpolitik.
Der Raum des Politischen erschöpft sich aus Mediale Selektionsfilter und symbolische Verdieser Perspektive gerade nicht auf staatli- suchungen der Diskurspolitik: Diskurspolitiches Handeln, sondern bezieht auch die sche Interventionen wollen nicht nur öffentlinichtstaatlichen Akteure, ihre öffentlichen che Aufmerksamkeit, sondern benötigen diese
Artikulationen und den intermediären Raum Aufmerksamkeit als Voraussetzung einer Einzwischen Zivilgesellschaft, Staat und Markt flussnahme auf politische Gestaltung. Doch das
ein.
Geschäft der Aufmerksamkeitsgewinnung ist
schwieriger geworden: Der öffentliche Raum
Entsprechend interessiert sich das FJNSB für hat sich gewandelt. Er ist segmentiert, komdas - oftmals konflikthafte - Zusammenspiel merzialisiert, vielfach komplex manipuliert. Ein
der staatlichen und staatsnahen Akteure mit früherer Bundespräsident hat gar von einer ,Resozialen Bewegungen und anderen zivilgesell- feudalisierung' der Öffentlichkeit gesprochen.
schaftlichen Protagonisten, berücksichtigt normative Bezüge der gesellschaftspolitischen Ak- Die Filter der medialen Aufmerksamkeit hateure undrichtetvor diesem Hintergrund auch ben längst dazu geführt, dass sich auch Beweden Blick auf einzelne Politikfelder, auf die gungsakteure an diese Selektionskriterien anInstitutionen der politischen Willensbildung passen. Ihre Chance, Öffentlichkeit zu erzeuund Entscheidungsfindung und die Strukturen gen, ist geringer geworden und es bedarf auf
des öffentlichen Raums.
Seiten aller Akteure einer professionellen Medienkompetenz, um diese Chance zu wahren.
Mit einem aktuellen Beispiel möchte ich dies Doch geht es nicht nur um technische Nachkonkretisieren: Nicht nur aus der von unserer rüstung der Handlungsroutinen zivilgesellZeitschrift eingenommenen Perspektive wur- schaftlicher Akteure (Plazierung von Themen
de etwa im Koalitionsvertrag der rot-grünen in den Medien, Prominenz, dramaturgische
Bundesregierung und in der jüngsten Regie- Gesichtspunkte der Inszenierung etc.).
rungserklärung des Kanzlers ein gesellschaftspolitisches Programm schmerzlich vermisst, Bedarf besteht insbesondere auch bei der Revom dem aus sich einzelne Maßnahmen des organisation der kommunizierten Inhalte entRegierungshandelns leiten lassen.
lang medialer Aufnahmefähigkeit sowie bei der
Fortentwicklung institutioneller Formen der
Dies liegt auch an strukturellen Interventions- gesellschaftlichen und politischen Kommunischwächen und an Qualitätsschwächen von kation.
praktizierter Diskurspolitik. Diskurspolitische
Intervention sind nicht nur angewiesen auf ei- Die enorm gewachsene Bedeutung politischer
nen funktionsfähigen öffentlichen Raum, son- Kommunikation hat bei den politischen Akdern sie sind auch angewiesen auf ein .respon- teuren die Wahl von Strategien symbolischer
sives' Handeln politischer Akteure und Insti- Politik erhöht. Die Besetzung von Themen und
tutionen, das diese Impulse aufnimmt und nach- Begriffen bedeutet jedoch keineswegs, dass
vollziehbar in politische Gestaltung übersetzt. daraus politische Gestaltungsoptionen generiert
Beide Voraussetzungen sind jedoch sehr an- werden. Oftmals erweist sich der symbolpolitische Schleier als Barriere politischer Gestalspruchsvoll.
26 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA Ansgar Klein zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Diskurspolitischer
Interventionismus
tung, die es zu überwinden gilt. Ein mühsames Welcher intellektuelle Diskurs ist heute noch
Institutionenpolitische Herausforderungen der
und zumeist vergebliches Unterfangen. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
einflussreich? Die öffentliche Kritik am zuDiskurspolitik: Diskurspolitik will politische
nehmenden und immer undurchschaubarer werGestaltung beeinflussen. Ohne aufgeschlosseInhaltliche Fokussierung als Antwort auf die denden Ausschuss- und Beratungswesen nicht
ne politische Eliten, aber auch ohne eine intelInformationsflut und segmentierte Öffentlich- nur in Europa, sondern auch hierzulande macht
ligente institutionelle Reformpolitik, die auf
keit Es gibt eine wahre Flut an Informationen auf den Missstand aufmerksam, dass die Rolle
einer weitere Demokratisierung der repräsenund Expertise und zugleich nimmt das Rau- des Intellektuellen in den Routinen des Politativen Demokratie zielt, wird Diskurspolitik
schen der bloßen Unterhaltung in den Medien- tikberaters aufgesogen worden ist.
blockiert.
kanälen zu: Überangebote an Unterhaltungsangeboten, an Hobby und Regenbogen, Ac- Doch für diskurspolitische Interventionen beJoachim Raschke hat die strategischen Optiotion und Talk verstellen den Blick auf relevan- darf es weiterhin der Rolle des Intellektuellen,
nen der rot-grünen Bundesregierung und ihte Informationen. Doch auch mit Blick auf Ex- seiner Intervention in öffentliche Angelegenren Anschluss an den Bewegungssektor in
pertise und Analyse sind die Angebote kaum heiten mit dem Anspruch, wissenschaftliche
Deutschland ausgeleuchtet (siehe sein Beizu überschauen. Viele gesellschaftspolitisch re- und praktische Gesichtspunkte zu verbinden.
trag in diesem Heft). Ohne deutliche geselllevanten Themen werden heute in medialen Wer leistet dies heute noch? In den Wissenschaftspolitische Signale und eine klarere disParallelwelten diskutiert. Fachöffentlichkeiten schaften gelten Protagonisten, die auf öffentlikurspolitische Aufstellung, die sich nicht nur
und Teilöffentlichkeiten haben es schwer, Im- chen Einfluss zielen, oftmals als bloßer Störan aktuellen Themenkonjunkturen orientiert,
pulse jenseits ihrer gehegten Terrains zu pia- faktor. Die Elfenbeintürme haben ihre eigenen
scheint rot-grün in eine Strategiefalle hinein
zieren.
Selbsterhaltungsmechanismen, die es kritisch
zu laufen. Noch ist Zeit für nachholende Bezu beleuchten gilt.
mühungen.
Wo alles schon gesagt zu sein scheint, bedarf
es der intelligenten Fokussierung der Argu- Es bedarf daher einer gezielten FortentwickKonzepte wie das der .deliberativen' oder der
mente und Analysen. Nötig ist die Bündelung lung der Rolle des Intellektuellen. Jenseits der
.reflexiven' Demokratie formulieren die Aninhaltlicher Zusammenhänge mit Blick auf Heroisierung großintellektueller Persönlichkeisprüche an institutionelle Öffnung für diskursmittelbar absehbaren politischen Gestaltungs- ten wird es darum gehen, Rollenmuster der
politische Interventionen. Doch bergen bloße
bedarf zentraler gesellschaftspolitischer Re- Diskurspolitik in den Institutionen und Orgainstitutionelle Ausweitungen politischer Beraformfelder. Notwendig ist auch der weitere nisationsformen der Zivilgesellschaft stärker
tungsrunden und Kommunikationsnetzwerke
Ausbau zivilgesellschaftlicher Kommunikati- zu etablieren - mit Rückendeckung also nicht
das Risiko einer abgeschlossener Elitenkomonsnetze.
nur der Hochschulen, sondern auch der Stifmunikation - wenn auch unter deutlicher Austungen, NGOs, Bewegungsorganisationen. Das
weitung um zivilgesellschaftliche Akteure.
Die Rekonstruktion der Rolle des Intellektuel- von Gramsci kommende Konzept des ,organilen: Die Figur des Intellektuellen scheint un- schen Intellektuellen' könnte hier durchaus eine
Diskurspolitik bleibt darüber hinaus angewieaufhaltsam auf dem Rückzug zu sein - ist er zeitgemäße Reformulierung erfahren.
sen auf die Impulse der .direkten' wie auch
heute eine aussterbende Spezies wie weiland
vor allem der .assoziativen' Demokratie. Gedie Dinosaurier?
Der Intellektuelle unterscheidet sich vom Lobsellschaftspolitische Reformen und diskursthebyisten dadurch, dass er .public interests' anoretische Interventionen benötigen die RückenNamen wie Sartre, Bourdieu, Habermas oder spricht und sich - zumindest dem Anspruch
deckung und die Resonanz einer ausgeweiteGrass scheinen wie ein verblassender Nach- nach - nicht an das Handeln einzelner Interesten Beteiligungspraxis der Bürgerinnen und
klang heroischerer Zeiten, in denen der An- sengruppen bindet. Von daher erfahren BeweBürger. Daher gehören zu den Voraussetzunspruch der Diskurspolitik, zwischen Wissen- gungsorganisationen und NGOs, die public ingen gelingender Diskurspolitik engagementschaft und Praxis zu vermitteln, noch als Le- terests zu ihrem Anliegen machen, durch die
politische und demokratiepolitische Reformen
bensentwurf galt und es institutionelle Räume Fortentwicklung und die Pflege intellektueller
- wie sie etwa von der Enquete-Kommission
gab, die als Rückhalt und Ressource dienen Netzwerke eine nicht zu unterschätzende Rü,Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements'
konnten.
ckendeckung.
vorgeschlagen worden sind.
27
Protest als Ausfallbürge von Blockaden diskurspolitischer Blockaden: Die Institutionalisierung des Bewegungssektors bedeutet eine
Orientierung auf institutionelle Wege der Problemlösung und einen Abschied von antiinstitutionellen Selbstverortungen - eine Entwicklung, die ihrerseits den Weg öffnet für Formen
einer reflexiven Institutionenpolitik.
Kennzeichnend für den mittlerweile institutionalisierten Bewegungssektor erscheinen weiterhin die symbolische Integration (v.a. über Werte) und eine Ausrichtung auf öffentliche Einflussnahme. Die spezifische funktionale Stärke des Bewegungssektors liegt in der Fähigkeit zur öffentlichen Problemartikulation. Da
soziale Bewegungen auf öffentliche Problemartikulation ausgerichtet sind, bleiben sie - von
der Verwaltung der Macht enthoben - bezogen
auf Wertfragen, diskursive Intervention und
Expertise.
Die Institutionalisierung des Bewegungssektors bietet durchaus Chancen dafür, Diskurse
mit politischem Gestaltungsanspruch zu führen. Expertise und Professionalität sind hier
unbestritten vorhanden. Rollenspezifikation
und Organisation gehören mittlerweile zu den
Kennzeichen dieses Bewegungssektors, der
damit immer auch in der Gefahr steht, dass
sich die neuen zivilgesellschaftlichen Organisationseliten von den mobilisierungsfähigen
Sektoren der Gesellschaft abkoppeln.
Absehbar ist jedoch ein Bedeutungsrückgang
der Mobilisierung größerer Versammlungsöffentlichkeiten. Statt dessen werden professionelle Kampagnen und Aktionsformen an Gewicht gewinnen, die durch Inszenierung auf
Medienselektion abzielen.
Protest ist jedoch keineswegs mehr das identifizierende Merkmal sozialer Bewegungen.
Insbesondere im transnationalen Kontext eu-
28 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA Ansgar Klein zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Forschungsjournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003
ropäischer Protestmobilisierung, aber auch im
nationalen Kontext kommt es zu einer neuen
Doppellogik kollektiven Handelns:
ce für diskurspolitische Interventionen und sozialen wie politischen Wandel.
29
Jürgen Kocka
Zivilgesellschaft in historischer Perspektive
Die links-libertären Bewegungen sind
Auf der einen Seite werden in den Institutio- mittlerweile zu etablierten Herausforderern genen die institutionalisierten Akteure des Be- worden, die ihre spezifische Stärke nach wie
wegungssektors zu den Promotoren einer par- vor in der öffentlichen Problemartikulation enttizipatorischen Einflussnahme. Ihr Handlungs- falten und ihr diskurspolitisches HandlungsreWissenschaftliche Begriffe haben ihre Karrie- das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Markt
modus ist das deliberativ-argumentative, ad- pertoire den Anforderungen der Mediendemoren, publizistische Begriffe auch. Sie steigen wie über das Verhältnis von Zivilgesellschaft
vokatorische Handeln. Auf der anderen Seite kratie anpassen. Sie sind jedoch keineswegs in
auf, sie verbreiten sich manchmal wie Epide- und Staat gesprochen werden. (4) Des weitewird der Protest zum Handlungsmodus einer der Mitte der Politik angekommen - sie bleimien und sind dann in aller Munde, bevor sie ren werde ich diskutieren, was man braucht,
populären Streitpolitik außerhalb der Instituti- ben Herausforderer.
wieder an den Rand rücken und altmodisch um Zivilgesellschaft zu haben, also die Akonen - zuweilen durchaus auch instrumentell
werden. In der Zeit ihrer Hochkonjunktur er- teure und Ressourcen der Zivilgesellschaft.
von institutionellen Akteuren in den Dienst ge- Das Forschungsjournal Neue Soziale Bewefüllen sie viele Funktionen. In den Wissen- (5) Ich schließe mit Bemerkungen über Zivilnommen. Expertendissens und populärer Pro- gungen wird sich auch in der Zukunft bemüschaften dienen sie der Beschreibung und Ana- gesellschaft im Nationalstaat und in transnatest bilden das ambivalente Doppelgesicht des hen, diese Herausforderung mit seinen publilyse. In der öffentlichen Auseinandersetzung tionalen Zusammenhängen. Durchweg habe
Bewegungshandelns, das sich in wie außer- zistischen Mitteln deutlich zu machen und
bezeichnen sie Zugehörigkeiten und Frontstel- ich vor allem den deutsch-mitteleuropäischen
halb der Institutionen bewegt.
dabei die Rahmenbedingungen eines diskurslungen wie Banner, die ihre Anhänger hinter Weg im Auge, aber ich vergleiche mit Westpolitischen Interventionismus im Blick halten. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
sich versammeln und in die Schlacht führen. europa bis England und mit Osteuropa bis
Trotz dieser Ambivalenz von Protest erscheint
Die wissenschaftlichen und die publizistischen Russland.
Protest weiterhin als unverzichtbare Ressour- Ansgar Klein für Herausgeber und Redaktion.
Funktionen des Begriffs stehen einander
manchmal im Weg.
1 Begriffsgeschichte
Soziale Bewegungen e.V. - Verein der Freunde und Förderer politikwissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Partizipation e.V.
1995 wurde der Verein Soziale Bewegungen e.V. - Verein der Freunde und Förderer politikwissenschaftlicher Publizistik und demokratischer Partizipation gegründet. Die Gründungsmitglieder waren damals Herausgeber und Redakteure des Forschungsjoumal Neue Soziale
Bewegungen. Sie haben sich die Förderung politik- und sozialwissenschaftlicher Forschung
und Publizistik im Bereich demokratischer Bürgerbeteiligung zum Ziel gesetzt.
Der Verein unterstützt: die Forschungsgruppe Neue Soziale Bewegungen als Herausgeber
des Forschungsjournal, sozialwissenschaftliche Publikationen im oben genannten Themenspektrum, Veranstaltungen von wissenschaftlichen Tagungen, Seminaren oder Studienreisen.
Wir möchten Sie herzlich einladen, Mitglied in diesem Verein zu werden. Unterstützen Sie
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Verein seit 1998 als gemeinnützig anerkannt ist, können Sie Spenden und Mitgliedsbeiträge
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Kontakt: Ludger Klein, Im Erlengrund 1, 53757 St. Augustin, fon: 02241/330583, e-mail:
lepus.lk@t-online.de; Spendenkonto: Soziale Bewegungen e.V., Konto-Nr: 7514607; BLZ:
380 500 00 Sparkasse Bonn.
,Zivilgesellschaft' ist so ein Begriff, der in
den letzten fünfzehn Jahren sehr populär geworden ist und immer noch viel verwendet
wird. Auf englisch spricht man von ,civil
society', auf polnisch von ,spoleczenstwo
obywatelskie', auf japanisch von ,shimin
shakai' und auf deutsch von ,Zivilgesellschaft' oder,Bürgergesellschaft'. Ganz identisch sind die Bedeutungen dieser Worte in
den
verschiedenen
Sprachen
nicht.
Überhaupt oszilliert der Begriff. Man hat ihn
mit einem Pudding verglichen, der sich bewegt, wenn man ihn an die Wand nageln
will.
Der Begriff der Zivilgesellschaft ist alt, er gehört seit Jahrhunderten - als societas civilis in
aristotelischer Tradition - zu den Zentralbegriffen europäischen Denkens über Politik und
Gesellschaft. Seine Bedeutungen variierten.
Aber fast immer bezog er sich auf gesellschaftlich-politisches Leben jenseits der Sphäre von
Haus und Familie. Und er bezog sich auf Fragen des Zusammenlebens, auf das Gemeinwesen jenseits des Nur-Partikularen, auf das Allgemeine und Politische, oft normativ und emphatisch.
Der Begriff - nun als civil society, societe civile, Zivilgesellschaft bzw. Bürgergesellschaft Um den Begriff dennoch wissenschaftlich ver- erhielt seine moderne Prägung im 17. und 18.
wenden zu können, muss man sich (1) seine Jahrhundert, primär durch Autoren der AufGeschichte vergegenwärtigen und die Kon- klärung. John Locke, Ferguson, Montesquieu,
stellationen nachzeichnen, die ihm zu seiner die Encyclopedisten, Immanuel Kant und vieVieldeutigkeit und Attraktivität verhalfen. (2) le andere haben Unterschiedliches dazu beigeMan muss ihn definieren. (3) Danach soll über tragen.
30 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA Jürgen Kocka zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Zivilgesellschaft in historischer Perspektive
,Zivilgesellschaft' war im Aufklärungsprozess Hegel und Marx. Schärfer als vorher wurde
positiv besetzt. Der Begriff stand für den ,Zivilgesellschaft' nun vom Staat abgesetzt und
damals utopischen Entwurf einer zukünftigen als System der Bedürfnisse und Arbeit, des
Zivilisation, in der die Menschen als mündige Marktes und der Partikularinteressen verstanBürger friedlich zusammen leben würden, als den, eher als .bürgerliche Gesellschaft' der
Privatpersonen in ihren Familien und als Bür- Bourgeoisie denn als .Zivilgesellschaft' der CigerzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
{Citizens) in der Öffentlichkeit, selbständig tizens. Im Deutschen wurde der traditionell pound frei, kooperierend, unter der Herrschaft sitive Begriff ,Zivilgesellschaft' oder .Bürgerdes Rechts, aber ohne Gängelung durch den gesellschaft' durch den Begriff .bürgerliche
Obrigkeitsstaat, mit Toleranz für kulturelle, re- Gesellschaft' verdrängt, der bis ins späte 20.
ligiöse und ethnische Vielfalt, aber ohne allzu Jahrhundert vor allem kritisch und polemisch
große soziale Ungleichheit, jedenfalls ohne gebraucht worden ist. Im Englischen und Franständische Ungleichheit herkömmlicher Art. zösischen hielt sich die alte positive BedeuAllmählich definierte man ,Zivilgesellschaft' tung länger, z. B. bei Tocqueville. Doch
in Absetzung vom Staat, vom damals meist insgesamt trat der Begriff ,Zivilgesellschaft'
absolutistischen Staat, also mit anti-absolutis- auch in den anderen Sprachen in den Hintertischer Spitze. Dieser anti-absolutistische und grund und spielte bis ca. 1980 nur eine margianti-ständische ,Entwurf einer künftigen Ge- nale Rolle.
sellschaft, Kultur und Politik war traditionskritisch und utopisch. Er war der Wirklichkeit Seit etwa 1980 erlebt der Begriff .Zivilgesellweit voraus und sollte es bleiben.
schaft' ein fulminantes Comeback. Er wurde
Unter dem Eindruck des sich durchsetzenden
Kapitalismus und der beginnenden Industrialisierung kam es in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts zu einer Umdefinition, z. B. bei
zum Schlüsselbegriff anti-diktatorischer Kritik vor allem in Ostmitteleuropa, wo Dissidenten wie Havel, Geremek und Györgi Konräd
mit dem Begriff gegen Parteidiktatur, sowjetische Hegemonie und totalitäre Herrschaft antraten: für Freiheit, Pluralismus und gesellschaftliche Autonomie. Entsprechendes war, teils schon
früher, in Lateinamerika
und Südafrika zu beobachten. Mittlerweile wird der
Begriff weltweit verwandt,
in verschiedenen politischen Milieus, in der politischen Mitte und links, bei
Liberalen, Kommunitaristen und Globalisierungsgegnern, bei Sozialwissenschaftlern wie John Keane, Charles Taylor und Jürgen Habermas - durchweg
mit positiver Konnotation.
31
Ins Deutsche wurde er als ,Zivilgesellschaft' Antwort auf die drängende Frage, was unsere
rückübersetzt, unter Umgehung des kritisch- Gesellschaften denn überhaupt noch zusampolemisch festgelegten Ausdrucks bürgerliche menhält.
Gesellschaft'.
So erkläre ich mir die Attraktivität und die
Offensichtlich erreichten am Ende des 20. Jahr- Aufladung des Begriffs in vielen öffentlichen
hunderts Ideen des 18. Jahrhunderts neue Ak- Diskussionen heute.
tualität. .Zivilgesellschaft' erlangte neue Attraktivität im siegreichen Kampf mit den Dik- Ich halte aus diesem kurzen begriffshistoritaturen, die im 20. Jahrhundert die eklatantes- schen Überblick zweierlei fest. Zum Einen:
te Verneinung der Zivilgesellschaft dargestellt Von Anfang an und immer wieder haben sich
hatten.
in dem Begriff ,Zivilgesellschaft' normative
und deskriptiv-analytische BedeutungsschichDoch auch in der nicht-diktatorischen Welt des ten verknüpft. Das gilt auch heute. Darin liegt
Westens passte und passt der Begriff Zivilge- eher eine Chance als eine Belastung. Zum Ansellschaft in die politisch-intellektuelle Groß- deren: Die ,Hauptopponenten' des Begriffs hawetterlage. Erstens: Mit seiner Betonung ge- ben sich im Lauf der Zeit gewandelt, oder bessellschaftlicher Selbstorganisation und indivi- ser: es sind neue Opponenten dazu gekomdueller Eigenverantwortung reflektiert der Be- men, und ihr relatives Gewicht verschiebt sich
griff die verbreitete Skepsis gegenüber der Gän- dauernd; mit den Hauptstoßrichtungen aber vergelung durch den Staat, der als Sozial- und schieben sich Bedeutungsumfang und BedeuInterventionsstaat auch im Westen nach Mei- tungsnuancen des Begriffs. Es hätte im 18.
nung Vieler an die Grenzen seiner Leistungs- Jahrhundert, für Adam Smith und Ferguson,
kraft gestoßen ist, der zu viel reguliert und keinen Sinn gemacht, die anti-absolutistische
und anti-ständische Frontstellung des Begriffs
sich damit überfordert.
durch seine gleichzeitige Absetzung von der
Zweitens verspricht ,Zivilgesellschaft', dem erst noch um ihre Geltung kämpfenden Marktsich unbändig entfaltenden, weltweit siegrei- wirtschaft zu schwächen. Im Gegenteil: Der
chen Kapitalismus etwas entgegen zu setzen. Markt, die Wirtschaftsbürger, die Konkurrenz,
Der Begriff reflektiert damit eine Kapitalis- der Kapitalismus - das waren Bündnispartner,
muskritik neuer Art, denn die auf Diskurs, Kon- und ,Zivilgesellschaft' wurde von der Ökonoflikt und Verständigung setzende Logik der Zi- mie begrifflich nicht abgesetzt. Anders bei manvilgesellschaft verspricht andere Problemlösun- chen Autoren des späten 20. Jahrhunderts. Angen als die Logik des Marktes, die auf Wettbe- gesichts der siegreichen Ausbreitung der kapiwerb, Austausch und Optimierung des indivi- talistischen Marktwirtschaft in die fernsten Länder und die innersten Bezirke unseres Lebens
duellen Nutzens beruht.
ist zivilgesellschaftliches Handeln heute nicht
nur
gegen den gängelnden Staat sondern auch
Schließlich gehört zum zivilgesellschaftlichen
gegen
den alles durchdringenden Markt zu beVerhalten das bürgerschaftliche Engagement,
der Einsatz für allgemeine Ziele, so unter- haupten; entsprechend wird ,Zivilgesellschaft'
schiedlich die auch definiert werden. In den oft von der Ökonomie abgegrenzt. Schließlich
stark individualisierten und teilweise fragmen- steht heute die postmoderne Erfahrung weit
tierten Gesellschaften des spät- und postindus- getriebener Individualisierung und Fragmentriellen Typs verspricht ,Zivilgesellschaft' eine tierung bereit, die noch in den 1960er und
32 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Zivilgesellschaft in historischer Perspektive
Jürgen Kocka zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
1970er Jahren eher marginal war. Im Gegen- denen Zivilgesellschaftlichen Akteure ganz VerProjekts ist, das von der Aufklärung bis heute
zug betont man das Kommunitäre an der Zi- schiedenes unter dem allgemeinen Wohl veruneingelöste Züge enthält. Zivilgesellschaft
vilgesellschaft, den durch Zivilgesellschaft ver- stehen mögen.
bleibt insofern eine Utopie, ein immer noch
mittelten Zusammenhalt, das Soziale mit neunicht voll erfülltes Versprechen, wenngleich
er Emphase. Heutige Definitionen von .Zivil- Dominant ist dieser zivilgesellschaftliche Tydie Wirklichkeit heute in Europa diesem Entgesellschaft' sollten die Erinnerungen an diese pus sozialen Handelns nicht im Bereich des
wurf, dieser Utopie sehr viel mehr entspricht
Stoßrichtungen und Abgrenzungen nicht ein- Staates, nicht in der Wirtschaft und nicht in
als früher.
fach abschneiden, wenn sie nicht die Verbin- der Familie, sondern in einem sozialen Bedung zu jenen diskurs- und praxishistorischen reich oder Raum, der in modernen, ausdiffeDas bedeutet aber auch, dass Zivilgesellschaft
Kontexten verlieren wollen, aus denen der Be- renzierten Gesellschaften .zwischen' Staat,
niemals identisch mit real existierenden Gegriff seine Kraft und Attraktivität außerhalb Wirtschaft und Privatsphäre zu lokalisieren ist,
sellschaften ist, weder früher noch heute. Vielder spezialisierten empirischen Forschung ge- in dem Raum der Vereine, Assoziationen, somehr bezeichnen wir mit ,Zivilgesellschaft'
schöpft hat und schöpft. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
immer nur ein Moment, ein Strukturelement
zialen Bewegungen und Non-Governmental
real existierender Gesellschaften, die immer
Organzations (NGOs), einem Raum, für den
auch anderes enthalten: Staat, Markt und Intiein hohes Maß gesellschaftlicher Selbstorga2
Definition
mität, aber auch Gewalt, Fanatismus und Chanisation kennzeichnend ist. Deshalb bezeichos. Gesellschaften unterscheiden sich nach dem
Auf diesem Hintergrund bietet sich die Defini- net ,Zivilgesellschaft' nicht nur einen Typus
Maß und der Art, in denen sie Zivilgesellschaft
tion von ,Zivilgesellschaft' in dreifacher Wei- sozialen Handelns, sondern oft auch den selbstverwirklichen.
se an:zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
erstens als Typus sozialen Handelns, organisierten, dynamischen, spannungsreichen,
zweitens als Bereich zwischen Wirtschaft, Staat öffentlichen Raum der Vereine, Netzwerke,
und Privatsphäre, drittens als Kern eines Ent- Bewegungen und Organisationen .zwischen'
3
Zivilgesellschaft, Kapitalismus
wurfs oder Projekts mit immer noch utopi- Staat, Wirtschaft und Privatsphäre.
und Staat
schen Zügen.
Ich habe die Logik der Zivilgesellschaft und
Schließlich sollte man im Auge behalten, dass
die Logik des Marktes analytisch getrennt, ZiZunächst meint ,ZiviIgesellschaft' einen spe- nach allen historischen Erfahrungen Zivilgevilgesellschaft vom Kapitalismus unterschiezifischen Typus sozialen Handelns - im Unter- sellschaft als Typus sozialen Handelns wie als
schied zu anderen Typen sozialen Handelns, Bereich gesellschaftlicher Selbstorganisation
den. Das ist wichtig, dabei soll es auch bleinämlich im Unterschied zu Kampf und Krieg, nur dann nachhaltig durchzusetzen und zu etaben. Aber eine Modifikation ist nötig.
im Unterschied zu Tausch und Markt, im Un- blieren ist, wenn sie eingebettet ist in einen
terschied zu Herrschaft und Gehorsam sowie Kranz sich wandelnder ökonomischer, soziaDenn zwischen Marktwirtschaft und Zivilgeim Unterschied zu den Eigenarten des privaten ler, politischer und kultureller Bedingungen,
sellschaft besteht nicht nur Spannung, sondern
Lebens. Als spezifischer Typus sozialen Han- deren Sicherung und Bekräftigung sie umgeauch Affinität. Die Entstehung, der Erfolg von
delns ist ,Zivilgesellschaft' dadurch charakte- kehrt dient. Das zeigt sich daran, dass ZivilgeMarktwirtschaften wild von zivilgesellschaftrisiert, dass sie (1) auf Konflikt, Kompromiss sellschaft oft nur in Kritik an gegebenen oder
lichen Strukturen zumindest erleichtert, wenn
und Verständigung in der Öffentlichkeit aus- drohenden Verhältnissen durchgesetzt und benicht gar erst ermöglicht. Denn Marktwirtschaft
gerichtet ist, dass sie (2) individuelle Selbstän- wahrt werden konnte, in Kritik - ich habe dies
setzt einen gewissen sozialen Zusammenhalt
digkeit und gesellschaftliche Selbstorganisati- erwähnt - an obrigkeitlicher Gängelung und
voraus, sie braucht ein Minimum an Vertrauen
on betont, dass sie (3) Pluralität, Differenz und Unterdrückung, in Kritik an überlieferten Forund sozialem Kapital, und das sind RessourSpannung anerkennt, dass sie (4) gewaltfrei, men der Ungleichheit, im Widerstand gegen
cen, die die Zivilgesellschaft bietet. Umgekehrt
friedlich verfährt, und dass sie (5) jedenfalls die Überwältigung durch den siegreichen Kabraucht Zivilgesellschaft den Markt. Fehlt die
auch an allgemeinen Dingen orientiert ist, d.h. pitalismus wie im Gegenzug gegen die Fragfür funktionierende Marktwirtschaften typische
von den je eigenen partikularen Erfahrungen mentarisierung und Entsolidarisierung der GeDezentralisierung von ökonomischen Entscheiund Interessen ausgeht und sich für das allge- sellschaft. Daran erweist sich, dass Zivilgedungen und ökonomischer Macht, hat die Zimeine Wohl engagiert, wenn auch die verschie- sellschaft Teil eines umfassenden Entwurfs oder
vilgesellschaft schlechte Karten. In zentrali-
33
sierten Verwaltungswirtschaften gedeiht die
Zivilgesellschaft nur schlecht, wie das Beispiel
der sozialistischen Gesellschaftssysteme zeigt,
die bis Anfang der 1990er Jahre in Mittel- und
Osteuropa bestanden. Im internationalen historischen Vergleich beobachtet man viel Parallelität zwischen der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Ordnung und dem Ausbau von Zivilgesellschaft.
Diese Parallelität hat einen besonderen Aspekt:
Historiker wissen, wie sehr Kaufleute und Fabrikanten in europäischen Städten des 19. Jahrhunderts zivilgesellschaftliche Akteure ersten
Ranges gewesen sind, und zwar nicht nur in
ihrer privaten Zeit, sondern gerade als Unternehmer. Das lässt sich an den Honoratioren in
der Selbstverwaltung europäischer Städte vor
der Revolution von 1848 ebenso zeigen wie
am mäzenatischen Engagement von Großunternehmern in Berlin und St. Petersburg um
1900. Ich erinnere auch an die gegenwärtige
Diskussion über ,Unternehmenskultur' und an
das zivilgesellschaftliche Engagement heutiger Großunternehmen und ihrer Stiftungen.
Nicht jede Form von Mäzenatentum reicher
Individuen sollte als zivilgesellschaftliches Engagement gefeiert werden. Aber umgekehrt
wäre es ebenso falsch, jeden Fall von .corporate citizenship' nur als ideologisch verbrämte
Wahrnehmung rein partikularer Interessen abzutun und damit im Vorhof der Zivilgesellschaft abzulegen. Diese Beispiele sollen sagen: So sehr Unternehmer und Unternehmen
sich primär nach der Logik des Marktes verhalten und verhalten müssen, so wichtig können sie als zivilgesellschaftliche Akteure sein.
Andererseits gibt es Varianten des Kapitalismus, Typen von Kapitalisten und Formen des
marktwirtschaftlichen Unternehmertums, die
sich Uberhaupt nicht auf zivilgesellschaftliches
Engagement einlassen und vom gesellschaftlichen Zusammenhalt zehren statt ihn zu stär-
34 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
ken. Diese Negativbeziehung zwischen Unternehmertum und Zivilgesellschaft findet sich
wohl vor allem in besonders mobilen, räumlich fluiden, nirgends sesshaften Formen früheren und heutigen Unternehmertums, in der
New Economy gestern und im internationalen
Finanzkapitalismus heute. Es gibt Kapitalismus, der sich relativ zur Zivilgesellschaft parasitär verhält.
Auch das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft
und Staat ist kompliziert und ambivalent. Oben
habe ich die Logik der Zivilgesellschaft und die
Logik von Verwaltung und Herrschaft analytisch getrennt, also Zivilgesellschaft vom Staat
unterschieden. Dabei soll es auch bleiben. Aber
auch hierbei sind Modifikationen nötig.
Zunächst ist zu bedenken, dass das Verhältnis
von Zivilgesellschaft und Staat jeweils anders
zu bestimmen ist, je nach dem ob wir den
vordemokratischen Absolutismus des 18. Jahrhunderts, die antidemokratischen Diktaturen
des 20. Jahrhunderts oder den demokratischen
Rechts- und Verfassungsstaat von heute im
Auge haben. Als kritische Idee und oppositionelle Kraft entstand die Zivilgesellschaft im
Zeitalter des Absolutismus. Im Kampf gegen
die Diktaturen des 20. Jahrhunderts gewann
sie neue Attraktivität. Dagegen muss ihr Verhältnis zum Staat unter parlamentarisch-demokratischen Bedingungen anders bestimmt werden: als ein Verhältnis kritischer Partnerschaft
und gegenseitiger Bestärkung. Liberale, kommunitaristische und sozialdemokratische Konzepte der Zivilgesellschaft unterscheiden sich in
der Art, wie sie das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Staat bestimmen. Aus sozialdemokratischer Sicht wird man betonen, dass eine
starke Zivilgesellschaft einen starken Staat benötigt, und umgekehrt.
Zivilgesellschaft in historischer Perspektive
Jürgen Kocka zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
vilgesellschaft politische Institutionen, die die
Kriterien des Rechts- und Verfassungsstaats erfüllen, demokratische Partizipation erlauben,
Grundsatzfragen entscheiden, rechtliche Rahmenbedingungen setzen sowie schützend, fördernd und schlichtend eingreifen. Nur im demokratischen Rechtsstaat findet die in sich vielfältige Zivilgesellschaft ihre notwendige Einheit. Ohne einen politischen Rahmen dieser
Art kann die Zivilgesellschaft nicht gedeihen.
NGOs sind kein Ersatz für den demokratischen
Staat, nirgendwo. Doch unter vordemokratischen Bedingungen - unter absolutistischer,
autokratischer oder diktatorischer Herrschaft können zivilgesellschaftliche Anstöße die Demokratisierung vorbereiten und befördern (sofern die Diktatur nicht von einer Radikalität
ist, die zivilgesellschaftliche Regungen verhindert oder zerstört, wie es unter Hitler und Stalin der Fall war). Andererseits ist es die Zivilgesellschaft, die den Rechts- und Verfassungsstaat prägt, mit Leben erfüllt, dynamisiert und
zur Rechenschaft zwingt. Die dynamischen
Teile der Zivilgesellschaft führen dem Gemeinwesen die nötige Energie und Beweglichkeit
zu. Der Zugang zivilgesellschaftlicher Initiativen, Bewegungen und Organisationen zum politischen System ist deshalb eine zentrale Bedingung dafür, dass Zivilgesellschaft funktioniert.
Durch Stärkung der Zivilgesellschaft stärkt der
Staat auch sich selbst. Doch resultiert das gegenwärtige Interesse an der Zivilgesellschaft,
jedenfalls im Westen, auch aus der Erfahrung,
dass der Staat als Sozial- und Interventionsstaat überfordert ist, und dass er mehr als notwendig vorsorgt und gängelt; dass er sich
schwächt, wenn er zuviel reguliert oder regulieren will; dass die Aufgabenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft neu bedacht werden muss; dass ein starker Staat ein solcher ist,
DennzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
einerseits: Um sich voll entfalten und der sich konzentriert und vieles der Zivilgelangfristig erhalten zu können, benötigt die Zi- sellschaft überlässt.
35
Allerdings gibt es hier offene Probleme. Zum ständigkeit, ein spezifisches Familienmodell
Einen: Wie und nach welchen Kriterien sind und besondere Kommunikationsformen gehördie Aufgaben zwischen Staat und Zivilgesell- ten. Von bürgerlicher Gesellschaft oder Bürschaft abzugrenzen? Wieweit trägt das Prinzip gergesellschaft sprach man aber auch mit Blick
der Subsidiarität? Zum Anderen: In der Zivil- auf das Gesellschaftsmodell, das wir heute als
gesellschaft gibt es auch Ansätze zum Egois- Zivilgesellschaft bezeichnen. Diese Doppeldeumus und zur Reformfeindlichkeit, zum Funda- tigkeit - Bürger steht eben für bourgeois und
mentalismus und zum Ressentiment. Die Stär- für citoyen - ist kein semantischer Zufall. Es
kung der Zivilgesellschaft durch einen sich zu- lässt sich vielmehr zeigen, dass jenes Projekt
rücknehmenden Staat kann deshalb politisch einer zukünftigen Zivilgesellschaft damals vor
sehr zweischneidig undriskantsein. Jedenfalls allem in den Logen, Vereinen und Netzwerdarf die Stärkung der Zivilgesellschaft nicht ken, in den Korrespondenzen und Kommunidazu führen, dass sich der demokratische Staat kationskreisen, den Bewegungen und Parteivor der Wahrnehmung seiner zentralen Aufga- en, in Milieu und Kultur des städtischen Bürben drückt. Im Übrigen bestehen in dieser Hin- gertums Unterstützung und Verbreitung fand
sicht aufgrund unterschiedlicher Geschichte (einige Adlige und Kleinbürger eingeschlossen), während andere soziale Schichten und
große Unterschiede von Land zu Land. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIH
Klassen eher in Distanz zu jenem Projekt standen, oft auch geradezu ausgeschlossen waren
4
Zivilgesellschaft, Akteure und
und
wenig mit ihm anzufangen wussten, auch
Ressourcen
kaum von ihm profitierten.
Wer kommt als Motor der Zivilgesellschaft in
Frage? Wer sind die Träger? Welche Ressourcen braucht man, um zivilgesellschaftsfähig
zu sein? Ich möchte dies am deutschen Fall
diskutieren, und zwar historisch. Ich komme
auf das Verhältnis von Zivilgesellschaft und
Bürgertum.
Blickt man auf das späte 18. und frühe 19.
Jahrhundert im deutschsprachigen Mitteleuropa, dann beziehen sich die Begriffe Bürgertum' und bürgerlich' einerseits auf die kleine,
städtische Sozialformation von Geschäftsleuten, Unternehmern, Bankiers und Direktoren
einerseits, von akademisch gebildeten Beamten, Professoren, Gymnasiallehrern, Rechtsanwälten, Ärzten, Geistlichen und Journalisten
andererseits, die sich als Bürgertum vom Adel,
von der Masse des Volkes und von der Landbevölkerung unterschieden und vor allem durch
eine gemeinsame Kultur zusammengehalten
wurden: durch eine bürgerliche Kultur, zu der
allgemeine Bildung, bestimmte Werte wie Selb-
Diese frühe Affinität, die Allianz zwischen der
Kultur des Bürgertums und dem Projekt der
Zivilgesellschaft lockerte sich aber im späten
19. und frühen 20. Jahrhundert auf. Teile des
Bürgertums wurden konservativ und defensiv
und wandten sich vom zivilgesellschaftlichen
Projekt in wichtigen Hinsichten ab. Dieses aber
gewann neue Sympathisanten, Verfechter und
Träger in bisher ihm fern stehenden Schichten
und Klassen, vor allem in der qualifizierten
Arbeiterschaft und in der sozialdemokratischen
Arbeiterbewegung, die zu einer entscheidenden Triebkraft der weiteren Verwirklichung von
Zivilgesellschaft wurde. Die Geschichte des
Bürgertums und die Geschichte der Zivilgesellschaft begannen sich zu trennen.
Zwar finden sich auch heute noch Reste jener
alten Aufein3nderbezogenheit von bürgerlichen
Mittelschichten und zivilgesellschaftlichem Engagement: Auch heute findet sich dieses in Form
von Vereinen, Bürgerinitiativen und NGOs vor
36 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA Jürgen Kocka zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Zivilgesellschaft in historischer Perspektive
allem in den gebildeten, bürgerlichen Mittelschichten. Jedenfalls gilt das für Deutschland.
Doch heutefindetdas zivilgesellschaftliche Projekt, das ,bürgerschaftliche' Engagement, breite Unterstützung in vielen Schichten.
Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass
diese enge Verbindung von Bürgertum und Zivilgesellschaft auch im 19. Jahrhundert nicht
überall bestand. In Polen trat der kleine Adel
an die Stelle des nur schwach entwickelten,
zum Teil fremdnationalen Bürgertums. In England und Frankreich kam es zu viel engerer
Verschmelzung von Bürgertum und Adel und
damit zu einer breiteren sozialen Basis der sich
entwickelnden Zivilgesellschaft. In Russland
vor dem Ersten Weltkrieg finden sich zivilgesellschaftliche Tendenzen vor allem in den Mittelschichten der Städte, im kleinen und mittleren Bürgertum und in der kommunalen Politik.
ökonomische und soziale Ungleichheit behindert und beschädigt. Untersucht man Mechanismen des zivilgesellschaftlichen Engagements, entdeckt man die entscheidende Rolle
von einzelnen Personen, von zivilgesellschaftlichen .Unternehmern'. Die Rolle von Religion und Religiosität bei der Hervorbringung
oder Behinderung von Zivilgesellschaftlichkeit
stellt sich in verschiedenen Konstellationen
ganz unterschiedlich dar. Das kirchliche Gemeindeleben nonkonformistischer Religionsgemeinschaften, beispielsweise der englischen
und amerikanischen Quäker, war und ist eine
Wurzel zivilgesellschaftlichen Engagements.
Dagegen stehen die Prinzipien und Praktiken
der großen Staatskirchen zivilgesellschaftlicher
Selbstbestimmung meist abwehrend entgegen.
Entscheidend ist, ob Religion und Kirche im
Plural oder Singular auftreten. Schließlich noch
eine Ressource: Zum zivilgesellschaftliche Engagement gehört ein Mindestmaß an Vertrauen: in sich selbst, in die Anderen, in die Zukunft. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser als zivilgesellschaftliches Motto taugt Lenins
Spruch nicht.
Theatergründungen, Bürgerbewegungen und
andere gesellschaftliche Organisationen -, die
sich im Rahmen etablierter Territorial- und
Nationalstaaten entwickelten (so in Westeuropa), und solche, die es ohne akzeptierten staatlichen Rahmen bzw. gegen die gegebene Form
von Staatlichkeit versuchten - so in Ostmitteleuropa und Südosteuropa, nämlich gegen die
dort etablierten Reiche, gegen Habsburg, das
Zarenreich, das Osmanische Reich, die zunehmend als Fremdherrschaft empfunden wurden.
Der Befund ist nicht einheitlich. Zum Teil zeigten sich, etwa in Polen, zivilgesellschaftliche
Initiativen ohne nationalstaatlichen Rahmen
von besonderer Kraft. Zum Teil wirkte sich
das Fehlen staatlicher Unterstützung aber als
Schwäche aus.
37
Trotzdem bleibt die Zivilgesellschaft auch heute noch meist im nationalstaatlichen Rahmen.
Wir sind weit von einer europäischen - gar
von einer globalen - Zivilgesellschaft entfernt.
Das hat viele Gründe, einen möchte ich nennen: Zivilgesellschaft ist eng mit dem öffentlichen Raum, mit Öffentlichkeit verbunden. Öffentlichkeit ist immer auch Kommunikation.
Kommunikation braucht gemeinsame Sprache.
Die Vielsprachigkeit Europas stellt ein schwer
zu überwindendes Hindernis dar, das der Entstehung einer europäischen Zivilgesellschaft im
Wege steht. Oder soll etwa die Zivilgesellschaft
der Zukunft englisch sprechen?
Die Idee der Zivilgesellschaft entstand in der
Aufklärung. Sie ist ein Produkt des Westens.
Aber ihre Grundsätze beanspruchen univerJedenfalls gab es zivilgesellschaftliche Initia- sale Geltung und wirken längst auch in andetiven, die sich im 19. Jahrhundert quer zu den ren Teilen der Welt. Innerhalb Europas ist die
etablierten Formen der Staatlichkeit und ge- Idee von Westen nach Osten gewandert. Dabei
Das gibt Anlass zur Frage, wer und was denn
gen diese entwickelten, vor allem in Ostmit- aber hat sie sich geändert. Im Osten des Konan die Stelle des Bürgertums tritt, wenn es um
tel- und Südosteuropa. Bis zu den National- tinents hat man sich durch Ideen des Westens
den Aufbau einer Zivilgesellschaft in Regiostaatsgründungen um 1870 galt das auch für zwar inspirieren lassen, doch was man davon
nen geht, die ihr Bürgertum verloren oder nie
Deutschland und Italien. Politisch engagierte übernahm und übernimmt, war und ist keine
so recht entwickelt haben, etwa im postkomTurner, Sänger und Wissenschaftler bauten na- bloße Imitation, sondern selektive Anverwandmunistischen Osteuropa seit der Umwälzung Aus all dem wird klar: Zivilgesellschaft lässt
tionale Netzwerke lange vor dem Nationalstaat lung an die eigenen Bedingungen. Zivilgeum 1990.
sich weder dekretieren noch einfach erfinden.
auf. Es gab viele zivilgesellschaftliche Bewe- sellschaft entstand und entsteht auf unterSie ist historisch voraussetzungsvoll. Sie ist
gungen, Netzwerke und NGOs mit transnatio- schiedlichen Wegen und in verschiedenen VaJedenfalls gilt für die Vergangenheit wie für immer auch ein Produkt der Geschichte. Man
naler Reichweite. Beispiele dafür finden sich rianten, hier stärker, dort schwächer, hier früdie Gegenwart, dass bestimmte Sozialgruppen kann sie behindern, man kann sie befördern,
in der Anti-Sklaverei-Bewegung, im Kampf für her, dort später, aber überall anders und
zivilgesellschaftlich sehr aktiv und andere un- dekretieren und machen lässt sie sich nicht. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
das Frauenwahlrecht, in der internationalen bisweilen gar nicht - wobei man sich über
terrepräsentiert sind.zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Zivilgesellschaftsfähigkeit
Arbeiterbewegung, im Kampf gegen Prostitu- die Grenzen hinweg gegenseirig beobachtet,
ist ungleich verteilt: Zeit, Abkömmlichkeit, 5
tion oder Alkoholismus, dann auch - dies bis beeinflusst und prägt. Die Wirklichkeit in dem
Zivilgesellschaft, Nation
Auskömmlichkeit des Lebensunterhalts, Komheute - im Kampf für die Abrüstung und den einen Land kann nicht einfach als Modell für
und Europa
munikationsfähigkeit, Bildung und andere unFrieden. Erst recht hat es in der allerjüngsten die Entwicklung im andern Land genommen
gleich verteilte Ressourcen sind entscheidend. Manchmal wird behauptet, dass ZivilgesellZeit Wellen der Transnationalisierung gegeben. oder empfohlen werden. Was ,best practice'
Rechtliche Diskriminierung - von Frauen, eth- schaft und Nationalstaat Zwillinge sind und
Die Zivilgesellsch.aft überschreitet heute nati- ist, variiert sehr stark und will kreativ auspronischen Minderheiten und Armen - erschwe- aufs Engste zusammengehören. Doch der hisonale Grenzen mit präzedenzloser Vehemenz biert werden, mit Sinn für Kontext und Geren zivilgesellschaftliches Engagement. Zivil- torische Befund ist komplizierter.
und in neuen Politikbereichen - man denke an schichte.
gesellschaft setzt zwar keineswegs soziale
die Ökologie, die Menschenrechte und die KriGleichheit voraus. Aber sie entstand als Pro- Im innereuropäischen Vergleich zum 19. Jahrtik an der Globalisierung. Neue dezentrale For- Jürgen Kocka ist Historiker an der FU Berlin
jekt gegen ständische Ungleichheit, und sie hundert beobachten wir zivilgesellschaftliche
men und neue Kommunikationsmittel stehen und Präsident des Wissenschaftszentrums Berwird wohl auch heute durch sehr ausgeprägte Bestrebungen und Organisationen - Vereine,
dafür zur Verfügung.
lin für Sozialforschung.
38 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Forschungsjournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003
Zivilgesellschaft und soziale Ungleichheit
Paul Nolte zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
liehen und sozialphilosophischen Debatten im
Dreieck von Zivilgesellschaft, ,Gemeinsinn'
und Ungleichheit für diese Fragestellung aufzugreifen und fruchtbar zu machen.
egalitären Zivilgesellschaft immer wieder
entgegen. Zivilgesellschaft hat, so könnte man
diese am Beispiel des Bürgertums entwickelten Überlegungen verallgemeinern, etwas mit
der Klassenschichtung der modernen Gesellschaft zu tun, mit ihrem System sozialer Ungleichheit und dessen kultureller Deutung und
Verarbeitung in der Gesellschaft selber. Wie
dieses Verhältnis von Zivilgesellschaft und sozialer Ungleichheit bestimmt werden kann, ist
aber noch keineswegs befriedigend geklärt,
weder sozialtheoretisch noch empirisch und
historisch. Die neuere Debatte über die Zivilgesellschaft folgt vielmehr oft einem anderen
Motiv; ihr geht es weniger darum, was die
Mitglieder einer Gesellschaft trennt, sondern
eher um die Frage, „was denn moderne Gesellschaften letztlich zusammenhält. Nicht mehr
die Erfahrung gesellschaftlicher Polarisierung
(etwas durch Konflikte zwischen den Klassen),
sondern die Sorge um den Verlust des sozialen
Zusammenhalts aufgrund fortschreitender Individualisierung und Fragmentierung liegt insofern dem oft beschwörenden Diskurs über
Zivilgesellschaft zugrunde." (Kocka 2001: 20)
(Nelson 1969); damit zusammenhängend Verhaltensstandards der Höflichkeit und sittlichen
Verfeinerung (.politeness'). Im weiteren Sinne
ermöglicht die bürgerliche Klassengesellschaft
dann auch die moralische Hinwendung zu den
von ihr Benachteiligten und Ausgeschlosse1
Zivilgesellschaft und soziale Ungleichheit: Affinität und Spannung nen, zum Beispiel im Sinne von bürgerlicher
Wohlfahrtspolitik und ,charity' (Haskell 1985).
Um ein kompliziertes Geflecht zu entwirren,
kann man eine .positive' und eine .negative' Zweitens, das ist damit schon angedeutet, gibt
Seite des Verhältnisses von Zivilgesellschaft es eine empirisch-historische Parallelentwickund sozialer Ungleichheit unterscheiden: Bei- lung: Nicht nur in den ursprünglichen Entwürde Phänomene sind eng miteinander verknüpft; fen der Aufklärer, sondern auch in der (west-,
und stehen doch in Spannung, teils auch in mittel-) europäischen und nordamerikanischen
offenem Konflikt zueinander. Zunächst: Die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts entVermutung, dass eine funktionierende Zivilge- wickelt sich die Zivilgesellschaft parallel zum
sellschaft soziale Ungleichheit (oder ein ge- Aufstieg von Klassengesellschaft, Marktgesellwisses Maß, eine gewisse Ausprägung davon) schaft und Kapitalismus; das gilt wiederum
benötigt, ja, dass soziale Ungleichheit sogar für die Weiterentwicklung des normativen Proeine Bedingung der Möglichkeit von Zivilge- jektes ebenso wie für konkrete soziale Institusellschaft ist, lässt sich auf mindestens drei tionen wie .Vereine' oder das .benevolent empire' des bürgerlichen Sozialengagements.
Ebenen verfolgen und begründen. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Jedenfalls ist die Auflösung ständischer BinErstens auf einer ideen- und theoriegeschicht- dungen (und ihre Transformation in marktförlichen Ebene: Wenn man die Ursprünge des mige soziale Beziehungen) offensichtlich eine
Konzeptes der Zivilgesellschaft im 18. Jahr- wichtige Voraussetzung für die Entstehung von
hundert verfolgt, wie auch Jürgen Kocka das Zivilgesellschaft gewesen. Wo ständische Tragetan hat, kommt man an Entwürfen der ,civil ditionen fehlten oder der Siegeszug des Kapisociety' in der schottischen Aufklärung, zum talismus früh begann, wie in den USA bzw.
Beispiel bei Adam Smith und Adam Ferguson, England, entstanden starke Strukturen der Zinicht vorbei (z.B. Ferguson 1986). Die .civil vilgesellschaft ebenfalls relativ früh und dausociety' entsteht hier, im Endpunkt eines idea- erhaft erfolgreich.
Im Folgenden soll deshalb versucht werden,
das spannungsvolle Verhältnis von Zivilgesellschaft und sozialer Ungleichheit ein wenig zu
klären und zu präzisieren. In einem ersten
Schritt geht es um eine grundsätzliche Annäherung an das Problem. Dazu mache ich einige begriffliche Vorschläge und führe Unterscheidungen ein, mit deren Hilfe man sich Affinität und Spannung zwischen diesen beiden
Polen klar machen kann. Im zweiten Schritt
wird versucht, die neueren sozialwissenschaft-
lisierten historischen Stufenprozesses, als eine
bürgerliche Klassengesellschaft, die auf den
Prinzipien von allgemeinem Handel auf Märkten beruht. Sie ist deshalb sozial abgestuft,
bringt aber zugleich eine Reihe von Strukturprinzipien und Verhaltensnormen hervor, die
für den ,zivilen' - das heißt humanen, friedlichen, freiheitlichen - Charakter einer Gesellschaft unabdingbar sind: den Individualismus
des ,economic achievement'; ,Vertrauen' als
sozialen Mechanismus einer ursprünglich im
Handel verallgemeinerten Brüderlichkeitsethik
Zivilgesellschaft und soziale Ungleichheit
Die Zivilgesellschaft ist ein schöner Traum,
der Entwurf einer besseren Gesellschaft. Schon
deshalb ist es nicht verwunderlich, dass das
Projekt der Zivilgesellschaft häufig mit einer
relativ egalitären Gesellschaft assoziiert wird:
einer Gesellschaft nicht nur rechtsgleicher Bürgerinnen und Bürger, sondern auch relativ ausgeglichener ökonomischer Privilegien und
Chancen. Dagegen steht jedoch die Realität
verfestigter sozialer Strukturen, die Realität
sozialökonomischer Ungleichheit. In Umkehrung des viele Jahrzehnte vorherrschenden säkularen Egalisierungstrends hat sich soziale
Ungleichheit seit etwa 1980 in den meisten
westlichen Gesellschaften sogar verschärft;
Abstände sind wieder gewachsen. Bedeutet das
Ende oder Aufgabe des Projektes der Zivilgesellschaft? Jedenfalls wird deutlich, dass Gefährdungen der Zivilgesellschaft nicht nur ,von
außen', aus den Bereichen des .Marktes' oder
des ,Staates', zu erwarten sind, sondern auch
aus dem Binnengefüge sozialer Beziehungen,
sozialer Gemeinschaften und sozialer Konflikte.
Jürgen Kocka hat die Paradoxien entwickelt,
die sich aus der Ambivalenz und Doppelbedeutung der .bürgerlichen Gesellschaft' als .civil society' einerseits, als ,bourgeois society'
andererseits ergeben - grundsätzlich ebenso
wie historisch seit dem späten 18. Jahrhundert. Zivilgesellschaft ließ sich von der Bürgerlichkeit im Sinne der Bindung an eine bürgerlichen Klasse nie völlig trennen, und doch
wirkte gerade diese Form der Bürgerlichkeit
mit ihren exklusiven und hierarchischen Tendenzen der Verwirklichung einer inklusiven und
39
Drittens schließlich könnte man auf ein kontrafaktisches Argument verweisen: Wo soziale
Ungleichheit auf radikale Weise zu beseitigen
versucht wurde - vor allem in politisch-ideologisch veranlassten gesellschaftlichen Großexperimenten des 20. Jahrhunderts -, waren
die Chancen für die Entfaltung einer Zivilgesellschaft immer extrem schlecht. Die Vision
einer homogenen, mehr oder weniger vollständig nivellierten Gesellschaft raubte ihr die inneren Antriebs- und Regenerationskräfte und
40 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
führte zumeist in Konformismus und den Verlust bürgerlicher Öffentlichkeit (Nolte 2000).
Die Vorstellung einer Beseitigung von klassenmäßiger Ungleichheit war zudem, wie im
Falle der deutschen ,Volksgemeinschaft', oft
mit rigider Exklusion von , Anderen' auf rassischer, religiöser oder anderer Basis ganz eng
verkoppelt, so dass auch insofern gilt: Die Zulassung und Ermöglichung von Differenz, einschließlich der Differenz materieller Positionen im Klassengefüge, scheint eine unabdingbare Voraussetzung für Zivilgesellschaft zu
sein.
Zivilgesellschaft und soziale Ungleichheit
Paul Nolte zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Ungleichheiten dieser Art gehören zur Geschichte der Zivilgesellschaft im 19. und 20.
Jahrhundert dazu: ,Gewinne' für die Zivilgesellschaft konnten verbucht werden, während
fast durchweg Frauen und in vielen Ländern
ethnisch oder rassisch definierte Gruppen aus
ihr, teils sogar mit zunehmender Schärfe, ausgeschlossen wurden.'
41
größert werden. Man kann diese Überlegung
auch durch ein sozialtheoretisches bzw. sozialphilosophisches Argument abstützen, wie es
etwa John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit entwickelt hat: Eine ,faire' Gesellschaftsordnung beinhaltet die gerechte Verteilung von sozialen und ökonomischen Gütern;
Ungleichheit muss sich dadurch rechtfertigen
können, dass sie auch den weniger Begünstigten Vorteile bringt (Rawls 1994; vgl. auch Sen
1983; Sen 2000). Justice' wird damit zu einer
Leitkategorie der Zivilgesellschaft, die den öffentlichen Umgang mit sozialer Ungleichheit
Für die hierarchische Ungleichheit ist nicht zu steuern vermag. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZ
Anerkennung, sondern .Umverteilung' die adZivilgesellschaft heute - zwischen
äquate zivilgesellschaftliche Ausgleichsstrate- 2
.Gemeinsinn' und zunehmender
gie; durch eine politisch gesteuerte VerlageUngleichheit
rung von Einkommen und Vermögen (klassisch durch Steuerpolitik und wohlfahrtsstaatlichen Transfer) sollen die sozialen Abstände Viel spricht dafür, dass wir am Anfang einer
verringert und damit zugleich die zivilgesell- neuen Debatte über die gesellschaftlichen Funschaftlichen Ressourcen einer Gesellschaft ver- damente der Zivilgesellschaft stehen. Mit zwei
angeregt werden könnten. Rückzug statt Engagement prägt dann das Verhältnis der ökonomischen Klassen zueinander. Das ist ein
Muster, das typisch für viele .Schwellenländer', zum Beispiel in Lateinamerika, zu sein
scheint. Aber es gibt auch Nationen wie die
USA, in denen eine starke Zivilgesellschaft
sich mit einem sehr großen Ausmaß an sozialökonomischer Ungleichheit offenbar verträgt.
Welche Formen und Grade von Ungleichheit
jeweils legitimierbar sind, ist historisch und
kulturell höchst wandelbar.
Aber auf lange Sicht ließ sich das nicht durchhalten, und erst recht von einem normativen
Standpunkt aus verlangt die Zivilgesellschaft
die Auflösung solcher exklusiver Dichotomien. Auflösung heißt hier freilich gerade nicht
Aber man kann auch die Gegenrechnung auf- Gleichmachung (als Anpassung an das vorher
machen: Zivilgesellschaft und soziale Un- dominante Muster); die gewissermaßen zivilgleichheit geraten in Spannung, ja in offenen gesellschaftliche adäquate Ausgleichsstrategie
Widerspruch zueinander; soziale Ungleichheit, ist vielmehr die der .Anerkennung' (Fräser
jedenfalls in bestimmten, extremen Formen, 2001).
gefährdet das theoretische Konzept wie die
soziale Praxis von Zivilgesellschaft. Um die- Demgegenüber ist das Prinzip hierarchischer
sem Aspekt näher zu kommen, kann man zwei Ungleichheit anders, und ebenso unterscheidet
Formen von sozialer Differenz und Ungleich- sich die Inklusions- oder Ausgleichsstrategie.
heit in einer zunächst relativ abstrakten Weise Der klassische Fall hierarchischer (man könnunterscheiden: ,Dichotomie' und .Hierarchie'. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
te auch sagen: .gradierter') Ungleichheit ist
Dichotomische Ungleichheit verweist auf bi- die Ungleichheit der sozialökonomischen Ponäre Codierungen der Zugehörigkeit, auf die sitionen (und der daraus resultierenden sozioInklusion des Einen und die prinzipielle Ex- kulturellen Chancen) von Individuen bzw. Faklusion des Anderen. Ein Beispiel ist die Di- milien im Schichtungs- und Klassensystem eichotomie der Geschlechter: Nicht die Verschie- ner Gesellschaft. Im Hinblick auf Risiken für
denheit von ,gender'-Modellen (männlich vs. die Zivilgesellschaft heißt das: Werden die soweiblich) an sich läuft zivilgesellschaftlichen zialen Abstände zu groß, spreizt sich die soziGrundprinzipien zuwider, sondern die daraus ale ,Leiter' zu weit auseinander (wie man in
abgeleitete Exklusion der von der Mehrheits- Deutschland seit dem späten 19. Jahrhundert
kultur als minder vermögend bewerteten Grup- häufig sagte), dann ist eine Kommunikation
pe. Ein solches Ungleichheitssystem muss nicht über diese Distanzen hinweg und damit eine
strikt zweipolig sein; im Bereich kultureller Integration der Gesellschaft nicht mehr mögoder ethnischer Differenz, der Pluralität von lich. Die Reicheren oder auch die Mittelklasse
Religionen usw. sind auch mehrpolige Abstu- werden sich den Armen (jedenfalls den traditifungen denkbar, die aber dennoch meistens onell als ,undeserving poor' bezeichneten)
auf eine einzelne, politisch-kulturell dominan- nicht mehr mit Wohltätigkeit zuwenden; den
te Seite der Inklusion bezogen sind, zum Bei- Armen fehlt eine Aufstiegsperspektive in die
spiel die Herrschafts- und Elitensprache in ei- Mittelschicht, durch die sie zur Teilnahme an
nem multiethnischen Staatswesen. Exklusive der Gesellschaft, zum Ergreifen von Chancen
42 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Schwerpunkten, die oft noch nicht genügend
im Zusammenhang (und in ihrer jeweiligen
historischen Dimension) bedacht werden, wird
diese Debatte derzeit geführt: Es geht um den
Zusammenhalt der Gesellschaft einerseits, um
,Gemeinsinn', ,Sozialkapital' und Bürgerengagement' - und um Trennlinien in der Gesellschaft andererseits, um Armut, Exklusion
und soziale Ungleichheit (Nolte 2001). Zivilgesellschaft wird vermehrt im Hinblick auf das
im bürgerschaftlichen Engagement oder auch
nur in informellen sozialen Kontakten erworbene ,soziale Kapital' gesehen, wie in den einflussreichen Arbeiten des amerikanischen Politologen Robert Putnam (1999).
Paul Nolte zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Zivilgesellschaft und soziale Ungleichheit
System von Wohlfahrt und sozialer Sicherung
ist der empirische Befund, wie es scheint eine gründliche Zwischenbilanz der Forschung
steht noch aus - weniger eindeutig, doch
mindestens in einzelnen Sektoren ist auch hier
Ungleichheit neu entstanden, verfestigt oder
verstärkt worden. Zentrale Stichworte sind hier
vor allem Massenarbeitslosigkeit und Sozialhilfebedürftigkeit (ledige Mütter, Familien mit
mehreren Kindern), aber auch - bisher noch
weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit die sozialstrukturellen Wirkungen der .Erbengeneration' und die neuen Unterschichtungen
durch Immigranten und Flüchtlinge; schließlich
der weite Bereich der Ungleichheit im WestOst-Vergleich seit 1989/90. Durch den ersten
Dem steht jedoch ein zweiter Pol der sozial- Reichtums- und Armutsbericht der Bundesrewissenschaftlichen Diskussion gegenüber, der gierung hat die ungleiche Verteilung materielsich wiederum auf das Problem von Individu- ler Ressourcen in der deutschen Gesellschaft
alismus und Zivilgesellschaft beziehen lässt: jüngst auch erhebliche politische Aufmerksamnämlich eine neu auflebende Debatte über so- keit erfahren (Bundesregierung 2001; vgl. auch
ziale Ungleichheit in westlichen Gesellschaf- Böhnke2001).
ten, welche den Blick zurücklenkt auf längere
Zeit vernachlässigte Fragen von materieller Pri- Die entsprechenden empirischen Befunde sind
vilegierung und Disprivilegierung, von Reich- zum Teil seit zwei Jahrzehnten durch Forschuntum und Armut, von sozialer Hierarchie und gen über Sozialstruktur, Wohlfahrtsstaat und
Klassenschichtung. Den empirischen Hinter- Armut bekannt, verknüpfen sich aber erst seit
grund dieser Debatte bildet das in zahlreichen kurzem mit zwei Trends in Sozialwissenschaft
Untersuchungen immer wieder diagnostizierte und Öffentlichkeit, die diesen Befunden neue
Phänomen einer seit den 70er, spätestens seit Durchschlagskraft zu verleihen geeignet sind.
den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts (wieder) Erstens hat sich jene in der deutschen Sozialzunehmenden bzw. in neuen Formen ausge- wissenschaft eine zeitlang dominierende Neiprägten Ungleichheit. Dabei geht es noch nicht gung anscheinend erschöpft, welche in der Ineinmal um die Verschärfung eines Wohlstands- dividualisierung sozialer Lagen und sozialer
gefälles im Sinne globaler und globalisierter' Schicksale das Hauptmerkmal gesellschaftliUngleichheit, sondern vorerst ,nur' um soziale cher Entwicklung am Ende des 20. JahrhunUngleichheit innerhalb westlicher Gesellschaf- derts sah. Damit wurden möglicherweise
ten. In den USA hat sich diese Entwicklung einerseits Erfahrungen bestimmter Gruppen der
besonders markant vollzogen (und ist schon gebildeten Mittelschicht vorschnell verallgefrüh diskutiert worden); Segmentierung des meinert, andererseits kultursoziologische BeoArbeitsmarktes, Polarisierung der Einkommen, bachtungen über eine Vervielfachung kulturelneue Armut und ,Underclass' sind Stichworte ler Statussymbole (zum Beispiel im Konsum)
dafür. In der Bundesrepublik mit ihren ande- mit der Auflösung sozialer Lebensschicksale
ren Traditionen und ihrem ganz verschiedenen verwechselt. Der Blick auf soziale Gruppen,
auf kollektive Lagen und Erfahrungen, wird
wieder frei. - Zweitens wird überhaupt - nicht
nur in der empirischen Forschung, sondern
auch in der Sozialtheorie, vielleicht auch wieder
in der Sozialgeschichte - am Alleinvertretungsanspruch der seit den 80er Jahren dominierenden kulturalistischen Perspektive auf Gesellschaft gezweifelt. So groß der Gewinn war,
Gesellschaft nicht nur über .soziale Ungleichheit', sondern ebenso über ,kulturelle Differenz' (zum Beispiel von ethnischen Gemeinschaften) zu verstehen, so deutlich wird auch
auf der politischen Linken inzwischen die
Rückbesinnung auf Kategorien der ökonomischen Lage und sozialen Ungleichheit gefordert. „Es sollte ein unumstößlicher Grundsatz
sein", formuliert etwa Nancy Fräser (2001: 14),
„dass kein ernsthaftes Nachfolgeprojekt für den
Sozialismus die Verpflichtung auf soziale
Gleichheit einfach zugunsten kultureller Differenz über Bord werfen kann".
43
sehkonsum, Erwerbsarbeit etc.), ohne dass diese sich irgendwie zu klassenspezifischen Verhaltensmustern aggregieren ließen -, schlägt
eine von Putnam herausgegebene Studie zum
internationalen Vergleich jüngst deutlich andere Töne an, so dass Putnam (2001: 787) selber
am Ende bilanziert: ,L>ie Besorgnis über die
Ungleichheiten - vor allem über wachsende
Ungleichheiten im Bereich des Sozialkapitals
- stellt den vielleicht wichtigsten gemeinsamen Faden dar, der sich durch die Länderstudien dieses Buches zieht".
Die Verteilung des Sozialkapitals aber hängt
nach den Befunden der Autorinnen und Autoren ganz maßgeblich von .klassischen' Verteilungsmechanismen ab: von der (ungleichen,
oder sogar zunehmend ungleichen) Verteilung
materieller Ressourcen wie Vermögen und Einkommen, nicht zuletzt auch von Bildung. Damit aber ist die Fähigkeit, Bindungen aufzubauen, sich in der und für die Gemeinschaft zu
Diese doppelte Neuorientierung auf .Gemein- engagieren, also ,Zivilgesellschaft' zu betreisinn' wie auf ,Ungleichheit' ist in unserem ben und zu stärken, wesentlich an die Position
Zusammenhang deshalb von so großer Bedeu- im Ungleichheitssystem - man könnte auch
tung, weil sie der Diskussion über die Zivilge- sagen: an die Klassenlage - gekoppelt. Wie
sellschaft, und von deren Nexus mit sozialer hat sich, so müsste man fragen, diese empiriUngleichheit, neue Perspektiven eröffnet. Die sche Korrelation von Klassenlage und Sozialüberwiegend von der quantitativen empirischen kapital in historischer Perspektive entwickelt?
Sozialforschung geprägte Forschung über so- Peter Hall hat für Großbritannien gezeigt, dass
ziale Ungleichheit verbindet sich auf diese Wei- sich die Differenzen zwischen der Mittelklasse auch konzeptionell mit der eher qualitativ- se und der Arbeiterklasse bezüglich Sozialkahermeneutischen, historischen und sozialtheo- pital und politischem Engagement seit den
retischen Forschung über Zivilgesellschaft, 1950er Jahren nicht verringert haben, sondern
Bürgerlichkeit und Gemeinschaftsbildung. sogar noch gewachsen sind: „Die beiden BeZwei aktuelle Beispiele können das illustrie- völkerungsgruppen, die in zunehmendem Maße
ren: Während in der schon erwähnten Unter- aus der Bürgergesellschaft ausgeschlossen und
suchung Robert Putnams über das amerikani- immer mehr marginalisiert werden, sind die
sche Bürgerengagement und Sozialkapital dem Arbeiterklasse und die Jugend" (Hall 2001:
Faktor,soziale Ungleichheit' und ,Klasse' noch 96). Und Theda Skocpol stellt für die USA
eine auffallend geringe Bedeutung beigemes- einen Wandel zu mehr .oligarchisch' geprägsen wurde - so, als sei die Verteilung von So- ten Strukturen der Bürgergesellschaft fest. In
zialkapital von einer Vielzahl von Einzelfakto- diesem neuen System werden reiche und geren des sozialen Verhaltens abhängig (Fern- bildete Amerikaner sehr viel stärker privile-
44 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
giert, als das in dem traditionellen bürgergesellschaftlichen System der „klassenübergreifenden Mitgliederverbände" der Fall gewesen
war (Skocpol 2001: 646f.).
Das zweite Beispiel ist Anthony Giddens' Versuch, die ,Frage der sozialen Ungleichheit' und
das Problem der Zivilgesellschaft in einen gemeinsamen sozialtheoretischen Rahmen zu
stellen (Giddens 2001). Giddens knüpft an die
erwähnten empirischen Forschungen über die
Zunahme sozialer Ungleichheit in den meisten
Industrieländern seit den 70er Jahren an und
versucht von hier aus, der wohlfahrtsstaatlichen Umverteilung wieder Aktualität zu geben. Aber die alte, ganz staatszentrierte Politik
der Gerechtigkeit hat sich für ihn überlebt; die
Zivilgesellschaft wird statt dessen zum zentralen Element seiner ,Politik des dritten Weges'.
Mit dem Begriff der ,sozialen Exklusion' verknüpft Giddens die scheinbar auseinanderstrebenden Perspektiven von Ungleichheit und
Gemeinschaftsbildung. Deshalb kann er nicht
nur die Marginalisierung der Armen, sondern
auch die ,Exklusion der Eliten', welche sich
von der übrigen Gesellschaft abkapseln und
sich aus dem zivilgesellschaftlichen Engagement zurückziehen, diagnostizieren.
Man müsste jetzt an einzelnen Beispielen weiter, und mit mehr empirischer Konkretion, entwickeln, wie sich solche Perspektiven in fruchtbare Denk- und Forschungransätze über das Verhältnis von Zivilgesellschaft und sozialer Ungleichheit umsetzen ließen. Nicht zuletzt müsste man versuchen, Dimensionen von Ungleichheit jenseits der ,Klassenfrage' mit einzubeziehen (konzeptionell wie empirisch), also
insbesondere die Geschlechterdifferenz und ethnisch-kulturelle Differenzierungen. Aber auch
innerhalb des klassischen Bezugsrahmens primär sozialökonomisch induzierter Ungleichheit
wären Einzelprobleme zu verfolgen, zum Beispiel - das soll hier noch kurz angedeutet wer-
Zivilgesellschaft und soziale Ungleichheit
Paul Nolte zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
45
in weit geringerem Ausmaß zur klassenüber- Fräser, Nancy 2001: Die halbierte Gerechtigkeit.
den - für das Bürgertum bzw. diezyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Mittelklasse.
greifenden Integration in der Lage, als das in Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats,
Man kann, wie auch die Überlegungen von JürFrankfurt/M.: Suhrkamp.
dem traditionellen Muster der Fall war.
gen Kocka zeigen, den Aufstieg der ZivilgesellGiddens, Anthony 2001: Die Frage der sozialen
schaft als normatives Projekt wie in der poliIn jedem Fall sollte deutlich geworden sein, Ungleichheit, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
tisch-sozialen Praxis in enger kausaler BezieHall, Peter 2001: Sozialkapital in Großbritannien.
wie lohnend die Frage nach dem Problemzuhung zum Aufstieg des Bürgertums deuten.
In: Robert D. Putnam (Hg.) 2001: Gesellschaft
sammenhang von Zivilgesellschaft und sozia- und Gemeinsinn: Sozialkapital im internationalen
Überspitzt gesagt, ist die Zivilgesellschaft seit
ler Ungleichheit gerade jetzt ist. Die größten Vergleich, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, 45dem 18. und frühen 19. Jahrhundert vor allem
Fortschritte bei den Antworten werden vermut- 113.
ein Projekt der Mittelklassen gewesen, das spälich dann erzielt werden können, wenn die Haskeil, Thomas L. 1985: Capitalism and the Oriter, zum Beispiel in der klassischen ArbeiterbeGrenzen herkömmlicher Perspektiven und Dis- gins of Humanitarian Sensibility. In: The Ameriwegung, sozial ,nach unten' verallgemeinert
ziplinen überschritten werden: dann, wenn em- can Historical Review, Vol. 90, 339-361, 437worden ist. Anthony Giddens hat darauf hingepirische Sozialforschung, Historische Sozial- 466.
wiesen, dass auch heute für ,soziale Belange'
wissenschaft und Gesellschaftstheorie ihre je- Kocka, Jürgen 2001: Zivilgesellschaft als historiund überhaupt für das Funktionieren einer Ziweiligen Erkenntnisse bündeln und gemein- sches Problem und Versprechen. In: Manfred Hilvilgesellschaft nicht so sehr die Reichen, sondermeier u.a. (Hg.), Zivilgesellschaft in Ost und
sam produktiv werden lassen.
dern vielmehr die ,lediglich Wohlhabenden' in
West, Frankfurt/M.: Campus, 13-39.
der Mitte der Gesellschaft, wo ökonomisches
Nelson, Benjamin 1969: The Idea of Usury: From
und soziales Kapital konvergieren, von zentraPaul Nolte ist Professor an der School of HuTribal Brotherhood to Universal Otherhood. Chiler Bedeutung sind (Giddens 2001:133).
manities and Social Sciences der International cago: University of Chicago Press.
University Bremen, p.nolte@iu-bremen.de zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONM
Nolte, Paul 2000: Die Ordnung der deutschen GeLässt sich daraus im Umkehrschluss ableiten,
sellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung
Anmerkung
im 20. Jahrhundert, München: C H . Beck.
Zivilgesellschaft ließe sich alleine mit einer
Nolte, Paul 2001: „Klingeln Sie bei Ihrem Nachbürgerlich und politisch engagierten MittelklasMan kann sogar noch einen Schritt weiter gehen barn!" Die Rückkehr der Gesellschaft: Wie bürse herstellen? Diese Frage gewinnt in den letzund hier eine unmittelbare Korrelation feststellen: gerliches Engagement und soziale Gerechtigkeit
ten Jahrzehnten in allen westlichen Ländern
DierigidereExklusion nach dichotomischen Prin- zusammengedacht werden können. In: Literatuauf unvermutete Weise an Brisanz. Die traditizipien beförderte bzw. ermöglichte die Verallge- ren, September 2001, 92-96.
onelle Arbeiterbewegungskultur, und mit ihr
meinerung von Rechten und Zugangschancen in Putnam, Robert D. 1999: Bowling Alone: The
die Unterschicht-Organisationen, die sich dem
der jeweils anderen Teilgruppe. So war in den Collapse and Revival of American Community.
bürgerlichen Modell der Zivilgesellschaft
USA die Durchsetzung des allgemeinen Wahl- New York: Simon & Schuster.
weithin angepasst hatten, lösen sich immer
rechts für weiße Männer am Beginn des 19. Jahr- Pumam, Robert D. (Hg.) 2001: Gesellschaft und
mehr auf bzw. verlieren an gesamtgesellschafthunderts eng mit dem endgültigen Ausschluss von Gemeinsinn: Sozialkapital im internationalen Verlicher Gestaltungskraft; neue Unterschichten
Frauen und Schwarzen verknüpft.
gleich, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.
jenseits der klassischen Industriearbeiterschaft
Rawls, John 1994: Eine Theorie der Gerechtigziehen sich aus Organisationen zurück und verkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Literatur
halten sich, wie der schichtenspezifische RückSen, Amartya 1983: Poverty and Famines: An Esgang der Wahlbeteiligung zeigt, politisch tenBöhnke, Petra 2001: Nothing Left to Lose? Po- say on Entitlement and Deprivation, Oxford: Oxdenziell indifferent oder apathisch. Andererseits
verty and Social Exclusion in Comparison: Empi- ford University Press.
sind die neuen Formen des Bürgerengagements,
rical Evidence on Germany, Berlin (WZB-Paper Sen, Amartya 2000: Ökonomie für den Menschen.
Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der
FS III 01-402).
die in den letzten Jahrzehnten gegenüber der
Bundesregierung 2001: Lebenslagen in Deutsch- Marktwirtschaft, München: Hanser.
klassischen Vereins-, Verbände- und Organisaland. Der erste Almuts- und Reichtumsbericht der Skocpol, Theda 2001: Das bürgergesellschaftliche
tionskultur an Bedeutung gewonnen haben
Amerika - gestern und heute. In: Robert D. PutBundesregierung, 2 Bde., Berlin.
(z.B. Bürgerinitiativen, Protestbewegungen), in
nam (Hg.) 2001: Gesellschaft und Gemeinsinn:
Ferguson,
Adam
1986:
Versuch
über
die
Geschichauffällig hohem Maße durch eine postbildungste der bürgerlichen Gesellschaft (1767). Frank- Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gübürgerliche Mittelklasse geprägt und vielfach
tersloh: Bertelsmann-Stiftung, 593-654.
furt/M.: Suhrkamp.
1
46 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Forschungsjournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003
Zivilgesellschaft und Staat in der Demokratie
Detlef Pollack zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
sich gegen Organisation und letztlich gegen
den Staat richtet. Der Staat brauche die zivilgesellschaftlichen Ressourcen auf. Das politische System habe sich „längst zu einem obrigkeitlichen Sicherheitsstaat ausgewachsen, der
immer wieder die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger einschränkt" (Roth 2002:
36). Der Staat wird als Barriere für die Entfaltung bürgerschaftlichen Engagements angesehen. Aber damit nicht genug. Statt die Entstehung einer Kultur des Bürgerengagements zu
blockieren, sollten staatliche Akteure die Entwicklung einer solchen Kultur ermöglichen.
Erste Voraussetzung dafür sei die Zurückhaltung des Staates: Nur wenn der Staat sich mehr
und mehr aus der Erfüllung gesellschaftlicher
Aufgaben zurückziehe, könne sich die Aktivitätsbereitschaft der Bürger entwickeln. Statt zu
intervenieren, zu dirigieren und zu bevormunden, solle der Staat Voraussetzungen für die
Vernetzung der unterschiedlichen Milieus des
Ehrenamtes und der Freiwilligen-Szene schaffen, die brach liegenden Ressourcen aufschließen und unterstützen und Nähe zum Bürger
herstellen.
Zivilgesellschaft und Staat in der Demokratie
Der Begriff der Zivilgesellschaft hat in den
letzten Jahren an Attraktivität gewonnen. Wurde er zunächst im westlichen Kontext vor allem von politisch links orientierten Denkern
zur Bezeichnung des radikal-demokratischen
Projekts der Ausweitung von politischen Partizipationsmöglichkeiten und im Kontext der
Diskussionen osteuropäischer Intellektueller als
normativ und utopisch angereicherter Begriff
zur Kennzeichnung der Zielvorstellungen von
staatsoppositionellen Gruppierungen gebraucht,
so wird er inzwischen auch von Vertretern des
Kommunitarismus zur Einklagung republikanischer Tugenden wie bürgerschaftliches Engagement, individuelle Verantwortungsübernahme, Gemein wohlorientierung oder Toleranz
benutzt. Ebenso verwenden ihn heute aber auch
konservativ eingestellte Intellektuelle, die den
Begriff einsetzen, um gegen den allgemeinen
Werteverfall Front zu machen. Er hat auf diese
Weise eine Bedeutungsvielfalt erlangt, die seine analytische Gebrauchsfähigkeit stark einschränkt.
bezogener Aufgaben sei, so kann man allenthalben lesen, eine unverzichtbare Voraussetzung für das Funktionieren des Sozialstaates
und der Demokratie (Münkler 2000: 24). Ohne
aktive Nutzung der Bürgerrechte und soziale
Teilhabe, ohne Bürgersinn und Gemeinwohlorientierung könne die Demokratie nicht überleben (Heuberger u.a. 2000: 3).
Demgegenüber wenden die engagiertesten Vertreter des bürgerschaftlichen Engagements ein,
dass das bürgerschaftliche Engagement, wenn
seine spezifische Substanz bewahrt werden soll,
nicht in seiner staatlichen, ökonomischen oder
organisatorischen Vemutzung aufgehen darf.
„Der Verdacht, dass Selbsthilfeaktivitäten und
ehrenamtliche Tätigkeiten von Parteien, Regierungen und Verwaltungen nur deshalb gefordert und gefördert werden, weil an anderer
Stelle Geld gespart werden soll", wäre „tödlich" für den Aufbau sozialen Kapitals (Offe
2002: 281). Das bürgerschaftliche Engagement
müsse voi seiner Instrumentalisierung durch
Organisationen geschützt werden. Eine solche
Eine Erklärung für die überraschende Renais- Argumentation verwundert, denn auf der einen
sance des Begriffs Zivilgesellschaft könnte man Seite soll der Staat das Bürgerengagement nicht
zunächst darin suchen, dass in der entwickel- instrumentalisieren, auf der anderen Seite aber
ten Moderne die Steuerungsfähigkeit des poli- werden die öffentlichen Aktivitäten engagiertischen Systems zurückgeht, der Sozialstaat an ter Bürger als notwendige Voraussetzung für
die Grenzen seiner Belastbarkeit gerät, der Ar- ein funktionierendes demokratisches Gemeinbeitsmarkt vor schier unlösbaren Problemen wesen herausgestellt. Offenbar soll zivilgesellsteht und die demokratischen Institutionen an schaftliches Engagement ebenso notwendig wie
Unterstützung und Legitimation verlieren. Bür- nicht instmmentalisierbar sein, also lediglich um
gerschaftliches Engagement, Ehrenamt, Bür- seiner selbst willen betrieben werden.
gerarbeit wären dann Aktivitäten, die notwendig sind, um die überforderten Institutionen zu Hinter dieser ethisch anspruchsvollen Arguentlasten. Die Bereitschaft zur Übernahme öf- mentation steht, wie Niklas Luhmann (1997:
fentlicher Verantwortung und gemeinschafts- 844f) scharfsichtig beobachtet, ein Impuls, der
Eine solche Haltung ist widersprüchlich, wird
doch der Staat zunächst als herrschaftliche Bevormundungsinstitution kritisiert, dann aber
sein Engagement als ,Ermöglichungsinstitution' eingefordert. Die Leistungen des Staates
werden so in Anspruch genommen und seine
Autorität gleichzeitig abgewehrt. Wenn man
den Staat heraushalten will - was guter liberaler Tradition des politischen Denkens entspricht -, dann kann man seine Aktivität nicht
im nächsten Moment wieder einfordern. Strukturen wirken restringierend und ermöglichend
zugleich. Wenn man einen ermöglichenden
Staat wünscht, dann wird man sich auch auf
die von ihm ausgehenden Restriktionen einlassen müssen. Das eine ist ohne das andere
nicht zu haben. Offenbar fungiert hier Zivilgesellschaft als Gegenbegriff zum Staat.
47
Lauter werden allerdings die Stimmen, die kein
Gegensatzverhältnis zwischen Zivilgesellschaft
und Staat bzw. Markt wahrnehmen wollen.
Warnfried Dettling (2000: 9) meint: „Die Idee
der Bürgergesellschaft steht gegen den Etatismus der einen wie gegen den Ökonomismus
der anderen, aber nicht in Konfrontation oder
als Antithese, sondern als Versuch, eine neue
Balance und Synergie herzustellen, welche die
Teilordnungen in ihren Potentialen stärkt und
zur Entfaltung bringt, ohne ihre Grenzen zu
missachten." Die Bürgergesellschaft brauche
auch einen handlungsfähigen Staat und eine
leistungsfähige Wirtschaft. Auch wenn nach
dem Ende der Blockkonfrontation die Möglichkeiten zum Entwurf utopischer und normativer Gesellschaftsmodelle so günstig wie
seit Jahrzehnten nicht sind, kann anscheinend
auch von Theorien der Zivilgesellschaft kaum
noch grundsätzliche Systemkritik erwartet werden (Beyme 2000: 62). Die normative Theorie
der Zivilgesellschaft hat sich teilweise so weit
an die politische Realität der Systeme angenähert, dass sie ihren normativen Impetus in starkem Maße verloren hat. Sie warnt davor, zeitund kontextlose Wahrheiten zu verkünden, kritisiert die ethische Engführung politischer Diskurse und betont, dass in pluralistischen Gesellschaften ein Interessenausgleich durch ethische Diskurse allein nicht zu erreichen sei.
Selbst bei Ulrich Beck sind, so Klaus von Beyme (2000: 62), die ,Gegengifte' gegen die technokratische Risikogesellschaft nur noch homöopathisch dosiert.
Obwohl die normativen Entwürfe des zivilgesellschaftlichen Diskurses ihren systemkritischen Biss großteils eingebüßt haben, geben
die Vertreter dieses Diskurses ihrezyxwvutsrqponm
Staats-,
markt- und systemkritische Einstellung jedoch
nicht auf. Sie lassen die systemkritische Perspektive in ihre Überlegungen über die Notwendigkeit zivilgesellschaftlichen Engagements für das Funktionieren des demokrati-
48
Detlef Pollack
Zivilgesellschaft und Staat in der Demokratie
zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
i
sehen Gemeinwesens einfließen, wenn auch
oft nur noch verschämt als Frage, ob denn in
dem Maße, wie die sozio-moralischen Gehalte
des Bürgersinns erodieren, die „partizipatorische Demokratie in der Oligarchie der Spezialisten und Berufspolitiker verschwinde"
(Münkler 2000: 23). Es handelt sich um einen
Normativismus mit schlechtem Gewissen, der
zwar an seinen Ursprungsimpulsen festhalten
will, aber sie auch halb schon aufgibt und sich
mit dem Anliegen begnügt, Staat und Wirtschaft nicht zu den allein dominierenden Kräften werden zu lassen. Mit der Übernahme des
Konzepts der Zivilgesellschaft hat sich insofern das „vielbelächelte späte Bekenntnis der
deutschen Linken zur Bonner Republik" vollzogen (Reese-Schäfer 2000: 76). Es ist dies
der Versuch der Selbstintegration in die bürgerliche Gesellschaft bei gleichzeitigem Bemühen darum, die Vorbehalte gegenüber eben
dieser Gesellschaft nicht preiszugeben.
Mit diesen Bemerkungen ist nun natürlich
nicht das Einklagen der weitgehend auf der
Strecke gebliebenen normativen Ansprüche
des zivilgesellschaftlichen Diskurses intendiert. Ebenso soll aber auch ein Denkgestus
vermieden werden, der beansprucht, es immer
schon besser gewusst zu haben, wie er etwa
in manchen Äußerungen Niklas Luhmanns
zu beobachten ist. Vielmehr geht es hier darum, zu einer Entpolarisierung der Positionen
beizutragen und zu fragen, ob der Zurücknahme des systemkritischen Impulses nicht
auch eine gewisse Logik innewohnt, die darauf gründet, dass die Verhältnisse eben nicht
nur beklagenswert sind, und ob auf dem halb
ungewollt eingeschlagenen Weg nicht weitergegangen und danach gesucht werden müsste, ein nicht-normatives Konzept von Zivilgesellschaft zu entwickeln, das analytisch für
die sozialwissenschaftliche Arbeit fruchtbar
gemacht werden kann.
\im Namen desEigannuttes!
49
vorgeschlagenen Definition eine gesellschaftliche Sphäre jenseits des Staates, aber nicht
jenseits des Politischen - insofern das Politi(1) Was ist Zivilgesellschaft, wenn man dar- sche das Öffentliche bezeichnet - gemeint.
auf verzichten will, sie normativ zu defi- Während der Staat eine Sozialbeziehung darstellt, die durch die geregelte und als rechtmänieren?
(2) Worin könnten ihre Funktionen bestehen, ßig anerkannte Möglichkeit der Einflussnahwenn man den ethischen Anspruch auf ihre me der Herrschenden auf die Beherrschten Notwendigkeit und ihre gleichzeitige Nicht- bis hin zur Möglichkeit des legitimen Gebrauchs physischer Gewalt - gekennzeichnet
instrumentalisierbarkeit vermeiden will?
(3) Worin bestehen die Bedingungen ihrer Mög- ist, üben zivilgesellschaftliche Assoziationen
lichkeit, wenn man dem Widerspruch ent- keine politische Macht aus. Die Grundfunktikommen will, sowohl den Rückzug des Staa- on des politischen Systems besteht in der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheiduntes als auch sein Engagement zu fordern? zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPON
gen und ihrer gesellschaftlichen Durchsetzung.
Demgegenüber versuchen zivilgesellschaftliche
1
Was ist Zivügesellschaft?
Organisationen, Gruppen und Gemeinschaften
Unter Aufnahme unterschiedlicher Traditions- weder für die gesamte Gesellschaft verbindlilinien der Begriffsgeschichte soll hier ein nicht che Entscheidungen zu treffen noch ihre Impnormativ aufgeladener Definitionsvorschlag lementation zu erzwingen. Insofern sind sie
von Zivilgesellschaft unterbreitet werden. Un- frei von staatlicher Macht. Sie stehen der Macht
ter civil society sei hier verstanden die Ge- des Staates gegenüber und sind in diesem Sinsamtheit der öffentlichen Assoziationen, Ver- ne autonom. Das heißt freilich nicht, dass sich
einigungen, Bewegungen und Verbände, in de- die Kommunikation in den zivilgesellschaftlinen sich Bürger auf freiwilliger Basis versam- chen Vereinigungen herrschaftsfrei vollzieht.
meln. Diese Assoziationen befinden sich im In jeder Kommunikation, auch in der ZivilgeRaum der Öffentlichkeit und stehen prinzipiell sellschaft, wird Macht ausgeübt und Gegenjedem offen. Die in ihnen sich engagierenden macht provoziert. Aber die Akteure der ZivilBürger verfolgen nicht lediglich ihre persönli- gesellschaft verfügen nicht über die Möglichchen Interessen und handeln in der Regel koo- keit, verbindliche Entscheidungen herzustelperativ. Neben den bezeichneten Organisatio- len, um damit politische Macht auszuüben.
nen und Assoziationen gehört auch ungebun- Allenfalls besitzen sie Einfluss. Diesen köndenes Engagement zum zivilgesellschaftlichen nen sie aber nur indirekt innerhalb des Staates
Bereich, sofern es sich ebenfalls durch Frei- geltend machen. Auch wenn Staat und Zivilwilligkeit, Öffentlichkeit, Gemeinschaftlichkeit gesellschaft durch die Möglichkeit zur Prosowie die Transzendierung privater Interessen duktion kollektiv verbindlicher Entscheidunauszeichnet. Formen ungebundenen zivilgesell- gen voneinander unterschieden sind, gibt es
schaftlichen Engagements sind zum Beispiel zwischen beiden fließende Übergänge. ParteiDemonstrationen, Streiks, Petitionen, Boykott- en zum Beispiel gehören, sofern sie keinen
Zwangs- und Monopolcharakter haben, der Zimaßnahmen usw.
vilgesellschaft an, sofern sie an der Produktion gesamtgesellschaftlich verbindlicher EntMit diesem Defmitionsvorschlag soll eine Abscheidungen beteiligt sind, aber auch dem pogrenzung nach mehreren Seiten hin vorgenomlitischen System (Welzel 1999: 210).
men werden. Mit Zivilgesellschaft ist in der
Im Folgenden wollen wir uns daher mit drei
Fragen auseinandersetzen:
50 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA Detlef Pollack zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Zivilgesellschaft und Staat in der Demokratie
Mit der gegebenen Definition ist Zivilgesellschaft auch vom ökonomischen Markt und von
der Familie abgegrenzt. Vom Markt ist sie
dadurch unterschieden, dass sich ihre Akteure
die Resultate ihrer Arbeit nicht privat aneignen, von der Familie dadurch, dass ihre Aktivitäten prinzipiell jedem zugänglich sind und
in der Öffentlichkeit stattfinden. Aber auch hier
sind die Übergänge fließend. So ziehen die
Mitglieder zivilgesellschaftlicher Assoziationen
aus ihren Aktivitäten häufig auch persönlichen
materiellen Gewinn und verfolgen in ihnen auch
persönliche Interessen. Allerdings nicht ausschließlich. Andernfalls müsste man sie aus dem
definierten Gegenstandsbereich exkludieren.
Wenn die Zivilgesellschaft von der politischen
Macht und vom ökonomischen Markt getrennt
ist, dann kann sie nicht die Gesellschaft im
Ganzen repräsentieren. Die Zivilgesellschaft
ist nicht das sich selbst organisierende Steuerungszentrum der Gesellschaft, in welchem sich
die Strahlen der Gesellschaft im Ganzen bündeln, so wie es Rödel, Frankenberg und Dubiel (1989: 103, 162) unterstellen, die die Zivilgesellschaft als das Projekt einer sich selbst
regierenden Bürgergesellschaft verstehen. Das
kann sie nicht sein, da sie vom Staat getrennt
ist. Die Zivilgesellschaft tritt daher auch nicht
an die Stelle des Staates oder der Wirtschaft
oder des Rechts oder anderer gesellschaftlicher Großsubjekte, sondern steht diesen gegenüber. Sie ist ein Teil der Gesellschaft, aber
vermag nicht das Ganze widerzuspiegeln oder
zu vertreten, obschon sie ein Ort der kritischen
gesellschaftlichen Reflexion ist, allerdings nun
auch wieder nicht ein privilegierter Ort der
gesellschaftlichen Selbstbeobachtung, an dem
das „reflexive Wissen der Gesamtgesellschaft"
zu sich selbst kommt, wie Habermas (1985:
418) behauptet. Eine solche Vorstellung würde
die Reflexionsfähigkeit von staatlichen Organisationen, Bürokratien und dem Rechtssystem unterschätzen.
Bei einer genaueren Betrachtung der oben gegebenen Definition der Zivilgesellschaft fällt
auf, dass in ihr der Bezug auf das Gemeinwohl, auf öffentliche Güter bzw. Kollektivgüter, der oft als Definitionsmerkmal angegeben
wird, fehlt. Der Grund dafür liegt darin, dass
viele Assoziationen und Initiativen, die zweifellos zur Sphäre der Zivilgesellschaft gehören, weitaus weniger weitreichende Ziele als
die Herstellung von Kollektivgütem, von deren Genuss niemand ausgeschlossen werden
kann, verfolgen. Zu denken ist dabei zum Beispiel an Stadtteilinitiativen oder Selbsthilfegruppen, die sich auf Grund eines sie persönlich betreffenden Problems zusammengefunden haben und sich bei der Lösung dieses Problems gegenseitig helfen wollen, oder an die
Organisation von Schul- oder Betriebsfesten,
die viele ausschließen und gleichwohl auf einem niedrigeren Niveau gemeinschaftsstiftend
wirken. Denken kann man in diesem Zusammenhang etwa auch an die Aktivitäten der Freiwilligen Feuerwehr, die natürlich eine gemeinnützige Aufgabe erfüllt, die aber gleichzeitig
ein Umschlagplatz für karriererelevante Informationen, Geschäfte, nützliche Kontakte und
kleinstädtische Angelegenheiten sein kann
(Offe 2002: 277). Selbst der Protest gegen den
Ausbau eines Flughafens oder die Einrichtung
eines Atommüllendlagers muss nicht unbedingt
gemeinwohlmotiviert sein, auch wenn er sich
natürlich in der Regel als gemeinwohiorientiert anbietet. In ihm kann es einem auch
lediglich um die Bewahrung seiner persönlichen Ruhe und Sicherheit am eigenen Wohnort gehen. Ob der Flughafen oder das Atommülllager woanders gebaut werden, ist einem
vielleicht ziemlich egal. Die hier vorgenommene Bestimmung des Begriffs der Zivilgesellschaft schlägt vor, auf die Angabe von allgemeingültigen kollektiven Zielen als Definitionsmerkmal von Zivilgesellschaft zu verzichten und sich stattdessen mit einer negativen
Bestimmung zu begnügen: Die zivilgesell-
schaftlichen Aktivitäten dürfen nicht ausschließlich auf die Verfolgung individueller Interessen orientiert sein. Wo dies nachweisbar
ist, können sie nicht zur Zivilgesellschaft gezählt werden.
1
Wenn die zivilgesellschaftlichen Akteure nicht
auf ein allgemein verbindliches Ziel oder Kollektivgut festgelegt werden können, dann ist
die Zivilgesellschaft prinzipiell pluralistisch
strukturiert. Aufgrund des Fehlens eines alle
verbindenden Wertes oder Zielpunktes ist die
Vielfalt von Vereinigungen, informellen Gruppen, Assoziationen und Kommunikationsforen
innerhalb der Zivilgesellschaft unvermeidbar.
Die Zivilgesellschaft ist keine handlungsfähige Einheit, kein kollektiver Akteur, sie hat kein
Zentrum und lässt sich nicht zentral steuern.
Vielmehr können sich im Raum der Zivilgesellschaft stets unterschiedliche soziale und
politische Interessen und auch unterschiedliche Bestimmungen dessen, was allgemein gültig sein soll und als Kollektivgut angestrebt
werden sollte, artikulieren. Konflikte, Auseinandersetzungen, Diskussionen, Spannungen
sind also das Normale, nicht die Ausnahme.
Zivilgesellschaftliche Organisationen und Zusammenschlüsse sind partikular, auch wenn sie
sich auf universelle Werte beziehen, ja, sie stehen sogar in der Gefahr, umso partikularistischer zu sein, je höher ihr Universalitätsanspruch ist. Das schließt natürlich nicht aus,
dass es innerhalb de Zivilgesellschaft immer
wieder auch zu Kooperationen, zu Solidarität,
Netzwerkbildungen und wechselseitiger Unterstützung oder auch zur Akzeptanz gemeinsamer Werte kommt. Aber typisch für die Zivilgesellschaft sind die Konkurrenz, der Streit
der Interessen, Ideen und Meinungen, nicht
der Konsens. Abgelehnt ist damit eine Vorstellung von Zivilgesellschaft, die diese als ein
harmonisches Ganzes, das auf solidarischen
Anerkennungsverhältnissen beruht, konzeptualisiert, wie dies teilweise im Kommunitaris1-
51
mus der Fall ist (Kneer 1997: 241). Der Zivilgesellschaft fehlt die Instanz, die kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen und soziale
Übereinstimmung herstellen könnte.
Besitzt die Zivilgesellschaft kein einheitliches
Ziel, kann sie auch nicht sagen, was eigentlich
sein soll. Sie ist kein einheitliches normatives
Projekt. Vielmehr werden in ihrem Raum die
unterschiedlichsten Normen vertreten, was ihre
allgemeinverbindliche normative Wirkung einschränkt. Zwar drückt sich in ihren Aktivitäten
auch ein Misstrauen gegenüber den Selbstorganisationskräften des freien Marktes und den
in ihm vorausgesetzten atomisierten Individuen aus. Zivilgesellschaftliches Engagement ist
mehr als Kalkülrationalität und strategische Interessenverfolgung. Worin dieses Mehr jedoch
besteht, lässt sich verbindlich nicht festlegen.
Nicht einmal die Erwartung, dass es zu den
Pflichten des Bürgers gehören sollte, sich zu
engagieren und bürgerschaftliche Verantwortung zu übernehmen, kann als Norm formuliert werden, denn das hieße, Zwang auf den
Einzelnen auszuüben und den freiwilligen Charakter des bürgerschaftlichen Engagements zu
verletzen. Wohl aber kann gesagt werden, dass
nur der zur Zivilgesellschaft gehört, der sich
bürgerschaftlich engagiert. Zwischen Bürgergesellschaft, von der aufgrund der Gewährleistung liberaler Grund- und Freiheitsrechte
kein Bürger ausgeschlossen werden kann, und
Zivilgesellschaft wäre dementsprechend zu unterscheiden. Insofern ist es falsch, wenn Croissant u.a. (2000: 42, Anm. 5) behaupten, dass
Zivilgesellschaft normativ definiert werden
muss, um sie von Gesellschaft schlechthin unterscheiden zu können.
Gehören aber alle, die sich politisch, sozial
und kulturell engagieren, zur Zivilgesellschaft,
auch diejenigen, die Konflikte schüren, Gewalt anwenden, Andersdenkende und Fremde
52 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
ausgrenzen und Menschenrechte und Gleichheitsprinzipien verletzen? Wie steht es mit Formen der Korruption, des Klientelismus und
mafiosen Netzwerkstrukturen, die zweifellos
ein kollektives Moment in sich tragen, aber
der Allgemeinheit eher Schaden zufügen? Oder
mit ethnischen Gemeinschaften, religiös fundamentalistischen Gruppierungen oder rechtsextremistischen Organisationen? Roland Roth
(2002) spricht von den ,dunklen Seiten' der
Zivilgesellschaft. Putnam (1993) unterscheidet zwischen ,bridging' und ,bonding social
capital'. Während das erste bestehende soziale
Grenzen überbrückt, richtet das andere Grenzen auf und befestigt sie durch Ansprüche auf
Exklusivität. Habermas (1992) schließt aus dem
zivilgesellschaftlichen Bereich Gruppierungen
und Organisationen aus, die an vorgegebene
Identitäten anschließen. Und in der Tat ist damit die Frage bezeichnet, der wir uns stellen
müssen: ob Exklusivität beanspruchende, fundamentalistische, ethnisch zentrierte, gewaltbereite, konfliktschürende, das Gleichheitsprinzip verneinende Gruppen aus dem Bereich der
Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden müssen oder nicht. Meine Antwort lautet zunächst:
Nein, denn die Grenzen zwischen exklusiven
und inklusiven, zwischen gemeinschaftsbefördemden und konfliktproduzierenden, zwischen
Gleichheit bejahenden und Gleichheit verneinenden Gruppen sind nicht immer streng zu
ziehen. Gleichwohl könnte es sinnvoll sein, zwischen zentrischen Gruppen - d=.nen die Fähigkeit fehlt, das eigene Herkommen zu reflektieren, in einen weiteren Kontext zu stellen und
damit zu relativieren - und azentrischen Gruppen, die diese Fähigkeit besitzen, zu unterscheiden (Plessner 1975: 291ff.). Ob zentrische Gruppierungen nicht zur Zivilgesellschaft gehören,
möchte ich aus dem oben bereits erwähnten
Grund der fließenden Übergänge zwischen den
beiden Gruppentypen hier offenlassen. Wenn
aber diese Unterscheidung aufgenommen wird,
wäre dies eine Möglichkeit, festzuhalten, dass
Zivilgesellschaft und Staat in der Demokratie
Detlef Pollack zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
53
hängig ist, etwa dem wirtschaftlichen Wohl- ob es für den Bereich der Zivilgesellschaft ein
zur Zivilgesellschaft die Fähigkeit zur Selbstrefahrtsniveau, der Funktionalität des politischen funktionales Bezugsproblem gibt, auf das alle
lativierung, zur Toleranz, zur Anerkennung des
Institutionensystems, der Effektivität des Han- ihre Aktivitäten bezogen sind und das ihr insoanderen als gleichwertig und damit ein inklusidelns der politischen Eliten, der Verfügbarkeit fern ihre funktionale Einheit gibt. Dies scheint
ves Demokratieverständnis gehört. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
von politischen Alternativen, so dass die zivil- nicht der Fall zu sein, was wohl auch damit
gesellschaftlichen Strukturen nicht als hinrei- zusammenhängt, dass die Zivilgesellschaft kei2
Funktionen der Zivilgesellschaft
chende Voraussetzung für die Konsolidierung nen systemischen, also durch klare Grenzen
der Demokratie angesehen werden können. bezeichneten Charakter hat. Allerdings lässt
Auf die Frage nach den Funktionen der ZivilEbenso ist zu konstatieren, dass das Vorhan- sich für einen Großteil der zivilgesellschaftligesellschaft wird in der Tradition von de Tocdensein einer Zivilgesellschaft noch nicht auto- chen Organisationen und Assoziationen sowie
queville, Max Weber, Almond und Verba und
matisch auch die Entstehung demokratischer In- des ungebundenen zivilgesellschaftlichen Enden Klassikern der Pluralismustheorie (Fraenstitutionen zur Folge hat. Die Zivilgesellschaft gagements ein Bezugsproblem ausfindig makel) häufig durch den Hinweis auf ihre Unververmochte die Machtergreifung des Faschismus chen, das diese beschäftigt: das Problem des
zichtbarkeit für das Funktionieren der Demoweder in Deutschland noch in Italien zu verhin- Verhältnisses von Bürger und Staat. Im Verkratie geantwortet. Ohne die kulturelle Unterdern, und auch in Schweden wurde trotz seiner hältnis zwischen Bürger und Staat erfüllt die
stützung der Demokratie, ohne Partizipation
zivilgesellschaftlichen Infrastruktur die Demo- Zivilgesellschaft eine nach beiden Seiten hin
an den demokratischen Institutionen, ohne die
vermittelnde Funktion. Sie nimmt im Sinne
kratie erst vergleichsweise spät eingeführt.
Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme im
von Habermas (1992: 443) gesellschaftliche
demokratischen Gemeinwesen, ohne Vertrauen in die gesellschaftlichen Institutionen und
Wenn also die Unverzichtbarkeit der Zivilge- Problemlagen aus den privaten LebensbereiKooperation mit ihnen würde der Demokratie
sellschaft für die Stabilisierung und Konsoli- chen auf, kondensiert, diskutiert und verstärkt
das kulturelle Fundament fehlen und die Stadierung der Demokratie noch nicht nachge- sie in der Öffentlichkeit und leitet sie an die
bilität der Demokratie bedroht sein. Gern bewiesen ist, so ist doch weithin unbestritten, entsprechenden Kanäle des politischen Syszieht man sich in diesem Zusammenhang auf
dass das Vorhandensein zivilgesellschaftlicher tems weiter. Insofern gibt sie einen Input in
Putnam (1993), der für Italien die AbhängigInstitutionen, Verbände, Vereine und Assozia- die Prozesse der Politikgestaltung und der pokeit einer effizienten Regierung und Verwaltionen sowie die Ausbildung von Kooperati- litischen Entscheidungsfindung. Gleichzeitig
tung und einer florierenden Marktökonomie
onsbereitschaft und institutionellem Vertrauen trägt die Zivilgesellschaft mit ihren leistungsvon dem Ausbildungsgrad zivilgesellschaftliauf die Arbeit des politischen Systems eine starken Verbänden und Dienstleistungsorganicher Strukturen aufgewiesen habe. Jackman
positive Wirkung ausüben. Anheier, Priller und sationen aber auch zur Politikimplementation
und Miller (1996) machen gegen Putnam jeZimmer (2000: 72) sprechen in diesem Zu- bei und übernimmt damit auch Funktionen auf
doch geltend, dass dieser Zusammenhang nur
sammenhang von der Partizipations-, Integra- der output-Seite des politischen Systems (Annachzuweisen ist, wenn die zivilgesellschaftlitions-, Sozialisations- und Interessenartikula- heier u.a. 2000: 77). Man könnte die Vermittchen Einflüsse als ein Faktor behandelt wertionsfunktion. Croissant, Lauth und Merkel lungsfunktion in eine input-bezogene Sensorenden. Löst man sie dagegen in einzelne Variab(2000: l l f f ) machen eine Schutz-, Vermitt- und eine output-bezogene Implementationslen auf und untersucht man den Einfluss der
lungs-, Sozialisierungs-, Gemeinschafts- und funktion unterteilen und die naheliegende Theeinzelnen Variablen auf das Funktionieren von
Kommunikationsftmktion aus. Man könnte se aufstellen, dass das politische System wahrVerwaltung und Regierungshandeln, so
weitere Funktionen, zum Beispiel eine Kritik- scheinlich umso implementierungs- und durchschwächt sich der Zusammenhang ab. Tatsächund Widerspruchs- oder eine Sensibilisierungs- setzungsfähiger ist, je sozial sensibler und relich ist ein schlüssiger Nachweis für die Unftmktion, benennen. Gewiss ist es aber nicht sponsiver es ist.
verzichtbarkeit zivilgesellschaftlicher und sosinnvoll, die Liste möglicher Funktionserfülziokultureller Unterstützungsstrukturen für das
lungen durch weitere zu ergänzen und nach Man muss allerdings einräumen, dass mit der
Funktionieren der Demokratie noch nicht ernoch nicht erfassten Funktionen Ausschau zu Angabe der Vermittlungsfunktion nicht alle zibracht. Vielmehr muss gefragt werden, ob die
halten. Vielmehr dürfte es für eine genauere vilgesellschaftlichen Assoziationen und InitiaStabilität der Demokratie nicht von einer VielBestimmung der Funktionen der Zivilgesell- tiven erfasst sind, da viele von ihnen nicht auf
zahl nicht-zivilgesellschaftlicher Faktoren abschaft weiterführender sein, danach zu fragen, das politische System wirken, sondern zum
[
54 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA Detlef Pollack zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
j
Zivilgesellschaft und Staat in der Demokratie
55
Die sozialstrukturelle Verteilung des zivilgesellschaftlichen Engagements gibt einen weiteren Hinweis auf seine Entstehungsursachen.
Unter den Engagierten sind Höhergebildete,
Vollzeitbeschäftigte und Männer mittleren Alters überrepräsentiert, während sich Geringerqualifizierte, Arbeitslose und Jugendliche unterdurchschnittlich häufig engagieren (Agricola 1997; Braun 1997: 53; Otte 1998; Brömme/
Strasser 2001: 10). Es sind nicht vorrangig
Um die Funktionsanalyse der Zivilgesellschaft,
diejenigen, die in besonderen Notsituationen
also die Erforschung des Zusammenhanges von
in besonderen Deprivationssituationen steund
Zivilgesellschaft und demokratischem politihen, die sich engagieren. Vielmehr sind es
schen System, weiter voranzutreiben, scheint
Merkmale wie materielle Sicherheit, geselles erforderlich zu sein, die Mechanismen der
schaftliche Integration oder soziale Anerkenwechselseitigen Beeinflussung genauer zu unnung,
die die Wahrscheinlichkeit bürgerschaftDie
Gegenprobe
zu
der
häufig
geäußerten
Thetersuchen. Solche Mechanismen könnten zum
se, dass der Staat sich zurückhalten müsse, um lichen Engagements steigern. Verbandliche ParBeispiel sein: die Art der Rekrutierung politibürgerschaftliches Engagement nicht zu ver- tizipation ist insofern nicht ein Ersatz für manscher Eliten aus dem Bereich der Zivilgesellhindern, liefern die skandinavischen Wohl- gelnde gesellschaftliche Integration (Braun
schaft, Netzwerkstrukturen, Agendasetting oder
fahrtsgesellschaften (Joas 2001: 16). Bei ih- 2001: 4). Die Quellen bürgerschaftlichen Enauch Vertrauensbildung. In diesem Zusammennen handelt es sich zweifellos um Staaten, die gagements liegen nicht in der Krise der Gehang müsste dann auch untersucht werden, von
sich für die Durchsetzung des Gemeinwohls sellschaft, sondern vor allem in der Gewährwelchen Faktoren die wechselseitige Beeineinsetzen, in denen aber gleichwohl die Vitali- leistung eines gewissen materiellen Wohlfahrtsflussbarkeit abhängt und worin mögliche Bartät der Bürgergesellschaft dadurch nicht unter- niveaus.
rieren liegen. Eine mögliche Barriere für die
miniert wird. Die einleuchtende These, dass
Responsivität des Staates gegenüber zivilgeder Staat durch eine zu hohe Interventionsbe- Das trifft allerdings nur auf moderne Wohlsellschaftlichen Vereinigungen könnte zum
reitschaft das Engagement der Bürger zurück- standsgesellschaften zu. Zwar gilt, so CroisBeispiel darin liegen, dass diese Vereinigundränge, muss also wohl relativiert werden. Die sant, Lauth und Merkel (2000: 27), internatiogenfinanziellzu stark vom Staat abhängig sind,
Finanzierung der Organisationen des sogenann- nal im großen und ganzen, dass sich ein wachso dass ihnen eine glaubhafte exit-Option nicht
ten Dritten Sektors erfolgt in Deutschland zu sender Differenzierungsgrad in gesellschaftlizur Verfügung steht. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
knapp zwei Dritteln aus dem Staatshaushalt che Pluralisierung umsetzt und zivilgesell(Bericht 2002: 31). Ohne die staatliche Unter- schaftlichen Gruppen bessere Entfaltungs- und
3
Ausbildung zivilgesellschaftlicher
stützung würde die in den Verbänden und Ver- Einflussmöglichkeiten bietet. In einigen FälStrukturen
einen
geleistete Arbeit zusammenbrechen. len konvergiert die Entstehung und Gründung
Im übrigen sollte man an dem eindeutig posiÜbrigens werden auch 60% der karitativen von zivilgesellschaftlichen Gruppierungen aber
tiven Zusammenhang zwischen Demokratie Die Frage, der abschließend nachgegangen
Leistungen der Kirchen in den USA vom Staat auch mit Entwicklungsblockaden und sozialen
und Zivilgesellschaft durchaus Zweifel hegen, werden soll, lautet: Welche Umstände beförbezahlt (Monsma 2000: 99). Auch wenn das Krisen, so etwa in einigen Ländern Afrikas
und zwar nicht nur, weil die Zivilgesellschaft dern die Entstehung von FreiwilligenorganisabürgerschaftHche Engagement gering sein soll- und Zentral- und Lateinamerikas (Croissant/
auch mit antidemokratischen Elementen durch- tionen, bürgerschaftlichem Engagement und
te, muss dies also nicht mit den staatlichen Lauth/Merkel 2000: 28). Dort operieren die
setzt sein kann (Lauth 1999), sondern weil - Ehrenamt und welche Rolle spielt der Staat
Unterstützungsleistungen zusammenhängen. Selbsthilfe- und Nachbarschaftsorganisationen
wie Almond und Verba sowie Huntington dabei? Ist es richtig, wie oft behauptet wird,
Im Gegenteil: Zivilgesellschaftliche Gruppen oft als funktionaler Staatsersatz und gewinnen
bereits in den sechziger Jahren herausstellten dass sich die Zivilgesellschaft um so eher entund Organisationen profitieren von den staat- aufgrund des Staatsversagens soziale Legiti- überbordendes Bürgerengagement die for- wickeln kann, je geringer die Einfluss- und
lichen Strukturen, können sich an sie anlagern mität. Allerdings dürfte es wohl kaum berechmalen Institutionen der Demokratie überlasten Gestaltungsmöglichkeiten des Staates sind?
und
werden vom Staat finanziell unterstützt.
tigt sein zu behaupten, dass die Wahrscheinund damit zur Destabilisierung des politischen Stellt die Zurückhaltung des Staates eine günsBeispiel lediglich Geselligkeits- und Gemeinschaftsfunktionen erfüllen. Insofern scheint es
sinnvoll zu sein, zwischen einer politischen
und einer vorpolitischen Zivilgesellschaft zu
unterscheiden. Während der politischen Sphäre der Zivilgesellschaft die beschriebene Vermittlungsfunktion zukommt, nimmt die vorpolitische Sphäre der Zivilgesellschaft äußerst
unterschiedliche Funktionen wahr, zum Beispiel Funktionen der musischen und künstlerischen Erziehung, der Körperertüchtigung, der
Altenpflege, der religiösen Kommunikation, der
Geselligkeit usw. Für den vorpolitischen Bereich scheint es schwer zu sein, eine spezifische Funktion für die Zivilgesellschaft ausfindig zu machen, die für alle ihre Aktivitäten
typisch ist. Charakteristisch für diesen Bereich
ist es offenbar vielmehr, dass sich die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten kompensatorisch an
die Erfüllung der Funktionen gesellschaftlicher
Teilsysteme wie Kunst, Musik, Erziehung,
Sport, Religion anlagern und mit den unterschiedlichen Kernfunktionen diffundieren. Insofern nimmt die Zivilgesellschaft in der Tat
eine integrative Funktion wahr, wenn man auch
sehen muss, dass moderne Gesellschaften auch
andere, möglicherweise effektivere Formen der
Integration bereithalten: wie etwa das Recht,
die Anhebung des allgemeinen Wohlstandsniveaus, Chancen der geographischen und beruflichen Mobilität oder auch ihre Protest entmutigende Altemativenlosigkeit.
Regimes beitragen kann (Welzel 1999: 209).
Bürgerschaftliche Inaktivität kann ein Ausdruck
von Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der demokratischen Institutionen sein, auch wenn
gewöhnlich eine höhere soziale und politische
Engagementsbereitschaft mit einem höheren
Vertrauen in die politischen Institutionen einhergeht (Gabriel 2002: 154).
tige Voraussetzung für ihre Stärkung dar? Die
USA scheinen ein gutes Beispiel zu sein, um
die These vom schwachen Staat bei starkem
bürgerschaftlichen Engagement zu belegen.
Wie die verwahrlosten und armen Stadtbezirke in den USA zeigen, lässt die Schwäche des
Wohlfahrtsstaates jedoch nicht automatisch
bürgerschaftliches - Engagement anschwellen
(Joas 2001: 16). Karitative Bemühungen, politisches Engagement und zivilgesellschaftliche
Selbsthilfe können trotz der Selbstbeschränkung des Staates auch ausbleiben. Das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft ist kein
Nullsummenspiel.
56 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
lichkeit der Herausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen um so höher ist, je größer die
gesellschaftlichen Probleme sind. Gesellschaftliche Probleme, Restriktionen und Krisen setzen sich nicht unmittelbar in gesellschaftliches
Engagement um. Notwendig ist ebenso das
Vorhandensein materieller und ideeller Ressourcen wie Geld, Bildung oder Zeit.
Zivilgesellschaft und Staat in der Demokratie
Detlef Pollack zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Wertvermittlungsprozesse sind entscheidend
für die Entstehung bürgerschaftlichen Engagements. Wichtig kann auch das Vorhandensein
von gesellschaftlichen Anreizstrukturen sein.
In dem Maße, in dem die Gesellschaft Möglichkeiten zu eigenverantwortlicher Gestaltung
und zur Verantwortungsübernahme bereitstellt,
finden sich einzelne häufig bereit, die ihnen
zugemuteten Aufgaben zu erfüllen. In der
Chancen- und Anforderungsstruktur liegt eine
sozialisierende Kraft, die den Einzelnen zu fördern und zu fordern vermag.
Aber auch die Fähigkeit, die eigene Situation
als krisenhaft zu deuten, die Verantwortlichen
für die Missstände ausfindig zu machen und
Wege zur Bewältigung der Probleme zu erkennen, hat einen Einfluss auf die Engagementbe- Damit sind wichtige Bedingungen der Mögreitschaft. Um auf Probleme reagieren zu kön- lichkeit bürgerschaftlichen Engagements benen, muss die Situation des eigenen Handelns nannt. Man wird festhalten müssen, dass die
gedeutet und begriffen werden. Empirische Bedingungen der Möglichkeit zivilgesellschaftUntersuchungen haben darüber hinaus gezeigt, lichen Engagements relativ komplex sind. Seidass die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen ne Wahrscheinlichkeit wächst nicht automaEngagement mit dem Maß der sozialen Inte- tisch mit dem Ausmaß an sozialen, politischen
gration in Familie, Nachbarschaft und Freun- oder ökonomischen Problemen, die sein Aufdeskreis wächst. Außerdem haben zweifellos kommen wünschenswert erscheinen lassen.
die sozialisatorischen Erfahrungen, die das In- Vielmehr müssen für die Entstehung zivilgedividuum in seiner Herkunftsfamilie gemacht sellschaftlicher Aktivitäten Ressourcen an Zeit,
hat, einen prägenden Einfluss auf die Bereit- Geld und Bildung verfügbar sein, die es erlauschaft zum bürgerschaftlichen EngaAlternativen
SOZIALE SITUATION:
Opportunitäten
gement. Wenn MenRestriktionen
schen in stabilen familiären Ordnungsstrukturen, in einer
Atmosphäre intensiSituationsdeutung
ver emotionaler Zuwendung aufwachsen, können Bezugspersonen Vörbildfunktionen erfüllen
und auf diese Weise
Wertbindungen erAkteur
Bürgerschaftliches
fahrbar
machen
• Ressourcen (Geld, Bildung,
Zeit,...)
(Klages 2001: 13).
Engagement
• soziale Integration
Aber nicht nur diese,
• Sozialisationserfahrungen
sozialisatorischen
Prägungen
und
1
1
1
ben, auf die Probleme angemessen zu reagieren. Ebenso erhöht sich ihre Entstehenswahrscheinlichkeit, wenn der Einzelne sozial integriert und in soziale Netzwerke eingebettet ist
und wenn zivilgesellschaftliche Werte wie Toleranz, Kompromissbereitschaft, Achtung vor
dem andern oder Fairnis über die Sozialisation
in der Herkunftsfamilie frühzeitig verinnerlicht
und durch Vorbilder aus dem sozialen Nahbereich bestätigt wurden. Aber auch wenn günstige individuelle Voraussetzungen für die Ausbildung zivilgesellschaftlicher Verhaltensweisen gegeben sind, bildet sich bürgerschaftliches Engagement noch nicht unbedingt heraus.
Es muss durch die politischen Opportunitätsstrukturen auch zugelassen und ermöglicht werden. Nur dort, wo sich politische Strukturen
als beeinflussbar erweisen, besteht ein ausreichender Anreiz zum bürgerschaftlichen Engagement. Und natürlich wird es dort befördert,
wo es sicherheitsdienstlich nicht unterdrückt
oder verfolgt wird, sondern rechtsstaatlich geschützt ist.
Zivilgesellschaftliche Aktivitäten erweisen sich
so als durch vielfältige, teilweise durchaus widersprüchlich zusammengesetzte Voraussetzungen konditioniert. Individuelle Ressourcenausstattungen müssen mit situativen und gesellschaftliche Anreizen, Gelegenheitsstrukturen
sowie einem gesellschaftlichen Bedarf zusammentreffen. Wirksam wird die Koinzidenz dieser äußeren und inneren Voraussetzungen nur
dann sein, wenn das handelnde Individuum
die äußeren Konstellationen auch als förderlich für die Umsetzung seiner politischen Intentionen interpretiert. Alles soziale Handeln
ist durch Modelle von der Welt und der Rolle
des Individuums in der Welt vermittelt und
insofern kulturell gerahmt. Nur wenn eine solche Rahmung den Einsatz für nicht private
Ziele als wünschenswert, machbar und effektiv erscheinen lässt, wird er zustande kommen.
5_7_
Wie man sich das Zusammenwirken der unterschiedlicher Faktoren bei der Herausbildung
zivilgesellschaftlicher Aktivitäten vorstellen
kann, zeigt Schaubild auf der vorherigen Seite. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPON
Detlef Pollack arbeitet seit 1995 als Professor
für vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). zyxwvutsr
Anmerkungen
1
Dies ist bekanntlich äußerst schwierig, denn Motive können vorgeschoben werden, sich mit anderen Motiven vermischen, mehr oder weniger bewusst sein, sich im Laufe der Handlung verändern
usw. (vgl. Weber 1972: 4f.).
Literatur
Agricola, Sigurd 1997: Vereinswesen in Deutschland, Stuttgart.
Anheier, Helmut K./Priller, Eckhard/Zimmer, Annette 2000: Zur zivilgesellschaftlichen Dimension
des Dritten Sektors. In: Klingemann, Hans-Dieter/Neidhardt, Friedhelm (Hg.): Zur Zukunft der
Demokratie: Herausforderungen im Zeitalter der
Globalisierung. Berlin 2000,71-98.
Bericht 2002: Bericht der Enquete-Kommission
„Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements":
Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in
eine zukünftige Bürgergesellschaft. Deutscher
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Roland Roth zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Die dunklen Seiten der Zivilgesellschaft
Grenzen einer zivilgesellschaftlichen Fundierung von Demokratie
1
Zivilgesellschaft
als Wundermittel
Seit Robert Putnams Italien-Studie ,Making
Democracy Work' (1993) ist ein verstärktes
Interesse an den gesellschaftlichen Bedingungen für die Funktionsfähigkeit liberaler Demokratien zu beobachten. Im Zentrum steht
dabei jene Sphäre jenseits von Markt und
Staat', die mit solch unterschiedlichen Konzepten wie .Zivilgesellschaft', .Bürgergesellschaft', ,Netzwerkgesellschaft' oder .Dritter
Sektor' beschrieben wird. .Social capital' Sozialkapital bzw. Sozialvermögen - ist dabei
zu einem Schlüsselbegriff avanciert, der in unterschiedlichen Operationalisierungen in die
historische und empirische Forschung Einzug
gehalten hat. Die emphatische Wiederentdeckung Tocquevilles für die politische Theorie
weist in die gleiche Richtung (Wolin 2001).
Trotz der pessimistischen Grundstimmung von
Putnams US-Diagnose .Bowling Alone' (1995;
2000) überwiegen heute positive Erwartungen.
Die Sphäre bürgerschaftlicher Selbstorganisation ist zum Hoffnungsträger avanciert, während sie in konservativen wie in marxistischen
Zeitdiagnosen der 1960er und 1970er Jahre
eher argwöhnisch als Quelle von krisenhaften
Entwicklungen betrachtet wurde. In Herbert
Marcuses .eindimensionalem Menschen' wie
in Daniel Beils Skizze der .postindustriellen
Gesellschaften' zersetzten Bindungsverluste,
Individualisierung und ein exzessiver Hedonismus bürgerschaftliche Orientierungen.
Vorbei scheinen auch jene Zeiten, in denen die
Rede über Zivilgesellschaft prinzipiellen Zweifeln im Sinne einer Phantomdebatte über ein
,postmodernes Kunstprodukt' ausgesetzt war
(Heins 2002).
Besonders seit der anhaltenden Karriere des
Konzepts ,soziales Kapital' mit seinen zahllosen Anwendungsgebieten erleben wir eine empirische Wendung der Debatte, beflügelt von
großen Erwartungen. Das bürgerschaftlich hervorgebrachte soziale Kapital soll im Ideal dreierlei gleichzeitig leisten:
• soziale Integration durch verlässliche Beziehungen und soziale Netzwerke fördern,
• ökonomische Entwicklung durch Kooperationsbereitschaft und Vertrauen jenseits von
Vertragsveihältnissen unterstützen und
•• demokratische Potentiale durch Selbstorganisation, Gemeinsinn und politisches Vertrauen stärken.
Es ist nicht bei akademischer Wunschproduktion und Kritik geblieben. Auch wenn soziales
Kapital nicht einfach wie eine Ware .produziert' werden kann, gibt es in der Hoffnung
auf entsprechende soziale, ökonomische und
politische Erträge inzwischen einen breites
Spektrum von fördernden Handlungsstrategien, die in vielen Dienstleistungsberufen und
Politikfeldern - vom betrieblichen Management
bis zur Sozialarbeit - diskutiert und erprobt
werden. So gehört die Netzwerkförderung heute bereits zum Standardrepertoire in der Ge-
60 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Roland Roth zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Die dunklen Seiten der Ziviigesellschaft
meinwesenarbeit und der Gesundheitsprävention, aber auch in der staatlichen Unterstützung bürgerschaftlichen Engagements, wie in
dem seit zehn Jahren geförderten Landesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement in Baden-Württemberg . Die Weltbank hat ihre Armuts- und Mikrokreditprogramme auf die Förderung sozialen Kapitals und EmpowermentStrategien abgestellt . Stärkung der Zivilgesellschaft lautet der gemeinsame Nenner der zahlreichen Programme und Maßnahmen von
Bund, Ländern und Gemeinden gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, die
nach dem Sommer 2000 in der Bundesrepublik aufgelegt wurden . Ob es nun um Armut,
Alter oder Rechtsextremismus geht, gemeinsamer Nenner dieser wenigen Beispiele ist ihre
zivilgesellschaftliche Orientierung.
Bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch
meist heraus, dass es eher wie ,China-Öl' benutzt wird: ein wenig davon könnte ja helfen,
zumindest schadet es nicht und es wird gern
genommen. Jedenfalls wird nicht auf flankierende .härtere' Medikamente verzichtet. Das
Landesnetzwerk ist nur eine kleine bürgerschaftliche Insel in der .normalen' Landespolitik Baden-Württembergs, die Weltbank agiert
noch stets in erster Linie als Bank, und die
zivilgesellschaftliche Mobilisierung gegen
Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus
ist von den Präventions- und Repressionsstrategien der staatlichen Sicherheitsapparate eingehegt. Liegt dieses begrenzte Vertrauen staatlicher Politik nur am eigenen Beharrungsvermögen und der notorischen Angst vor den Bürgerinnen und Bürgern oder kommt darin die
berechtigte Skepsis zum Ausdruck, der dreiZivilgesellschaft und .soziales Kapital' haben, fache Synergieeffekt sozialen Kapitals sei einso könnte es scheinen, den Status eines Wun- fach zu schön, um wahr zu sein? Kann sich
dermittels erreicht, einsetzbar für fast alle ge- der zivilgesellschaftliche Optimismus eigentlich auf wissenschaftliche Befunde stützen?
sellschaftlichen Probleme.
1
2
3
Die erste Runde von
Länder- und Bereichsstudien zur Wirkung sozialen Kapitals hat eher ambivalente Ergebnisse erbracht . Wer die zahlreichen empirischen
Gutachten sichtet, die
von der EnqueteKommission
des
Bundestags , Zukunft
des Bürgerschaftlichen Engagements'
in Auftrag gegeben
wurden, lernt den
Dritten Sektor als
eine durchaus lebendige Sphäre kennen,
die in einigen Berei4
61
chen eher auf Zuwachs angelegt, insgesamt Vertrauen in politische Institutionen (Newton
aber keineswegs schwindsüchtig ist . Altes 2001; Gabriel et al. 2002). Die neuen Bundesstirbt ab, aber Neues kommt hinzu. Ökono- länder bieten hierfür ein brisantes Beispiel. Dort
misch orientierte Analysen verweisen auf die hat die Assoziations- und Vereinsdichte nach
steigende Bedeutung des Dritten Sektors für der Wende deutlich zugenommen, während das
Beschäftigungszuwächse, aber auch seine soziale und politische Vertrauen drastisch abstrukturelle Abhängigkeit von Staat und Markt gesunken ist. Es wäre zu einfach, die Ursa(PriDer/Zimmer 2001). Längst haben zivilge- chen hierfür ausschließlich bei politischen Fehlsellschaftliche Akteure ihr nationales Laufställ- entscheidungen und ökonomischen Leistungschen verlassen und bevölkern in wachsender schwächen zu suchen. Eine wichtige Quelle
Zahl die transnationale bzw. globale Ebene. dürfte in der Zivilgesellschaft selbst zu suchen
Seit 2001 erscheint ein Jahrbuch .Global Civil sein.
Society' (Anheier et al. 2001). Zivilgesellschaft
- etwa gemessen an der Zahl der freiwilligen Demokratieförderliche bzw. demokratieverträgVereinigungen und Mitgliedschaften - ist also liche Wirkungen können erst dann angemesweder auf nationaler Ebene generell im Rück- sen erfasst werden, wenn auch die gegenläufizug, noch auf dieses Spielfeld begrenzt. Es gen anti-demokratischen und unzivilen Tengibt also die bunte, vielfältige, formenreiche denzen innerhalb ,realer Zivilgesellschaften'
und dicht vernetzte Sphäre gesellschaftlicher ernsthaft berücksichtigt werden. Vor allem geht
Selbstorganisation, die als notwendige Bedin- es dabei um die Überprüfung von zwei zentragung stabiler Demokratien angesehen wird. len Hypothesen der ,guten Zivilgesellschaft':
Aber der Zusammenhang zwischen Zivilge- der Sozialisations- und der Transferhypothese:
sellschaft und Demokratie erwies sich als nicht (1) Assoziationen sind für ihre Mitglieder Orte,
so zwingend, wie dies Putnam und die Toc- an denen sie demokratische Tugenden lernen.
queville-Tradition nahe legen. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIH
(2) Diese zivilgesellschaftlich erworbenen Tugenden wirken sich positiv auf prosoziale Einstellungen, politisches Vertrauen und demokra2
Schattenseiten
tische Beteiligung aus. Zunächst einige Beobder Zivilgesellschaft
achtungen, die gegen diese Hypothesen spreOhne auf die theoretische Debatte einzugehen, chen:
möchte ich mich vor allem auf konzeptionelle
und empirische Schwächen konzentrieren, die 2.1 In schlechter Gesellschaft
dann bedeutsam werden, wenn das normative
Konzept Zivilgesellschaft - wie etwa in den Ohne Zweifel sind auch die ZivilgesellschafPutnam-Studien - zur Grundlage von Gesell- ten westlicher Demokratien von Gruppen und
schaftsanalysen gemacht wird, d.h. wenn es Zusammenschlüssen bevölkert, die anti-zivile
um die Erforschung ,realer Zivilgesellschaf- Werte vertreten und praktizieren. Dieser hässten' geht . In erster Linie geht es um die Zwei- liche Sektor der Zivilgesellschaft sozialisiert
fel am demokratischen Mehrwert einer vitalen seine Mitglieder in Richtung ,bad civil socieZivilgesellschaft. .Interessant, aber unerheb- ty' (Chambers/Kopstein 2001). Hass, Intolelich', lautet eine wenig ermutigende Diagnose ranz, Rassismus, Antisemitismus gehören z.B.
über den demokratischen Nutzen zivilgesell- zu den Botschaften von rechtsextremen Kaschaftlicher Vereinigungen (van Deth 2000). meradschaften in der Bundesrepublik, aber
Soziales Kapital füttert nicht notwendig das auch der us-amerikanischen ,Nation of Islam'
5
6
62 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
eines Louis Farrakhan. Für ihre Mitglieder bieten solche Zusammenschlüsse einige der Segnungen des .sozialen Kapitals', denn sie schaffen möglicherweise Vertrauen, Geborgenheit
und wechselseitige Unterstützung. Zentrale demokratische Tugenden wie Zivilität im Sinne
von Toleranz, Anerkennung, Respekt und Gewaltfreiheit vermitteln sie jedoch nicht. Die
Existenz von Gruppierungen einer ,bad civil
society' wird in der Regel nicht geleugnet, aber
analytisch nur unzureichend berücksichtigt.
7
Die von Putnam übernommene Unterscheidung
von ,bonding' und ,bridging' social capital
stellt einen ersten Versuch dar, dem Problem
näher zu kommen. Das soziale Kapital, das
durch enge Beziehungen (Familie, Freundschaften, abgeschlossene, exklusive Gemeinschaften etc.) gebildet wird (,bonding'), konzediert Putnam (2000: 22ff), muss nicht notwendig demokratieförderlich sein, während diese
Leistung von heterogen zusammen gesetzten,
offenen, freiwilligen, inklusiven Assoziationen
(,bridging') erwartet werden kann. Mit zwei Argumentationsstrategien schiebt er allerdings die
Schattenseiten des sozialen Kapitals an den
Rand. Zum einen argumentiert er strikt funktional: bonding social capital sorge für die Hühnersuppe am Krankenbett, während bridging
social capital bei der Suche nach einem neuen
Arbeitsplatz hilfreich sei. Dabei geht es doch
gerade um dysfunktionale und nicht-intendierte
Effekte sozialen Kapitals, mit denen immer auch
gerechnet werden muss. Zum anderen bietet Putnam Makrodaten, wo es eigentlich um die Klärung von MikroZusammenhängen geht. Intolerante und exklusive Wirkungen von Zusammenschlüssen lassen sich nicht dadurch entkräften,
dass auf der Makroebene Gegentendenzen wie
z.B. ein Zuwachs an Toleranz (in der US-Gesellschaft seit den 1950er Jahren) oder zunehmende soziale Ungleichheiten (in den USA seit
den 1980er Jahren) angeführt werden können
(Putnam 2000: 350ff).
Die dunklen Seiten der Ziviigesellschaft
Roland Roth zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Gerade Deutschland bietet reichlich Anschauungsmaterial zum Thema ,bad civil society'.
Das üppige Vereins- und Assoziationswesen
des Kaiserreichs und der Weimarer Republik,
schon von den Zeitgenossen als Vereinsmeierei verspottet, trug erheblich zur Stärkung antidemokratischer Tendenzen und schließlich
zum Ende der ersten Republik bei. Die wilhelminische Vereinsmeierei reproduzierte in ihren geschlossenen Zirkeln nicht nur soziale
Distanz, Standesdünkel und Reputationsgehabe, sondern prägte eine politikferne und herrschaftskonforme Untertanenmentalität . Die
Vereine hatten zudem ihren Anteil am Alltag
einer .satisfaktionsfähigen Gesellschaft', die
den Reserveoffizier zu ihrem Leitbild erkoren
hatte. Ihr Resultat lässt sich allenfalls mit der
Paradoxie einer .militarisierten Zivilgesellschaft' beschreiben (Elias 1989; Reichardt
2001). In scharfem Kontrast zu den Annahmen der Tocqueville-Tradition kam aus diesem dichten Assoziationsgeflecht kein starker
Impuls in Richtung auf ein demokratisches
Gemeinwesen.
8
Während ältere, massentheoretisch inspirierte
Deutungen davon ausgingen, es seien die isolierten Einzelnen gewesen, die für den Aufstieg der Nazis gesorgt hätten, kommt Sheri
Berman mit Blick auf neuere historische Studien zu dem Ergebnis, dass gerade das blühende Assoziationswesen der Weimarer Republik
den Aufstieg der NSDAP in den Jahren von
1928-1933 begünstigte: „The Nazis had infiltrated and captured a wide ränge of national
and local associations by the early 1930s, finally bridging the gap between bourgeois civil
society and party politics that had plagued Germany for half a Century" (Berman 1997: 424).
Der politische Mehrwert, der in zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen gebildet wird
(Erwerb von politischen und sozialen Fähigkeiten, soziale Bindungen, Mobilisierungschancen, größere Bereitschaft zu kollektivem Han-
63
dein), kann offensichtlich in extrem gegensätz- kommen zu dem Ergebnis, es sei in demokratisch-menschenrechtlicher Hinsicht eher beliche politische Projekte investiert werden.
grüßenswert, dass diese Spielarten des AssoDies muss jedoch nicht zum dem Schluss füh- ziationswesens zerfallen sind. zyxwvutsrqponmlkji
ren, das Assoziationswesen sei ein politisch
neutraler Verstärker, eine intermediäre Variab- 2.2 Reale Zivilgesellschaften
le (so Berman 1997: 427). Beobachtungen
von Max Weber Und Norbert Elias sensibili- Normative Porträts von Zivilgesellschaften lesieren stattdessen für die spezifische innere sen sich gelegentlich wie Neuauflagen der klasVerfassung von Zivilgesellschaften. Anti-de- sischen Pluralismustheorie. Vielfältige Intermokratische oder militaristische Orientierun- essenorganisationen und Assoziationen konkurgen sind nicht nur in rechtsradikalen Hass- rieren auf einem prinzipiell offenen Markt,
gruppen zu hause , sondern lassen sich auch zahlreiche und wechselnde Mitgliedschaften
im bürgerlichen Idealverein finden. Dass Ver- fördern Toleranz und andere demokratische
eine selbst ein Herrschaftsverhältnis darstel- Tugenden. Dem widerspricht z.B. die deutlen und nicht davon suspendieren, war für sche Tradition des .organisierten Kapitalismus',
Max Weber noch selbstverständlich (Weber der eine Reihe von starken, rechtlich privile1988: 444). Davon ist in idealisierenden so- gierten Vereinigungen hervorgebracht hat - ercial capital'-Konzepten, die Vereine heute pau- innert sei nur an das Parteienprivileg und die
schal als freiwillige Vereinigungen mit de- institutionelle Subsidiarität, die den besondemokratischen Entscheidungsstrukturen und ren Status der deutschen Wohlfahrtsverbände
ehrenamtlichem Engagement beschreiben und begründet. Da über diese Vereinigungen auch
damit zur ,Schule der Demokratie' verklären, der Zugang zu wichtigen Teilarbeitsmärkten
nichts mehr zu spüren (kritisch hierzu Braun geregelt wird, gerät die .freiwillige' Mitglied2003a). Es kommt offensichtlich doch auf den schaft nicht selten zur Fiktion (Tendenzbetriespezifischen Charakter des jeweiligen Asso- be, Ämterpatronage etc.). Vernachlässigte
ziationswesens, auf die ihm eigene politische ,schwache' Interessen und neue Themen haKultur an, ob es in dem einen Fall liberale ben es unter diesen Bedingungen besonders
Demokratien trägt und im anderen Fall auto- schwer (Willems/von Winter 2000).
ritäre Regime begünstigt. Vielfältige, aber segmentierte, in politische Lager gespaltene, teils Die Vermachtung von Zivilgesellschaften auf
subkulturell abgeschottete Zivilgesellschaften der Ebene der Assoziationen wird zudem durch
- wie im deutschen Kaiserreich und der Wei- den Abstand zwischen ressourcenstarken und
marer Republik - bieten offenbar keine Un- ressourcenschwachen Individuen gefördert. Der
terstützung für die Tocqueville-These. Weder Mittelschichtsbias bürgerschaftlichen Engageder bürgerliche Idealverein noch die Politik ments ist nur eine von vielen Ausdrucksfordes proletarischen Lagers brachten jene Of- men dieser Asymmetrie. In der Folge gibt es
fentlichkeitsformen hervor, die für Lernpro- nicht nur die normativ gewünschten offenen
zesse in Richtung Demokratiefähigkeit för- Assoziationen, sondern auch mehr oder weniderlich gewesen wären . Nicht nur histori- ger exklusive Clubs. Lager, Klassen, Schichsche Studien zum Vereinswesen der Kaiser- ten und Milieus prägen auch das Assoziationszeit und der Weimarer Republik, sondern auch wesen (Braun 2003). Im .gehobenen' Bereich
zu freiwilligen Vereinigungen in den USA am der Zivilgesellschaft wird auf Exklusivität, soEnde des 19. Jahrhunderts (Kaufman 2002) ziale Distanz und Distinktion geachtet und wer9
10
64 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
den diese durch Praktiken der sozialen Schließung gesichert. Dies gilt nicht nur für Rotary
Clubs; hierarchisch strukturiert sind auch die
weniger prätentiösen Welten der Kultur-, Freizeit- und Sportvereine. Das Assoziationswesen liegt nicht jenseits sozialer Ungleichheiten, sondern bietet ein spezifisches Terrain, auf
dem milieuspezifische Lebensstile (Michael
Vester u.a.), ,hidden injuries of class' (Richard
Sennett/Jonathan Cobb) oder ,feine Unterschiede' (Pierre Bourdieu) gelebt und erlitten werden. Dass es dabei auch heute zu antagonistischen Lagerbildungen kommen kann, zeigt sich
nicht nur an den gewaltintensiven Rändern von
Jugendkulturen. Die Folgen sozialer Abgrenzungen und Schließungen für politische Lernprozesse dürften erheblich sein und markieren
eine offene Flanke für das demokratische Potential von Zivilgesellschaften. Je stärker z.B.
das Vereinswesen alltäglich als Ausdruck von
Exklusivbürgerschaft erfahren wird, desto weniger kann es zur Entfaltung von Bürgertugenden beitragen. Eine komparative Studie hat
jüngst gezeigt, dass Organisationen, deren Mitglieder auch in anderen Gruppen aktiv sind
(.connected associations'), einen stark positiven demokratischen Einfluss haben, während
,isolated associations' einen stark negativen
Einfluss aufweisen (Paxton 2002: 272).
Die dunklen Seiten der Zivilgesellschaft
Roland Roth zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
dern eine ähnliche politische Bedeutung zukommen soll wie z.B. der Mitarbeit in einer
Bürgerinitiative oder der Teilnahme an einem
Protestmarsch, lässt sich nur schwer begründen. Dass eine wachsende Zahl von Vereinen
und Mitgliedschaften keineswegs das Vertrauen in die politischen Institutionen und Amtsinhaber stärken muss, zeigen die Befunde für
die neuen Bundesländer, wo seit der Wende
eine Scherenentwicklung zu beobachten ist.
Aber die Transferannahme ist selbst innerhalb des Spektrums der politischen Beteiligung fraglich, denn die Zunahme unkonventioneller' Formen ist in vielen Ländern mit
einer Abnahme konventionellen politischen
Engagements (z.B. Parteimitgliedschaften)
verbunden (Norris 2002).
Freiwillige Vereinigungen und Selbsthilfegruppen agieren nicht in einem gesellschaftlichen
Freiraum, sondern siedeln sich zumeist in besonderen institutionellen Umwelten - z.B. des
Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesens an. Die innere Verfassung dieser institutionellen Orte (z.B. von Schulen), die je nach Lebensphase einen Großteil unseres Alltagslebens
prägen, dürfte mit entscheidend für das spezifische politische Gewicht sein, das zivilgesellschaftlichen Assoziationen und Bürgerengagement zukommt. In der Auseinandersetzung mit
Zum problematischen Erbe der Tocqueville- den - in der deutschen Tradition zumeist büroTradition gehört die Annahme, dass sich ge- kratischen - Organisationsumwelten entwickelt
sellschaftliches Engagement positiv auf poli- sich die politische Kultur von Vereinigungen,
tisches Vertrauen und Beteiligungsbereitschaft sei es in Opposition zu, sei es in der allmähliauswirkt. Die demokratieförderliche Wirkung chen Übernahme von bürokratischen Herrgesellschaftlicher Beteiligung - wie etwa am schaftsmustern bzw. ihrer Überwindung. So
Vereinsleben - wird noch immer eher unter- ist in demokratiepolitischer Perspektive z.B.
stellt als nachgewiesen (Braun 2003a). Die die ,innere' und ,äußere' Öffnung von Schuvorhandene empirisch vergleichende For- len eine wichtige Voraussetzung, um soziales
schung hat den Zusammenhang zwischen As- Kapital und Bürgerengagement in diesem Besoziationsdichte und demokratischer Entwick- reich zu fördern (vgl. Enquete-Kommission
lung nicht bestätigt (Gabriel et al. 2002: 264; 2002: 550ff). Wie bedeutsam solche institutiNorris 2002: 166). Warum einem Kuchenba- onellen Kontexte und die damit verbundenen
sar oder dem Picknicken mit Vereinsmitglie- Traditionen für die Entfaltung und die politi-
65
Gefahren an den Grenzen
sehen Wirkungen des Assoziations wesens sind, 3
machen die vorliegenden Länderstudien übereinstimmend deutlich. Nationale und regiona- Welche demokratisierende Wirkung zivilgesellle Traditionen prägen die spezifischen Entwick- schaftliche Organisationen entfalten können
lungspfade von Zivilgesellschaften und brin- und wie es um ihre innere Verfassung bestellt
gen durchaus unterschiedliche nationale Profi- ist, hängt nicht zuletzt von den Einflüssen ab,
le hervor (Salamon et al. 1999; Putnam 2001; die von den nicht-zivilen Sphären auf die ZiPippa. 2002; Gabriel et al. 2002). Im Kontrast vilgesellschaft einwirken. Dies gilt für die Präzu generalisierten modernisierungskritischen gewirkungen des Staates, für die kapitalistisch
Zerfallsaussagen im Sinne des Putnamschen verfasste Ökonomie, aber auch für eine famili,bowling alone' entwickeln sich nationale As- al dominierte Privatsphäre. Über alle drei
soziationskulturen eher kontextspezifisch, frag- Grenzbeziehungen von Zivilgesellschaften
mentiert und uneinheitlich (Pippa 2002: 144fF). existieren konträre Annahmen. Die klassische
Religiöse Traditionen, Staatsnähe oder Staats- politische Theorie betrachtete vor allem in ihferne geben grobe Anhaltspunkte. Risto Ala- ren Vertragsmodellen den Staat (Hobbes), die
puro (2002) spricht von einem national spezi- Marktökonomie (Mandeville) und die Familie
fischen ,associational idiom', das vermutlich noch als konstitutiv für Zivilgesellschaft: ohne
um regionale Differenzierungen erweitert wer- den wechselseitigen Gewaltverzicht der Bürden müsste. Sein Frankreich/Finnland-Ver- ger zugunsten der Staatsgewalt keine Zivilgegleich konstatiert, dass die unabhängigere, weil sellschaft, ohne die marktökonomische Veradministrativ blockierte französische Zivilge- wandlung von Leidenschaften in Interessen der
sellschaft dem Ideal der staatsfernen Zivilge- konfessionelle Bürgerkrieg, ohne die Sozialisellschaft zwar näher komme, dies aber um sationsleistungen und Solidaritäten der Famiden Preis relativer Einflusslosigkeit (vgl. lien kein gesellschaftlicher Zusammenhalt. RaBarthelemy 2000). Dagegen sei in Organisati- tionalität, Kooperation, Selbstverantwortung
onsgesellschaften, wie derfinnischen,die Ein- und Selbstkontrolle sind einige der zivilisiebindung zivilgesellschaftlicher Akteure in staat- renden Nebenprodukte, die kapitalistisch verliche Politik üblich, allerdings häufig auf Kos- fassten Ökonomien zugeschrieben wurden. Sie
ten selbstbewusster, auch konfliktbereiter In- galten als die eigentlichen Produktionsstätten
teressenartikulation. Das deutsche Beispiel ver- von Zivilität und damit als Grundlage von Ziweist auf die Möglichkeit des Nebeneinanders vilgesellschaft. Nicht nur Karl Marx, sondern
von Einbindung und Protest, begleitet von ei- auch Antonio Gramsci schwärmte von den ziner entsprechenden Segmentierung der Zivil- vilisatorischen Leistungen des Kapitalismus
gesellschaft in einen privilegierten und einen (Fordismus), ohne jedoch blind für die Kosten
marginalen Sektor. Ohne es im einzelnen zu dieses ,Projekts' zu sein. Heute sind wir gewissen, können wir davon ausgehen, dass in- neigt, von den ,Rändern' der Zivilgesellschaft
dividuelle Lernprozesse in Vereinigungen er- eher Bedrohungen für eine demokratisch geheblich vom ,associational idiom' einer Zivil- stimmte zivilgesellschaftliche Entwicklungen
gesellschaft abhängen". Je korporatistischer die zu erwarten. Staat, Märkte und Familien werEinbindung zivilgesellschaftlicher Organisati- den zwar konzeptionell als Sphären jenseits
onen ausfällt, desto weniger dürften sie den der Ziviigesellschaft behandelt, obwohl eine
Idealen autonomer, selbstorganisierter und frei- wesentliche Leistung von Zivilgesellschaften
williger Assoziation entsprechen und demo- - die Produktion von Sozialkapital bzw. Verkratische Lemorte anbieten. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGF
trauen - keineswegs auf diese beschränkt ist.
66 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA Roland Roth zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Die dunklen Seiten der Zivilgesellschaft
Wir können vielmehr davon ausgehen, dass Förderung von benachteiligten Gruppierungen
auch und gerade jenseits der Zivilgesellschaft (z.B. durch Gender-Mainstreaming) korrigie- vermutlich sogar in größerem Umfang und rend ein. Bürgerschaftlich engagierte Eltern
nachhaltiger in den Wirkungen - Sozialkapital können als Vorbild für ihre Kinder wirken, pagebildet, zirkuliert bzw. verbraucht wird. Wir triarchale Familienstrukturen untergraben desprechen z.B. von ,low trust' und ,high trust' mokratische Kompetenzen, während familiaKooperationsmustern in Industriebetrieben, von ler Zusammenhalt noch immer eine wichtige
amoralischem Familialismus, Klientelismus Ressource gegen soziale Exklusion sein kann.
und individualisierten Aushandlungsbeziehun- Schon diese einfachen Beispiele machen deutgen, von bürokratischer Herrschaft oder von lich, dass über den zivilen bzw. unzivilen ChakooperativerzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Verwaltungskultur. Diese Alter- rakter von Zivilgesellschaften nicht nur endonativen verweisen nicht nur darauf, dass Märk- gene' Faktoren entscheiden, sondern Kräfte aus
te, Arbeitsbeziehungen, Familien oder andere anderen gesellschaftlichen Bereichen wirksam
Lebensgemeinschaften und der Staat bei der werden. Wie und in welchem Umfang, ist nicht
Frage nach dem sozialen Kapital einer Gesell- zuletzt eine empirische Frage. Jedenfalls hilft
schaft sinnvoller Weise berücksichtigt werden weder das Idyll einer prinzipiell ,guten' Zivilmüssen, sondern verdeutlichen auch, dass ihr gesellschaft, die es gegen schlechte Einflüsse
Gewicht und die Richtung der Einflussnahme von außen abzuschotten gilt, noch das Gegenauf die Bildung und den Verschleiß von Sozi- bild einer Ansammlung von Ichlingen und boralkapital in zivilgesellschaftlichen Assoziatio- nierten Clubs, deren Egoismus nur durch staatnen keineswegs feststeht. Dies bedeutet, dass liche Rechtssetzung und Gemeinwohlverpflichdie Analyse ,realer Zivilgesellschaften' z.B. tung begrenzt werden kann.
weder von der Kapitalismus- noch von der Genderfrage abstrahieren kann.
Wenn von Schattenseiten der Zivilgesellschaft
die Rede ist, werden vor allem die sichtbaren
Alexander (1998: 8f) hat systematisch drei negativen Effekte - von der Mafia bis zur poliRichtungen der Einflussnahme aus den nicht- tischen Korruption, von internationalen Terzivilen Spären unterschieden: ermöglichende rornetzwerken bis zur Steuerflucht, vom E l Unterstützung, destruktives Eindringen und zi- lenbogenliberalismus der Wirtschaftseliten bis
vile Reparatur (facilitating inputs, destructive zu den fremdenfeindlichen Attacken Jugendliintrusions, civil repair). So begünstigt gesicher- cher - thematisiert, die sich aus endogenen
te Erwerbsarbeit im Rahmen von Normalar- wie aus exogenen Quellen speisen können. Von
beitsverhältnissen in der Regel zivilgesell- , unziviler Gesellschaft' zu sprechen, setzt ein
schaftliches Engagement. Arbeitslosigkeit und normatives Konzept voraus, das z.B. an WerArmut wirken hingegen destruktiv, während ten wie Friedfertigkeit, Freiwilligkeit, ÖffentArbeitsrecht und Sozialpolitik diese negativen lichkeit und Gemeinschaftlichkeit/Solidarität
Auswirkungen »reparierend' abfedern sollen. (Lohmann 2003) orientiert ist und entsprechenDie staatliche Garantie von zivilen, politischen de Abweichungen als .unzivil' einstuft. Jenund sozialen Bürgerrechten trägt zur zivilen seits des Theaterdonners kurzatmiger SkandaSelbstorganisation bei, während sicherheits- lierung kann ihre Thematisierung dazu dienen,
staatliche Einschränkungen von Bürgerrechten die Frage nach einer demokratieförderlichen
(z.B. durch Versammlungs-, Demonstrations-, oder zumindest demokratieverträglichen EinParteien- und Organisationsverbote) destruktiv bettung und der inneren Verfassung gegenwärwirken können. Hingegen greift die gezielte tiger realer Zivilgesellschaften, die immer auch
67
mehr oder weniger unzivile Gesellschaften zur dritten Auflage eines internationalen Standardwerks an (Heidenheimer/Johnston 2002:
sind, zu aktualisieren. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDC
XI; vgl. auch Pieth/Eigen 1999). Unerwartet
kam dieser Boom, weil es sich nach dem
Alles wird gut?
4
Zweiten Weltkrieg eingebürgert hatte, politiHelmut Dubiel (2001) hat im Anschluss an sche Korruption wesentlich als ein gesellJeffrey Alexander den Versuch unternommen, schaftliches Entwicklungsproblem zu deuten.
unzivile Erscheinungsformen zu systematisie- Mit der Modernisierung von Gesellschaften
ren und in eine evolutionäre Perspektive zu verschwänden auch, so die zentrale Annahrücken. Am Anfang stehe die Barbarei, am me, die vormodernen Quellen von KorruptiEnde ein ziviler Zustand. Allerdings räumt er on (Klientelismus, Patronage etc.). Rationale
ein, dass Regressionen jederzeit möglich sind. Bürokratien, Marktwirtschaft, RechtsstaatlichNicht nur die zivilisatorischen Katastrophen keit, Parteienkonkurrenz und eine wachsame
des 20. Jahrhunderts sprechen jedoch gegen Öffentlichkeit würden dafür sorgen, dass Korjenen Fortschrittsglauben, der in evolutionäre ruption schließlich auf das Niveau individuKonzepte eingelagert ist. Angemessener scheint ell abweichenden Verhaltens (,schwarze Schaes mir, die konfliktträchtige Gleichzeitigkeit fe') schrumpfe. Davon kann jedoch keine
von zivilen und unzivilen Tendenzen und de- Rede sein. Moderne ,Geschäftspolitiker' aus
ren Zusammenspiel in realen Zivilgesellschaf- dem Norden und nicht die Mafia des Südens
ten zu diskutieren. Denn einige der Schatten sorgten z.B. in Italien dafür, dass ein mehr
wachsen offensichtlich parallel zu zivilgesell- als vier Jahrzehnte stabiles Parteiensystem imschaftlichen Aufbrüchen. Zwei Beispiele, die plodierte (della Porta/Vannucci 2002). Auch
erhebliche Bedeutung für die demokratische in Sachen Korruption liegt die BRD auf weQualität von Zivilgesellschaften haben, sollen nig rühmlichen Pisa-Rängen, wenn man den
jährlich vorgestellten Korruptionsperzeptionsgenügen.
Indizes von Transparency International vertraut. In München und Frankfurt/M z.B. geht
4.1 Zunehmende
die Zahl der Verfahren gegen Bedienstete der
Korruptionsintensität
Stadtverwaltung wegen Bestechlichkeit und
Vorteilsannahme
in die Hunderte, und das
In den letzten drei Jahrzehnten erlebten viele
OECD-Staaten nicht nur einen enormen Auf- ,System Kohl' hat mit seinen schwarzen Kasschwung demokratisch gestimmter neuer so- sen eine besondere Form der monetär gestützzialer Bewegungen und Bürgerinitiativen, die ten innerparteilichen Einflurspolitik sichtbar
mit ihren untypischen Vereinigungen erheb- werden lassen. Dies sind nur zwei Beispiele
lich zur Belebung nationaler Zivilgesellschaf- für die These, dass auch in der Bundesrepubten beigetragen haben. Gleichzeitig verzeich- lik politische Korruption ein Kontrolldelikt
neten gerade auch gefestigte westliche De- ist: Dort, wo es zu Kontrollen kommt, wird
mokratien einer unerwarteten Zuwachs an man auch fündig (Schaupensteiner 1999)
politischer Korruption - darin sind sich die
meisten wissenschaftlichen Beobachter dieses Feldes einig. „Probably no period has witnessed the birth of more publications on political corruption than the closing decade of
the twentieth Century", hebt die Einleitung
Über die Ursachen der wachsenden Korruptionsintensität ist viel gestritten worden. Die Suche geht dabei in für unser Thema symptomatische Richtungen, weil sowohl destruktive Einflüsse aus den nicht-zivilen Gesellschaftsbe-
68 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
reichen, aber auch unzivile Entwicklungen in
der Zivilgesellschaft selbst ins Spiel gebracht
werden:
4.1.1 Marktexpansion
Übermächtig erscheinen die ökonomischen
Determinanten politischer Korruption. Durch
die neoliberale Globalisierung sind lokale und
nationale institutionelle Einbettungen ökonomischer Prozesse geschwächt worden. Die
Kommerzialisierung und Durchkapitalisierung
aller Lebensbereiche schreitet ebenso voran wie
die Privatisierung von vormals öffentlichen
Aufgaben. Geld spielt folglich eine wachsende Rolle im politischen Prozess, wobei die
Wahlkampfkosten nur ein besonders eindrucksvoller Posten sind. So kann es nicht verwundern, dass asiatische Unternehmen in den letzten US-Präsidentschaftswahlkampf investiert
haben. Jedenfalls scheint es weniger denn je
möglich, Politik und Geschäft zu trennen und
die demokratischen Ansprüche der Zivilgesellschaft gegen die Übermacht ökonomischer Interessen zu verteidigen.
4.1.2 Staatsversagen
Wer über die ökonomischen Einflüsse redet,
darf über staatliche Politik nicht schweigen.
In der jüngeren Geschichte der politischen
Korruption fällt vor allem die geringe Bereitschaft zu einem .institutionellen Rigorismus' (Claus Offe) auf. Im Vergleich zu den
meisten anderen Lebensbereichen (erinnert
sei nur an das ,System der inneren Sicherheit') ist der Gesetzgeber in eigener Sache
eigentümlich zurückhaltend, wenn es um die
Verfolgung korrupter Praktiken ist. Immerhin
brauchte es vierzig Jahre, um das Delikt der
Abgeordnetenbestechung wieder in das Strafrecht einzuführen. Und dies in einer Variante, die - wie die gesetzlichen Regelungen
der Parteienfinanzierung - das Prädikat ,soft
Roland Roth zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Die dunklen Seiten der Zivilgesellschaft
law' verdienen: Tatbestände werden so gefasst, dass sie kaum nachweisbar sind, Verfehlungen bleiben weitgehend straffrei, und
die geringe Sanktionstiefe des Parteiengesetzes lädt förmlich zu illegalen Praktiken
ein.
ruptionsbeziehungen gehören, spielt offensichtlich nicht nur in Russland und vergleichbaren Regionen mit einer .schwachen' Z i vilgesellschaft eine Rolle (Rose 1999; Merkel 2000).
69
4.2.2 Staatsversagen
Asyl- und Flüchtlingspolitik, Abschiebungen
und Ausländerpolitik, Einwanderung, Staatsbürgerschaft und die gesellschaftliche Integration von Migrantinnen stecken einige der Politikfelder ab, die darüber entscheiden können,
4.2 Rechtsradikalismus,
ob und in welchem Umfang rechtsradikale
4.1.3zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Versagen der Ziviigesellschaft
Rechtspopulismus und
Mobilisierungen erfolgreich sind. Dass staatliFremdenfeindlichkeit
che Politik - gemessen an menschenrechtliPolitische Korruption nährt sich aus der Zivilgesellschaft selbst. Schließlich sind die
Zu den bedrängenden antidemokratischen chen Maßstäben - häufig genug scheitert, ist
großen politischen Mitgliederparteien von
Tendenzen gehören sicherlich die verschie- nur eine Facette. Auch der proaktive staatliche
ihren Ursprüngen her zivilgesellschaftliche
denen Spielarten rechtsextremer, rassistischer, Beitrag darf nicht unterschätzt werden. Er reicht
Zusammenschlüsse, auch wenn die Vermachantisemitischer und fremdenfeindlicher Ein- von der ,mobilization of bias' (,Das Boot ist
tung und Kommerzialisierung der Parteiarstellungen, Verhaltensweisen, Mobilisierungen voll') bis zur verweigerten Bürgerschaft und
beit dies vergessen machen. Nicht nur in der
und Organisationen (vgl. Grumke/Wagner zum unzulänglichen Opferschutz - von den
Berufspolitik fehlt es am nötigen Rigoris2002; Heitmeyer 2002). Mehr als ein halbes wenig demokratie- und toleranzfordernden Somus im Umgang mit demokratischen NorJahrhundert nach der Zerschlagung des histo- zialisationsbedingungen in Schulen, Vorschumen, sondern auch bei den einfachen Mitrischen Faschismus ist deren Aktualität nicht len und Behörden einmal ganz abgesehen.
gliedern, Anhängern und Wählern. Am Sysmehr sinnvoll mit historischen Überresten und
tem Kohl' und dem Ehrenwort an seine unmit Ewiggestrigen zu erklären. Vielmehr gibt 4.2.3 Versagen der Zivilgesellschaft
genannten Spender war vor allem die schneles offensichtlich einen ,modernen' Rechtsrale Rehabilitierung des Hauptakteurs und seidikalismus und Rechtspopulismus, der als Re- Auch wenn zu den ökonomischen und politiner Entourage auffällig. Sie wurde nicht
aktionsbildung auf aktuelle Erfahrungen zu schen noch sozialpsychologische Erklärungen
zuletzt deshalb möglich, weil ,Parteivolk'
begreifen ist. Auch für diese ,unzivilen' Ten- hinzugefügt werden, gibt es zahlreiche zivilund Wählerschaft signalisierten, dass für sie
denzen existieren unterschiedliche Deutungs- gesellschaftliche Mängelanzeigen. Selbst
die Zugehörigkeit zu einer erfolgreichen Zuangebote:
rechtsradikale Kameradschaften sind freiwilligewinngemeinschaft bzw. zu einem politige Vereinigungen. Ihre Beifall spendenden Unschen Lager allemal bedeutsamer sind als
terstützer kommen bekanntlich ,aus der Mitte
4.2.1 Marktexpansion
demokratische Prinzipien. Wie stark Korrupder Gesellschaft'. Trotz gelegentlicher Ziviltionspraktiken in - allerdings exklusive - ziDie jüngste Welle rechtsextremer Mobilisie- courage und bürgerschaftlicher Gegenmobilivilgesellschaftliche Netzwerke eingebettet
rungen hat einen ökonomischen Kern. Mit den sierungen schien es der Bundesregierung im
sein können, macht der - in ähnlicher Form
neoliberalen Globalisierungsprozessen und den Sommer 2000 ratsam, umfangreiche politische
auch andernorts anzutreffende - .Kölner
damit einhergehenden sozialen Ungleichhei- Unterstützungsprogramme für eine demokraKlüngel' deutlich. Bereits im Mittelalter urten haben Migration und Flucht erheblich zu- tisch schwächelnde Zivilgesellschaft aufzulekundlich erwähnt, hat dieser Typus lokaler
genommen. Gleichzeitig geraten ökonomische gen (vgl. Roth 2003).
Elitennetzwerke durch die aktuellen GlobaStandorte und die mit ihnen verknüpften sozilisierungsprozesse neuen Schwung erhalten
alen Sicherheiten unter Konkurrenzdruck. Nicht 5
Fazit und Perspektiven
(Rügemer 2002). Auch Klüngel, Seilschafnur potentielle Verlierer verlangen Schließunten und Klientelstrukturen sind soziale Netzgen, sondern bis in die gesellschaftliche Mitte Die skizzierten Beispiele machen deutlich, dass
werke, die soziales Kapital hervorbringen.
hinein gedeihen Ellenbogenmentalitäten und die Auseinandersetzung mit realen ZivilgesellDieses ,out-of-date social capital' oder ,antiWohlstandschauvinismus, die neopopulisti- schaften beides benötigt: einen nüchternen
modern social capital', zu dem persönliche
schen Politikunternehmern einen Resonanzbo- Blick auf die Verfassung der zivilgesellschaftAbhängigkeiten, Begünstigungen und Korden verschaffen.
lichen Sphäre selbst, ihre zivilen wie ihre un-
70 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
zivilen und antidemokratischen Tendenzen,
aber auch die Wahrnehmung von unterstützenden wie destruktiven Einflüssen aus den Umwelten der Zivilgesellschaft. Dies nötigt zum
Abschied von zwei Fiktionen: der weitgehenden Eigenständigkeit wie der genuin demokratischen Substanz des zivilgesellschaftlichen
Assoziationswesens.
Unterscheidungen von zivilen und unzivilen
Gruppierungen, von ,bridging' und ,bonding
social capital' wie auch das Konzept .reale
Zivilgesellschaften' geben Anlass, idealisierende Zuschreibungen im Sinne eines demokratischen Allheilmittels Zivilgesellschaft zu vermeiden. Dies erfordert, normative Ansprüche
und empirische Aussagen klarer zu unterscheiden, als dies in der öffentlichen Debatte üblich
ist. Die gewählten Beispiele machen zudem
deutlich, dass .unzivile' Entwicklungen sowohl
aus dem Herzen der Zivilgesellschaft kommen
wie auf destruktive Einflüsse von Markt, Staat
und Gemeinschaften verweisen. Konzeptionell
erfordert dies zudem, den analytischen Status
der Grenzziehungen zu beachten, mit denen
der Raum der Zivilgesellschaft abgesteckt wird.
Real-existierende zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse und Vereinigung sind heute in der
Regel .hybride' Organisationen, die verschiedene Elemente kombinieren. So sind Sportvereine oft auch Wirtschaftsorganisationen mit gewerblicher Gastronomie, Fanshops etc. Gleichzeitig werden sie durch Übungsleiterpauschalen oder Steuervergünstigungen staatlich alimentiert und bieten dafür oft genug an, staatliche
Programme (z.B. in der Gesundheitsförderung
oder der Drogenprävention) umzusetzen.
Die dunklen Seiten der Zivilgesellschaft
Roland Roth zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
statieren. Jedenfalls scheinen reale Zivilgesellschaften weit davon entfernt, die Reichweite
staatlicher und ökonomischer Imperative eigensinnig beschränken zu können. In dieser
Perspektive lässt sich das gegenwärtige Interesse an der bürgerschaftlichen Selbstorganisation eher defensiv interpretieren. Gesetzt wird
auf soziale Zusammenschlüsse und Protestbewegungen, die als ,movements of civil repair'
(Alexander 2001) tätig werden. Zivilgesellschaftliche Assoziationen werden als Korrektiv für Fehlentwicklung und Leistungsgrenzen
in nicht-zivilgesellschaftlichen Bereichen ins
Spiel gebracht, ohne selbst eine Alternative
anbieten zu können. „In fact, every movement
of civil repair develops and is inspired by a
dream of democratically correcting the relations in a particular non-civil realm, of redesigning some non-civil utopia to make it more
compatible with the ideas of autonomy and
solidarity at the center of democratic life" (Alexander 2001: 588). Mit Blick auf das parallele
Wachstum der ,bad civil society' besteht die
womöglich paradoxe Hoffnung, ,movements
of civil repair' könnten stark genug sein, um
die Selbstbeschädigung der normativen Ansprüche von Zivilgesellschaften in Grenzen zu halten. Dies wäre die gemeinsame Botschaft von
.Transparency International' und lokalen Bündnissen gegen Rechts.
Defensive Orientierungen, die mit den wachsenden zivilgesellschaftlichen Schattenseiten
gestärkt werden, machen vergessen, dass die
Wiederentdeckung von Zivilgesellschaft in den
Oppositionsbewegungen Osteuropas und den
neuen sozialen Bewegungen von einem radikalen Veränderungsschwung getragen war. AnDie Diagnose einer lebendigen Zivilgesell- gezeigt war z.B. ein institutioneller Umbau von
schaft muss deshalb nicht Trendaussagen wi- staatlicher Politik, der dem gewachsenen bürdersprechen, die von einer weiteren , inneren gerschaftlichen Selbstbewusstsein entsprechen
Landnahme' durch eine expansive kapitalisti- sollte, wie es vor allem in den neuen sozialen
sche Ökonomie ausgehen bzw. eine weitere Bewegungen und Protestinitiativen zum AusDurchstaatlichung der Zivilgesellschaft kon- druck gebracht wird (Roth 1999). Die Demo-
71
teressiert (vgl. Sozialministerium Baden-Württemberg 2000).
Dort findet sich auch die wohl umfangreichste
Netzseite mit Beiträgen und Studien zu .social
capital' (www.worldbank.org/poverty/scapital/
methods/index.htm).
Einen ersten kritischen Überblick bietet eine für
die Friedrich-Ebert-Stiftung angefertigte Expertise (Roth 2003).
Vermutungen, Mitgliedschafts- und Engagementquoten indizierten den Zustand der gesellschaftlichen Integration, haben bislang 'eher metaphysischen als empirischen Charakter" (Friedrichs/Jagodzinski 1999: 14).
Nach dem Abschlußbericht der Enquete-Kommission (2002) sind inzwischen auch zehn Gutachtenbände in einer Reihe des Verlags Leske +
Budrich veröffentlicht worden.
Konturen dieses Programms finden sich bei Alexander (1998) und Heins (2002:79ff).
Offe und Fuchs haben hierfür die Begriff .negatives Sozialkapital' vorgeschlagen. Es entsteht in
Gruppierungen, „die ihre Mitglieder in aggressive
Nach dem 11. September lässt sich allerdings und ausschließliche Aktivitäten gegen den Rechtsim Tocquevilleschen Musterland eine weitere staat im Allgemeinen oder gegen genau bestimmMetamorphose der politischen Bedeutung so- te Zielsegmente der Gemeinschaft einbinden"
zialen Kapitals beobachten. Überrascht und er- (Offe/Fuchs 2001:454). Ihre Beispiele sind rechtsfreut diagnostiziert Robert Putnam seither ein und linksextreme Gruppierungen. Die Engftihrung
verstärktes ,bowling together' (2002) in der auf politischen Extremismus dürfte jedoch weder
US-Gesellschaft. Terror und Krieg wirken ge- der Verbreitung .negativen Sozialkapitals' noch
meinschaftsbildend. Die dadurch befestigte den vielen Abstufungen zum .positiven' Sozialkapital Rechnung tragen.
Gemeinschaft erinnert allerdings stark an die
In seiner Skizze zu einer Soziologie des VereinsWiederkehr einer im Innern angst- und gewesens parodierte bereits Max Weber 1910 die
waltgeprägten, nach außen barbarischen ,ka- politische Wirkung von Gesangvereinen auf ihre
sernierten Nation' (Heins 2002: 47), dem radi- Mitglieder. Aus ihnen werden sehr leicht .gute
kalen Gegenbild von Zivilgesellschaft. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHG
Staatsbürger' „im passiven Sinn des Wortes. Es
ist kein Wunder, dass die Monarchen eine so groRoland Roth ist Professor für Politikwissen- ße Vorliebe für derartige Veranstaltungen haben"
(Weber 1988:445).
schaft an der FH Magdeburg. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHG
Die schärfste Polemik gegen Putnam war der
Hinweis, dass es wohl besser gewesen wäre, wenn
Anmerkungen
Timothy McVeigh, der ,Oklahoma-Bomber', alleine gekegelt hätte, statt sich mit seinen MittäDas Netzwerk startete mit der Förderung von tern zum gemeinschaftlichen Bowlen zu treffen.
In diesem Zusammenhang lohnt eine neuerliche
Seniorengenossenschaften, hat aber längst eine große Förderbreite erreicht und sich auch für die öko- Lektüre von Negt/Kluge (1972: bes. 341ff &
nomische Bedeutung von Bürgerengagement in- 421ff).
kratisierung liberaler Demokratien benötigt
neue institutionelle Formen und kann sich nicht
in der Anrufung der Zivilgesellschaft erschöpfen. In jüngster Zeit werden zudem die Stimmen lauter, die zur Überwindung unziviler Entwicklung weiter gehen, als Bildungs- und Förderprogramme für bürgerschaftliches Engagement zu fordern: Sie nehmen die ökonomische
Ungleichheitsdynamik als zentrale Quelle für
unziviles Engagement in den Blick (Nullmeier
2002). Dass eine demokratische politische Lagerung zivilgesellschaftlichen Lebens entsprechende materielle Bedingungen benötigt, ist
banal. In einer Zeit neoliberaler Offensiven
geht es darum, am Anspruch sozialer Gerechtigkeit festzuhalten. Die enormen Mobilisierungen der globalisierungskritischen Bewegungen machen deutlich, dass die ,soziale Frage' nicht mehr nur im nationalen Kontext gestellt werden darf.
2
3
4
5
6
7
8
9
1
10
72 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA Roland Roth zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Die dunklen Seiten der Zivilgesellschaft
11
73
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Annette Zimmer zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Rahmenbedingungen der Zivilgesellschaft
Die unterschätzte Rolle d e s Staates
1
Einleitung
zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
und Familie beschrieben wird. Daran anschlie-
In Wissenschaft, Politik und allgemeiner Öffentlichkeit erfreut sich die Zivilgesellschaftsdebatte zunehmender Beliebtheit. Zu der Thematik werden zahlreiche Symposien abgehalten und diverse Aufsätze und Sammelbände
veröffentlicht. Zivilgesellschaft hat derzeit Konjunktur. Die Gründe für die Popularität der
Zivilgesellschaftsthematik sind vielfältig. Konstitutiv ist allerdings die positive Zukunftssicht,
die mit Zivilgesellschaft in Verbindung gebracht
wird. Doch jenseits ihrer normativen Relevanz
bedarf Zivilgesellschaft, wie jeder umfassende
und gefühlsbeladene Begriff der Operationalisierung (von Beyme 2000: 68). Wie ist es um
die Akteure der Zivilgesellschaft bestellt? Über
welche Handlungsspielräume verfügen sie?
Wie sind sie organisiert, wie werden sie finanziert? Welchen Handlungslogiken unterliegen
sie?
ßend werden vor dem Hintergrund der aktuellen Veränderung von Staatlichkeit Reformpotentiale und -restriktionen zivilgesellschaftlicher Organisationen in Deutschland thematisiert. Denn gerade „darin", so Michael Walzer,
„liegt die Paradoxie des Arguments der zivilen
Gesellschaft.... Er (der Staat) ist einerseits Rahmen für die zivile Gesellschaft, und nimmt
andererseits einen Platz in ihr ein. Er legt die
Grenzbedingungen und die grundlegenden Regeln aller Tätigkeiten in den Vereinigungen
fest" (Walzer 1992: 89).
2
Ziviigesellschaft als Reformmotor
Bei Zivilgesellschaft handelt es sich um ein
traditionsreiches und normativ überwiegend
positiv besetztes Konzept, das in jüngster Zeit
deutlich an politischer sowie wissenschaftlicher Relevanz gewonnen hat (Enquete-Kommission 2002). Nach Sachße bezieht sich das
Diese Fragestellungen verweisen auf den Kon- Konzept der Zivilgesellschaft maßgeblich auf
text zivilgesellschaftlicher Aktivität sowie auf das kritische Selbstverständnis einer politischen
die die zivilgesellschaftlichen Organisationen Gesellschaft (Sachße 2002: 23). Im aktuellen
prägende Umwelt. Hierbei kommt dem Staat politischen sowie demokratietheoretischen Disals normensetzender Instanz insbesondere im kurs wird daher vor allem das in die Zukunft
deutschen Kontext einer seit Hegel in hohem gerichtete dynamische Moment der ZivilgeMaße auf den Staat bezogenen Gesellschaft sellschaft und hier besonders auf ihr Potential
eine wichtige Bedeutung zu. Diese Kontextab- zur Erarbeitung von Reformperspektiven herhängigkeit zivilgesellschaftlicher Organisati- ausgestellt. Dass Zivilgesellschaft diese Funkonstätigkeit soll im Folgenden thematisiert wer- tionszuschreibung als gesellschaftlicher Reden, wobei auf die Infrastruktur von Zivilge- formmotor wahrnehmen kann, setzt gesellsellschaft Bezug genommen und diese als durch schaftliche und politische ,Zivilität' voraus.
gemeinnützige Organisationen geprägte gesell- Diese bezieht sich auf den ,zivilen Umgang'
schaftliche Sphäre jenseits von Staat, Markt miteinander sowie auf ein bestimmtes Niveau
Rahmenbedingungen
der Zivilgesellschaft
75
ter Effektivität staatlichen Handelns, wobei demokratische Legitimation im nationalstaatlichen Kontext als Resultante des ZusammenDie derzeitige Attraktivität des Konzepts der spiels dieser beiden Komponenten gedacht
Zivilgesellschaft ist insbesondere auf die Er- wird, so lassen sich derzeit Einbußen sowohl
schöpfung der Innovationspotentiale von Markt an input-orientierter Authentizität sowie an outund Staat zurückzuführen. Nach dem Ende des put-orientierter Effektivität und damit ein massozialdemokratischen Zeitalters sowie nach sives Legitimationsdilemma des Staates
Abflauen der neo-liberalen Markteuphorie der insgesamt feststellen. Auf praktisch konkreter
1980er Jahre werden Reforminitiativen und Ebene und bezogen auf die deutsche Situation
weitergehende Perspektiven verstärkt wieder werden Legitimationsdefizite insbesondere zuin der Gesellschaft und hier wiederum in der rückgeführt auf die krisenhafte Entwicklung:
zivilen Gesellschaft verortet. Als Reformperspektive und politisch-gesellschaftliche Zu- • der repräsentativen (Eliten-)Demokratie, die
kunftskonzeption grenzt sich Zivilgesellschaft
ihre gesellschaftliche Einbettung in Folge
daher notwendigerweise vom Status-quo ab,
der zunehmenden ,Parteien- und Politikvergleichzeitig ist Zivilgesellschaft, und zwar aufdrossenheit' sukzessive verliert,
grund ihres Charakters als Gegenentwurf zu
den herrschenden Verhältnissen', in hohem • des Wohlfahrtsstaates, dessen weiterer AusMaße kontextabhängig und insofern auf die
bau aus fiskalischen sowie arbeitsmarktpoderzeitige Verfasstheit von Staat und Geselllitischen und gerechtigkeitstheoretischen
schaft als kontextuelle Rahmenbedingung beGründen nicht mehr möglich ist,
zogen.
• des Neo-Korporatismus als eine spezifische
Form der Entscheidungsfindung unter maßZweifellos sind Staat und Verwaltung jedoch
geblicher Einbeziehung der Verbände, die
aktuell in hohem Maße auf Veränderung angeinzwischen als ,,faktisch() korporative() Verlegt. Ohne auf die umfangreiche Literatur zur
machtung der formalen Strukturen verfasKrise staatlichen Handelns, zum Re-Inventing
sungsmäßig gewährleisteter demokratischer
Government sowie zu den neuen GovernanceWillensbildung" (Sachße 2002: 23) charakStrukturen des Regierens auf lokaler, regionaterisiert wird.
ler und internationaler Ebene einzugeben, wird
übereinstimmend eine Entwicklung vom
ehemals hoheitlich autoritativen hin zum koo- Mit Zivilgesellschaft als normativem Konzept
perativen und aktivierenden Staat konstatiert wird somit die Hoffnung in Verbindung geund damit ein grundsätzlicher Wandel von bracht, ein Mehr an Demokratie und sozialer
Staatlichkeit hinsichtlich der Funktions-, Rol- Gerechtigkeit wie auch an gesellschaftlicher
len- und Aufgabenzuweisung staatlichen Han- Rückkoppelung politischer Entscheidungsfindelns theoretisch reflektiert und empirisch do- dungsprozesse zu garantieren. Angesichts dieses Erwartungshorizontes stellt sich die Frage
kumentiert.
nach den Akteuren der Zivilgesellschaft, die
Folgt man der in den 1970er Jahren von Fritz für Entwicklung sowie Konkretisierung des in
Scharpf eingeführten demokratietheoretisch Abgrenzung und als Gegenentwurf zum Staanalytischen Unterscheidung zwischen input- tus-quo zu konzipierenden gesellschaftlich-poorientierter Authentizität und output-orientier- litischen Konzeptes verantwortlich sind.
der demokratischen Ausgestaltung der res publica.
76 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Rahmenbedingungen der Zivilgesellschaft
Annetie Zimmer zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
3
Zur zivilgesellschaftlichen
Dritten-Sektor-Ansatz fehlt jedoch die normaInfrastruktur zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
tive Stoßrichtung und die für die Zivilgesellschaftsdebatte konstitutive Abgrenzung gegenDas gesellschaftliche Reformpotential wird über der aktuellen Verfasstheit von Staat und
trotz unterschiedlicher disziplinarer und ideen- Gesellschaft. Während unter der Dritten-Sekgeschichtlicher Provenienz der Autoren über- tor-Perspektive sogar explizit auf die Kontexteinstimmend in einem Bereich verortet, der abhängigkeit der Organisationen Bezug genomals „Raum gesellschaftlicher Selbstorganisati- men und auch handfeste Indikatoren, wie etwa
on zwischen Staat, Ökonomie und Privatheit" die Ressourcenausstattung, als Ergebnis histo(Kocka 2002: 16) definiert wird. So bildet für risch gewachsener gesellschaftspolitischer
Jürgen Habermas „den Kern der Zivilgesell- Makro-Strukturen erklärt werden, besteht das
schaft ... ein Assoziationswesen, das problem- Ziel des Zivilgesellschaftskonzeptes gerade
lösende Diskurse zu Fragen allgemeinen Inter- darin, mittels Orientierung an einem in die Zuesses im Rahmen veranstalteter Öffentlichkeit kunft gerichteten ,utopischen Programm' (Duinstitutionalisiert" (Habermas 1992:443f.). Für biel 1994: 67) diesen Status-quo zu UberwinRalf Dahrendorf ist Zivilgesellschaft in klas- den.
sisch-liberaler Tradition gekennzeichnet durch
„die Existenz autonomer, d.h. nicht staatlicher Aus gutem Grund wird daher in den demokraoder in anderer Weise zentral geleiteter Orga- tietheoretischen Debatten zur Chancenstruktur
nisationen" (Dahrendorf 1991: 262). Und Mi- und zum korrektiven Potential der Zivilgesellchael Walzer verweist insbesondere auf den schaft die institutionelle Einbettung der zivilNetzwerkcharakter der Zivilgesellschaft als gesellschaftlichen Akteure bzw. Organisatio„Raum von (zwischenmenschlichen) Vereini- nen meist ausgeblendet.
gungen, die nicht erzwungen sind" (Walzer
1992: 65). Die Infrastruktur der Zivilgesell- Zweifelsohne ist aber die Infrastruktur von Zischaft wird danach durch das assoziative Mo- vilgesellschaft, das Assoziationswesen und Enment der Gesellschaft gebildet, wobei nach semble der Vereine, Verbände, Initiativen,
Kocka der Begriff der Zivilgesellschaft meist NPOs und NGOs auch .abhängige Variable'
mit ,positiven Assoziationen' verbunden wird der ökonomischen, politischen und rechtlichen
(Kocka 2002: 17).
Verfasstheit der jeweiligen Gesellschaft und
Dieses assoziative Moment sowie die Verortung der Assoziationen zwischen Staat, Markt
und Gemeinschaft bilden die Schnittmenge
zwischen dem demokratietheoretisch-normativen Konzept der Zivilgesellschaft und dem
empirisch-organisationssoziologisch orientierten Dritten-Sektor-Ansatz. Beide Perspektiven
- Zivilgesellschaft und Dritter Sektor - nehmen Bezug auf jene Organisationen, die im
Geleitzug der Modernisierung bei der Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft entstanden
sind und deren konstituierendes Element auf
Freiwilligkeit beruht (Anheier et al. 2000). Dem
insofern in hohem Maße abhängig von den
betreffenden gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Sobald Zivilgesellschaft nicht als
normatives, sondern als deskriptiv-analytisches
Konzept (Kocka 2002: 16) zur Beschreibung
dieses spezifischen gesellschaftlichen Bereichs
verwandt wird, kommt man um die Bestimmung der Kontextbedingungen der betreffenden Organisationen und damit um eine Analyse ihrer jeweiligen Umwelt in rechtlicher, ökonomischer und politischer Hinsicht nicht
umhin. Zu beschreiben und analytisch in den
Griff zu bekommen sind die jeweiligen institutionellen Rahmen- und Umweltbedingungen,
das betreffende ,regulatory environment' zivilgesellschaftlicher Aktivität und Infrastruktur, und damit die hier anzutreffenden Organisations- und Rechtsformen sowie die steuerrechtlichen Anreize und Restriktionen einerseits
sowie andererseits die spezifische Einbindung,
die ,embeddedness' der Organisationen im Sinne von Granovetter (1985) und damit ihre historisch-gewachsene gesellschaftspolitische
Funktions- und Aufgabenzuweisung, die in der
Regel in bestimmten Leitbildern und -Vorstellungen - wie etwa dem der deutschen Subsidiarität, des britischen ,voluntarism' oder der
französischen ,economie sociale' - auf den
Begriff gebracht werden. Es dürfte klar sein,
dass die Analyse der Kontextbedingungen zivilgesellschaftlicher Organisationen nicht auf
eine Betrachtung ihrer Rechtsformen, Finanzierungs- und Leistungsstrukturen beschränkt
werden kann. Vielmehr ist hiermit die Untersuchung der spezifischen Koppelungsmuster
dieser Organisationen mit den beiden Konkurrenzsektoren angesprochen. Es geht um die
Analyse des kritischen Potentials zivilgesellschaftlicher Organisationen gegenüber Staat
und Wirtschaft, wie auch ihrer realen und potentiellen Kooperationen mit Organisationen
der anderen beiden Bereiche. Bei diesen Koppelungsmustern handelt es sich um gewachsene Strukturen. Die gesellschaftspolitische Funktionswahrnehmung zivilgesellschaftlicher Organisationen, beispielsweise ihre Relevanz in
der wohlfahrtsstaatlichen Leistungserstellung
oder ihre Rolle als lebensweltlich eingebundene Integrationsinstanzen im Sinne des deutschen Vereinswesens, ist analog zur spezifischen gesellschaftspolitischen Einbindung von
Gewerkschaften oder Parteien historisch gewachsen und Ergebnis zeitlich-gestreckter gesellschaftspolitischer Entwicklungen (zu
Deutschland vgl. Zimmer 1997).
Da im Rahmen der Zivilgesellschaftsdiskussion eine Systematisierung der Organisationen
77
im Hinblick auf ihre gesellschaftspolitischen
Funktionszuweisungen bisher nicht vorgenommen wurde, wird im Folgenden auf eine im
Rahmen der Dritten-Sektor-Forschung entwickelte und in erster Linie funktionale Kriterien
berücksichtigende Typologie (Handy 1991)
Bezug genommen, wobei es sich jedoch in
erster Linie um eine analytische Unterscheidung handelt, die in der Realität in dieser
Trennschärfe nicht anzutreffen ist. Danach lässt
sich das Universum der zivilgesellschaftlichen
Organisationen im Hinblick auf ihre Zielsetzung und gesellschaftlichen Funktionszuweisung einteilen in:
• Mitgliederorganisationen,
• Dienstleister,
• Interessenvertretungsorganisationen für Mitglieder,
• Interessenvertretungsorganisationen für Dritte sowie
• Stiftungen bzw. Unterstützung zur Verfügung stellende Organisationen.
Während den Mitgliederorganisationen als
klassischen Vereinen die Handlungslogik der
Reziprozität zu Grunde liegt und sie insofern
als ,Sozialkapitalerzeuger' im Sinne von Putnam (1995: 67) zu charakterisieren sind, handeln Interessenvertretungsorganisationen entweder primär im Eigeninteresse ihrer Mitgliedschaft (Verbände und Gewerkschaften), oder
aber sie sind themenanwaltlich im Dienst der
Allgemeinheit sowie spezieller Gruppen und
Anliegen tätig. Zu letzteren zählen sicherlich
solche Gruppen und Initiativen wie Attac, ProAsyl, Greenpeace oder Amnesty International,
auf die sich die aktuelle zivilgesellschaftliche
Debatte vorrangig bezieht. Die Dienstleistungsorganisationen sind gemeinnützige bzw. Non-
78 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Annette Zimmer zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Rahmenbedingungen der Zivilgesellschaft
profit-Unternehmen, die ein weites Spektrum
von Tätigkeitsbereichen abdecken. Die Zugehörigkeit dieser Organisationen zur Zivilgesellschaft ist aufgrund ihres unternehmensähnlichen Charakters umstritten. Nicht zu bestreiten ist jedoch, dass die Mehrheit dieser Dienstleister ihre Existenz aufgrund zivilgesellschaftlicher und damit gegen den Status-quo gerichteten Initiativen verdankt, wie sich am Beispiel des Internationalen Roten Kreuzes, der
Caritas oder auch des Y M C A zeigen lässt. Bei
den Unterstützern handelt es sich im Wesentlichen um Stiftungen, denen als primär fördernde Einrichtungen (,funding intermediaries')
zumindest international eine wichtige Rolle für
die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Aktivität, und zwar maßgeblich durch die Finanzierung von Initiativen und Projekten zukommt,
die nicht von der öffentlichen Hand gefördert
werden. Einige der großen amerikanischen Stiftungen, wie etwa die Ford oder die Carnegie
Foundation, sind durchaus als Beispiele einer
Stiftungspolitik zu nennen, die wesentlich zur
gesellschaftlichen Akzeptanz innovativer Projekte, Ideen und Organisationen beigetragen
haben.
79
gung, während die Themenanwälte und Advosource. Im Rahmen der gemeindlichen Selbst- tigtem Vollzeitpersonal. Wie die Ergebnisse der
cacy Organisations mit z.T. umfänglichem Sorverwaltung bilden sie ein wichtiges Element Verbändeforschung zeigen, sind diese Organitiment von Verkaufsartikeln als Akteure am
der Lokalpolitik wie auch der sozial-integrati- sationen in Deutschland in zentralen PolitikMarkt tätig sind. Schließlich weisen Stiftunfeldern ganz maßgeblich an der Politikformuven Gemeinschaft (Zimmer 1998).
gen, vor allem die derzeit populäre Form der
lierung beteiligt. Charakteristisch für DeutschBürgerstiftung oder Community Foundationen,
land ist die neo-korporatistische Einbindung
Dienstleister
insofern eine gewisse Nähe zu klassischen Verder Interessenvertretungsorganisationen für
einen auf, als auch sie VergemeinschaftungsDie unter dem Leitbild der Subsidiarität in ho- Mitglieder (Streeck 1999). Gemeint ist hiermit,
und Identifikationsprozesse ermöglichen. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
hem Maße in die wohlfahrtsstaatliche soziale dass die Repräsentanten der InteressenvertreDienstleistungserstellung eingebundenen Mit- tungsorganisationen - entgegen einer eher plugliederorganisationen der Wöhlfahrtsverbände ralistischen Einbindungsstruktur - nicht nur
4 Zivilgesellschaftliche
sind hier zu nennen. Siefinanzierensich haupt- als Lobbyisten oder als gleichberechtigte PartOrganisationen in Deutschland
sächlich durch Leistungsentgelte der Kosten- ner an der Entscheidungsfindung und Politikträger (Sozialversicherungen, öffentliche Hän- implementation beteiligt sind, sondern der Staat
Mit Hilfe des kategorialen Sets von Mitgliede). Spenden kommt demgegenüber eine ihnen in wichtigen Bereichen sogar die Entderorganisationen, Dienstleistem, Interessenvergleichsweise geringe Bedeutung zu. scheidungsfindung gänzlich oder zum Teil
vertretungsorganisationen für Mitglieder und/
Insbesondere für die im Bereich soziale Dienst- überlässt bzw. überträgt. Als klassische Bereioder für Dritte sowie Stiftungen lässt sich auch
leistungen tätigen Organisationen gewinnen che einer .Regierung der Verbände' sind die
die zivilgesellschaftliche Infrastruktur Deutschdirekt
am Markt und somit nicht über Leis- Tarifpolitik und bisher immer noch das Gelands hinreichend erfassen. Zudem ermöglitungsentgelte erwirtschaftete Einnahmen zu- sundheitswesen in Deutschland anzuführen.
chen Angaben über die jeweilige Ressourcennehmend an Relevanz. Die Ehrenamtlichkeit
ausstattung der Organisationen, wie sie im Rahist bei den Mitgliederorganisationen der Wohl- Interessenvertretungsorganisationen für
men der Deutschlandstudie des Johns Hopkins
fahrtsverbände im Vergleich zum lokalen Ver- Dritte
Comparative Nonprofit Project ermittelt wureinswesen weniger ausgeprägt. Je nach Größe
den (Priller/Zimmer 2001: 213), Rückschlüsse
und Tätigkeitsbereich der Organisationen han- Hierzu sind die Themenanwälte oder Advocaauf die spezifische ,embeddedness' oder Eindelt es sich um hoch-professionalisierte Be- cy-Groups zu rechnen, die für Anliegen Dritbindungsstruktur der Organisationen und datriebe mit überwiegend Vollzeit-beschäftigten ter eintreten und vor allem in den Bereichen
mit auf ihre historisch-gewachsenen gesellMitarbeitern. Spezifisch für die Dienstleister Internationale Aktivitäten, Menschen- und BürBei dieser Differenzierung handelt es sichzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
auch schaftspolitischen Funktions- und Aufgabenin Deutschland ist ihre funktionale Einbindung gerrechte sowie Umwelt- und Naturschutz täinsofern um eine rein analytische, als sich zi- zuweisungen. Wendet man die beschriebenen
in das ,duale System' der sozialstaatlichen tig sind, also in jenen Politikfeldern, die im
Kategorien
auf
die
zivilgesellschaftlichen
Orvilgesellschaftliche Organisationen in der ReDienstleistungserstellung (Sachße 1995).
Kontext der neuen sozialen Bewegung an Begel durch Multifunktionalität auszeichnen ganisationen in Deutschland an, so ergibt sich
deutung und im Rahmen des Zivilgesellschafts(Zimmer/Priller 2001: 274f). Auch Mitglieder- das folgende Bild:
diskurses an öffentlicher Aufmerksamkeit georganisationen sind als Interessenvertretungen
Interessenvertretungsorganisationen
wonnen haben. Im Hinblick auf Finanzierung
tätig, wie insbesondere die Arbeiten der Com- Mitgliederorganisationen
für Mitglieder
sowie Mitarbeiterstrukturen bilden diese Ormunity Power Schule mit ihrem Akzent auf
den lokalen freiwilligen Vereinigungen/Verei- Hierunter sind die lokalen Organisationen des
Dieser Gruppe sind die berufsständischen In- ganisationen eine interessante Gruppe. Sie fine zeigen. Entsprechendes gilt für die Dienst- Vereinswesens des Kultur-, Hobby-, Freizeitteressenvertretungsorganisationen, die Wirt- nanzieren sich in zunehmenden Maße einerseits
leister, die häufig aus Interessenvertretungsor- und Sportbereichs zu fassen. Mitgliederbeiträschaftsverbände sowie die Gewerkschaften zu- aus Einnahmen am Markt sowie andererseits
ganisationen entstanden und auch nach wie ge sind ihre wesentliche Einnahmequelle, erzuordnen. Sie sind vorrangig mitgliederfinan- durch beachtliche Spendeneinnahmen. Allervor für spezifische Gruppen advokatorisch tä- gänzt durch Spenden- und Sponsoringgelder
ziert. Weder Spenden noch Zuzahlungen der dings kommt mit Ausnahme der im Umwelttig sind. Wie aus der Gewerkschaftsforschung sowie kleinere Förderbeiträge der Kommune.
öffentlichen Hand sind hier von Relevanz. Die und Naturschutz tätigen Organisationen der Fibekannt, stellen die mitgliederbasierten Inter- Ehrenamtliches Engagement ist für diese OrOrganisationen zeichnen sich durch einen ho- nanzierung durch die öffentliche Hand ebenfalls
essenvertretungen in erheblichen Ausmaße ganisationen, die einen niedrigen Professionahen Grad an Professionalisierung aus und ar- eine erhebliche Bedeutung zu (Zimmer 2001:
Dienstleistungen für ihre Mitglieder zur Verfü- lisierungsgrad aufweisen, eine zentrale Resbeiten überwiegend mit hauptamtlich beschäf- 341). Die Organisationen sind attraktiv für eh-
80 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Annette Zimmer zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Rahmenbedingungen der Zivilgesellschaft
renamtliches Engagement. Gleichwohl zeichnen sie sich durch einen ganz beachtlichen
Professionalisierungsgrad aus. Je nach Politikfeld und Tätigkeitsebene entspricht die gesellschaftspolitische Einbindung der Themenanwälte in Deutschland eher dem neo-korporatistischen oder aber dem pluralistischen Modell (Lobbying) der Interessenvermittlung und
-Vertretung. Beispielsweise sind im Bereich Internationale Aktivitäten einige Organisationen,
die in Krisenregionen humanitäre Hilfe leisten, bereits seit langem aktive Partner staatlicher Politikgestaltung. Vermittelt über ihre
Dachorganisationen, wie etwa die Caritas bei
Caritas International, besteht eine sehr enge
Koppelung an staatliche Instanzen. Entsprechendes gilt nicht in gleichem Maße für jüngere Organisationen, die entweder in eine
staatsnahe Funktionswahrnehmung erst hineinwachsen, oder die dies auch strikt ablehnen
1
81
und sich primär als Korrektiv staatlicher Entes in Deutschland praktisch nicht (Bertelsmann Schöffentätigkeit, der mit Honoratioren besetzten Ausschüsse, wie etwa den Jugendhilwicklungshilfe und -politik verstehen (Beispiele
1998).
feausschüssen und den diversen Beiräten auf
hierzu finden sich in Frantz/Zimmer 2002).
Insgesamt lässt sich in Deutschland aber
Das Ausmaß der Zivilität dieses Organisati- lokaler Ebene. Die Klagen über die zurückstaatlicherseits eine zunehmende Indienstnahonsspektrums, also inwiefern diese Organisa- gehende Bereitschaft zu zivilgesellschaftlime der Themenanwälte und damit eine flietionen in Deutschland aktuell „der Alltagsre- chem bzw. ehrenamtlichem Engagement in
ßende Grenze zwischen Advocacy und Dienstalität unserer Verfassung gleichsam den Spie- Deutschland beziehen sich vorrangig auf dieleistungserstellung in staatlichem Auftrag festgel ihrer eigenen Ansprüche" vorhalten (Sach- sen Bereich der traditionell-staatsnahen Hostellen (vgl. Zimmer/Hallmann 2001). zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
ße 2002: 23) und dadurch implizit einen Ge- noratiorentätigkeit (Sachße 2000: 77). Histogenentwurf als .konkrete Utopie' zum Sta- risch verbunden hat sich dieser preußische
tus-quo entwickeln, wird in der Literatur zwar Etatismus mit einem von der katholischen KirStiftungen
unterschiedlich, in der Tendenz jedoch eher che und zunächst dem Zentrum und später
skeptisch beurteilt. Nach Bauer unterliegt in der CDU/CSU gestützten sozialpolitischem
Da in Deutschland überwiegend der Typ der
Deutschland „das Assoziationswesen vor al- Engagement, das aber in seinem Ursprung
Anstaltsstiftung anzutreffen ist, der keine Prolem staatlichen Steuerungsdirektiven" (Bauer wenig emanzipatorisch, sondern vorrangig pajekte fördert, sondern sein eigenes Stiftungs1997: 149). Aus der Sicht von Anheier et al. ternalistisch und sozial disziplinierend angeprogramm umsetzt, kommt Stiftungen als ,funsind zivilgesellschaftliche Organisationen ein- legt war (vgl. zur Jugendpflege zwischen
ding intermediaries' eine vergleichsweise gegebettet in eine Tradition, die sich als Kom- „Schule und Kasernentor" Gängler 1995:
ringe Bedeutung zu. Mit den großen .liberal
bination aus preußisch-protestantischem Etat- 178). Bereits in der Weimarer Republik wurindependent foundations' der USA vergleichismus und katholischem Paternalismus cha- de in Grundzügen das ,duale System' des bunbare, innovative und fördernde Stiftungen gibt
rakterisieren lässt (Anheier et al. 2000: 93). desdeutschen Wohlfahrtsstaates etabliert, woBezug genommen wird hierbei auf die Ein- ran Zentrum, Katholische Kirche sowie die
bindung der Organisationen und der in ihnen auf Reichsebene erstarkende Sozialbürokragebundenen zivilgesellschaftlichen Aktivität tie maßgeblich beteiligt waren. Vermittelt über
in den preußisch-hoheitlichen Verwaltungs- die Wohlfahrtsverbände ist diese Grundstrukvollzug. Frühzeitig wurde in Deutschland das tur der sozialen Dienstleistungserstellung in
Potential zivilgesellschaftlicher Aktivität für zivilgesellschaftlicher Trägerform, aber in
eine .Modernisierung von oben' erkannt. So staatlichem Auftrag und in enger staatlicher
appellierte bereits Freiherr von Stein in der Anbindung in Deutschland nach wie vor inNassauer Denkschrift an die „Belebung des takt (Sachße 1995). Analog zur neo-korporaGemeingeistes und Bürgersinnes" (zitiert nach tistischen Einbindung von Gewerkschaften,
Thamer 2000: 289). Und dies nicht ohne Hin- Berufsvereinigungen und Wirtschaftsverbäntergedanken. Im Zuge der preußischen Ver- den bildet die herausragendende Stellung der
waltungsreform wurden die Bürger zur Über- Wohlfahrtsverbände ein konstitutives Element
nahme „öffentlicher Stadtämter" verpflichtet, von Staatstätigkeit in Deutschland (Schmid
ohne ein Entgelt dafür beanspruchen zu kön- 1996; Katzenstein 1987). Insofern werden
nen (Sachße 2000: 75f). Die Stadt Elberfeld weder von den subsidiär eingebundenen Mitorganisierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- gliederorganisationen der Wohlfahrtsverbänhunderts die öffentliche Armenpflege als zi- de als Dienstleistern und funktionalen Äquivilgesellschaftliche Aktivität. Die Ehrenmän- valenten sozialstaatlicher Einrichtungen, noch
ner wurden aus der Gruppe der Besserver- von den Interessenvertretungsorganisationen
dienenden' rekrutiert, die dieses Amt für drei für Mitglieder - den Gewerkschaften und VerJahre unentgeltlich auszuüben hatten. Fortge- bänden - als im Arrangement des ,korporasetzt wird diese Tradition u.a. in Form der tistischen Paktierens' (Bauer 1997: 149) fest
82 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
eingebundenen Akteuren, noch von den eher
lebensweltlich orientierten und in den Strukturen der gemeindlichen Selbstverwaltung integrierten Vereinen vor Ort in großen Stil reformerische Impulse erwartet. Unter den gegebenen Kontextbedingungen werden zivilgesellschaftlich-reformorientierte Perspektiven vorrangig mit den Interessenvertretungsorganisationen für Dritte und damit mit den
Themenanwälten und Advocacy Groups in
Verbindung gebracht. Allerdings wird hier bei
den größeren und älteren Organisationen
ebenfalls eine zunehmende Inkorporierung in
staatliche Leistungserstellung und damit eine
Anpassung an den Status-quo konstatiert. Diese eher skeptische Bewertung der reformerischen Potentiale der zivilgesellschaftlichen
Organisationen in Deutschland ergibt sich vor
allem aufgrund der Einschätzung der historisch gewachsenen Kontextbedingungen, also
der tradierten Verfasstheit von Staat und Gesellschaft.
5
Annette Zimmer zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Rahmenbedinqungen der Zivilgesellschaft
Demokratisch, effizient, integrativ
So werden mit der Zielsetzung der Steigerung
der output-orientierten Effizienz staatlichen
Handelns derzeit Gestaltung und Implementation von Politik verstärkt vergesellschaftet und
in einem immer größer werdenden Umfang
von zivilgesellschaftlichen Organisationen
wahrgenommen. Hierdurch gewinnen diese als
private, aber im öffentlichen Interesse arbeitenden Dienstleister weltweit einen immer bedeutenderen Stellenwert. Dies gilt für Politikbereiche, die den Kern der klassischen wohlfahrtsstaatlichen Dienstleistungserstellung ausmachen - wie Gesundheit, soziale Dienste und
Erziehung - , ebenso wie für neue Politikfelder, die erst im Zuge der neuen sozialen Bewegungen sowie infolge zunehmender Globalisierung und Internationalisierung an Bedeutung gewonnen haben, wie etwa Umwelt- und
Naturschutz, humanitäre Hilfen oder Menschenrechtspolitik (Frantz/Zimmer 2002). Im
Geleitzug dieser Entwicklung werden an zivilDiese überkommenen Kontextbedingungen gesellschaftliche Organisationen, die als priwerden aber durch gravierende Änderung so- vat-gemeinnützige Dienstleister im öffentlichen
wohl der Gesellschaft sowie auch von Markt Auftrag tätig sind, in hohem Maße Forderunund Staat, die meist mit den Stichwörtern Glo- gen herangetragen, die der New Public Mabalisierung/Internationalisierung sowie Indivi- nagement-Bewegung zuzurechnen sind. Die
dualisierung auf den Begriff gebracht werden, Organisationen haben ihre betriebswirtschaftderzeit nachhaltig ins Wanken gebracht. Nicht liche Effizienz zu verbessern, ihre gesamtgezuletzt gewinnt der zivilgesellschaftliche Dis- sellschaftliche Effektivität zu erhöhen, sich zu
kurs dadurch seine gesellschaftspolitische Re- professionalisieren und sich auf die wachsenlevanz, dass von den Organisationen der Zivil- de Konkurrenz sowohl am Markt der öffentligesellschaft weitergehende Reformperspekti- chen Aufträge als auch am Markt der Spenven hinsichtlich des Verlustes an output-orien- den- und Sponsoringgelder einzustellen.
tierter Effizienz, input-orientierter Authentizität, an gesellschaftlicher Einbindung sowie Doch der Wandel von Staatlichkeit führt nicht
RUckkoppelung staatlichen Handelns erwartet nur zu einer Intensivierung des Anforderungswerden. Konkret sollen die Organisationen u.a. profils an die Organisationen als Dienstleister,
dazu beitragen, die Krise der repräsentativen sondern gleichzeitig zu einer Neubewertung
(Eliten-) Demokratie, des Wohlfahrtsstaates ihrer politischen Funktion wie auch zu einem
sowie der neo-korporatistischen Entscheidungs- Bedeutungsgewinn ihrer sozialintegrativen sofindungs- und Umsetzungsprozesse zu über- wie gemeinschaftsbildenden Potentiale. In diewinden. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
sem Kontext sind zivilgesellschaftliche Orga-
nisationen als non-gouvernmentale einerseits
und als sozialintegrative oder intermediäre
andererseits bzw. als Interessenvertretungsorganisationen und Themenanwälte sowie als
Mitgliederorganisationen gefordert. Themenanwälten/NGOs kommt als politischen Akteuren im Rahmen von Global Governance im
Prozess internationaler Deliberation jenseits traditioneller Nationalstaatlichkeit eine wichtige
Bedeutung zu. Infolge der Herausbildung des
Mehrebenensystems der Politikgestaltung im
europäischen Kontext haben zivilgesellschaftliche Akteure als hoch-professionalisierte Themenanwälte bzw. Lobbyisten gerade in Europa nachhaltig an Relevanz gewonnen. Zumal
die Europäische Union sich aufgrund ihres eher
kleinen Verwaltungsapparates mittels gezielter
Finanzierung und damit strukturellen Aufbaus
von in Brüssel basierten zivilgesellschaftlichen
Organisationen ihr kritisches Potential strategisch selbst schafft.
83
soll mittels Engagement in zivilgesellschaftlichen Organisationen beigelegt werden.
Insgesamt sieht sich die Infrastruktur der Zivilgesellschaft derzeit mit der dreifachen Anforderung konfrontiert, in Ergänzung der klassischen Legitimationsgaranten, nämlich repräsentative Parteiendemokratie und hoheitliche
Verwaltung, dazu beizutragen sowohl outputorientierte Effizienz, input-orientierter Authentizität als auch gesellschaftliche Integration und
affirmative Bindung der Bürger und Bürgerinnen an das politische Gemeinwesen sicherzustellen. Insofern werden unter den veränderten Kontextbedingungen zivilgesellschaftliche
Organisationen mit multiplen Zuständigkeiten
in Verbindung gebracht, und zwar indem sie
gleichzeitig als Garanten von Sozial- sowie
Systemintegration, effektiver Entscheidungsfindung und effizienter sozialer Dienstleistungserstellung betrachtet werden. Insbesondere im
alltagspolitischen Diskurs wird mit zivilgesellDarüber hinaus wird mit Zivilgesellschaft und schaftlichen Organisationen gleich ein ganzes
konkret mit den Mitgliederorganisationen die Bündel von Erwartungshaltungen in VerbinHoffnung verbunden, die gesellschaftliche Ein- dung gebracht. Gekoppelt werden diese Erbindung von Politikgestaltung zu gewährleis- wartungen häufig mit vertragstheoretischen
ten. Indiz hierfür ist die intensiv geführte Dis- Überlegungen, wobei das Effizienzargument
kussion zu Sozialkapital und bürgerschaftli- der New Public Management Bewegung mit
chem Engagement. Da die mitgliedschaftliche der Argumentationsfigur der betriebswirtschaftBindung an Partei, Gewerkschaft und Kirche lichen Leistungsvereinbarung im Sinn des Konzurückgeht, die Wählerfluktuation zunimmt traktmanagements verbunden wird. Die Verund die Politiker- und Funktionärsklasse zu- bindung zum wohlfahrtsstaatlichen Gerechtignehmend professionalisiert, sollen der Verlust keitsdiskurs wird unter Bezugnahme auf John
gemeinschaftlicher Orientierung sowie die Lo- Rawls und seine Konzeption einer gerechten
ckerung der sozialen Netze und lokalen Bin- gesellschaftlichen Institutionenbildung konzepdungenzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
auch ausgeglichen werden durch die tionalisiert. Schließlich wird im Hinblick auf
Aktivierung der Zivilgesellschaft. Bürger und die Legitimationsdefizite des modernen InterBürgerinnen werden von der Politik aufgefor- ventionsstaates auf die klassische Konzeption
dert, sich verstärkt zu engagieren, in Selbsthil- des Gesellschaftsvertrages Bezug genommen,
fegruppen, Sportvereinen und Hobby-Initiati- wobei zivilgesellschaftliche Organisationen als
ven zusammenzukommen, um dort Ge- an der Konstitution von politischer Herrschaft
meinschaft einzuüben und im Sinne von maßgeblich beteiligte Vermittler zwischen Inde Tocqueville in die Schule der Demokratie dividuum und demokratischer Herrschaft chazu gehen. Politik- und Parteienverdrossenheit rakterisiert werden.
84 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Annette Zimmer zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Rahmenbedingungen der Ziviigesellschaft
85
Mehr Zivilgesellschaft wagen! zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
keit räumen zivilgesellschaftlichen Organisaihnen verbundenen Reformperspektiven auch der Gesamtbeschäftigung am ausgeprägtesten,
tionen enge Grenzen im Hinblick auf die Eintatsächlich entwickeln und umsetzen, muss während die Vergleichsangaben für die Bereiche
Allerdings wird in der zivilgesellschaftlich ori- Werbung steuerlich nicht zu veranlagender
man diese auch hierzu in die Lage versetzen. Umwelt mit sechs Prozent und Bürger- und Verentierten Reformdebatte meist übersehen, dass Spendengelder ein. Entsprechendes gilt
Doch auch hier hinkt Deutschland der inter- braucherinteressen mit drei Prozent eher bescheidie Organisationen auch in der Lage sein müs- insbesondere auch für die Einnahmen aus
nationalen Entwicklung maßgeblich hinterher. den ausfallen.
sen, diese weitergehenden Reformperspekti- wirtschaftlicher Tätigkeit. Eine QuerfinanzieWährend in den U S A und im europäischen
ven zu verwirklichen, womit nicht zuletzt ihre rung zivilgesellschaftlicher Aktivität durch am
Ausland inzwischen Kurse zu Themen wie Literatur
Ressourcenabhängigkeit sowie die ihnen Markt erzielte Einnahmen ist in Deutschland
etwa Philanthropie, Nonprofit-Mangement,
durch die rechtlichen Rahmenbedingungen so gut wie unmöglich. Die Infrastruktur der
Zivilgesellschaft, NGO und Governance zum Anheier, Helmut/Priller, Eckhardt/Zimmer, Anneteingeräumten Handlungsspielräume und -re- Zivilgesellschaft ist gemäß der preußisch-etauniversitären Alltag gehören, sucht man in te 2000: Zur zivilgesellschaftlichen Dimension des
striktionen angesprochen sind (Betzelt 2001). tistisch sowie katholisch-paternalistischen TraDeutschland danach vergebens. Zunehmend Dritten Sektors. In: Klingemann, Hans-Dieter/
Ebenfalls wird kaum thematisiert, dass die dition Deutschlands sehr staatsnah konzipiert.
eingerichtet werden dagegen Studiengänge an Neidhardt, Friedhelm (Hrsg.): Die Zukunft der
Anforderungen an die zivilgesellschaftlichen Mit der Folge, dass abgesehen von StaatsFachhochschulen zum Bereich Sozialmanage- Demokratie, (WZB-Jahrbuch), Berlin: edition sigOrganisationen mit sehr unterschiedlichen, knete' kaum alternative Finanzressourcen zur
ment, wobei eine einseitige Orientierung auf ma, 71-98.
sich sogar einander ausschließenden Hand- Verfügung stehen.
kommerzielle Aspekte und Konkurrenz imp- Bauer, Rudolph 1997: Zivilgesellschaftliche Gestaltung der Bundesrepublik: Möglichkeiten oder
lungslogiken verbunden sind. So wird aktuell
liziert ist. Eher enttäuschend verläuft auch
Grenzen? - Skeptische Anmerkungen aus der Sicht
der Anforderungskatalog an die zivilgesell- Es ist zu hoffen, dass die wachsende Zahl der
die Debatte zum ,aktivierenden Staat' als Reder Nonprofit-Forschung. In: Schmals, Klaus M7
schaftlichen Organisationen von Seiten des Bürgerstiftungen zumindest auf der lokalen
formperspektive mit Bürgerbeteiligung. Zivil- Heinelt, Hubert (Hrsg.): Zivile Gesellschaft. EntStaates kontinuierlich erweitert, ohne dass je- Ebene dazu beitragen wird, diese ausgepräggesellschaft und aktivierender Staat werden wicklung, Defizite, Potentiale, Opladen:
doch gleichzeitig eine Erweiterung ihres te Abhängigkeit der zivilgesellschaftlichen Orhierbei in einschlägigen Publikationen nicht Leske+Budrich: 133-153.
Handlungsspielraums vorgenommen oder ih- ganisationen von öffentlicher Förderung
als sich ergänzende Bereiche, sondern gemäß Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) 2000: Handbuch Bürnen die Möglichkeit der Verbesserung ihrer zumindest ein Stück weit zu verringern (Berdeutscher Tradition in eine bestimmte Rang- gerstiftungen, Gütersloh: Verlag Bertelsmann StifRessourcenausstattung jenseits der Unterstüt- telsmann Stiftung 2000). Zudem gehen die
ordnung gebracht. Danach stellt „das hoff- tung.
zung durch die öffentliche Hand eingeräumt Zuschüsse der öffentlichen Hand an die zivilnungsbeladene Konzept einer Zivilgesellschaft Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) 1998: Handbuch Stifwürden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gesellschaftlichen Organisationen infolge der
... für sich erst einmal keine Orientierung für tungen, Wiesbaden: Gabler Verlag.
von Seiten der Organisationen der Staat als Finanzknappheit insbesondere der Kommueine grundlegende Staatsmodernisierung" dar. Betzelt, Sigrid 2001: Reformbedarf der rechüichen
ihr größtes Problem angesehen und nen kontinuierlich zurück. Innovative LösunInsofern nimmt „der aktivierende Staat... sei- und ökonomischen Rahmenbedingungen des Dritinsbesondere der Mangel an politischen Kon- gen, wie sie z.B. in einigen osteuropäischen
nen Anfang daher nicht in der Forderung nach ten Sektors. In: Priller, Eckhard/Zimmer, Annette
zepten kritisiert wird (Priller/Zimmer 2001: Ländern inzwischen eingeführt wurden, wo
Stärkung von Zivilgesellschaftlichkeit" (Lam- (Hrsg.): Der Dritte Sektor international. Mehr
Markt - weniger Staat?, Berlin: edition sigma:
219). Die Dienstleister sind in ihrem Hand- Bürger und Bürgerinnen die Möglichkeit haping et al. 2002: 36). Im Sinne eines „Mehr
293-317.
lungsspielraum u.a. begrenzt durch öffentli- ben, die Summe, die einem Prozent der indiZivilgesellschaft wagen" kann man nur hofBeyme, Klaus von 2000: Zivilgesellschaft - Von
ches Dienstrecht und Einbindung in die Ka- viduell zu zahlenden Steuer entspricht, direkt
fen, dass die Autoren nicht Recht behalten. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLK
der vorbürgerlichen zur nachbürgerlichen Gesellmeralistik. Meist sind sie als eingetragener und ohne Einflussnahme des Staates als fischaft? In: Merkel, Wolfgang (Hrsg.): SystemVerein organisiert, obgleich dies keine geeig- nanzielle Förderung an individuell ausgewählwechsel 5. Zivilgesellschaft und Transformation,
Annette
Zimmer
ist
Professorin
für
Vergleichennete Organisationsform für unternehmerisches te zivilgesellschaftliche Organisationen zu
Opladen:
Leske + Budrich: 51-70.
de Politikwissenschaft und Sozialpolitik am
Handeln ist. Eine Organisationsform, die spe- transferieren, werden derzeit in Deutschland
Dahrendorf, Ralf 1991: Die gefährdete Civil SoInstitut
für
Politikwissenschaft
der
Westfäliziell auf die am Markt tätigen Unternehmun- nicht diskutiert. Schließlich wird gänzlich auciety. In: Michalski, Krystoff (Hrsg.): Europa und
schen Wilhelms-Universität Münster.
gen, die aber im öffentlichen Interesse und ßer Acht gelassen, dass betriebswirtschaftlidie Civil Society, Castelgandolfo-Gespräche 1989,
im Dienst des allgemeinen Wohls handeln, che Effizienz und demokratisch-zivilgesellStuttgart: 247-263.
Dubiel, Helmut 1994: Ungewißheit und Politik,
zugeschnitten ist, wie sie beispielsweise in schaftliche Effektivität auf der OrganisationsAnmerkung
Frankfurt: Edition Suhrkamp.
einigen osteuropäischen Ländern in Form der ebene unterschiedliche EntscheidungsprozesGemäß den Ergebnissen des Johns Hopkins Pro- Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaft,Public Benefit Company' zur Verfügung se und Managementphilosophien erfordern.
jektes ist die Ehrenamtlichkeit bei den im Bereich lichen Engagements" (Hrsg.) 2002: Bürgerschaftsteht, ist in Deutschland unbekannt. Die steu- Wenn man staatlicherseits erwartet, dass die
internationale Aktivitäten arbeitenden Organisati- liches Engagement und Zivilgesellschaft, Oplaerrechtlichen Regelungen der Gemeinnützig- zivilgesellschaftlichen Organisationen die mit
onen mit einem Anteil von knapp 30 Prozent an den: Leske + Budrich.
6
1
86 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Forschungsjournal NSB, Jp. 16, Heft 2, 2003
Annette Zimmer zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
87
(Hrsg.) 2002:Sachße, Christoph 2002: Traditionslinien bürgerFrantz, Christiane/Zimmer, AnnettezyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Helmut Anheier/Nuno Themundo/Matthias Freise zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSR
Zivilgesellschaft international. Alte und neue schaftlichen Engagements. In: Enquete-KommisNGOs, Oplanden: Leske + Budrich.
sion „Zukunft des Bürgerschaftlichen EngageGängler, Hans 1995: Staatsauftrag und Jugend- ments" (Hrsg.): Bürgerschaftliches Engagement
reich: Die Entwicklung der Jugendverbände vom und Zivilgesellschaft, Opladen: Leske + Budrich:
Kaiserreich zur Weimarer Republik. In: Rauschen- 23-28.
bach, Thomas et al. (Hrsg.): Von der Wertgemein- Sachße, Christoph 2000: Feiwilligenarbeit und prischaft zum Dienstleistungsunternehmen, Frankfurt: vate Wohlfahrtskultur in historischer Perspektive.
Suhrkamp: 175-200.
In: Zimmer, Annette/Nährlich, Stefan (Hrsg.): EnGranovetter, Mark 1985: Economic Action and gagierte Bürgerschaft. Traditionen und PerspektiSocial Structure: The Problem of Embeddedness. ven, Opladen: Leske+Budrich: 75-88.
In: American Journal of Sociology, Vol. 91: 481- Schmid, Josef 1996: Wohlfahrtsverbände in mo510.
schaftliche und wirtschaftliche Vereinigungen,
|
1
Einleitung
dernen Wohlfahrtsstaaten. Soziale Dienste in hisHabermas, Jürgen 1992: Faktizität und Geltung, torisch-vergleichender Perspektive, Opladen: Lesdas Rote Kreuz oder auch eine Reihe von inFrankfurt: Suhrkamp.
ke + Budrich.
!
Die transnationale Zivilgesellschaft setzt sich ternationalen Zusammenschlüssen nationaler
Handy, Charles 1991: Types of Voluntary Orga- Streeck, Wolfgang 1999: Korporatismus in
J
aus einer Vielzahl unterschiedlichster Organi- politischer Parteien wie die Sozialistische Innizations. In: Baüeer, Julian et al. (Hrsg.): Volun- Deutschland, Frankfurt/M.: Campus.
'
sationen und sozialer Gruppen zusammen. De- ternationale. Bestehende transnationale Orgatary and Non-profit Management, Wokingham u.a.: Thamer, Hans-Ulrich 2000: Der Citoyen und die
!
ren weites Spektrum reicht von hochprofessio- nisationen wie z.B. die Katholische Kirche vollAddison-Wesley Publishing Company: 13-17.
Selbstverwaltung des 19. Jahrhunderts. In: Zimj
nalisierten
internationalen Nichtregierungsor- zogen eine Abkehr von ihrer mittelalterlichen
Katzenstein, Peter J. 1987: Policy and Politics in mer, Annette/Nährlich, Stefan (Hrsg.): Engagierte
|
ganisationen (TNGOs) mit Hunderten von Vergangenheit und entwickelten sich zu forWest Germany. The Growth of a Semisovereign Burgerschaft. Traditionen und Perspektiven, Opj
hauptamtlichen
Mitarbeitern bis hin zu rein malen Bürokratien auf lokaler, nationaler und
State, Philadelphia: Temple Univ. Press.
laden: Leske + Budrich: 289-302.
!
ehrenamtlich organisierten Netzwerken. Es internationaler Ebene ähnlich der modernen
Kocka, Jürgen 2002: Das Bürgertum als Träger Walzer, Michael 1992: Zivile Gesellschaft und
;
deckt genauso Nonprofit Organisationen mit Staatsverwaltung.
von Zivilgesellschaft - Traditionslinien, Entwick- amerikanische Demokratie, Berlin: Rotbuch.
lungen, Perspektiven. In: Enquete-Kommission Zimmer, Annette 1998: Vereine und lokale Poli{
Franchiseunternehmungen in Dutzenden von
„Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" tik. In: Helmut Wollmann/Roland Roth (Hrsg.):
I
Ländern ab wie im Internet angesiedelte ,vir- Auch NGOs, die seit den 1950er Jahren den
(Hrsg.): Bürgerschaftliches Engagement und Zi- Kommunalpolitik. Politisches Handeln in den GeJ
tuelle' Gruppierungen (Anheier et al. 2001). Beobachterstatus bei den Vereinten Natiovilgesellschaft, Opladen: Leske + Budrich: 15- meinden, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bil>
Der vorliegende Beitrag untersucht auf der nen inne haben, waren lange Zeit eher kon22.
dung: 247-262.
Grundlage organisationstheoretischer Überle- ventionelle Bürokratien und hinsichtlich ihLamping, Wolfram et al. 2002: Der Aktivierende Zimmer, Annette 2001: NGOs - Verbände im glogungen die Infrastruktur der transnationalen rer Organisationsform kaum von staatlichen
Staat. Positionen, Begriffe, Strategien, Bonn: Fried- balen Zeitalter. In: Zimmer, Annette/Weßels, Berni
Zivilgesellschaft. Dabei greifen wir insbeson- Behörden zu unterscheiden. Die Weiterentrich-Ebert-Stiftung (Arbeitskreis Bürgergesell- hard (Hrsg.): Verbände und Demokratie in
|
dere auf die Transaktionskostentheorie (Wil- wicklung internationaler NGOs zu global
schaft und Aktivierender Staat).
Deutschland, Opladen: Leske+Budrich: 331-357.
|
liamson 1985), populationsökologische Ansät- agierenden Organisationen birgt die HerausPriller, Eckhard/Zimmer, Annette 2001: Wachs- Zimmer, Annette 1997: Public-Private-Partner\
ze
(Aldrich 1999) und Netzwerküberlegungen forderung in sich, neue Organisationsformen
tum und Wandel des Dritten Sektors in Deutsch- ships: Staat und Nonprofit-Sektor in Deutschland.
jenseits des Bürokratie-Modells des 19. Jahrj
zurück (Castells 1996; Perrow 1986).
land. In: Priller, Eckhard/Zimmer, Annette (Hrsg.): In: Helmut Anheier/Wolfgang Seibel/Eckhard Prilhunderts zu entwickeln. INGOs befinden sich
Der Dritte Sektor international: Mehr Markt - we- ler/Annette Zimmer (Hrsg.): Der Dritte Sektor in
gegenwärtig in einem Prozess der Re-orga2
Die
organisatorische
Dynamik
der
niger Staat? Berlin: edition sigma: 199-228.
Deutschland, Berlin: edition sigma: 75-98.
nisation und versuchen einerseits, die sich
transnationalen Zivilgesellschaft
Putman, Robert D. 1995: Bowling Alone: Zimmer, Annette/Hallmann, Thorsten 2001: Idenneuen Möglichkeiten zu nutzen
bietenden
America's Declining Social Capital. In: Journal tität und Image von Dritte Sektor Organisationen
of Democracy, Vol. 6, Heft 1, 65-78.
im Spiegel der Ergebnisse der Organisationsbe|
Die meisten der Organisationen, die vor ca. und sich andererseits den veränderten RahSachße, Christoph 1995: Verein, Verband und fragung „Gemeinnützige Organisationen im geI
100 Jahren die im Entstehen begriffene trans- menbedingungen ihres Arbeitsumfeldes anWohlfahrtsstaat: Entstehung und Entwicklung der sellschaftlichen Wandel". In: Zeitschrift für Sozi!
nationale und heute zunehmend global wer- zupassen.
„dualen" Wohlfahrtspflege. In: Rauschenbach, alreform, Heft 5: 506-525.
j
dende Zivilgesellschaft bildeten, waren im WeThomas et al. (Hrsg.): Von der Wertgemeinschaft Zimmer, Annette/Priller, Eckhard 2001: Der Dritj
sentlichen Organisationen, die sich hinsicht- Um Ordnung in die verwirrende Vielfalt von
zum Dienstleistungsunternehmen, Frankfurt: Suhr- te Sektor in Deutschland: Wachstum und Wandel.
|
lieh ihrer Struktur Webers Bürokratie-Modell organisatorischen Entwicklungen innerhalb der
kamp: 123-149.
In: Gegenwartskunde, Jg. 50, Heft 1: 121-147.
i
zuordnen ließen. Dazu gehörten etwa wissen- transnationalen Zivilgesellschaft zu bringen,
Transnationale Zivilgesellschaft
und Organisationsentwicklung
88 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Helmut Anheier/Nuno Themundo/Matthias
Freise
I
zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Transnationale Ziviigesellschaft und Organisationsentwicklung
sollen im Folgenden vier zentrale Thesen her- Herausforderungen gehören dabei insbesonnommen als von den Mitgliedern in den
ausgearbeitet und diskutiert werden: zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
dere: zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Ländern des Südens (Bauck 2001).
Gleichermaßen haben Schichtzugehörigkeit
2.1 Wandel der Organisationsformen
oder Geschlecht innerhalb verschiedener
• Finanzierungsquellen: INGOs beziehen ihre
Kulturen immense Auswirkungen auf Mafinanziellen Mittel von einer Vielzahl von
These: Für zivilgesellschaftliche Organisationagement und Organisationsgebaren.
Geldgebern (z.B. von Stiftungen, bi- und
nen ist es in einer sich globalisierenden Welt
multilateralen Behörden, Spendern etc.) soeine große Herausforderung, Symmetrie zwiwie aus anderen Quellen (z.B. durch Um• Lokale Responsivität, Konformität mit natischen Umweltbedingungen und Organisationssatzerlöse, Mitgliedsbeiträge und Gebühren),
onalen Regeln und globale Relevanz: ENform herzustellen. Dies bedarf Innovation und
deren Einwerbung sich in den einzelnen LänGOs arbeiten für sehr verschiedene ZielVielseitigkeit.
dern sehr unterschiedlich gestaltet und typigruppen, die unterschiedliche Auffassungen
scherweise eine geographische Aufteilung
von einer ,guten Gesellschaft' haben und
von Gebern und Empfängern zur Folge hat
Beispiele für die Fülle an Organisationsfordamit diversifizierte Anforderungen an Ma(Edwards/Hulme 1995; Hansmann 1996).
men unter INGOs finden sich leicht. Care
nagement und Organisationsmodelle stellen.
International etwa ist eine hochgradig profesDie effiziente Verbindung von lokalem und
sionalisierte INGO mit über 10.000 haupt- • Hauptamtliche, Mitglieder und Ehrenamtliglobalem Bezugsrahmen ist für die Effektiamtlichen Mitarbeitern. Alleine die US-amevität von INGOs auf globaler Ebene von
che: Hauptamtliche Mitarbeiter zivilgesellrikanische Sektion verfügt über ein Einkomessentieller Bedeutung (Edwards et al.
schaftlicher Organisationen stammen häumen von etwa 450 Millionen Dollar. Friends
1999).
fig aus verschiedenen Staaten. Mitglieder
of the Earth (FoE) ist eine Konföderation von
und Ehrenamtliche kommen z.T. sogar aus
66 nationalen Mitglieder-Organisationen. Die
einer noch größeren Zahl von Ländern rund
• Kommunikations- und OrganisationskosInternational Union for the Conservation of
um den Erdball und machen unterschiedliten: Weite Teile der Erde haben einen nur
Nature (IUCN) ist ein Dachverband von 735
che kulturelle Einflüsse geltend.
sehr eingeschränkten Zugang zu den moNGOs, 35 Tochterorganisationen, 78 Staaten,
dernen Kommunikationstechnologien. Die112 Regierungsbehörden und etwa 10.000 • Verschiedenartigkeit der Aufgaben: Vom
se ,digitale Spaltung' zwingt INGOs, sich
Wissenschaftlern und Experten aus 181 Staain verschiedenen Regionen im InformatiSchutz des Wattenmeeres über die Fördeten (IUCN im Internet). OneWorld.net
onsmanagement unterschiedlich zu orgarung von Mikrokrediten bis hin zur Bereitschließlich ist eine rein internetbasierte Organisieren. So können etwa elektronische
stellung humanitärer Hilfeleistungen in Krinisation.
Netzwerke in weniger entwickelten Regiosenregionen: INGOs haben sich eine Vielnen häufig bei weitem nicht dieselbe Leiszahl von Aufgaben und Zielsetzungen getungsfähigkeit erreichen wie in technoloDie Organisationstheorie (Hannan/Freeman
stellt. Abhängig von den lokalen Bedingungisch hoch entwickelten Staaten (Clark/
1977; Aldrich 1999) besagt, dass die Varianten
gen können innerhalb einer Organisation
Themudo i.E.).
an bestehenden Organisationsformen eine
verschiedene Bestandteile des OrganisatiFunktion der vorherrschenden Umweltbedinonszieles auf Kosten anderer Ziele in den
gungen sind, und dass sich jene OrganisatiMittelpunkt gestellt werden.
Diese Faktoren konstituieren die sehr verschieonsformen als beständiger erweisen, die sich
denen lokalen und globalen Umweltbedingundiesen Umweltbedingungen am besten anpas- • Lokale Auslegungen der globalen Mission:
gen, denen sich INGOs ausgesetzt sehen und
sen können. Eine solche Symmetrie zwischen
Da INGOs unter sehr verschiedenen kultudie ihnen das Ereichen einer Symmetrie zwiOrganisationsform und Umweltbedingungen ist
rellen Rahmenbedingungen arbeiten, müsschen Form und Umwelt schwer machen, was
jedoch besonders schwer zu erreichen, wenn
sen sie Antworten auf die z.T. recht unterzu der Anforderung führt, sich je nach lokalen
Organisationen sich nicht nur einer einzigen
schiedlichen Auslegungen des OrganisatiGegebenheiten unterschiedlich zu organisieren.
sondern einer Vielzahl von Umwelten ausgeonsziels formulieren. So wurde etwa die
So ist beispielsweise FoE in Schweden hochsetzt sehen, wie es bei INGOs im transnatioKampagne Jubiläum 2000 von ihren Mitgradig dezentral organisiert. Die Organisation
nalen Raum der Fall ist. Zu diesen besonderen
gliedern im Norden völlig anders wahrgekann dabei auf ein starkes nationales Assozia-
89
tionswesen zurückgreifen. Hingegen ist FoE
in einem Land wie Mexiko sehr stark zentralisiert, wo es die Organisation mit einem lange
eher abweisend gesinnten Staat, einer kleineren Mitgliederbasis und einer sehr begrenzten
politischen Partizipationskultur zu tun hat (Interviews mit FoE-Vertretern).
Auf verschiedene Umweltbedingungen reagieren INGOs aber nicht nur mit einer intrasondern auch mit einer interorganisatorischen
Differenzierung (Anheier/Themudo 2002b).
So haben Mitglieder in den verschiedenen Organisationen sehr unterschiedliche individuelle Mitbestimmungsrechte. Zum Teil unterscheiden sich diesbezüglich sogar die einzelnen nationalen Sektionen ein und derselben
Organisation. Diese Variationen sind Ausdruck
der verschiedenen historischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, die die Leitungsebene jeder nationalen Einheit einer Organisation beeinflussen. Die Mitglieder von Greenpeace haben z.B. in den meisten nationalen
Mitgliedsverbänden kein Wahlrecht. In den
Vereinigten Staaten etwa ernennt sich der Vorstand von Greenpeace selbst. In Spanien dagegen haben die Mitglieder Wahlrecht und
bestimmen den Vorstand demokratisch. Im
Gegensatz zu Greenpeace orientieren sich die
meisten der nationalen Sektionen von FoE
am Prinzip der internen Demokratie, die Mitglieder verfügen über ein Wahlrecht. Ausnahme ist hier hingegen Kanada, wo die Mitgliedern von FoE nicht wählen dürfen und sich
der Vorstand ebenfalls selbst bestimmt (Anheier/Themundo 2002a; Anheier/Themundo
2002b).
2.2 Angleichung der Organisationsformen
These: Zivilgesellschaftliche Organisationen
werden sich gleichzeitig ähnlicher und unähnlicher.
90 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Helmut Anheier/Nuno Themundo/Matthias
Freise
Trotz der bemerkenswerten Verschiedenartigkeit, die INGOs im transnationalen Raum charakterisiert, lassen sich doch ähnliche Entwicklungen ausmachen, die von der Organisationstheorie als isomorphe Tendenzen bezeichnet
werden (Powell/DiMaggio 1991). Dementsprechend entstehen gegenwärtig auf globaler Ebene hauptsächlich Formen der Föderation mit
betont dezentralen Organisationsmodellen.
onen, Netzwerken und Bewegungen. Gegenwärtig lässt sich ein rasantes Ansteigen von
Partnerschaften zwischen NGOs des Südens
mit Organisationen des Nordens verzeichnen.
Diese neuen Partnerschaften sind durch eine
Aufgabenteilung gekennzeichnet: NGOs des
Nordens sind dabei verantwortlich für die Einwerbung von Ressourcen in ihren Heimatländern, die NGOs des Südens sind dagegen zuständig für die Projektimplementation auf loAufgrund ihrer Flexibilität und Anpassungsfä- kaler Ebene. Diese Partnerschaften sind eher
higkeit ist die Föderation zur gängigsten Orga- eine Arbeitsteilung zwischen Nord und Süd
nisationsform geworden. Lindenberg und Do- als eine vertikale Ausbreitung nördlicher
bel (1999) können diese Tendenz für große NGOs. Sie basiert einerseits auf Effektivität,
INGOs im Tätigkeitsfeld der Entwicklungszu- ist anderseits aber auch den Anforderungen
sammenarbeit nachweisen. Young et al. (1999) der Geldgeber geschuldet, die Kooperationen
ermittelten einen ähnlichen Trend für interna- und Partnerschaften zwischen NGOs zunehtional tätige Advocacy-Organisationen. Gleich- mend zur Bedingung ihrer Spendenbereitschaft
zeitig hat sich der Trend zu einer stärken inter- machen.
organisatorischen Koordination anstelle von
hierarchischer Kontrolle semi-autonomer Teil- In der internationalen Kampagnenarbeit sind
einheiten verstärkt fortgesetzt (Anheier/The- Koalitionen mittlerweile zu einer sehr üblichen
mudo 2002b). Dies ist der Weiterentwicklung Organisationsform von INGOs geworden. Koder Kommunikationstechnologie geschuldet, alitionen können dabei als strukturiertere Form
die eine stetige Verringerung der Transakti- transnationaler Advocacy-Netzwerke bezeichonskosten bedingt. Im Ergebnis hat dies dazu net werden (Keck/Sikkink 1998). Smith (1997)
geführt, dass Organisationen zum ,Downsizing' hat bereits für den Zeitraum zwischen 1973
tendieren, sich auf ihre Kerntätigkeitsfelder und 1993 ein beachtliches Ansteigen von Koakonzentrieren und ergänzende Tätigkeiten aus- litionen feststellen können. Es scheint durchaus
gliedern (Hatch 1997; Powell 1990). Während plausibel, dass die Ausbreitung von Koalitiokleinere Organisationen noch immer darauf nen mit der Entwicklung der Kommunikatiangewiesen sind, einige ihrer Aktivitäten zu onstechnologie zusammenhängt. Der anhaltenglobalisieren, hält sie ihre geringe Größe davon de Erfolg und die weitreichende öffentliche
ab, eine grenzüberschreitende Föderationsstruk- Wahrnehmung solcher Verbände wie etwa die
tur in vielen verschiedenen Staaten aufzubau- Koalition für die Einführung des Internationaen. Statt dessen haben sich einige dieser Orga- len Strafgerichtshofes haben eindrucksvoll genisationen grenzüberschreitend in Form von zeigt, welches Potential sie als OrganisationsNetzwerken und Kooperationen zusammenge- form auf transnationaler Ebene entfalten könschlossen, um so die Vorteile der Globalisie- nen (Glasius 2002).
rung zu nutzen.
Die Kombination dieser Trends begünstigt auch
das Ansteigen inter-organisatorischer Kooperationen in Form von Partnerschaften, Koaliti-
Auch andere Faktoren führen zum Isomorphismus. Das Fehlen verbindlicher transnationaler
Regeln für INGOs reduziert zwar im Vergleich
zur nationalen Ebene den Zwang zur Anglei-
zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Transnationale Zivilgesellschaft und Organisationsentwicklung
!
j
•
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j
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{
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|
i
I
91
chung. Meyer et al. (1997) haben aber nachgewiesen, dass sich INGOs in ihrem Erscheinungsbild dennoch und trotz aller Differenzierung stärker annähern. Grund hierfür ist zum
einen die Herausbildung einer Art ,Weltkultur', die die Entstehung organisatorischer Blaupause zur Folge hat. Typischerweise sind es
dabei westliche Organisationsformen, denen für
die transnationale Ebene eine größere Legitimität zugesprochen wird als etwa chinesischen
oder indischen Ansätzen. Im Zuge der Herausbildung einer Weltkultur lässt sich auch der
Trend hin zu einheitlichen internationalen Eliten beobachten, die dem Trend zum Isomorphismus weiter Vorschub leisten, da sie offenbar dazu neigen, ihre INGOs Vorbildorganisationen anzupassen, die in ihren Augen erfolgreich arbeiten.
einerseits und Förderorganisationen anderseits.
Erhalten INGOs beispielsweise einen Großteil
ihrer Ressourcen aus staatlichen Quellen, so
sehen sie sich einem großen Zwang zur Bürokratisierung ausgesetzt (Edwards/Hulme 1995).
Da staatliche Einrichtungen und private Förderorganisationen nationalen rechtlichen Rahmenbedingungen unterliegen, erlegen sie ihren geförderten Partnerorganisationen Rechenschaftspflichten entsprechend den nationalen
Bestimmungen auf und , exportieren' damit nationale Regelungen in den transnationalen
Raum. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTS
Die isomorphen Tendenzen innerhalb der transnationalen Zivilgesellschaft werden weiterhin
durch globale Finanzierungsstrukturen konstituiert. Die Abhängigkeit von einer begrenzten
Zahl von Gebern erhöht die Möglichkeit des
externen Einflusses auf die Organisationsform
(Pfeffer/Salancik 1978). Es gibt durchaus Anzeichen, dass die Konkurrenz um knappe Ressourcen innerhalb der transnationalen Zivilgesellschaft zugenommen hat und auch weiter
zunimmt (Foreman 1999; Lindenberg/Dobel
1999). Wettbewerb führt dabei nicht notwendigerweise zu einem Isomorphismus innerhalb
der Organisationen, da Geber durchaus auch
Innovationen und Vielfalt unterstützen. Dennoch gibt es eine allgemeine Tendenz dahingehend, dass Geber Effektivität höher bei ihrer
Spendenentscheidung ansiedeln als Vielfalt und
Innovation (Riddel 1998).
Der Grad der Globalisierung von Organisationen lässt sich an zwei Indikatoren ablesen, nämlich zum einen am Verhältnis von einheimischen zu ausländischen Einnahmen. Zum anderen ist die Zahl der Länder, in der eine Organisation entweder programmatisch aktiv ist
oder aber Geldquellen erschließt, wichtig für
den Einfluss der Globalisierung auf die Organisationsform. Auf einem niedrigen ,Level' von
Globalisierung entwickeln zivilgesellschaftliche Organisationen ein Gespür für internationale Themen. Hält die Internationalisierung
weiter an, werden in zunehmendem Maße formale Beziehungen mit Organisationen in anderen Staaten etabliert, etwa in Form von Netzwerken, Koalitionen oder auch Partnerschaftsverträgen. Auf dem höchsten Level der Globalisierung wird die zivilgesellschaftliche Organisation zur transnationalen Organisationen,
indem sie entweder als Franchisegeber in Erscheinung tritt oder aber selbst Tochterorganisationen im Ausland gründet.
Darüber hinaus führt die Konkurrenz um finanzielle Ressourcen, die auf globaler Ebene
von einer sehr begrenzten Zahl an Hauptgebern bereit gestellt werden, auch zu einer Angleichung der Beziehungen zwischen INGOs
2.3 Auswirkungen der Globalisierung
These: Organisationsformen werden von der
Globalisierung unterschiedlich stark geprägt.
Welche Auswirkungen hat eine Veränderung
des Grades der Globalisierung nun auf die
92 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Helmut Anheier/Nuno Themundo/Matthias
Organisationsform? Die meisten INGOs entwickeln eine Mehrebenenstruktur die jeweils
lokale, nationale und internationale Komponenten enthält und verbindet. Da die Umweltbedingungen zwischen den einzelnen lokalen
Gruppierungen und der internationalen Ebene meist sehr unterschiedlich sind, bietet sich
eine dezentralisierte Organisationsform an.
Entscheidungen sollten dabei stets auf der
Ebene getroffen werden, wo das Sachwissen
in größtem Maße verfügbar ist - und das ist
nicht notwendigerweise die Zentrale selbst.
Gleichzeitig führt diese Organisationsform
dazu, dass Ressourcen intern sehr ungleich
verteilt sind und wichtige Aufgaben nicht die
größte Form der Unterstützung erhalten. In
Situationen, in denen Aufgaben und Ressourcen innerhalb einer geographisch gegliederten Organisation stark variieren, ist daher ein
föderales Modell oder eine Föderation die beste Organisationsform. In diesem Ansatz kommen der Organisationszentrale vor allem drei
Aufgaben zu, nämlich erstens die Aufrechterhaltung von Expertise auf der dafür angemessenen Ebene, zweitens die Koordination unter den Teileinheiten sowie drittens die Vermittlung eines kollektiven Auftretens gegenüber Dritten.
Auf transnationaler Ebene wird die Organisationsform durch eine Reihe von Anforderungen an INGOs bestimmt. Dazu gehört Ressourceneinwerbung sowie die Einführung neuer
Technologien (Lindenberg/Dobel 1999). Einheitliche oder korporative Modelle erleichtern
einerseits die Koordination und ermöglichen
es andererseits, das einheitliche Auftreten einer Organisation und damit ihre Identität aufrechtzuerhalten. Schwach koordinierte Netzwerke hingegen führen zu einem Höchstmaß
an organisatorischer Autonomie und einer bestmöglichen Anpassung an die lokalen Gegebenheiten. Selbstverständlich ist die Globalisierung der Organisationsaktivitäten nicht die
Freise
Transnationale Zivilgesellschaft und Organisationsentwicklung
zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
nisationen Spannungen, denen Mischformen
einzige Formdeterminante. Neue Technologiam effektivsten begegnen.
en, Zielsetzungen, sich verändernde Möglichkeiten der Ressourceneinwerbung und die jeweiligen rechtlichen Rahmenbedingungen sind
Dabei gilt es, zwei Hauptprozesse zu unterandere wichtige Faktoren, die die Organisatischeiden, nämlich erstens die Neuordnung und
onsform im transnationalen Raum beeinfluszweitens die Neuzuweisung von Funktionen.
sen können. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Die Neuordnung beinhaltet die Einführung neuer Elemente in eine existierende Organisationsform. Zivilgesellschaftliche Organisationen
2.4 Herausbildung organisatorischer
haben viele Elemente von staatlichen InstitutiMischformen
onen übernommen. So wurde beispielsweise
die zielorientierte Projektplanung und -durchThese: Defizitäre Organisationsformen fuhren
führung der Gesellschaft für Technische Zuzu Innovationen und hybriden Formen.
sammenarbeit (GTZ) zum entwicklungspolitischen Maßstab der Antragsstellung vieler INDie Mischung von zwei Organisationsformen
GOs (Riddel 1998).
setzt die Kombination von Elementen mindestens zweier verschiedener OrganisationsforINGOs haben sich außerdem als Wegbereiter
men voraus, aus denen dann eine dritte Form
neuer Organisationselemente erwiesen, die heugeneriert wird (Romanelli 1991). Mit dieser
te Eingang in viele Bereiche genommen haben
Kombination wird der Versuch unternommen,
und auch in anderen Sektoren Anwendung findie Stärken beider Ansätze zu maximieren
den. Formen der Teilhabe im Bereich der Entund gleichzeitig ihre Schwächen möglichst
wicklungszusammenarbeit wurden etwa von
zu minimieren. Die Vermischung von OrgaINGOs entwickelt und werden heute vielfach
nisationsformen ist eine wesentliche Strateauch innerhalb staatlicher Entwicklungsplagie von Organisationen, auf veränderte Umnung verwendet. Einige Autoren gehen sogar
weltbedingungen zu reagieren. So haben
so weit und sprechen von einer ,reverse agenbeispielsweise die verschiedenen kulturellen
da', bei der INGOs neuerdings die internatiound regulativen Rahmenbedingungen, denen
nale Entwicklungspolitik beeinflussen (Lewis
INGOs begegnen, organisatorische Mischfor2001).
men begünstigt.
Aus drei Gründen tendieren INGOs zur Herausbildung organisatorischer Mischformen:
Erstens sind ihre Umweltbedingungen sehr verschieden und unterliegen einem permanenten
Wandel. INGOs sind deshalb in hohem Maße
auf die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit
angewiesen, die ihnen Organisationsmischformen bieten. Zum Zweiten müssen INGOs häufig Organisationsformen des öffentlichen und
des erwerbswirtschaftlichen Sektors miteinander kombinieren, um erfolgreich arbeiten zu
können. Zum Dritten erzeugt das globale Umfeld mit nationalen und internationalen Orga-
93
Der Prozess der Vermischung von Organisationsformen und der Innovation ist in den vergangenen Jahren sehr intensiv vonstatten gegangen, sodass einige Organisationen heute als
eine Art Flickenteppich erscheinen. Das Auftauchen dieser organisatorischen PatchworkFormen mag die Schwierigkeit der Analyse
formaler Organisationsstrukturen verdeutlichen. Nachdem die Kommunikationskosten im
internationalen Raum dramatisch gefallen sind,
sind verschiedene Formen von Netzwerken entstanden (Powell 1990; Anheier/Themudo
2002a).
Formen der Zusammenarbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen im transnationalen Raum entstehen zumeist auf der Grundlage einer gemeinsamen Grundidee oder eines gemeinsamen Ziels (wie z.B. das gemeinsame Anliegen der Ächtung von Landminen). Solche Verhältnisse bauen dabei
zumeist eher auf Vertrauen und Gleichheit
als auf hierarchischen Machtstrukturen auf.
Die gemeinsamen Zielsetzungen und die gegenseitigen Vorteile, die die Zusammenarbeit bietet, halten diese Formen der Zusammenarbeit zusammen. Hierin liegt auch die
Chance einer langfristigen Zusammenarbeit.
In den Mittelpunkt rückt dabei nun allerdings
die Frage der Machtverteilung innerhalb dieser Netzwerke.
Neuzuweisung von Funktionen bedeutet die
Übernahme einer Organisationsform in einen Um einem Nord-Süd-Gefälle bei der Machtanderen Kontext zum Beispiel die Abwande- verteilung entgegenzuwirken, haben zahlreiche
rung von Wirtschaftsbetrieben in Felder, die zivilgesellschaftliche Organisationen Neuerunursprünglich von Nonprofit Organisationen be- gen eingeführt. Ein Beispiel hierfür ist die
setzt worden sind, so im Gesundheits- oder INGO Rainforest Movement, die mit der EinBildungswesen. Ein weiteres Beispiel hierfür richtung von zwei Hauptquartieren experimenist der Verlust staatlicher Legitimität im Rah- tiert hat - eines im Norden und eines im Sümen derzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
New Policy Agenda (Edwards/Hulme den. Das Weltsozialforum versucht eine Art
1995), die es einigen INGOs im Feld der Ent- Ringstruktur mit rotierenden Hauptquartieren
wicklungszusammenarbeit erlaubt, Aufgaben zu entwickeln, bei der sich jede Landesorganizu übernehmen, die lange Zeit von staatlicher sation für eine gewisse Zeit um die Rolle der
Zentrale bewerben kann.
Seite dominiert worden sind.
94 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Helmut Anheier/Nuno Themundo/Matthias
Freise
zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Transnationale Zivilgesellschaft und Organisationsentwicklung
Mitgliederorganisationen haben demgegenüber
|
|
das größte Demokratisierungspotential. Sie bie;
ten demokratische Formen an, haben Mecha!
nismen der Einbindung verschiedener beteili!
ger Gruppen entwickelt, sprechen demokrai
tisch interessierte Bürger an, und sie vertiefen
;
die Pluralisierung der Gesellschaft (Seile/
t
Str0msnes 1998). Trotzdem halten auch diese
I
Organisationen Fallstricke parat. Da sich immer
!
einige Mitglieder stärker einbringen als andej
re, kämpfen alle demokratisch aufgebauten
j
Mitgliederorganisationen stets mit dem Dilem'
ma, entweder alle inaktiven Mitglieder in glei!
chem Maße mitbestimmen lassen zu müssen
|
oder aber Eliten der Aktiven zu bilden.
j
i
Das spannungsreiche Verhältnis zwischen
Nord und Süd ist ein weiterer kritischer Be]
Werden die aktuell verwendeten Organisatij
reich der organisatorischen Infrastruktur der
In den meisten Fällen handelt es sich jedoch onsformen dem Anspruch gerecht, demokraI
globalen Zivilgesellschaft. Vianna (2000)
nicht um völlige Neuerungen, viel häufiger ist tievertiefende Strukturen auf der Ebene der gloi
macht diesbezüglich die Tendenz aus, dass
es statt dessen die Einführung von Mischfor- balen Zivilgesellschaft zu implementieren? Um
;
Nord-NGOs durch ihren privilegierten Zugang
men oder die Übertragung und Modifikation darauf eine Antwort geben zu können, müssen
von Ideen aus anderen Kontextbedingungen zwei Punkte in den Blick genommen werden,
1
zu den globalen Zentren der Macht die südlii
zur Lösung ähnlicher Probleme, die zu inno- nämlich zum Einen die Frage nach den BesitzI
chen NGOs in einer neuen Form des ,Policy
verhältnissen und zum Zweiten nach der Art
vativen Ansätzen bei INGOs führt. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
j
Imperialismus' mitzurepräsentieren versuund Weise der Entscheidungsfindung innerhalb
'
chen. Kennzeichnet die Beziehungen zwizivilgesellschaftlicher Organisationen.
3 Schlussbemerkung
I
sehen Nord und Süd also besser der Begriff
j
Hierarchie oder eignet sich doch der Begriff
Die Dynamik der hier beschriebenen organisa- Zwei Formen von Besitzverhältnissen haben
i
der Partnerschaft?
torischen Infrastruktur ist für die globale Zi- sich bei INGOs herauskristallisiert, nämlich
i
vilgesellschaft von großer Bedeutung. In zum Einen Mitglieder-basierte und zum Ande|
Es lassen sich einige interessante neue AnsätSchlussteil sollen daher die Auswirkungen die- ren Unterstützer-basierten Formen. Der jewei!
ze ausmachen, mit denen versucht wird, dem
ser Dynamik auf die Effizienz von Organisati- lige Besitztyp hat dabei großen Einfluss auf
Problem der ungleichen Machtverteilung zu
onen und ihre Nachhaltigkeit, ihr Demokrati- Entscheidungsfindung, Rechenschaftslegung
begegnen. Es scheint jedoch insgesamt, dass
sierungspotential und die Nord-Süd-Spannun- und Legitimation (Anheier/Themudo 2002b).
I
auch INGOs nicht in der Lage sind, dieses
Bei strenger Auslegung sind mitgliederlose
gen kurz beleuchtet werden.
Ungleichgewicht auszugleichen. Trotzdem
NGOs Organisationen ohne Besitzer (Hanskönnten diese Innovationen durchaus Wirkung
Für die Nachhaltigkeit der transnationalen Zi- mann 1996). In diesem Falle basiert die Entzeigen, wenn sie verstärkt Anwendung finden.
vilgesellschaft ist die Existenz einer Vielzahl scheidungsfindung nicht auf demokratischen
Dabei ist eine entscheidende Frage, ob südlivon Organisationsformen von zentraler Wich- Verfahren sondern auf dem Einfluss verschieI
che Interessen besser in Organisationen mit
tigkeit. Diese Verschiedenartigkeit ist eine Ab- dener Stakeholder. Ihr Beitrag zur Vertiefung
i
hierarchischer Struktur zur Geltung kommen
sicherung gegen sich ändernde Umweltbedin- der Demokratie ist weitestgehend darauf bej
oder ob nicht horizontale Verfahren der Koogungen, die Organisationen der einen Form schränkt, dass sie zur Pluralisierung der Ge!
peration, wie etwa Partnerschaften und Koalinachhaltig zerstören können, während andere sellschaft beisteuern.
;
tionen, in denen Machtungleichgewichte eher
Einige INGOs wie z.B. Amnesty International dadurch zum Aufblühen gebracht werden könGlobal Democracy Gover- nen. Diese Vielfalt kann außerdem zu einer
haben Formen derzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
nance entwickelt, indem sie die Zahl der Ver- größeren Effizienz der Organisationen in ihrer
treter eines Mitgliedslandes im Leitungsgre- Gesamtheit beitragen. Gleichzeitig kann diese
mium der Mitgliederzahl der jeweiligen natio- Abwechslung aber auch verheerende Resultanalen Sektionen angepasst haben (Anheier/The- te zur Folge haben. Zahlreiche Experimente
mudo 2002b). So soll das ansonsten in Föde- scheitern und führen zum Niedergang der Orrationen recht verbreitete Modell ,ein Land - ganisation. Der Druck zur Steigerung der Effiein Vertreter' umgangen werden. Andere IN- zienz kann damit auch zu einer Reduktion der
GOs (z.B. FoE) haben wiederum Wahlsysteme Vielfalt beitragen, besonders wenn starke Konzur Bestimmung der Leitungsgremien einge- kurrenz zwischen den Organisationen herrscht
führt, die grundsätzlich den Vertretern südli- und wenn Geber Kostenreduzierung über Incher Staaten eine Majorität einräumen, selbst novationspotential stellen. Unter diesen Konwenn diese in geringerem Maße Ressourcen ditionen führt Wettbewerb zu einer Auswahl
beisteuern oder eine geringere Zahl an Mit- der .besten' Organisationsformen, und letztlich
gliedern repräsentieren als die nördlichen Staa- zu einem Ansteigen des Isomorphismus.
ten.
95
ad hoc ausgeglichen werden, die bessere A l ternative darstellen. Insgesamt scheint es, dass
INGOs bei der Bekämpfung des Nord-SüdUngleichgewichtes intern selbst noch erheblichen Nachholbedarf haben.
Helmut K. Anheier ist Professor an der Universität von Kalifornien, Los Angeles, Director des UCLA Center for Civil Society und
Centennial Professor an der London School of
Economics.
Nuno Themudo promoviert am Centre for Civil Society der London School of Economics.
Matthias Freise ist Doktorand am Institut für
Politikwissenschaft der Universität Münster
und Mitglied im Forschungscollegium des
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96 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Helmut Anheier/Nuno Themundo/Matthias
Freise
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97
Ludwig Pott zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Die Enquete-Kommission als soziales System
Oder was sie ais Gruppe mit der Bürgergesellschaft zu tun hat
Im Dezember 1999 hat der Deutsche Bundestag eine Enquete-Kömmission „Zukunft des
Bürgerschaftlichen Engagements" eingesetzt.
11 Parlamentarier und 11 Sachverständige
suchten nach Antworten auf die Frage, wie wir
unser gesellschaftliches Zusammenleben demokratischer organisieren können und was
dabei die Rolle der Bürgerinnen und Bürger
im Sozialstaat sein soll. Die Kommission hat
im Mai 2002 auftragsgemäß ihren Bericht vorgelegt, der ein umfassendes Bild der Vielfalt
und Bedeutung des Bürgerengagements
hierzulande zeigt. Vor allem aber beinhaltet er
Entwicklungsperspektiven und politische
Handlungsempfehlungen für die Stärkung von
Bürgersinn und Demokratie. Der Bericht genießt seitdem gesteigerte Aufmerksamkeit in
der bereits länger anhaltenden gesellschaftspolitischen Debatte über die Bürgergesellschaft
als Leitbild für ein neues Zusammenspiel von
Staat und Bürgern.
die persönliche Courage, an gemeinwohlorientiertes Handeln und an soziale Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger formuliert
wurde. Insofern kann man an das innere Geschehen gerade dieses Gremiums besondere
Maßstäbe anlegen, es zumindest aber in einer
speziellen Beziehung zu eben jenem Anforderungsprofil an Bürgerinnen und Bürger betrachten, ohne das eine funktionierende Bürgergesellschaft letztlich nicht auskommen kann. Das
heißt, die Kommission selbst und ihre Umgangsformen sind Teil des Themas und als
Spiel im Spiel zu begreifen.
In einer vom Bundestagspräsidenten berufenen Kommission ist nichts außer Kraft gesetzt,
was auch sonst die vertraute Dynamik in Gruppen mit all den damit einher gehenden Zuneigungen, Verstricktheiten und Unzulänglichkeiten charakterisiert. Auch hier geht es neben
den Inhalten ebenso um Statusunterschiede, um
die Verteilung von Rollen, um Macht und Ohnmacht, um Attraktivität und Autorität, um FühQuasi normal
rung und Gefolgschaft, um Mechanismen der
Als Kommissionsmitglied kommt man nicht Entscheidungsfindung, um vorgegebene und
umhin, sich ein Bild davon zu machen, wie ein sich herausbildende Normen sowie um entsolches Gremium arbeitet und wie es als sozi- sprechende Sanktionen.
ales System funktioniert. Hier treffen nicht nur
unterschiedliche Persönlichkeiten mit ihren je- Das bringt selbst in einer Enquete-Kommissiweiligen Fähigkeiten und Neigungen zusam- on alles subtropisch zum Erblühen, wozu Menmen, sondern zugleich spielt sich viel von dem schen in einer auf längere Dauer angelegten
ab, was man gemeinhin als Politik bezeichnet. Gruppe fähig sind: Man ist berührt von perDer Versuch, einen Einblick in die Arbeitswei- sönlichen Begegnungen und freundschaftlise eines solchen Gremiums zu geben, ist des- chem Handeln über Parteigrenzen hinweg und
halb reizvoll, weil mit dem Thema dieser Kom- fühlt sich wiederum angewidert von charakmission ein anspruchsvoller Wunschzettel an terloser Raffinesse, mit der versucht wird,
die noch ausbaufähigen Bürgertugenden, an durch die Hintertür politische Beute zu ma-
98 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
chen. Amüsant ist die mitunter hilflose Arroganz der Macht und der Facettenreichtum der
Wichtigtuerei. Zugleich können viele kluge
Gedanken, die dort geäußert und diskutiert
wurden, tief beeindrucken. „Quasi normal"
wird das im Rheinland genannt und so ist es
wohl auch, zumal es bei aller Anstrengung
immer wieder Anlässe zu gemeinsamer Heiterkeit gab. Eine Enquete-Kommission bietet
neben ihren hochwertigen Ergebnissen eben
auch Geschichten aus dem Leben, weil in ihr
Menschen sitzen.
Die Enguetekommission als soziales System
Ludwig Pott zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Das Thema der Kommission
Auch wenn es bei dem Thema „Zukunft des
Bürgerschaftlichen Engagements" im Kern um
den freiwilligen und unentgeltlichen Einsatz
der Bürgerinnen und Bürger für die Belange in
ihrem Gemeinwesen geht, hat die EnqueteKommission diesen schon immer als ehrenamtliche Arbeit gezeigten Bürgersinn in einen
neuen Bezugsrahmen gestellt. Im Mittelpunkt
stand die soziale und politische Alltagskultur
im Gemeinwesen als Entwicklungsperspektive für ein neues Zusammenwirken von Bürgern und Staat. Der Leitgedanke dafür heißt
Was ist eine Enquete-Kommission?
Bürgergesellschaft. Sie beruht auf VoraussetEnquete-Kommissionen setzt der Deutsche Bun- zungen, die mit politischen und sozialen Rechdestag ein, wenn ein gesellschaftspolitisch rele- ten verbunden sind. Das bedeutet Stärkung von
vantes Thema von allen Fraktionen als so be- Eigenverantwortung und Partizipation. Wer sich
deutsam eingeschätzt wird, dass man es jenseits bürgerschaftlich engagiert, handelt in der Zuder Tagespolitik und über Parteigrenzen hinaus gehörigkeit zum politischen Gemeinv/esen, ob
vertieft behandeln möchte. Sie dienen der zeit- im traditionellen Ehrenamt, in informellen Inilich befristeten Politikberatung an Schnittstel- tiativen oder Selbsthilfegruppen, ob bei der gelen zwischen Politik, Wissenschaft und der Pra- selligen Freizeitgestaltung oder bei der Vertretung politischer Anliegen.
xis im Sinne des gesellschaftlichen Alltags.
Entsprechend ihrer Fraktionsstärke entsenden Wie man sich leicht vorstellen kann, ist das
die Fraktionen dazu Parlamentarier und beru- Thema verführerisch und hoch anschlussfähig
fen zudem Sachverständige von außen. Beide an alle denkbaren politischen und gesellschaftSeiten sollen in einem kontinuierlichen Dis- lichen Anliegen. Es ist wie ein chemisches Elekussionsprozess gleichberechtigt zusammen ment, das mit jedem anderen eine Verbindung
arbeiten. Das Thema wird der Kommission vom eingehen kann. Mit Blick auf die Aufgabe der
Bundestag für die Dauer einer Wahlperiode Kommission mag wohl deshalb der Bundesübertragen und enthält einen konkreten Auf- tagspräsident in seiner Begrüßungsrede vor der
trag. Soweit es die Themenstellung sinnvoll Kommission Theodor Fontane zitiert haben:
erscheinen lässt, kann eine Enquete-Kommis- „Ach Luise, das ist ein weites Feld". Das hat
sion weitere Fachleute in ihre Arbeit einbezie- sich dann auch keineswegs als mitleidige Überhen, schriftliche Gutachten in Auftrag geben treibung erwiesen. Wer den Abschlussbericht
sowie zu Anhörungen, Dialogveranstaltungen durchblättert, merkt rasch, wie groß dieses Theund zu Expertengesprächen einladen. Am menfeld angelegt ist und wie schnell man sich
Schluss steht ein Bericht, der Gegenstand ei- da verlaufen kann. Die Feldgröße allein ist
ner Aussprache im Parlament ist. Enquete- jedoch nicht so entscheidend. Vielmehr geht
Kommissionen arbeiten auf der Rechtsgrund- es um die politische Musik' des Themas, für
lage der Geschäftsordnung des Deutschen die es höchst unterschiedliche HörgewohnheiBundestages. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
ten und Vorlieben gibt.
Die Idee der Bürgergesellschaft stellt eine Menge Freiheiten in Aussicht, verlangt aber auch
aktive Bürgerinnen und Bürger, die außerhalb
von Familie und Beruf mehr Verantwortung
für die Gestaltung ihres Gemeinwesens übernehmen. Sie wird damit zur idealen Projektionsfläche, zum Sammelbecken für all das, was
wir sonst im politischen Alltag nur noch schwer
in den Griff bekommen. So gesehen sind die
Grenzen zwischen einem anspruchsvollen Zukunftsprojekt der Gesellschaft und der Überforderung aller Beteiligten fließend.
Gegen die Fülle der Visionen von Demokratie
und Bürgergesellschaft nimmt sich der Alltag
der Freiwilligkeit in den Vereinen, Initiativen
und diversen Zusammenschlüssen eher bescheiden aus. Die gängige Praxis wird von Menschen verkörpert, die bereit sind, tagtägliche
Verantwortung in den unterschiedlichsten Formen ehrenamtlicher Arbeit zu übernehmen,
nicht nur in den Verbänden der Wohlfahrtspflege, ebenso im Sport, in der Schule, in der
Kulturarbeit und der Feuerwehr, in berufsständischen Organisationen und kommunalen Gremien. Sie zerbrechen sich den Kopf, wie sie an
Finanzmittel und neue Mitglieder kommen, wie
sie ihre Vorstände besetzen sollen oder wie sie
überhaupt Menschen zum Mittun gewinnen
können. Oft haben sie bereits alles mögliche
probiert und nicht wenige sind mit ihrem Latein am Ende. Wer finanziell mit dem Rücken
zur Wand steht - ob als einzelner Bürger, ob
als Projekt oder Verein - , für den hält sich der
Jubel über den visionären Glanz der Bürgergesellschaft in Grenzen. Soziale Notlagen und
knappe Kassen sind schlechte Ratgeber für das
Thema.
In der Enquete-Kommission wurde versucht,
eine Brücke zu schlagen zwischen den unterschiedlichen Erscheinungsformen des gegenwärtigen Bürgerengagements und einer neuen
Kultur bürgerschaftlichen Engagements, die
99
über die vertrauten Lippenbekenntnisse hinaus
weist und den Bürgerinnen und Bürgern in mehr
gesellschaftlichen Bereichen politische Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet
als bisher. Zugleich wird ihnen mehr Eigenverantwortung zugemutet. Der Sozialstaat ist dabei
nicht aus seiner Zuständigkeit entlassen.
Die Kommissionsempfehlungen richten sich
nicht allein an die Politik. Viele der Vorschläge sind ebenso an die öffentliche Verwaltung, an Vereine und Verbände adressiert.
Dabei hat sich die Kommission von der Erkenntnis leiten lassen, dass - entgegen allgemeiner Einschätzung - die Engagementbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger
nicht grundsätzlich nachgelassen hat. Vielmehr kommt es auf die konkreten Bedingungen zum Mitmachen an. Zu diesen Bedingungen zählt, dass bürgerschaftliches Engagement zunehmend an eine ausreichende
Berücksichtigung eigener Bedürfnisse, Interessen und Zeitvorgaben gekoppelt ist. An
Stelle eines lebenslangen Engagements nach
dem gleichem Muster wächst die Neigung,
in bestimmten Lebensphasen nach Bedarf
und Möglichkeiten zu entscheiden.
Damit stehen vertraute Vorstands-, Führungsund Vereinsrituale ebenso auf dem Prüfstand
wie die Zusammenarbeit zwischen hauptamtlichen Kräften und Freiwilligen. Das gilt für
Vereine und Verbände in allen gesellschaftlichen Bereichen ebenso wie für Parteien.
Die Architektur der Kommission
Da sind zunächst die 11 Parlamentarier: 5 von
der SPD, 3 von der CDU/CSU, 1 von Bündnis
90/Die Grünen, 1 von der FDP und 1 von der
PDS - und die gleiche Zahl von Vertretern.
Zu ihnen haben sich in gleicher Menge und
Relation die Sachverständigen gesellt, die
100 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA Ludwig Pott zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Die Enquetekommission als soziales System
jeweils von den Fraktionen im Bundestag benannt werden. Da auch eine parteiübergreifende Enquetearbeit nicht frei ist von der politisch-taktischen Aufstellung der Fraktionen,
entscheiden diese sich in der Regel für Sachverständige, die in ihrer fachlichen Ausrichtung und Argumentation in die parteipolitische
Programmatik passen. Hier ist die Politik sehr
volksnah und holt sich nicht ohne Not Läuse
in den eigenen Pelz.
Innerhalb der Gruppe der Parlamentarier kristallisierte sich ein besonderer Kreis heraus, das
sind die sogenannten Obleute. Sie werden von
den jeweiligen Fraktionen gewählt und verarbeiten deren ferne Kommandos, d.h. sie vertreten die politischen Interessen der Fraktionen in der Kommissionsarbeit und haben die
Bezüge zu anderen Politikfeldern im Auge.
eine vertiefte Bearbeitung der Themenschwerpunkte (1.) Zivilgesellschaft, (2.) Sozialstaat
und (3.) Erwerbsarbeit eingerichtet worden
sind. Die Mitglieder der Kommission ordneten sich nach eigenen Arbeitsschwerpunkten
jeweils einer der Berichterstattergruppen zu,
wobei es für die politischen Fraktionen von
Interesse war, in möglichst allen drei Gruppen
personell vertreten zu sein. Natürlich spielten
bei der Entscheidung auch persönliche Sympathien eine Rolle. Geleitet wurden die Gruppen von einem dafür gewählten Mitglied bzw.
von seinem Stellvertreter.
Dessen Aufgabe bestand u.a. darin, der Gesamtkommission über den Fortgang der Arbeit
und über Entscheidungen oder Vorschläge zu
berichten.
Die Berichterstattergruppen entsprechen dem
Die Obleute bilden das Obleute-Gremium, Typus von Kleingruppen und gewinnen schon
sozusagen die politische Tafelrunde der Kom- deshalb eine vergleichsweise höhere soziale
mission. Es stellt ein einflussreiches Subsys- Dichte. Von hier aus wurden - gewissermaßen
tem in der Kommission dar, dem eine zentrale vom Rand her - auch die Ereignisse der GeBedeutung vor allem bei strittigen Sachlagen samtkommission verfolgt, das Vorgehen des
und Verfahrensfragen zukommt. In Konfliktsi- Vorsitzenden kommentiert und Pläne geschmietuationen fällt ihnen eine wichtige Vermitt- det, Ärger geäußert und mitunter auch im Verlungsrolle zu, aber sie sorgen auch für den gleich mit den anderen Berichterstattergruppolitischen Abstimmungsbedarf zwischen den pen ein Gefühl von Einmaligkeit der eigenen
Fraktionen im laufenden Geschäft. Das Ob- Zusammensetzung erzeugt. Punktuell von Konleute-Gremium ist sowohl das Verbindungs- kurrenz zwischen den Berichterstattergruppen
glied wie auch eine systembedingte Bruchstel- zu sprechen, würden die Beteiligten aller Wahrle zwischen der mächtigen fraktionsübergrei- scheinlichkeit nach weit von sich weisen. Ich
fenden Logik des Bundestages und den exter- bin aber sicher, dass mich dieses Gefühl
nen Sachverständigen. Konkret kann das be- verschiedentlich nicht allein beschlichen hat.
deuten, dass die Parlamentsgeschäftigkeit und
nicht mehr die inhaltliche Debatte die Kom- Quer zu den Berichterstattergruppen wurden
missionsarbeit dominiert.
im weiteren Verlauf der Enquetearbeit noch
drei weitere Arbeitsgruppen installiert. Eine
Ein weiteres wichtiges strukturelles Element davon befasste sich mit der Vorbereitung des
der Kommissionsarbeit waren die sogenann- Berichtes, entwickelte Gliederungsentwürfe
ten Berichterstattergruppen. Es handelt sich und verfolgte die Stimmigkeit der Textvorladabei um drei Arbeitsgruppen, die durch ge- gen. Da die vereinbarten Zeitvorgaben mitunter
meinsamen Beschluss in der Kommission für erheblichen Druck auf alle Beteiligten erzeug-
ten und dabei auch der Acker einzelner Eitelkeiten betreten werden musste, verlief diese
Arbeit notgedrungen nicht ganz splitterfrei. Das
Ergebnis konnte sich dennoch sehen lassen.
Dies hatte mit den Leistungen der Autorinnen
und Autoren und der Arbeit des Sekretariats
zu tun, vor allem aber auch mit der Tatsache,
dass zur Kommission eine weibliche Sachverständige gehörte. Sie war die einzige Frau im
Kreis der Sachverständigen und bildete die
Keimzelle jener Gruppe, die den Bericht vorbereitet hat.
101
krete Empfehlungen an den Gesetzgeber erarbeiten. Von hier stammen jene Ergebnisse im
Bericht, die am detailliertesten formuliert sind
und deren politische Umsetzung deshalb am
einfachsten überprüft werden können.
Die dritte Arbeitsgruppe hat die Veröffentlichung aller Gutachten in einer elfbändigen
Schriftenreihe der Kommission vorbereitet.
Zusätzlich gab es Arbeitsgruppen in den jeweiligen Fraktionen zum Enquetethema.
Streng genommen waren auch sie Teil der
Die zweite Arbeitsgruppe erörterte Rechtsfra- Kommissionsarchitektur. Sie tagten fraktionsgen des bürgerschaftlichen Engagements, die intern zwischen den Sitzungen der Kommissich aus dem gesondert in Auftrag gegebenen sion und wurden üblicherweise von den jeRechtsgutachten ergeben hatten. Sie sollte kon- weiligen Obleuten geleitet. Daran nahmen die
©L. Pott
Enquete-Kommission
2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
"Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements"
Fraktion
SPD
vutsonmlhedaJICA
J
Fraktion
CDUCSU
ObleuteGremium
Vorsitzender
Sekretariat
/
AG
\ Enquetebericht
;
Fraktion
Bündnis 90/
Die Grünen
PARLAMENTARIER / SACHVERSTÄNDIGE 1\
Fraktion
FDP
J
V
Fraktion
PDS
AG
empfehlungert/
Die Enquetekommission als soziales System
102 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA Ludwig Pott zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
zugehörigen Parlamentarier und Sachverständigen sowie jene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktion teil, die auch von Fraktionsseite die Kommissionsarbeit organisatorisch und wissenschaftlich begleitet haben.
Hier wurden politische Positionen der Enquetearbeit diskutiert, von Fachleuten aus den
Ministerien Rat eingeholt und natürlich auch
ein Auge auf die Strategie des politischen Gegenübers und seine offenen und verdeckten
Operationen geworfen.
eigenem Anlass Bericht über die Arbeit des
Sekretariats.
selbst ist. Andere sind einem dagegen nur ihrem Namen nach bekannt.
Vorgefundene Beziehungen
Das Sekretariat besaß den umfassendsten
Überblick über Details der Arbeiten in allen
Bereits zu Beginn der Kommissionsarbeit gab
Teilsystemen. Es protokollierte die Sitzunes sogenannte vorgefundene Beziehungen.
gen einschließlich der BerichterstattergrupDas gilt besonders für die Parlamentarier. Sie
pen, organisierte die Anhörungen und leistekennen sich zum einen persönlich aus der
te nicht zuletzt den entscheidenden Beitrag
eigenen Fraktionsarbeit und wissen zudem
dafür, dass diese Kommission fristgerecht
meist sehr genau, was sie von den Kollegineinen Bericht vorlegen konnte. Die vom Senen und Kollegen auf der anderen Fraktionskretariat erbrachten schriftlichen Beiträge
seite zu halten haben. Ähnlich sieht es bei
Eine Schlüsselrolle spielte naturgemäß der Vor- und redaktionellen Arbeiten geraten leicht
den Universitätslehrern aus, die über die Hälfsitzende. Er wurde in dieser Kommission ent- in Vergessenheit, da vorwiegend die Sachte der Sachverständigen gestellt haben. Sie
sprechend der Fraktionsstärke von der sozial- verständigen die Texte für den Bericht gesind einander aus universitären Zusammendemokratischen Fraktion gestellt, seine Stell- schrieben haben. Hier musste für manches
hängen bekannt oder haben zumindest aus
vertreterin von der Union. Der Kommissions- der Rücken hingehalten werden, weil ehrder Literatur eine gegenseitige Einschätzung
vorsitzende leitete die Sitzungen und konnte geizige Entscheidungen der Kommission unihrer wissenschaftlichen Gewichte. Auch die
gedacht
waren
ter
Zeitdruck
nicht
zu
Ende
sich aus seiner Leitungsfunktion jederzeit mit
übrigen Mitglieder verfügten aus vorangeganeigenen Beiträgen in die inhaltliche Debatte oder aus parteipolitischem Kalkül hoch am
genen Arbeitsgremien teilweise über Kennteinschalten, was mitunter richtungsbestimmend Wind gesegelt wurde.
nisse voneinander.
war und in der konkreten Ausgestaltung
bisweilen zu Temperaturschwankungen im so- Das soziale Geschehen zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
zialen Gefüge der Gesamtequipe beigetragen in der Kommission
Man war also in Teilsystemen verortet, nur im
hat. Dies darf in struktureller Betrachtung Gesamtsystem Enquete-Kommission ist damit
zumindest im Nachhinein - als ganz normaler Die Komplexität des sozialen Geschehens in
eine der spannendsten gruppendynamischen
Vorgang gewertet werden.
Fragen nicht automatisch beantwortet: Wer bin
dieser Kommission ist in ihrer Gesamtheit
ich hier für die anderen? Erste Antworten darkaum darstellbar. Deshalb beschränke ich mich
auf sind der Stoff für vertrauensvolle ZusamVon hohem Gewicht für eine erfolgreiche im Folgenden auf einige wenige, aber entscheimenarbeit und macht auch Mitglieder einer
Kommissionsarbeit ist das Sekretariat der En- dende Begebenheiten: zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Kommission erst zu Gefährten in gemeinsaquete-Kommission. Es gehört zur Verwaltung
mer Sache. Genau dieser Vorgang kann nicht
des Deutschen Bundestages und war besetzt Rituale
per Abstimmung oder Geschäftsordnung geremit ausgewählten wissenschaftlichen Mitarbeigelt werden, weil er nicht Gegenstand einer
terinnen und Mitarbeitern, die wiederum un- Die Sitzrituale in der Kommission deckten sich
Vereinbarung sein kann. Er beruht ausschließterstützt wurden von einer Büroleitung, von mit den Gewohnheiten in jedem Vereins vorlich auf gegenseitigen Erfahrungen in der Areiner ersten und zweiten Kommissionssekretä- stand. Wir haben uns von Beginn an in jeder
beit.
rin, von Praktikantinnen und Praktikanten, von Sitzung fraktionsweise nach gleichem Muster
Leasing-Kräften und studentischen Aushilfs- sortiert und auch immer wieder dieselben Stühkräften. An der Spitze des Sekretariats stand le aufgesucht. Damit blieben optisch die StandMacht und Einfluss
der Leiter.
orte und Perspektiven in der Gruppe und im
Eine wichtige Gelegenheit zur Erprobung der
Raum erhalten. Das hat besonders zu Beginn
Zusammenarbeit bot die erste Klausurtagung.
Während der Sitzungen der Enquete-Kommis- sehr dabei geholfen, in dem großen Gremium
Alle Sachverständigen waren aufgerufen, hier
sion hatte er seinen Platz zur Rechten des Vor- Orientierung zu schaffen. Gerade in der Anim großen Kreis ihre Statements zur Enquetesitzenden und erstattete auf Befragen oder aus fangszeit weiß man vielleicht noch, wer man
103
arbeit abzugeben und sich damit zugleich öffentlicher Wahrnehmung und Beurteilung auszusetzen. Von Schaulaufen zu sprechen, wäre
der Veranstaltung nicht angemessen, aber ein
bisschen davon hatte es schon. Danach waren
jedenfalls die Bilder voneinander vollständiger, es bildeten sich mit den Berichterstattergruppen die ersten offiziellen Teilsysteme und
manchem dämmerte es, dass man von jenem
Strang, an dem alle gemeinsam ziehen sollen,
noch weit entfernt ist. Die inhaltlichen Vorstellungen über den gesellschaftspolitischen
Entwurf dieser Kommission lagen deutlich
auseinander. Wie weit, zeigten verschiedene
Beiträge von Enquetemitgliedern in Zeitungen
und Zeitschriften, die in der Folgezeit erschienen und erste Zwischenbilanzen der Enquetearbeit darstellten. Ein Enquetekollege formulierte seinen Zweifel, dass in der Kommission
womöglich doch nur der „Kriimmungswinkel
der Banane" vermessen würde und man sich
zu einer neuen Machtverteilung zwischen Bürgern und staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen wohl nicht werde durchringen können.
Letztlich liefen die unterschiedlichen Auffassungen auf die Frage hinaus, ob das Engagementthema in der Kommission auf Formen der individuellen Ehrenamtsförderung
mit attraktiven Steuerpauschalen und sozialen Absicherungen beschränkt bleibt, oder
ob sich Entwürfe für eine demokratiefreundliche Politikentwicklung durchsetzen können.
Der Argwohn richtete sich dabei vor allem
auf die großen Parteien, denen die pragmatische Nutzung des Themas für den langsam
anflutenden Wahlkampf jederzeit zugetraut
wurde, um bei ihrem jeweiligen Klientel zu
punkten. Es bestand die Gefahr der Domestizierung des Themas. In der Kommission
hat das unausgesprochen die Frage nach der
Defmitions- und Durchsetzungsmacht angestoßen.
104 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA Ludwig Pott zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Die Enquetekommission als soziales System
Ein Diskurs über die verschiedenen Interes- Enquete-Kommission von einer Abgeordneten
zelne hervor, und zeigten entschlossen ihre
senlagen der beteiligten Gruppierungen und und Kommissionskollegin unterstellt wurde, sie
Ablehnung. Es reichte aber nicht zu einer BeSubsysteme ist nicht offen geführt worden. So seien offenbar von einer Partei „eingekauft"
wegung, weil die Übrigen das Treiben heiter
blieben z. B. auch Fragen nach den durchaus worden. Der Vorfall wurde fast zeitgleich durch
melancholisch verfolgten. Das Gutachten wurmachtvollen Widerständen gegen mehr poli- einen weiteren Vorgang getoppt: Ein Abgeordde letztlich vergeben und liegt inzwischen als
tisch ambitioniertes Bürgerengagement unbe- neter - ebenfalls Kommissionskollege - schrieb
Sonderband in einer Schriftenreihe vor. Eine
handelt. Aber im Nachhinein und mit Blick hinter dem Rücken eines Sachverständigen
Arbeitsgruppe der Kommission hat daraus
auf den Bericht würde ich heute sagen, dass kurzerhand einen Brief an dessen Vorgesetzwichtige Handlungsempfehlungen für die Podie Politik sich den Teil geholt hat, den sie ten, um ihn über das unpassende Abstimmungslitik entwickelt. Die Frage muss offen bleiben,
brauchte. Der Einfluss der demokratiepoliti- verhalten des Sachverständigen ins Bild zu setob sie dasselbe auch ohne das Gutachten geschen Reformperspektive auf das Ergebnis ist zen.
schafft hätte.
dennoch weit größer gewesen, als es sich während der Kommissionsarbeit gezeigt hat. Es Diese Ereignisse blieben in der Kommission
Einflüsse der Geschlechterrolle
spricht vieles dafür, dass sich gerade die An- nicht ohne Wirkung. Damit waren die Regeln
hänger einer eher traditionellen Herangehens- der Geschäftsordnung verletzt, und schon alBeim Rückblick auf die Kommissionsarbeit
weise an das Enquetethema unterwegs viel von lein dies hat den Vorsitzenden zu einer formakommt mir die Rolle einer Kollegin in Erinnedem zu Eigen gemacht haben, was ihnen zu len Reaktion gezwungen. Entscheidender aber
rung, die dem Kreis als einzige weibliche SachBeginn der Arbeit äußerst befremdlich erschien. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
war das persönliche Zusammenrücken aller
verständige angehörte. Von ihr ging eine ungeSachverständigen, die instinktiv spürten, dass
mein zähmende Wirkung auf Einzelne und auf
es auch einen Anderen hätte treffen können.
das Geschehen insgesamt besonders dann aus,
Normen und Tabus der Zusammenarbeit
wenn die Wögen schon mal etwas höher schluDie daraus resultierende Botschaft hieß: So
gen. Selbst der Vorsitzende konnte sich diesen
Natürlich hat sich in der Kommissionsarbeit nicht und zwar nie wieder. Es blieb auch bei
Effekten nicht entziehen, was ihrer Rolle als
auch Endrucksvolles zum Thema Normen und diesem Vorfall. Allen war deutlich geworden,
potente Minderheit zusätzlich Profil verliehen
Tabus abgespielt. In der ersten Vorstellungs- dass man sich kaum glaubwürdig für Prinzipihat. Sie war außer Konkurrenz. Keinem männrunde hatte ein sachverständiges Mitglied das en der Bürgergesellschaft ins Zeug legen und
Thema Korruption in der Politik und das Sys- gleichzeitig solche unwürdigen menschlichen
tem Kohl zur Sprache gebracht. Er unterstrich Umgangsformen praktizieren kann. Diese Erin diesem Zusammenhang die Bedeutung des fahrung der Sachverständigen hat nach meiner
bürgerschaftlichen Engagements als wichtiges Einschätzung trotz mancher inhaltlicher BeGegengewicht zu krisenhaften Erscheinungen lastungsproben nicht nur Normen gesetzt, sonder Parteiendemokratie und trat damit in ein dern auch für die Kultur der Zusammenarbeit
Fettnapf von beachtlichem Ausmaß. Das The- in der Enquetekommission Positives bewirkt.
ma war tabu, was sich daran zeigte, dass sich
niemand sonst für diesen plausiblen Gedanken Widerstand
auch nur versuchsweise stark machte. Das hät- gegen die Autorität des Vorsitzenden
te die Anstrengung gefährdet, möglichst alle
Fraktionen für die Erledigung des Kommissi- Es hat nicht an Anlässen gefehlt, sich gegenonsauftrags ins Boot zu holen. Danach wuss- seitig auf die Finger zu schauen. Widerstand
ten wir, dass es für die Bearbeitung des Kom- gegen die Amtsautorität zeigte sich z. B. bei
missionsthemas heimliche Grenzen gibt, die der Vergabe eines umfangreichen Gutachtens,
man nicht ungestraft überschreitet.
das insbesondere der Vorsitzende favorisierte,
an dem aber eine Mehrheit der Kommission
Dramatischer war jedoch, als in einem Zei- keinen rechten Gefallen finden mochte. Aus
tungsbeitrag zwei Sachverständigen aus der der Menge wagten sich immer wieder mal Ein-
105
lichen Sachverständigen oder Abgeordneten
wäre es bei dem versammelten Potenzial unbeschadet gelungen, die Regie über die ersten
Gliederungsentwürfe zu übernehmen und einen Konsens darüber in der Kommission herzustellen. Die Kollegin hat mit ihrer spezifischen Rolle in der Kommission eine integrative Wirkung entfaltet.
Einflüsse des politischen Alltags
Bei einigen Abgeordneten musste man immer
auf eine Überraschung gefasst sein. Während
die Sachverständigen nur an einzelnen Tagen
zu den Kommissionsterminen anreisten und
sonst ihren beruflichen Verpflichtungen nach
gingen, war für die Parlamentarier das Geschäft auf allen übrigen Politikfeldern ununterbrochen weiter gelaufen. So konnte es passieren, dass sie die politische Gegnerschaft aus
den letzten Tagen oder Wochen noch in der
Kleidung hatten, wenn sie sich in der Kommission gemeinsam mit den Sachverständigen
über das Zivile in der Bürgergesellschaft beugten. Es konnte eigentlich nicht verwundern,
wenn plötzlich emotionale Reaktionen aufflammten, die sich aus
dem aktuellen Thema
in der Kommission
nicht erklären ließen,
sondern ihre Quelle im
politischen Alltag hatte. zyxwvutsrqponmlkjihg
Nachtrag
„Wer Visionen hat,
muss zum Arzt", hat
mal ein österreichischer
Bundeskanzler geäußert. Dass sich bürgergesellschaftliche Visionen nicht allein über
106 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA Ludwig Pott zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Forschungsjoumal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003
die Erhöhung von Pauschalen und ähnlichem
realisieren lassen, war allen Beteiligten in der
Enquetekommission von Anfang an klar. Aber
wie kompliziert mitunter die Rechtslage ist und
wie umfangreich die dazu notwendigen Reformprozesse sind, das ist den meisten erst
Zug um Zug deutlich geworden. Wie sich
überhaupt für alle die Sicht auf das Thema
verändert hat, was man klassischerweise als
kollektives Lernen bezeichnet. Der Enquetebericht wurde gegen die Eitelkeit geschrieben.
Kein Kapitel trägt einen Namen, abgesehen
von den namentlichen Hinweisen im Vorwort
auf jene Personen in der Kommission, die besondere Aufgaben beim strukturellen Aufbau
des Berichts übernommen haben.
Trotz gewachsener Normalität im Kommissionsbetrieb und in der Zusammenarbeit lag über
allem der Hauch des Besonderen. Das Reichstagsgebäude ist für eine kurze Zeit zu einem
Arbeitsplatz geworden, von dem eine sich stets
erneuernde Faszination ausging. Gleichwohl
war es ein Terrain der Parlamentarier, das die
Sachverständigen an ihren Gaststatus erinnerte.
Die Kommissionsarbeit hat wohl allen Sachverständigen differenziertere Eindrücke von
der Berufspolitik vermittelt. Das Arbeitspensum vieler Abgeordneter steht im Gegensatz
zu gängigen Urteilen in der Öffentlichkeit.
Parlamentarier sind permanent gefragt und
haben ständig Termine. Ihre andauernde Lobbypräsens und die hektische Betriebsamkeit
der parlamentarischen Arbeit tragen dazu bei,
dass sie ihren eher negativen Status in der
Bevölkerung nicht zwangsläufig sehen müssen. Das kann zu einer erheblichen Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung führen. Politik bleibt stets in der Gefahr, sich selbstreferenziell zu bewegen und
die Logik des Handelns aus den politikeigenen Labors zu beziehen. Die Folge ist, dass
dem Bürgerpublikum oft das politische Stück
zu schwer ist, weil es die BUhnensprache nicht
mehr versteht und deshalb urteilt: Scheiß-Theater. Auch das Thema Bürgerengagement, bei
dem eigentlich jeder mitreden könnte, zählt
dazu.
Wir Sachverständigen haben uns in Sachen
Selbstreflexion allerdings auch nicht jederzeit
mit Ruhm bekleckert. Der offensichtliche Themenlobbyismus Einzelner wie auch die Grenzen und Nöte der Verbändevertreter blieben
unausgesprochen.
107
Michael Opielka zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Bürgergesellschaft und Sozialpolitik
Entscheidungspfade grüner Sozialpolitik
In einer Studie des Bremer ,Zentrums für Sozialpolitik' resümiert Andrea Gohr die Anfangsjahre der grünen Sozialpolitik: „Die Grünen
können daher in den 80er Jahren als die Innovationspartei in dem eingefahrenen bundesrepublikanischen Allparteiensozialstaat gewertet
Natürlich ist alles noch viel differenzierter,
werden." (Gohr 2002: 3) Am selben Zentrum
schöner, schlimmer und auch ganz anders geleitet unterdessen der Politologe Frank Nullwesen. Parlamentarier haben dazu vermutlich
meier die Abteilung ,Theorie und Verfassung
eine andere Einschätzung und andere Geschehdes Wohlfahrtsstaates', als Nachfolger von
nisse in Erinnerung als Sachverständige. Und
Claus Offe, der auf dem Gründungsparteitag
die wissenschaftlichen Mitarbeiter im Enqueteder Grünen in Karlsruhe im Januar 1980 sprach
sekretariat könnten Beobachtungen und Erlebund jene Anfangsjahre grüner Sozialpolitik mit
nisse schildern, und sie kämen ebenfalls zu
inspirierte. Handelt es sich bei den Grünen, so
eigenen Schlüssen. In der Fachöffentlichkeit
lautet die Frage, noch um eine Innovationsparverstehen viele etwas von dem Thema. Auch
tei oder sind sie Teil jenes ,Allparteiensozialsie haben sich in Kommentaren ihr eigenes
staats' geworden? Die Frage kann nicht nur
Bild gemacht und mancher von ihnen wird die
anhand von konkreten Politiken (politics) beKränkung der Nichtberufung in die Kommisantwortet werden, sondern erfordert zugleich
sion gespürt haben.
eine Analyse der die Politik prägenden und sie
legitimierenden Leitbilder (polity). Auch NullDass die Bürgergesellschaft nicht auf dem
meier ist mit den Grünen verbunden, er wurde
Reissbrett erfunden werden kann, hat sich auch
- neben der Vorsitzenden der Verbraucherzenin der Arbeit dieser Kommission gezeigt. Ihr
trale, Edda Müller - aus dem Umfeld des kleiErgebnis ist beeinflusst und beschränkt durch
nen Koalitionspartners für die Rürup-Kommissoziale Mechanismen, wie sie sich überall dort
sion vorgeschlagen. Daher ist es von Interesse,
zeigen, wo Menschen etwas miteinander zu
wenn er unter dem provokativen Titel ,Vertun haben. Enquete-Kommissionen bilden da
gesst die Bürgergesellschaft?!' grundsätzliche
keine Ausnahme. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Überlegungen zum deutschen Wohlfahrtsstaat
anstellt (Nullmeier 2002).
Ludwig Pott leitet den Fachbereich Verbandsentwicklung beim Bundesverband der ArbeiSoziale Ausgrenzung ais
1
terwohlfahrt und war sachverständiges Mitglied
sozialpolitische Herausforderung
der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Zukunft des Bürgerschaftlichen EnNullmeiers Thesen sind hilfreich, weil er zu
gagements".
den wenigen zeitgenössischen Sozialpolitikwis-
senschaftlern zählt, die sich mit den theoretischen - und nicht nur den methodischen Grundlagen ihres Gebietes beschäftigt haben.
In seiner ambitiösen Studie politische Theorie des Sozialstaats' rekonstruierte er die sozial- und politikphilosophischen Begründungen
sozialpolitischer Interventionen und kommt, im
großen Bogen von Hobbes, Rousseau, Nietzsche bis Honneth, zu einer interessanten Rekombination von Anerkennungs- und Differenztheorie: Rechtliche Anerkennung zielt auf
Gleichheit, soziale Wertschätzung auf Unterschiede." (Nullmeier 2000: 403) Sein Ziel ist
ein „Begriff eines Sozialstaats (...), der auf der
Anerkennung komparativer Orientierungen als
Bestandteil subjektiver Freiheit gründet und
darauf mit der Schaffung von Bedingungen
allgemeiner sozialer Wertschätzung als Vermittlung dieser Freiheit zur gleichen Freiheit aller
reagiert." (ebd.: 421) Interessant ist die differenztheoretische Begründung - allerdings nicht
im Sinne einer Hegeischen, dialektischen Differenztheorie, sondern schlichter, als Anerkennung von sozialer Ungleichheit innerhalb der
sozialstaatlichen Struktur: „Sozialstaatliche
Politik im Sinne einer Wertschätzungspolitik
wird den Schwerpunkt nicht nur auf den unteren Sektor richten und vorrangig Mindest-, Basis- oder Grundsicherungen implementieren
können." (ebd.: 420) Eine zeitgemäße sozialpolitische Theorie müsse - anders als beispielsweise John Rawls, der in seiner Gerechtigkeitstheorie von „in ihrer Selbstachtung befriedeten und dem sozialen Vergleich abschwörenden Personen" (ebd.: 82) ausgehe - die Persistenz des ,Sozialkomparativen' zur Kenntnis
Bürgergesellschaft und Sozialpolitik
108 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Michael Opielka zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Kaufmann (zuletzt: Kaufmann 2002: 179ff),
Anthony Giddens oder dem bereits erwähnten
Claus Offe unter Signaturen wie ,Bürgergesellschaft', .Dritter Sektor' oder .Kommunitarismus' mit der komplexen Welt neben Markt
und Staat beschäftigte (vgl. Münkler/Fischer
2002). Nun ist Nullmeier aus eigenen Arbeiten
zur Verbände- und Regulierungsforschung vertraut, dass neben marktlichen und staatlichen
zahlreiche weitere Institutionen und Organisationen existieren, die diesen beiden Steuerungsformen und den mit ihnen korrespondierenden
gesellschaftlichen Subsystemen ,Wirtschaft'
und ,Politik' nicht recht zugeordnet werden
können, um nur einige zu erwähnen: das Bildungswesen, das Wissenschaftssystem, das
Die politischen Folgen dieser politischen TheKunstsystem,
die Medien und die von ihnen
orie sind problematisch: Wer das .Sozialkommit konstituierte Öffentlichkeit, das komplexe
parative' im Zentrum einer Sozialpolitiktheo(teils informelle) Hilfesystem von der Familie
rie ansiedelt, wird die Peripherie der Sozialpoüber
Netzwerke (Nachbarschaft, Freundschaft,
litikwirklichkeit übersehen. Diese Peripherie
Bekanntschaft),
Vereine, Wohlfahrtsverbände,
wiederum war bislang das Zentrum der grüdie Kirchen und Religionsgemeinschaften usf.
nen Sozialpolitik: das Problem der Armut im
Das alles macht - neben den im engeren Sinn
Wohlfahrtsstaat, die Benachteiligung von Frauauf die Subsysteme Wirtschaft (wie Gewerken, die Verschattung des freiwilligen Engageschaften und Unternehmerverbände) und Poliments - als programmatische Lösungen dientik
(wie Parteien) bezogenen Institutionen und
ten Grundrente, Grundeinkommen und (als ersOrganisationen
- die ,BürgergeseIlschaft' aus,
ter Schritt) eine Grundsicherung, die Umverjedenfalls in der heute üblichen Begriffsverteilung der Arbeitszeit, die Entkopplung von
wendung (vgl. Opielka 2002a). Nullmeiers VerSozialpolitik und Wirtschaftswachstum, Prädacht
einer sozialpolitischen Schwäche des
vention, Engagementförderung usf. Nun könnte
(deutschen)
Diskurses um die .Bürgergesellman eine rein akademische Debatte und hinter
schaft' ist nicht unberechtigt, er begrenzt sich
der politiktheoretischen Rehabilitierung von
häufig genug auf das Problem der politischen
Neid und Ungleichheit eine nötige Öffnung
Partizipation, vor allem im sozialdemokratizum liberalen Denken vermuten. Doch das Proschen Milieu (z.B. Meyer/Weil 2002), oder des
blem reicht weiter, es zielt auf die sozial-kulbürgerschaftlichen
Engagements (Enqueteturellen Bezugssysteme grüner Sozialpolitik,
Kommission
2002).
Gewiss
hat Nullmeier auch
auf die ,Bürgergesellschaft'. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
recht, wenn er in diesem gemeinschaftlichen
Überhaupt verwundert Nullmeiers Absehen von
Subsystem der Gesellschaft - um mit Talcott
2
Abschied von der
einer seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts
Parsons (und Niklas Luhmann) zu sprechen vor allem in der politischen und der OrganisaBürgergesellschaft?
nur schwer symbolisch generalisierte Interaktionssoziologie intensiv geführten, internatiotionsmedien' ausmachen kann, zumindest solNullmeier kommt es im eingangs erwähnten nalen steuerungstheoretischen Forschung und
che, die einen vergleichbaren FormalisierungsText darauf an, den Mythos der .Bürgergesell- Debatte, die sich, schon früh inspiriert von
grad besitzen wie Geld (im Markt) und Recht
schaft' zu entlarven. Dem demokratischen Amitai Etzioni, mit Autoren wie Franz-Xaver
nehmen und eben nicht, wie die Mehrheit der
modernen politischen Theorie, ihre „Überwindung (...): ihrer Überführung in Interesse, Moralität oder Gemeinwohlorientierung" (ebd.:
329) erwarten. Neid, Ressentiment und ,Agonalität' erscheinen Nullmeier als Zentralkategorien einer angemessenen Sozialpolitiktheorie: „Im Sozialkomparativen hat der Sozialstaat seinen Antrieb wie seinen Gegenstand."
(ebd.: 361) Soziale Gleichheit und auch ihre
kleine Schwester Chancengleichheit' tritt damit hinter die - liberale - .Wertschätzung' subjektiver Freiheit und Differenz als Ziel von
Politik zurück.
.Staat' liege die Volkssouveränität und dem
.Markt' die Konsumentensouveränität zu
Grund, doch der Bürgergesellschaft nur eine
,Bürgersouveränität' - diese sei aber politisch
völlig amorph: „Der Bürgergesellschaft mangelt es (..) an einem grundlegenden Selbststeuerungsmechanismus, was ihre Legitimationsprobleme - gegenüber Staat und Markt - erhöht (...). Ein gesellschaftlicher Kooperationsund Koordinationsprozess im eigentlichen Sinn
findet nicht statt. Die Bürgergesellschaft ist
die Ansammlung von mehr oder weniger organisierten Formen des Engagements, es fehlen
Institutionen der Bündelung, der wechselseitigen Abstimmung und des Ausgleichs." (Nullmeier 2002: 15) Natürlich greifen bei der Erforschung der gemeinschaftlichen Sphäre der
Gesellschaft - wie man die Bürgergesellschaft
auch nennen könnte - weder die ökonometrischen Modelle der neoklassischen Markttheorien, noch der juristisch geschulte Institutionalismus der Politikwissenschaft ausreichend.
Aber theoretische und methodische Herausforderungen sollten nicht dazu fuhren, einen
Teil der Wirklichkeit abzukanzeln. Im übrigen
hängt auch ökonomisches Markt-Handeln zentral von gemeinschaftlichen, moralisch-psychologischen Motiven ab, wie neben vielen der
Nobelpreisträger 2002 in Ökonomie, Daniel
Kahneman nachwies. Claus Offe und andere
machten darauf aufmerksam, dass .Vertrauen'
eine der Steuerungsformen der Bürgergesellschaft ist , Robert Putnam wies zuletzt in einem international vergleichenden Projekt auf
das ,Sozialkapital' hin, das in der .Bürgergesellschaft' gebildet wird (Putnam 2001).
1
109
(im Staat). Neben dem erwähnten .Vertrauen'
konkurrieren in dieser Sphäre .Liebe' (so Luhmann), .Einfluss' (so Parsons), ,Moral' (so
Emile Dürkheim und Etzioni), ,Wertbindung'
(so Parsons und Richard Münch), aber auch,
worauf Jürgen Habermas hinwies, .Sprache' und
.Sinn'. Die Koordinationsprozesse sind entsprechend komplex, aber doch keineswegs unüberschaubar, jedenfalls nicht für Soziologen.
Vor dem Hintergrund des steuerungstheoretischen (Fehl-?)Urteils wird dann von Nullmeier die These untersucht, „Sozialpolitik bürgergesellschaftlich statt sozialstaatlich zu gestalten" (Nullmeier 2002: 13). Anhand dieses
Pappkameraden (denn wer spricht ernsthaft von
,statt'?) wird dann das „Mengen-, Stetigkeitsund das Verteilungsproblem" erörtert und festgestellt, dass die Bürgergesellschaft an all diesen Problemen scheitere: „Sie wird mithin auf zyxwvuts
Staats- (zentral) oder marktanaloge (dezentral)
Koordinationsmechanismen zurückgreifen
müssen. Die Bürgergesellschaft wäre damit von
einem heteronomen Koordinationsmechanismus regiert." (ebd.: 16) Doch der Staat ist
keineswegs nur .zentral', der Markt keineswegs
nur .dezentral', der Code zentral/dezentral ist
einer von vielen, aber keineswegs der zentrale
in Sachen Gesellschaftstheorie. Weiter heißt
es, dass die Bürgergesellschaft nach wie vor
des, vor allem auch regulierenden Staates bedürfe - was nun kein ernsthafter Vertreter einer ,bürgergesellschaftlichen' Sozialpolitik je
bestritten hat. Zurecht beobachtet Nullmeier
eine „schleichende Transformation der Bürgergesellschaft" aufgrund umfassender „Vermarktlichungstendenzen" auf „Wohlfahrtsmärkten"
(ebd.: 18). Fundraising wird zum Geschäft und
auch die Wohlfahrtsverbände und Vereine vertrauen in den letzten Jahren zunehmend auf
professionelle Managementmethoden und Public Relations. Nicht zuletzt als Folge des künftigen GATSzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPO
(General Agreement on Trades
and Services) der WTO, das auch für soziale,
f
I
110zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Michael Opielka zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Bürgergesellschaft und Sozialpolitik
gesundheitliche und Bildungsdienstleistungen
einen globalen Freihandel durchsetzen möchte, befürchten manche Beobachter, dass die im
Übergang zur modernen kapitalistischen Gesellschaft entstandene bürgergesellschaftliche
Sphäre gemeinnützigen Non-Profit-Handelns
zum Kehricht der Geschichte wird. Doch so
weit ist es noch längst nicht - und so weit wird
es dann nicht kommen, wenn die gesellschaftlichen Eliten ihre kommunitären und darin auch
liberalen, weil auf die umfassende Freiheit des
Individuums setzenden Leitbilder nicht aufgeben bzw. neu schärfen. Nullmeiers Urteil über
die Bürgergesellschaft - „So kann sie immer
nur ein - durchaus sympathischer - Nebenzweig der sozialpolitischen Lösungsstrategien
mit beschränktem Wirkungskreis sein" (ebd.:
18) - gewinnt Plausibilität allein dann, wenn
man seinen Annahmen folgt, wonach ihre Steuerungskompetenz defizitär, ihre Empirie degenerativ und ihr ideelle Grundlage diffus sei.
Allerdings ist Nullmeier nicht grundsätzlich
gegen die ,Bürgergesellschaft', zumal sie
sowieso existiert. Er plädiert vielmehr für eine
„politische Bürgergesellschaft (...), die in das
Marktgeschehen aktiv einzugreifen vermag, die
sich als Ausdruck gesellschaftlicher Kontrolle
und Korrektur ökonomischen Geschehens versteht (...) und gerade dadurch ein Gegengewicht zu Staat und Markt böte" (ebd.: 19).
Dieser Blick des Politologen auf die Gesellschaft übersieht gleichwohl - um Dürkheims
,nichtvertragliche Grundlagen des Vertrags' zu
paraphrasieren -, dass auch die .Interpenetration' (Parsons) von gemeinschaftlichem und
politischem Subsystem der Gesellschaft darauf basiert, dass das Gemeinschaftssystem, jenes Zentrum der ,Bürgergesellschaft', ausdifferenziert und vital bleibt bzw. vitalisiert wird.
Während in despotischen Gesellschaften die
,Bürgergesellschaft' Solidarität aus Not und
im Schatten organisiert, beansprucht sie in der
liberalen Demokratie Gleichursprünglichkeit
neben Wirtschaft und Politik. Allerdings darf
man das nicht zu schematisch sehen, denn es
geht nicht nur um institutionelle Sozialgeographie, sondern auch um logische Prinzipien, jene
eingangs erwähnten Leitbilder: Das Prinzip der
freien Vergemeinschaftung oder Assoziation
findet sein politisches Komplement im Prinzip
der Subsidiarität - während die humanistische,
letztlich religiös begründete Idee der Menschenrechte ihre politische Antwort unter anderem in sozialen Bürgerrechten sucht. Eine
politische Leitbildanalyse wird diese kulturelle Bedeutung der ,Bürgergesellschaft' für sozialpolitische Werte nicht unterschätzen. Was
aber sonst als diese Werte richtet den von Nullmeier gewünschten „Regulationsstaat" (ebd.:
17) aus - wobei (mit Max Weber) Interessen
und Werte immer dialektisch verschränkt sind.
ausschließlich sozialpolitische Dominanz der
Sozialdemokratie. Die Besorgnis der Grünen
ist verständlich. So möchte Bundeskanzler
Schröder die Sozialabgabenquote deutlich senken (auf unter 40%) und kündigt massive Einschnitte in das Gesundheitswesen und die Arbeitsverwaltung an. Die Vermutung lautet, dass
- aufgrund des Traditionalismus der SPD-Sozialpolitik -jene, teils bereits realisierten Maßnahmen (z.B. ,Ich-AG') vor allem dazu beitragen sollen, den klassischen .Arbeitnehmersozialstaat' zu retten und damit das Leitbild der
.Arbeitsgesellschaft', das jene traditionelle
,Allparteiensozialstaatskoalition' zusammenhält.
m
politischer Selbstartikulation mitzuwirken vornehmste Aufgabe der Grünen sein könnte. Dies
ist übrigens kein Widerspruch zu einer pragmatischen und .realistischen' Politik, vielmehr
ein urdemokratisches Anliegen - was die Grünen in ihren Anfangsjahren mit dem Begriff
der ,Basisdemokratie' zwar gewollt, aber eher
verunklart haben, weil sie ihn vor allem auf
parteiinterne Organisationsfragen kaprizierten.
Leider ist auch die Systemperspektive unklar.
Die Arbeitsmarktpolitik der vergangenen Jahrzehnte wird derzeit seitens der Bundesregierung zugunsten einer Marktrationalität aufgegeben, einer Peripherisierung und Marginalisierung breiter Gruppen mit sozialen BenachHier wären nun die Grünen gefordert, wie teiligungen. Maßstab dafür sind Gerechtigkeitsschon in ihren Anfangsjahren. Zwei Aspekte und Gleichheitswerte, die am Beispiel der .Bein jenem grünen Strategiepapier machen deut- hinderten' offensichtlich sind: Der Sozialstaat
Die sozialpolitiktheoretischen Überlegungen
lich, warum die Grünen sozialpolitisch derzeit muss hier einer Ausgleichsfunktion nachkomvon Nullmeier wurden deshalb so ausführlich
(auf Bundesebene) bedeutungsarm sind. Das men, um zumindest im Ansatz Chancengleichnachgezeichnet, weil diese Denkart unterdessen
Erste ist die Akteursperspektive, das Zweite ist heit' herzustellen (nicht ,Ergebnisgleichheit'),
aber auch um soziale Grundrechte unabhängig
bei den grünen Eliten mehrheitsfähig gewordie Systemrationalität.
von den konkreten Marktchancen zu sichern.
den zu sein scheint. Ohne diese einseitige Konzeption von Bürgergesellschaft soziologisch zu
Markus Kurth ist gegen die Ausgrenzung von Diese Werte werden von den Institutionen erweitern - was ich an anderer Stelle versuchbislang Erwerbslosen aus der Arbeitslosenver- Bundesanstalt für Arbeit, Kommunen, Legiste (Opielka 2002a) -, möchte ich ihre problesicherung. Er ist gegen einen ,Neuzuschnitt lative - zurecht eingeklagt. Nur: Neben diesen
matischen Folgen an einem aktuellen Beispiel
der Klientel' - ein folgenreicher Technokra- fundamentalen, humanistisch und religiös begrüner Sozialpolitik erörtern, dem Umgang mit
tenjargon: In ihrer Frühzeit war es die vor- gründeten .dicken' Werten folgt jedes System,
dem Problem der grassierenden Arbeitslosignehmste Aufgabe der Grünen, die getroffe- auch die Arbeitsverwaltung, .dünnen' Werten,
keit. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
nen' selbst zum Sprechen zu bringen, ihnen vor allem der Effektivität und der Verfahrensein Forum zu geben. Heute würde dies bedeu- gerechtigkeit. Hier setzte die implizite Legititen, die Erwerbslosen selbst öffentlich wahr- mationsstrategie von Konservativen, Liberalen
Beispiel Arbeitslosigkeit:
3
nehmbar zu machen, nicht nur als abstrakte und Teilen der Sozialdemokratie an, wenn GerDie Grünen zwischen AkteursZahl von knapp 5 Millionen, und nicht nur hard Schröder Anfang 2001 verkündete: ,Es
und Systemrationalität
über die Gewerkschaftsfunktionäre, die sich in gibt kein Recht auf Faulheit!'. Hier wird die
Deutschland leider kaum für die Interessen von ,dünne' Systemrationalität - also das BekämpIn einem ,Integration statt Ausgrenzung' überErwerbslosen interessiert haben. Unglücklich- fen von Trittbrettfahrern und .Missbrauch' schriebenen Papier des sozialpolitischen Spreweise ist auch die Mehrheit der Abgeordneten zur Legitimation der Zerstörung des bisherichers der Bundestagsfraktion, Markus Kurth,
des Deutschen Bundestags verbeamtet und hat gen Integrations-Systems, unter der Signatur
werden die derzeitigen Trends in der Bundesanstalt für Arbeit und der Bundesregierung
- wenn überhaupt - höchstens historische eines .aktivierenden Sozialstaats'.
derart analysiert (vgl. Kurth 2003), dass sich
Kenntnis von der Bedrohungslage Arbeitslodie Frage stellt, ob auf diesem Gebiet überhaupt
sigkeit. Die .Klientel' sind konkrete Menschen, Denn natürlich gibt es .Missbrauch' im Syseine rot-,grüne'-Regierung existiert - oder nicht zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
die sich durchaus organisieren und an deren tem der Arbeitsverwaltung - wer als Arbeitge2
112 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Michael Opielka zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Bürgergesellschaft und Sozialpolitik
ber einmal eine Reihe von Arbeitsamtskandidaten erlebt hat, die sich angetrunken vorstellen, der wundert sich nicht über die Erosion
von Solidarität und Systemvertrauen. Ausländische Beobachter wundern sich in Deutschland, dass man auch mit höchst begrenzter Kreativität, Aktivität und Risikobereitschaft dank
Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfestaat auskömmlich überleben kann - allerdings mit latenter Marginalisierung, was vor allem die Kinder solcher (meist unfreiwilligen) Müßiggänger leidvoll erleben müssen, die Kinderarmut
ist in den vergangenen zehn Jahren allein deshalb so explosiv gewachsen. Dieser problematisch Befund wird durch die neuere dynamische Armutsforschung' unterstützt, die sowohl
bei den Soziahilfeverwaltungen wie bei den
Leistungsempfängern teils erhebliche Aktivitäten zur Befristung des Leistungsbezugs beobachtet, aber eben nicht bei allen (vgl. Schmid/
<^
J
Buhr 2002). ,Missbrauch' ist freilich nie ganz
auszuschalten, hier ist liberale Toleranz nötig.
Das ,Systemproblem' scheint deshalb nicht der
tatsächliche .Missbrauch', sondern das Denkmuster einer ,Arbeitsgesellschaft', die von den
Arbeitsmarktteilnehmern - um den Preis ihrer
Beleidigung als ,Faule' - Integration fordert,
doch dafür zu wenig Chancen bietet. Hier setzt
das Konzept des ,aktivierenden Sozialstaats' ein Zentralelement in Tony Blairs und Anthony Giddens' ,Third Way' - an und klagt Systemkonsistenz ein.
Was aber hieße das für die grüne Sozialpolitik? Um es zuzuspitzen: Wenn sie unterdessen
auch für einen .aktivierenden Sozialstaat' eintreten will, dann nur, wenn die Akteursperspektive auch würdevoll repräsentiert wird. Da
genügt es nicht, in die Rürup-Kommission (von
SPD-Seite) Gewerkschaftsfunktionäre und (von
TU zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
.tun!!
I 4 y
113
nelle und Interessenfundierung. Insoweit ist die
,Bürgergesellschaft' keineswegs eine „zutiefst
defensive Konzeption", wie Nullmeier glauIn Sachen Systemrationalität kann man mit dem ben machen will (Nullmeier 2002: 19). Den
Verweis auf .Behinderte' nicht die Drehtür- Grünen scheint heute sowohl ein politisch-prakStrukturen des ,2. Arbeitsmarktes' und der Wei- tisches Konzept zu fehlen, die .Bürgergesellterbildungslobby legitimieren, wie dies Mar- schaft' in zentralen sozialpolitischen Feldern
kus Kurth tut - auch wenn man diese Argu- als Partner zu begreifen, und zwar die Grupmentation als Defensive verstehen kann. Hier pen und Organisationen, deren Artikulation prowären differenzierte und - vor allem - ehrli- grammatische Aufgabe der Grünen ist. Sie hache Vorschläge angezeigt, damit die Grünen ben in ihrem im Jahr 2002 erneuerten Grundgegenüber der Sozialdemokratie punkten kön- satzprogramm die Forderung nach .Bürgervernen. Strategisch müssten die Grünen eine neue sicherungen' eingestellt - das ist die gute NachKombination von Dienstleistungs- und Ein- richt. Die schlechte Nachricht ist, dass die Grükommensstrategie entwickeln, die einer Bür- nen schlicht das an der Idee der ,Lebensstangergesellschaft angemessen ist: Dienstleis- dardsicherung' orientierte Modell der deuttungsangebote (2. Arbeitsmarkt, Weiterbildung, schen Sozialversicherung darauf übertragen
Coaching) als Ausdruck einer Dienstleistungs- wollen. So fehlt der zweite Schritt, den Frank
und vor allem Wissensgesellschaft, die hoch Nullmeiers Theorie eben für unnötig hält: die
komplexe Anforderungen an die Realisierung Einziehung von universalistischen Grundsichedes Bürgerstatus stellt - und klare, am Bürger- rungen in diese ,Bürgerversicherungen' (vgl.
status anknüpfende Einkommensleistungen, die Opielka 2003). Sowohl bei der anstehenden
Teilhabe ohne Armut garantieren (vgl. Opiel- Integration von .Arbeitslosenhilfe' und .Sozika 2002b). Es ist die politische Funktion der alhilfe' in einem .Sozialgeld', bei der nächsGrünen, die Idee der ,Bürgergesellschaft' ge- ten Rentenreform, wo eine ,Grundrente' angen die notwendig auch marginalisierende Idee stehen sollte, wie bei der Weiterentwicklung
einer .Arbeitsgesellschaft' zu setzen - und zwar des Familienleistungsausgleichs würde eine
nicht, weil die Arbeit .ausgeht' oder aus ande- ,bürgergesellschaftliche' Sozialpolitik auf soren naiven Vorstellungen heraus, sondern weil ziale Grundrechte setzen.
eine Erweiterung des Arbeitsbegriffs, die die
Familienarbeit und die informelle Arbeit sozi- Anstelle eines Polity-Diskurses über Leitbilalpolitisch einschließt, faktisch zu einer ,Bür- der könnte nun von Seiten der grünen Eliten
gergesellschaft' führt (dazu ausführlich Kocka/ der Policy-Einwand kluger Strategie laut werOffe 2000). Die Differenzen und Unterschie- den: Die Grundsicherungsdebatte wird nur desde, die Nullmeier sozialpolitisch lobt, sind eine wegen nicht offensiv gefahren, weil sie
Folge der Freiheit, wenn nicht eine anthropo- allenthalben auf Abbauniveau instrumentalisiert
logische Tatsache - aber sie sollten nicht das würde. Da derzeit ein komplexes mehrstufiges
Zentrum sozialpolitischer Interventionslogik Sicherungssystem durch unter anderem die
sein, sofern sie nicht nur Ungleichheitsverhält- Zusammenlegung Arbeitslosenhilfe/Sozialhilnisse reproduzieren möchte.
fe .vereinfacht' wird, würde das Grundsichegrüner Seite) die Verbraucherzentrale zu entsenden.
Wie alle Ideen, benötigen auch die Zentralideen des modernen Wohlfahrtsstaates - Solidarität, Gleichheit, Freiheit - ihre institutio-
rungsargument nur affirmativ in diesem Kontext instrumentalisiert. Die Gefahr mag bestehen, doch sie ist nicht neu. Seit Anfang der
80er Jahre, also seit Existenz der Grünen, wird
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Pulsschlag
Michael Opielka zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
115
maßgeblich. Ob man sich tatsächlich engagiert,
mit der Warnung vor ,Sozialabbau' vor dem ZeS-Arbeitspapier Nr. 5/02, Bremen: Zentrum für
ANALYSE
hängt jeweils von den individuellen Möglich,Sozialumbau' gewarnt. So kann nur eine of- Sozialpolitik.
keiten sowie den beruflichen und familiären
fensive Diskussion über Qualität und Niveau Hartmann, Martin/Offe.Claus (Hg.) 2001: VerRahmenbedingungen ab. Während einige Beder Grundsicherung, die zugleich die politi- trauen. Die Grundlage des sozialen ZusammenAktivierender Staat,
reiche des Engagements enge Bezüge zum besche Verwendung des Arguments reflektiert, halts. Frankfurt/New York: Campus.
Ehrenamt und Frauen
ruflichen Umfeld aufweisen (z.B. Arbeitnehdie Gegenwehr gegen die Instrumentalisierung Kaufmann, Franz-Xaver 2002: Sozialpolitik und
Im Konzept des .aktivierenden Staates' wer- mervertretung, Betriebsräte, Frauenbeauftragbürgergesellschaftlicher Leitbilder organisieren. Sozialstaat: Soziologische Analysen. Opladen:
Leske + Budrich.
den Ehrenamt und freiwillige Mitarbeit als For- te), steht in anderen Feldern politische PartiziAnsonsten droht nämlich eine merkwürdige
Kocka, Jürgen/Offe, Claus Offe (Hg.) 2000: Gemen der aktiven Beteiligung von Bürgerinnen pation und Verantwortungsübernahme in und
Allianz aus Wirtschaftsliberalismus und Etatschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt/New
und Bürgern in einem breiten Aktivitätsspek- für die Kommune sowie für allgemeine Anlieismus, wie sie im Konzept des .aktivierenden York: Campus.
trum, das von der Politik über die Verwaltung gen (Umweltschutz und Menschenrechte) im
Sozialstaats' schon begrifflich angelegt ist - Kurth, Markus 2003: Integration statt Ausgrenbis hin zum Freizeitbereich reicht, in den Blick Vordergrund. Demgegenüber umfasst das soder Staat soll den Bürger .aktivieren'! Dage- zung, 24.2.2003. Ms., Bundestagsfraktion Bündgenommen (vgl. u.a. Zimmer 2000: 42ff). ziale Engagement sorgende und pflegende Tägen kann nur eine lebendige und mächtige nis90/Die Grünen.
Gleichzeitig sind Ehrenamt und freiwillige Mit- tigkeiten sowie Aktivitäten im Bildungsbereich.
.Bürgergesellschaft' helfen, die man deshalb Meyer, Thomas/Weil, Reinhard (Hg.) 2002: Die
arbeit Lernfelder für berufliche Qualifikatio- Nicht zu vergessen sind schließlich die vielfälauf keinen Fall .vergessen' darf. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Bürgergesellschaft. Perspektiven für Bürgerbeteinen und soziale Kompetenzen, wobei der enge tigen ehrenamtlichen Aktivitäten im Freizeitligung und Bürgerkommunikation. HerausgegeZusammenhang zwischen Erwerbsarbeit und bereich, wie etwa im Sport oder bei KulturverMichael Opielka Professor für Sozialpolitik an ben für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn: Dietz.
bürgerschaftlichem Engagement im Zentrum einen (für einen Überblick Zimmer/Crede/
der Fachhochschule Jena, Geschäftsführer des Münkler, Herfried/Fischer, Karsten (Hg.) 2002:
Gemeinwohl und Gemeinsinn. Rhetoriken und Persteht (vgl. u.a. Priller/Zimmer 2001a; Stecker Nährlich et al. 2000). Angesichts des breiten
Institut für Sozialökologie (ISO) in Königsspektiven sozial-moralischer Orientierung. Berlin:
2001b, 2003).
Spektrums der Engagementmöglichkeiten werwinter (e-mail: michael.opielka@isoe.org). zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Akademie Verlag.
den auf der individuellen Ebene Fragen der
Nullmeier, Frank 2000: Politische Theorie des SoDie Handlungsoptionen des aktivierenden Staa- biographischen Passung wie der Koordination
Anmerkungen
zialstaats. Frankfurt/New York: Campus.
tes zur Förderung des bürgerschaftlichen En- und des Zeitmanagements verschiedener AufNullmeier, Frank 2002: Vergesst die Bürgergegagements werden im Folgenden aus zwei Per- gaben und Tätigkeiten relevant, wobei zwischen
Vgl. Hartmann/Offe 2001; auf einer Konferenz sellschaft?! In: Forschungsjournal Neue Soziale
des Wissenschaftszentrums Berlin im Dezember Bewegungen, Jg. 15, Heft 4, 13-19.
spektiven diskutiert. Zunächst geht es um die bürgerschaftlichem Engagement und Erwerbs2002 hat Birger P. Priddat dies dahin erweitert, Opielka, Michael 2002a: Zur sozialpolitischen TheSicht von ,unten' und hier insbesondere um tätigkeit fließende Übergänge und wechselseidass er die Tauschprozesse in der Bürgergesell- orie der Bürgergesellschaft. In: Zeitschrift für Soindividuelle Motive und persönliches Zeitma- tige Verstärkungsmomente deutlich werden
schaft mit dem Konzept des „third party enforce- zialreform, 5, 563-585.
nagement. Daran anschließend werden aus der (vgl. Jakob 1993; Klenner/Pfahl 2001; Schument" geregelt und koordiniert sieht, das zwar Opielka, Michael 2002b: Sozialpolitik für eine
Sicht von ,oben' staatliche Förderprogramme macher 1999; Stecker 2001a).
zunächst vom Staat ausgehe, aber zu Selbstregu- Wissensgesellschaft. Weitere Begründungen für
behandelt. Allerdings - so unsere These - weilierungen führe. Ein Beispiel dafür war der Kon- soziale Bürgerrechte. In: Heinrich-Böll-Stiftung
sen beide Perspektiven einen ,blinden Fleck' Allerdings wird der Problematik der individuflikt zwischen Shell und Greenpeace.
(Hg.): Gut zu Wissen. Links zur Wissensgesellauf, da sie als generelle Handlungsoptionen ellen Passung sowie der Kombination von BeZu weiteren Problemfeldern der grünen Sozial- schaft. Münster: Westfälisches Dampfboot, 150die Pluralisierung des bürgerschaftlichen En- rufstätigkeit und ehrenamtlichem Engagement,
politikstrategie vgl. Opielka 2003.
162.
gagements kaum berücksichtigen, die Infra- von Ausnahmen abgesehen, in der aktuellen
Opielka, Michael 2003: Nachhaltigkeit und soziale
struktur des Engagements - nämlich die Orga- Diskussion zum bürgerschaftlichen EngageSicherung. Risiken und Chancen grüner Sozialponisationen
des Dritten Sektors - gänzlich aus- ment wie zum aktivierenden Staat kaum BeLiteratur
litik. In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 2,74-82.
blenden und zugleich nur bedingt auf die spe- achtung geschenkt. In den Konzepten des aktiPutnam, Robert D. (Hg.) 2001: Gesellschaft und
zifische Lebenssituationen von Frauen zuge- vierenden Staates wird die Pluralisierung der
Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Verschnitten sind. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Engagementformen und -bereiche kaum in BeEnquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaft-gleich. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
tracht gezogen. Vielmehr wird nach wie vor
lichen Engagements "/Deutscher Bundestag (Hg.) Schmidt, Achim/Buhr, Petra 2002: Aktive Klien2002: Bürgerschaftliches Engagement und Zivil- ten - Aktive Politik? (Wie) Lässt sich dauerhafte
auf Generalstrategien und -appelle einer allge1
Die Perspektive von unten
gesellschaft. Opladen: Leske + Budrich.
Unabhängigkeit von Sozialhilfe erreichen? ZeSFür die Entscheidung zur Übernahme eines meinen Engagementförderung rekurriert. InsGohr, Antonia 2002: Grüne Sozialpolitik in den Arbeitspapier Nr. 8/2002, Bremen: Zenü-um für
Ehrenamtes oder zur freiwilligen Mitarbeit sind besondere wird die besondere Situation von
80er Jahren - Eine Herausforderung für die SPD, Sozialpolitik.
individuelle Motive und Handlungsgründe Frauen nicht berücksichtigt. Für diese stellt
1
2
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Forschunpsiournal NSB, Jp. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
sich das Problem des Zeitmanagements inso- dingt zum Engagement zu motivieren sind. Da
fernzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
in besonderem Maße, als sie häufig gleich bürgerschaftliches Engagement einen deutlidrei Aktivitätsfelder - nämlich Erwerbstätig- chen ,Mittelstandsbias' aufweist, sind distrikeit, Kindererziehung und bürgerschaftliches butive Politiken unter Gerechtigkeitsaspekten
Engagement - zu koordinieren und in ihre in- nicht zu legitimieren und als Anreiz zum Endividuelle Lebensgestaltung einzupassen ha- gagement eher ineffizient. Doch auch der Einben. In der Diskussion zum ehrenamtlichen satz Steuer- und sozialrechtlicher AnreizsysteEngagement wird hierauf kaum eingegangen. me - wie die Steuerfreistellung und SteuerabEntsprechendes gilt für die Empfehlungen an zugsfähigkeit oder die Berücksichtigung von
den aktivierenden Staat, bürgerschaftliches En- ,Solidarzeiten' in der gesetzlichen Rentenvergagement attraktiver zu gestalten. Als Schluß- sicherung - ist zur Engagementsteigerung nicht
folgerung ist hier festzuhalten, dass der Förde- uneingeschränkt zu empfehlen (Stecker 2001b,
rung bürgerschaftlichen Engagements von 2002b). Die Anrechnung von EngagementzeiFrauen ein größerer Stellenwert eingeräumt ten auf Steuern oder Renten kann sogar konwerden und sich vor allem die Unterstützung traproduktiv wirken, und zwar wenn bürgerihres Engagements nicht in der Bearbeitung schaftliches Engagement, etwa in der Form
frauenspezifischer Verhinderungsfaktoren er- der ,Bürgerarbeit', eine Spielart niedrigentlohnschöpfen sollte. Vielmehr sollte die Förderung ter Arbeit darstellt, oder aber wenn Engagedes ehrenamtlichen Engagements von Frauen ment infolge voraussetzungsvoller Zugangsgezielt mittels geeigneterzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Strategien erfolgen und Abgrenzungskriterien in die Nähe der Erund darauf abzielen, gerade auch Frauen den werbsarbeit rückt. Insofern scheint die klassiWeg in ehrenamtliche Leitungs- und Führungs- sche' Art staatlicher Förderung über Recht und
positionen zu ermöglichen. Während somit ei- Geld für eine Aktivierungsstrategie bürgerner pauschalen staatlichen Förderung bürger- schaftlichen Engagements ungeeignet, zumal
schaftlichen Engagements eine Absage zu er- auf Nichtengagierte kaum Anreizeffekte austeilen ist (Stecker 2002b), sollte der aktivie- geübt werden.
rende Staat eine dezidierte Förderung von Frauen in Entscheidungs- und Leitungspositionen
2.2 Unterstützung lokaler und regionaler
zivilgesellschaftlicher Organisationen - wie
Infrastruktur
etwa dem Deutschen Gewerkschaftsbund, der
Der aktivierende Staat fordert als Initiator und
Caritas oder dem Deutschen Sportbund - auf
Auftraggeber zum einen Infrastrukturmaßnahseine politische Agenda setzen.
men auf lokaler und regionaler Ebene. Bereits
in den 1980er Jahren wurden von der Bundes2
Die Perspektive von oben
ebene Modellprojekte mit Begleitforschung zur
2.1 Distributive Politik und
Aktivierung der Selbsthilfe speziell im Gesundheits- und Sozialbereich aufgelegt. Auch die
Anreizsysteme
Der aktivierende Staat kann als Gesetzgeber Länder unterstützen seitdem Initiativen und
versuchen, Engagement entweder mittels dis- Projekte im Selbsthilfe-, Frauen-, Gesundheitstributiver Politiken oder aber über Steuer- und und Behindertenbereich. Entsprechendes gilt
sozialrechtliche Anreizsysteme zu fördern. für die kommunale Ebene. Zum anderen sind
Allerdings zeigen empirische Studien, dass ge- Programme der direkten Engagementförderung
rade diejenigen Personenkreise, die auf staatli- zu nennen, wie etwa das Freiwillige Soziale
che Unterstützung angewiesen sind, eher un- Jahr (FSJ), das Freiwillige Ökologische Jahr
terdurchschnittlich engagiert und auch nur be- (FÖJ), das im Rahmen des Konzepts .Soziale
117
Staat und Unternehmen ein bisher wenig beachtetes Thema. Erst in jüngster Zeit werden
die fließenden Übergänge zwischen Erwerbsarbeit und bürgerschaftlichem Engagement im
Konzept des Corporate Citizenship hervorgehoben. Konkret werden durch die Zurverfügungstellung von materiellen, infrastrukturellen, personellen oder fachlichen Ressourcen
Synergieeffekte erwartet (vgl. Halley 1999; Janning/Bartjes 1999; Jakob 1999, Schöffrnann
2000, Mutz/Korftnacher/Arnold 2001). Arbeitsmarkt- und beschäftigungsrelevant werden diese Konzepte erst, wenn eine Freistellung der
Mitarbeiterinnen im sogenannten .Secondment'
Zweifellos ist die infrastrukturelle Förderung des für ein halbes oder ganzes Jahr durch gleichaktivierenden Staates insgesamt positiv zu be- zeitige Wiederbesetzung mit Arbeitsuchenden
werten. Gleichwohl besteht die Gefahr einer zu erfolgen würde.
starken Ausrichtung auf bestimmte ,Gruppen',
wie etwa Jugendliche oder Senioren. Darüber Femer betreffen solche arbeitgeberinitiierten
hinaus läßt sich die Etablierung von Doppelstruk- Anreiz- und Austauschsysteme nur das Engaturen feststellen, die letztlich zu Ineftizienzen füh- gement der Beschäftigten (Stecker 2001a) und
ren. Die engagementbereiten Bürgerinnen und zielen zudem als Maßnahmen zur Förderung
Bürger sehen sich inzwischen einem Überange- sozialer Kompetenzen vorrangig auf die Mabot an staatlichen und freigemeinnützigen Un- nagement- und Leitungsebene ab. Es scheint
terstützungs- und Kontaktstellen von Selbsthil- einiges darauf hinzuweisen, dass es sich beim
fe und freiwilliger Mitarbeit gegenüber.
Corporate Citizenship um einen neuen ,USImport' handelt, der sich wiederum als reine
Während die Bürger und Bürgerinnen sich ,nur' Modeerscheinung ohne Breitenwirkung erweiengagieren möchten, droht für den aktivieren- sen könnte. Als Grund, warum Unternehmen
den Staat die Gefahr, sich im Gestrüpp der hierzulande bisher nicht in stärkerem Maße im
Zuständigkeiten und Kompetenzabgrenzungen Sinne einer Stützung des bürgerschaftlichen
zu verheddern. Von der Förderung bürgerschaft- Engagements tätig werden, ist vor allem auf
lichen Engagements als Querschnittsaufgabe die noch ausstehende gesetzlich einheitliche
von Staat und Verwaltung ist man noch weit Regelung der .Freistellung' zu verweisen.
entfernt. Ob es hierzu jemals kommen wird,
hängt wesentlich von der Bereitschaft von Po- 2zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQP
.4 Der Dritte Sektor als
litikern und Verwaltungen ab, Ressortdenken
soziale Infrastruktur
ein Stück weit aufzugeben und auch auf Kom- Gänzlich ausgeblendet wird im Rahmen der
petenzen zu verzichten.
Diskussion um den aktivierenden Staat der
Dritte Sektor als Bereich der freigemeinnützigen Organisationen, der Vereine und lokalen
2.3 Unternehmen und
Initiativen (vgl. Priller/Zimmer 2001b). ZweiCorporate Citizenship
Unter dem Leitmotiv der Förderung bürger- fellos findet bürgerschaftliches Engagement
schaftlichen Engagements ist das Verhältnis von schwerpunktmäßig in den Organisationen des
Stadt' eingeführte Freiwillige Soziale Trainingsjahr (FSTJ), die Förderung des Engagements im ,Dritten Lebensalter' (vgl. u.a. Bundesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros (BAS)
1999) sowie in gewisser Weise auch die europäischen Freiwilligendienste. Für Jugendliche
sind die hier erworbenen sozialen, organisatorischen und fachlichen Kompetenzen nicht zu
unterschätzen. Zudem können sie nach diesem
Jahr Arbeitslosengeld beziehen, so dass FSJ,
FÖJ oder FSTJ auch für den .Übergang' und
Einstieg in den Berufsalltag relevant sind (Stecker 2002a, 2002b).
118 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Pulsschlag
Forschungsjournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
sollte man die Potentiale des Corporate CitiBeteiligungsoptionen und Engagementformen
zenship nicht überbewerten. Auch in den USA
noch vor hundert Jahren relativ übersichtlich,
tragen Unternehmen nur in begrenztem Umso ist angesichts der ausdifferenzierten Vielfalt
fang zur Förderung des Engagements bei. Von
heute von einerzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Pluralisierung des bürgerweitaus größerer Breitenwirkung wäre sicherschaftlichen Engagements auszugehen. Vor dielich die Modernisierung der Rahmenbedingunsem Hintergrund besteht für den aktivierenden
gen von Dritte Sektor Organisationen als der
Staat die Schwierigkeit der angemessenen Rewesentlichen Infrastruktur bürgerschaftlichen
aktion. Staatliche Defizite zeigen sich sowohl
Engagements (siehe zu verschiedenen Länderbezüglich der Schnittstelle zwischen Erwerbsbeispielen Zimmer/Stecker 2003). Doch hier
arbeit und bürgerschaftlichem Engagement soverhält sich der aktive Staat bisher sehr zuwie insbesondere bei der Betrachtung frauenrückhaltend. Er gibt ungern Kompetenzen ab
relevanter Aspekte. Auf der Ebene des indiviund toleriert eine aktive Zivilgesellschaft als
duellen Engagements wie auch im Rahmen
Kontrollinstanz staatlicher Maßnahmen kaum.
sozialer Infrastrukturen gibt es keine inhaltlichen Programme des Staates, die der Notwendigkeit der Einpassung des Engagements in
Christina Stecker, Dr. rer. pol., ist Volkswirtin
persönliche Zeitstrukturen auch geschlechtsund Politologin und seit April Referentin beim
spezifisch Rechnung tragen. Anders ausgeVerband Deutscher Rentenversicherungsträger
drückt: Will man Engagement fördern, so soll(VDR), Frankfurt am Main.
ten zumindest die besonderen Bedarfe und die
Annette Zimmer ist Professorin für Sozialpolisich aufgrund der geschlechtsspezifischen Roltik und Vergleichende Politikwissenschaft am
lenzuweisung ergebenden MehrfachbelastunInstitut für Politikwissenschaft an der Westfäligen der Mehrheit der Bevölkerung berücksichschen Wilhelms-Universität Münster.
tigt werden.
Literatur
Betzelt, Sigrid 2001: Reformbedarf der rechtMit dem Einsatz klassischer Steuerungsinstrulichen und ökonomischen Rahmenbedingunmente im Dienst des bürgerschaftlichen Engagen
des Dritten Sektors. In: Priller, Eckhard/
gements sollte der aktivierende Staat möglichst
Zimmer, Annette (Hg.) 2001b.
behutsam umgehen. Distributive Politiken und
Bundesarbeitsgemeinschaft
Seniorenbüros
Steuer- und sozialrechtliche Anreize würden
(BAS) 1999: Ansätze und Methoden der Engavor allem denjenigen zu Gute kommen, die
gementförderung im Dritten Lebensalter. Prasich in gesicherten Verhältnissen befinden und
xisbeiträge zum bürgerschaftlichen Engagediese Unterstützung eigentlich nicht nötig hament im Dritten Lebensalter, Band 5. Stuttben. Eine breit angelegte Ausrichtung auf Zielgart,
Marburg, Erfurt: Peter Wiehl.
gruppen kann zur Etablierung von DoppelstrukHalley, David 1999: Employee Community Inturen - wie z.B. Selbsthilfekontaktstellen und
volvement. Gemeinnütziges ArbeitnehmerenFreiwilligenzentralen - führen und birgt somit
3zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Resümee und Empfehlungen an den
gagement. Köln: Fundus - Netz für Bürgerendie Gefahr der Ineffizienz und Ineffektivität.
aktivierenden Staat
gagement.
Für den aktivierenden Staat bleibt viel zu tun, Ferner trägt ein kaum zu durchschauendes GeJakob, Gisela 1993: Zwischen Dienst und
und zwar sowohl hinsichtlich der Berücksich- wirr von Dienststellen und Zuständigkeiten
Selbstbezug. Biographie und Gesellschaft,
tigung der individuellen Bedarfe von Bürgern kaum zur Förderung des Engagements bei.
Band 17. Opladen: Leske & Budrich.
und Bürgerinnen als auch hinsichtlich der MoJakob, Gisela 1999: Veränderungen der Ardernisierung seiner eher auf der Makro-Ebene Die Förderung einer engagementfreundlichen
beitsgesellschaft und Perspektiven für freiwilansetzenden Steuerungsinstrumente. Waren die Unternehmenskultur ist zu unterstützen, jedoch
Dritten Sektors statt (vgl. Zimmer/Priller 2001:
139). Längst ist auch bekannt, dass Vereine
und gemeinnützige Organisationen unter rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen arbeiten, die staatlich stark reglementiert
und insgesamt nicht mehr zeitgemäß sind. Die
Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen (vgl. Betzelt 2001) als genuine Aufgabe
des aktivierenden Staates würde wesentlich
dazu beitragen, die Effektivität der Organisationen als zivilgesellschaftliche Infrastruktur und
Ermöglicher von bürgerschaftlichem Engagement nachhaltig zu verbessern. Allerdings ist
es eher fraglich, ob der aktivierende Staat den
Sektor in die erforderliche Freiheit entlassen
wird. Hierzu ist die Traditionslinie der staatlichen Reglementierung in Deutschland zu stark
ausgeprägt. Während der aktivierende Staat die
funktionale Indienstnahme von bürgerschaftlichem Engagement und Dritte Sektor Organisationen, wie etwa im Bereich der Selbsthilfe
oder der Freizeit- und Hobbyaktivitäten, nachhaltig durch Modellprojekte und sonstige Fördermaßnahmen unterstützt, werden die zivilgesellschaftlichen Qualitäten des bürgerschaftlichen Engagements und des Dritten Sektors nämlich die Ausübung von Kontrollfunktionen gegenüber Staat und Verwaltung sowie die
Wahrnehmung gesellschaftlicher Integrationsund Partizipationsfunktionen - eher mit Skepsis betrachtet und letztlich staatlicherseits überwacht. Als Beispiel hierfür ist die Arbeit der
Vereine ausländischer Mitbürger und Mitbürgerinnen anzuführen, die als einzige Vereine
zentral erfaßt werden.
119
liges Engagement. In: Stiftung MITARBEIT/
Bundesarbeitsgemeinschaft Freiwilligenagenturen (Hg.), Wozu Freiwilligen-Argenturen?
Visionen und Leitbilder. Nr. 34. Bonn: Stiftung MITARBEIT, 51-71.
Janning, Heinz/Bartjes, Heinz (Hg.) 1999: Ehrenamt und Wirtschaft. Beiträge zum Ehrenamt, Band 2. Stuttgart: Robert Bosch Stiftung.
Kienner, Christina/Pfahl, Svenja 2001: (Keine) Zeit fürs Ehrenamt? Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und ehrenamtlicher Tätigkeit. In:
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Mutz, Gerd/Korfmacher, Susanne/Arnold, Karen (Hg.) 2001: Corporate Citizenship in
Deutschland. Internationales Jahr der Freiwilligen, Band 3. Frarikfurt/M.: Deutscher Verein
für öffentliche und private Fürsorge.
Priller, Eckhard/Zimmer, Annette 2001a: Bürgerschaftliches Engagement und Dritter Sektor. In: WSI-Mitteilungen, Heft 3,157-164.
Priller, Eckhard/Zimmer, Annette (Hg.) 2001b:
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Schöffmann, Dieter 2000: Bürgerschaftliches
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Stecker, Christina 2001a: Bürgerschaftliches
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Nr. 4, 129-134.
Stecker, Christina 2001b: ,Solidarzeiten' für
Ehrenamt und Engagement? Drei Modellrechnungen für die gesetzliche Rentenversicherung.
In: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 5, 526541 (zuerst erschienen als: AU-Intern Nr. 14/
242, Enquete-Kommission „Zukunft des Bür-
120 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Pulsschlag
Forschunpsiournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
121
geschäftlichen Engagements"). zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
sozialwissenschaftliche Studien durchaus guten genagenturen verweisen auf eine äußerst unpolitisch hat dieser Einrichtungstypus eine hohe
Stecker, Christina 2002a: Nutzen und Risiko Aufmerksamkeit erfahren und wird spätestens
RUcklaufquote von 42%. An der Befragung ha- terschiedliche finanzielle Ausstattung. Die
bürgerschaftlichen Engagements für Arbeits- seit dem Abschlussbericht der Enquete-Komben Freiwilligenagenturen aus allen Bundeslän- Spannbreite des verfügbaren Jahresbudgets
markt und Demokratie. In: http://www. mission Zukunft des bürgerschaftlichen Engadern teilgenommen. Dabei gibt es augenschein- reichte im Jahr 2001 dabei von 100 D M bis zu
jugendsozialarbeit.de (Nr. 105, 04.11.2002).
lich eine besondere Konzentration von Agentu- 380.000 DM. Dahinter stehen sowohl Einrichgements (Enquete-Kommission 2002) parteiStecker, Christina 2002b: Vergütete Solidarität übergreifend als notwendiger Teil einer zuren in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bayern und tungen, die ausschließlich auf der Basis freiund solidarische Vergütung. Zur Förderung von kunftsfähigen engagementfördernden InfraBaden-Württemberg. In den anderen Ländern willigen Engagements tätig sind als auch inEhrenamt und Engagement durch den Sozial- struktur in Deutschland angesehen.
handelt es sich überwiegend um einzelne oder zwischen hoch spezialisierte und mit hauptstaat. Opladen: Leske + Budrich.
amtlichem Personal arbeitende Agenturen. Der
aber einige wenige Einrichtungen.
Stecker, Christina 2003: Zur Brückenfunktion Derzeit existieren in der Bundesrepublik knapp
arithmetische Mittelwert im Jahresbudget liegt
bürgerschaftlichen Engagements - Notwendige 200 Freiwilligenagenturen, die sich jedoch in
Mit 85% arbeitet die Mehrheit der an der Be- bei 113.000 D M .
Differenzierungsmomente. In: Hans-Böckler- ganz unterschiedlichen Entwicklungsstadien
fragung teilnehmenden Agenturen in den alten
Stiftung/Münchner Institut für Sozialforschung befinden. Die zunächst groß erscheinende Zahl
Bundesländern. Über ein Drittel der bestehen- Die Zusammensetzung der Jahreshaushalte der
(Hg.), Mehr Beschäftigung durch Eigenarbeit bedeutet aber keineswegs, dass es eine stabile
den Agenturen sind allein in Nordrhein-West- Freiwilligenagenturen gleicht einem finanzielund bürgerschaftliches Engagement? (i.E.)
und verlässliche bundesweite Infrastruktur der
falen angesiedelt. In den neuen Bundeslän- len Flickenteppich. Sehr deutlich wird, dass es
Zimmer, Annette 2000: Bürgerengagement, Zi- Engagementförderung gibt wie etwa in den
dern gibt es demgegenüber noch einen ver- in der Regel keine Vollfinanzierung durch eivilgesellschaft und Dritter Sektor vor Ort - Niederlanden, anderen europäischen Ländern
gleichsweise geringen Verbreitungsgrad von nen einzelnen Geldgeber gibt, sondern die fiStandortbestimmung und Entwicklungsperspek- oder den USA. Vielmehr sieht es so aus, dass
nanziellen Mittel aus ganz unterschiedlichen
Freiwilligenagenturen.
tiven. In: Politische Bildung, Heft 4, 39-59.
Quellen und Instanzen zusammengetragen werneue Einrichtungen entstehen, während beZimmer, Annette/Crede, Daniela/Nährlich, Ste- währte aufgrund mangelnder finanzieller MitFreiwilligenagenturen sind überwiegend sehr den. Dabei nehmen allerdings kommunale
fan/Wiedenhöft, Katrin 2000: Bürgerengage- tel wieder schließen müssen (vgl. Jakob/Janjunge Einrichtungen. Lediglich 8 Agenturen (26%) und Landesmittel (19%) sowie Mittel
ment auf dem Vormarsch. In: FJNSB, Heft 2, ning 2001).
bestehen zum Zeitpunkt der Befragung länger der Arbeitsförderung (13%) eine zentrale Po126-132.
als 5 Jahre. Ein Gründungs- und Entstehungs- sition in den Haushalten der Agenturen ein.
boom hat ab dem Jahr 1997 eingesetzt. Knapp Auffällig ist des weiteren, dass der Bund und
Zimmer, Annette/Priller, Eckhard 2001: Der Drit- Bislang fehlte ein fundierter zahlenmäßiger
90% der an der Befragung teilnehmenden Ein- die E U bislang so gut wie keine Rolle in der
te Sektor in Deutschland: Wachstum und Wan- Überblick Uber die Strukturen, Arbeitsbedinrichtungen ist zwischen 1997 und dem Erhe- Finanzierung der Einrichtungen spielen. Der
del. In: Gegenwartskunde, Heft 1,121-147.
gungen und Entwicklungstrends der Freiwillibungszeitpunkt gegründet worden. Diese An- überraschend hohe Prozentanteil, anderer MitZimmer, Annette/Stecker, Christina (Eds.) 2003: genagenturen in Deutschland. Mit der von der
gaben dürfen nicht über die hohe Dynamik in tel' (immerhin 24%), die allerdings nicht geStrategy Mix. Nonprofit Organisations - Ve- Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligendiesem Entwicklungsfeld hinwegtäuschen. nauer erfasst wurden, macht auf die offensichthicles for Social and Labour Market Integrati- agenturen (bagfa) in den Jahren 2001/2002
Zahlreiche Einrichtungen, die sich ebenfalls in lich notwendige Kreativität vieler Freiwilligenon. Berlin: Ed. Sigma (i.E.). zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
durchgeführten Studie Freiwilligenagenturen in
diesem Zeitraum gegründet haben, mussten - agenturen in der Finanzplanung aufmerksam.
Deutschland (BMFSFJ 2002) liegt nun erstmals
vor allem aufgrund fehlender Finanzierungsempirisches Zahlenmaterial vor, das durch die
möglichkeiten - inzwischen wieder schließen. Die Mitarbeiterstruktur der FreiwilligenagenVeröffentlichung in der Schriftenreihe des
turen gestaltet sich folgendermaßen: 11 % der
BMFSFJ einer breiten Fachöffentlichkeit zuFreiwilligenagenturen in
gänglich gemacht wurde. Die Studie liefert
Bezüglich der Trägerschaft zeichnen sich vier Agenturen arbeiten gänzlich ohne hauptamtliDeutschland zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Datenmaterial zu den Struktur- und LeistungsModelle ab, die derzeit in der Praxis von Frei- ches Personal, also ausschließlich auf ehrenErgebnisse einer aktuellen empirischen
merkmalen der Freiwilligenagenturen, zeigt
willigenagenturen dominieren. 35% der Ein- amtlicher Basis, 40% der Agenturen haben bis
Studie
aber auch deren Defizite wie auch Entwickrichtungen werden in Trägerschaft eines Wohl- zu einer Personalstelle, 26% haben bis zu zwei
In den letzten Jahren ist ein Gründungsboom lungspotenziale auf.
fahrtsverbandes betrieben. 30% werden von ei- und 16% haben drei Personalstellen. Ein kleivon Freiwilligenagenturen zu beobachten,
nem eigenständigen, z.T. eigens für diesen nerer Teil der Freiwilligenagenturen - 6% wodurch sich bundesweit mittlerweile ein be- Ausgewählte Ergebnisse der Studie
Zweck gegründeten Verein getragen. 14% ste- beschäftigt mehr als drei Mitarbeiter. Man
achtliches Netz solcher vergleichsweise neuen Von den insgesamt 190 angeschriebenen Einhen in Trägerschaft von Kommunen und 15% könnte also zu dem Schluss kommen, dass sich
Organisationen zur Förderung des bürgerschaft- richtungen haben 80 den beantworteten Fragevon Trägerverbünden. Andere Trägerschaften - entgegen mancher Vermutung - die persolichen Engagements gebildet hat. Auch fach- bogen zurückgesandt. Das entspricht einer für
sind die Ausnahme. Die befragten Freiwilli- nelle Situation der Agenturen gar nicht so pre2
1
122 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Forschungsjournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Pulsschlag
kär gestaltet. Dabei sagen diese Angaben
allerdings noch nichts darüber aus, welcher
Art diese Stellen sind. Aus der Zusammensetzung der Jahresbudgets ist ersichtlich, dass
Maßnahmen der Arbeitsverwaltung einen nicht
unerheblichen Stellenwert haben. Insbesondere
aus den ostdeutschen Freiwilligenagenturen ist
bekannt, dass diese in hohem Maße auf der
Grundlage von A B M , S A M und auch BSHGStellen arbeiten (vgl. Ebert/Hesse 2003). Diese Faktoren haben einen erheblichen Einfluss
auf die weitere Angebotsentwicklung und Profilschärfung von Freiwilligenagenturen.
Fast alle Agenturen konzentrieren sich in ihrer
Arbeit auf die drei Kernaufgaben:
• Information, Beratung und Vermittlung von
Freiwilligen (100%),
• Öffentlichkeitsarbeit für das freiwillige Engagement (96%) sowie
• Zusammenarbeit mit/Beratung von Organisationen (95%).
Knapp die Hälfte der Freiwilligenagenturen
hat bereits ein sehr breites inhaltlich-konzeptionelles Profil entwickelt, das über die
genannten Bereiche hinaus auch Vernetzungsarbeit im kommunalen Raum, Fort- und
Weiterbildung im Freiwilligensektor sowie
besondere Projekte der Engagementförderung (z.B. bei Jugendlichen) umfasst. Dies
steht insbesondere in Zusammenhang mit einer günstigeren finanziellen und personellen
Ausstattung sowie dem Alter der Einrichtung. Lassen sich insgesamt zwar Unterschiede im inhaltlich-konzeptionellen Zuschnitt
der Einrichtungen beschreiben, so ist doch
erkennbar, dass Freiwilligenagenturen in ihrer Gesamtheit weit mehr sind als reine Vermittlungsstellen. Im konzeptionellen Selbstbild der Agenturen gibt es einen erkennbaren Entwicklungstrend zu einem umfassenderen Verständnis von Aufgaben und Tätigkeiten zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements.
Besondere Aufmerksamkeit richtet sich in der
öffentlichen Diskussion auf die .Vermittlungsquote'. Dabei wird häufig vergessen, dass diesem ,messbaren' Erfolg in der Regel eine intensive Informations- und Beratungsarbeit vorausgeht, die deutlich seltener in die Beurteilung von Erfolg und Qualität der Arbeit einbezogen wird. Die Angaben zu Bürgerkontakten
und persönlichen Beratungsgesprächen (in Fragen freiwilligen Engagements) dürfen daher
nicht vernachlässigt werden, wenn sie auch
schwieriger zu belegen sind und als eher .weiche' Kriterien für Erfolg und Qualität gelten.
Im Durchschnitt konnten die befragten Einrichtungen in den vergangenen 12 Monaten 73
Personen in eine freiwillige Tätigkeit vermitteln. Die .Vermittlungsquote' variiert entsprechend Größe, Personal, Ressourcen und natürlich Tätigkeitsprofil der einzelnen Einrichtungen zwischen 4 und 420. Diese Quote verweist - bei aller gebotenen Vorsicht bei der
Interpretation dieser Zahl als Erfolgsindikator
von Freiwilligenagenturen - auf ein durchaus
vorzeigbares Ergebnis im Bereich der Vermittlung von Freiwilligen. Die Anzahl der Vermittlungen - und damit letztlich der ,Erfolg'
in diesem Tätigkeitsbereich der Agenturen steht in engem Zusammenhang mit der finanziellen und personellen Situation der Einrichtungen. Je besser die einzelne Agentur personell ausgestattet ist (dies drückt sich natürlich
auch im Budget aus), desto intensiver kann
auch der Aufgabenbereich .Information, Beratung und Vermittlung von Freiwilligen' wahrgenommen und gestaltet werden. Dies findet
letztlich auch seinen Niederschlag in den Vermittlungszahlen.
Darüber hinaus lässt sich nachweisen, dass mit
dem ,Alter' bzw. der Zeit des Bestehens der
Agenturen auch die Vermittlungsquote steigt.
Die .älteren' Agenturen können auf deutlich
höhere Vermittlungszahlen verweisen als die
jüngeren'.
123
Die Einrichtungen benötigen also Zeit, um Er- insbesondere in Ostdeutschland - stehen. Erst
fahrungen in diesem Feld zu sammeln und auf eine stabile Basisfinanzierung dieser Einrichdiese Weise an Profil, Öffentlichkeit und Pro- tungen erlaubt es, diesen Aufgabenbereich weifessionalität zu gewinnen. Dieses Ergebnis ver- ter auszubauen (vgl. Ebert 2003).
weist auf die Bedeutung gesicherter Arbeitsbedingungen und der Verstetigung der vorhan- Die prekäre Personal- und Finanzsituation birgt
denen, bislang meist ungesicherten Strukturen. derzeit die Gefahr des Zusammenbruchs der
Nur auf einer stabilen Basis können sich fach- noch jungen Strukturen in sich. Die finanzielle
liches Profil und Qualität entwickeln. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJI
Unsicherheit, verbunden mit der - insbesondere
in den ostdeutschen Freiwilligenagenturen häufig anzutreffenden kurzfristigen PersonalEntwicklungsperspektiven
Die bagfa-Studie macht darauf aufmerksam, finanzierung über A B M und SAM, kann den
dass es bislang nur einem Teil der Einrichtun- Aufbau einer bedarfsgerechten Infrastruktur zur
gen gelungen ist, ein umfassendes Leistungs- Förderung bürgerschaftlichen Engagements in
spektrum im Sinne von .Entwicklungsagentu- Deutschland nicht gewährleisten. Dies lässt sich
ren' zur Förderung bürgerschaftlichen Enga- auf Dauer nicht ohne eine grundständige öfgements (Olk 2003) zu entwickeln. Hier gilt fentliche Finanzierung bewältigen. Das zeigen
es künftig, sich nicht allein auf die Vermitt- die Erfahrungen der wenigen etablierten Freilungsarbeit zu beschränken, sondern stärker als willigenagenturen in Deutschland sowie auch
bisher den Bereich der Beratung von Organi- der Blick in andere europäische Länder (vgl.
sationen auszubauen, zu professionalisieren und Jakob/Janning 2001). So kommt auch die EnZukunft des Bürgerschaftnach außen zu kommunizieren. Ziel der kon- quete-KommissionzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXW
zeptionellen Weiterentwicklung der Freiwilli- lichen Engagements in ihrer Auseinandersetgenagenturen sollte es insbesondere sein, die zung mit den Freiwilligenagenturen zu dem
zivilgesellschaftliche Umorientierung und Öff- Schluss, dass die Basisfinanzierung dieser Einnung von Organisationen und Einrichtungen richtungen eine Gemeinschaftsaufgabe von
(Non-Profit-Organisationen, Schulen, Kinder- Bund, Ländern und Kommunen ist (vgl. Engarten, Verwaltungen u.ä.) für bürgerschaftli- quete-Kommission 2002: 316ff).
ches Engagement zu fördern. Aufbauend auf
einheitlichen fachlichen Grundstandards und Ein vergleichsweise kleiner, jedoch ebenso beKernaufgaben sollte sich das fachliche Profil deutender Schritt zur Etablierung von Freiwilder Freiwilligenagenturen an den konkreten lo- ligenagenturen ist deren Anerkennung im Rahkalen Bedarfen orientieren. Dies kann sich aus- men des Gemeinnützigkeitsrechtes (dies gilt
drücken in ergänzenden Projekten der Enga- ebenso für Selbsthilfekontaktstellen, Seniorengementförderung von Arbeitslosen, von Ju- büros und andere engagementfördernde Infragendlichen, durch Unternehmen o.ä.
struktureinrichtungen). Erst durch die Anerkennung der Gemeinnützigkeit ist es - unabEin in dieser Weise erweitertes Spektrum von hängig von den bislang sehr unterschiedlichen
Aufgaben und Leistungen erfordert allerdings Trägerkonstruktionen - möglich, Spendengelauch spezifische Qualifikationsprofile der Mit- der einzuwerben und dafür steuerlich wirksaarbeiter/innen von Freiwilligenagenturen, die me Spendenquittungen auszustellen. Dies ist
vielerorts noch nicht vorhanden sind und im vor allem deshalb so wichtig, weil sich FreiWiderspruch zur gegenwärtigen Personal- und willigenagenturen langfristig auf flexible MoFinanzsituation der Freiwilligenagenturen - delle der Mischfinanzierung einstellen müs-
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Forschungsjournal NSB, Jp. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Pulsschlag
sen. Dabei können variable Anteile aus privaten Mitteln wie z.B. Spenden stabile öffentliche Finanzierungsanteile ergänzen.
Literatur
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.)2002: Freiwilligenagenturen in Deutschland. Ergebnisse einer Erhebung
Um eine wirkungsvolle Infrastruktur zur För- der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilliderung bürgerschaftlichen Engagements in genagenturen (bagfa). Schriftenreihe Band 227.
Deutschland zu etablieren, bedarf es nicht Berlin: Kohlhammer.
zuletzt auch einer starken überregionalen und Eben, Olaf/Hesse, Andreas 2003: Freiwilligenverbändeübergreifenden Interessenvertretung, agenturen in Ostdeutschland. Neue Hoffhungsdie auf Bundes- und Länderebene den Auf- träger der Engagementförderung? In: Backund Ausbau der Freiwilligenagenturen, deren haus-Maul, H./Ebert, O./Jakob, G./Olk, T.
weitere Profilschärfting, Vernetzung und Qua- (Hg.), Bürgerschaftliches Engagement in Ostlitätsentwicklung unterstützt sowie für Politik deutschland. Opladen: Leske & Budrich, 219und Öffentlichkeit als Ansprechpartner zur Ver- 236.
fügung steht. Es ist daher die Stabilisierung Ebert, Olaf2003: Freiwilligenagenturen: Pround Weiterentwicklung der Bundesarbeitsge- file, Erfolgskriterien, Probleme. Gutachten für
memschaft der Freiwilligenagenturen (bagfa) die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürals fachliche Vertretung der Freiwilligenagen- gerschaftlichen Engagements". In: Enqueteturen auf Bundesebene ebenso anzustreben wie Kommission (Hg.): Bürgerschaftliches Engaauch der Aufbau vergleichbarer Strukturen auf gement in den Kommunen. Band 8. Opladen:
Länderebene (lagfazyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
's). zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Leske & Budrich.
Enquete-Kommission „Zukunft des BürgerOlaf Eben, Geschäftsführer der Freiwilligen- schaftlichen Engagements" des Deutschen BunAgentur Halle-Saalkreis e.V., Vorstandsmitglied destages (Hg.) 2002: Bürgerschaftliches Ender Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilli- gagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähigenagenturen (bagfa e.V.), Kontakt: olaf.ebert® ge Bürgergesellschaft. Band 4. Opladen: Leske + Budrich.
freiwilligen-agentur.de
Birger Hartnuß, Wissenschaft! Referent in der Jakob, Gisela/Janning, Heinz 2001: FreiwilliGeschäftsstelle des Bundesnetzwerks Bürger- genagenturen als Teil einer lokalen Infrastrukschaftliches Engagement (BBE), Kontakt: tur für Bürgerengagement. In: Heinze, R. G./
hartnuss@deutscher-verein.de
Olk, T. (Hg.), Bürgerengagement in Deutschland. Opladen: Leske & Budrich, 483-507.
Anmerkungen
NAKOS 2002: Mit Profil im Netzwerk. SelbstTrotz zum Teil sehr unterschiedlicher Be- hilfekontaktstellen, Freiwilligenagenturen und
zeichnungen (Freiwilligenagenturen, Ehren- Seniorenbüros. NAKOS-Extra 33, Berlin.
amtsbörsen, Freiwilligen-Zentren u.ä.) verwen- Olk, Thomas 2002: Begleitkommentar zur bagden wir den Begriff Freiwilligenagenturen im fa-Studie. In: Bundesministerium für Familie,
Folgenden synonym für die benannten enga- Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) 2002: Freiwilligenagenturen in Deutschland. Ergebnisse
gementfördernden Einrichtungen.
Diese Agenturen stehen in Zusammenhang einer Erhebung der Bundesarbeitsgemeinschaft
mit einem Förderprogramm in NRW, das der Freiwilligenagenturen (bagfa). Schrifteninzwischen eingestellt wurde. Daher ist zu ver- reihe Band 227. Berlin: Kohlhammer, 13-19.
muten, dass ein Großteil dieser Agenturen ihre
Arbeit nicht fortsetzen kann.
1
2
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angereist, ebenso wie Greenpeace und der
T A G U N G S B E R I C H T zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Dachverband der entwicklungspolitischen
Die Dialektik des Erfolgs:
Das Dritte Weltsozialforum
Das Dritte Weltsozialforum (WSF) in Porto
Alegre hat noch einmal eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr gebracht. Nicht nur quantitativ - die Teilnehmerzahl hat sich auf 100.000
verdoppelt. Auch die politische Außenwirkung
und die Sichtbarkeit in den Medien hat noch
einmal deutlich zugenommen. Dies ist umso
bedeutender angesichts einer politischen Konstellation, die durch einen drohenden Krieg
und die immer deutlicher zu Tage tretende Krisenhaftigkeit des Neoliberalismus gekennzeichnet ist. Eine zentrale Botschaft von Porto Alegre war denn auch: die Mehrheit der Menschen
auf unserem Planeten ist gegen diesen Krieg.
Das WSF 2003 hat gezeigt, dass die Kräfte gegen Krieg und Neoliberalismus stärker werden.
Hilfswerke VENRO. Die stärkste Gruppe bildete freilich nach wie vor ATTAC mit 50 Personen. ATTAC dominierte auch die Medienwahrnehmung in Deutschland.
Ob die neue Qualität deutscher Beteiligung
wirklich politische Substanz hat, wird sich
allerdings noch zeigen müssen, wenn es um
die Kooperation in der Bundesrepublik geht.
Politische Breite nimmt zu
Die globalisierungskritische Bewegung ist im
Laufe des vergangenen Jahres nicht nur zahlenmäßig stärker geworden. Auch ihre politische Zusammensetzung verändert sich. War es
zunächst die Linke jenseits der Sozialdemokratie, die bisher die Hauptkraft ausmachte,
integrieren sich jetzt auch zunehmend Sektoren, die bisher allenfalls als gemäßigte Kritiker der Globalisierung aufraten. So war die
stärkere Präsenz von Gewerkschaften, Kirchen
und etablierten Verbänden dieses Jahr in Porto
Alegre auffällig. Die politische Basis der Globalisierungskritik wird breiter.
Vielfalt - Stärke oder Schwäche?
Gleichzeitig sind in Porto Alegre die Grenzen
des Erfolgs sichtbar geworden. Wenn die Globalisierungskritik über die Kritik hinausgelangen und reale Veränderungen durchsetzen will,
dann wird die klassische Linke allein nicht
stark genug sein, auch wenn der Zustrom von
vor allem jungen Leuten in linke Organisationen und eine wachsende Attraktivität grundlegender Gesellschaftskritik unverkennbar ist.
Mit der Beteiligung neuer Akteure wächst die
Pluralität der Bewegung. Die Herstellung politischer Handlungsfähigkeit wird komplizierter.
Wird diese Situation entlang der traditionellen
Reflexe bearbeitet - hier Angst vor Integration, dort vor Radikalisierung - , ist das Weitere
abzusehen: machtpolitische Auseinandersetzung um Hegemonie, oder allenfalls eine Niedliche Koexistenz' von ansonsten unverbunden
nebeneinander her agierenden Kräften. Ersteres wird schnell zu den sattsam bekannten zentrifugalen Effekten, sprich Spaltungs- und Verfallsprozessen führen, letzteres zu einem konsequenzenlosen ,Markt der Möglichkeiten'.
Vielfalt als Schwäche also.
Symptomatisch hierfür war auch die deutsche
Delegation. Abgesehen davon, dass sich die
Teilnehmerzahl im Vergleich zum Vorjahr von
100 auf 400 vervierfacht hatte, gab es dieses
Mal eine starke Präsenz des DGB. Für die
evangelische Kirche war Bischöfin Käßmann
Eine Perspektive jenseits dieses Dilemmas läge
darin, Vielfalt zu einer politischen Produktivkraft zu machen. Erste Voraussetzung ist dabei,
die unterschiedlichen Position als Ausdruck eines objektiv pluralen politischen Feldes zu akzeptieren und die jeweils andere Position nicht
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Forschunpsiournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Pulsschlag
127
als intellektuelles Unvermögen, moralisch min- Stiftung'. Hier saßen erstmals ein Vertreter des
in der Provinz Rio Grande do Sul und die en auch ist. Sicher wird das Forum in Indien
derwertig oder politische Perfidität zu bewer- IBFG und die argentinischen Piqueteros auf
brasilianische Präsidentschaftswahl. Die orga- kleiner sein, aber das kann als Vorteil genutzt
ten. Zweitens müsste die Bereitschaft zur dis- einem Podium und diskutierten miteinander,
nisatorische Infrastruktur der Stadt, ohne die werden. Der kulturell völlig anders gelagerte
kursiven Bearbeitung der Unterschiede vorhan- ebenso wie der internationale Metallarbeiterein solches Großereignis nicht zu machen ist, Kontext in Indien wird andere Sichtweisen,
den sein und zwar so weit wie möglich ohne bund und die ANC-kritische Bewegung gegen
war damit überfordert, zumal die PT die Pro- andere Erfahrungen einführen. Es werden dabei
machtpolitische Hilfsmittel. Das heißt, Instru- die Privatisierung der Wasser- und Elektrizivinzwahlen verloren hatte. Da durch den Prä- sicher auch neue Probleme auftreten. Auf alle
mente, Arbeitsformen und Verfahren zu entwi- tätsversorgung in den südafrikanischen Townsidentenwechsel in Brasilia über 20.000 Be- Fälle aber wird das WSF 2004 spannend.
ckeln, die Dialog, Diskussion von Kontrover- ships, oder die brasilianische CUT und eine
amte ausgewechselt werden und Porto Alegre
sen ermöglichen. Dies setzt drittens voraus, indische Arbeiterin, die Gewerkschaft als sozials Hochburg der PT eine erkleckliche Anzahl Peter Wahl ist Mitarbeiter von WEED - Weltauf a priori feststehende Wahrheiten zu ver- ale Bewegung jenseits der Apparate begreift.
von Leuten in die Bundesregierung entsendet, wirtschaft, Ökologie & Entwicklung und Mitzichten, die dem jeweils anderen nur noch zu Die Diskussion zeigte zwar eher die Schwiefehlte es plötzlich auch an erfahrenem Perso- glied des Koordinierungskreises von Attac.
vermitteln sind. Es geht um die Entwicklung rigkeiten auf, als dass greifbare Ergebnisse henal. Aus all diesen Gründen gab es, anders als
einer neuen politischen Kultur als Vorausset- rauskamen. Aber es war der Anfang eines Proim Vorjahr, zahlreiche organisatorische Problezung dafür, dass die globalisierungskritische zesses, der, wenn er denn konsequent weiter
me, unter denen die kleinformatigen VeranF O R S C H U N G S B E R I C H T zyxwvutsrqponmlkjihgf
Bewegung von einem spontan entstandenen geführt wird, vielversprechend ist.
staltungsformen überdurchschnittlich litten.
Sammelbecken zu einem eingriffsfähigen AlWenn das Risiko der Stagnation bei der inhaltBounded Identity und
ternativprojekt zum Neoliberalismus wird. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
lichen und politischen Entwicklung des SoziA n die Grenzen gestoßen
alforums vermieden werden soll - , ein Pro- Frameanpassung
Eine soziale Bewegung braucht von Zeit zu
blem, das auch beim europäischen Sozialfo- Die Mobilisierung nach Genua
Der Luia-Effekt
Zeit Großveranstaltungen wie das WSF. Nicht
rum in Florenz im vergangenen November In der Literatur wird in bezug auf die sogeEiniges Anschauungsmaterial dafür, wie die- nur wegen der Außenwirkung, sondern auch
bereits sichtbar wurde - , muss den kleinfor- nannten Globalisierungsgegnerinnen oder
ses Projekt funktionieren könnte, findet sich wegen der identitätsstiftenden Wirkung nach
matigen
Veranstaltungen mehr Aufmerksam- Globalisierungskritikerlnnen gern von einem
möglicherweise in der brasilianischen Erfah- innen. Allerdings hat das WSF 2003 auch die
keit gewidmet werden. Langfristig werden die „Sammelsurium" (Rucht 2001) von Bewerung. Der Wahlsieg von Lula, der beträchtlich Grenzen solcher Mammutveranstaltungen klar
gesprochen oder von einem
Perspektiven der Bewegung davon abhängen, gungen
zur internationalen Ausstrahlung des WSF bei- gemacht. So war eine gewisse Tendenz zum
„buntefn]
Haufen"
mit „zum Teil ganz konob
es
gelingt,
den
Slogan
zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
,Eine
andere
Welt
ist
trug, verdient es, genauer analysiert zu wer- Manifestativen und Plakativen unübersehbar.
möglich' in greifbaren, für größere Bevölke- trären Zielsetzungen" (Leggewie 2000: 3),
den. Er ist nämlich das Resultat eines langen Das heißt nicht, dass nicht auch Großforen mit
rungsgruppen attraktiven Alternativen mittle- „zu unspezifisch (...) um eine eigene IdentiProzesses der Bildung von Allianzen und des tausend und mehr Teilnehmern Wissen vermittät und Trennungslinien gegenüber den Gegrer Reichweite zu konkretisieren.
produktiven Miteinanderauskommens unter- teln und interessante Diskussionen bieten könnern zu markieren" (Rucht 2001). Wie kann
schiedlicher politischer Strömungen. Die Re- nen. Aber der andere Zweck des WSF - die
genbogenkoalition der PT, der Partei Lulas, inhaltliche Auseinandersetzung, die konkrete
Überlegenswert ist auch, ob nicht ein Zwei- dann aber ein so großer und schlagkräftiger
muss ja nicht gleich als Modell für den Rest Vernetzung, die Entwicklung von Alternativen
jahresrhythmus des globalen Forums Sinn Protest wie in Genua entstehen? Die empirider Welt genommen werden, aber die Tatsa- auf partizipativer Grundlage voranzubringen macht, alternierend mit den kontinentalen Fo- sche Untersuchung der Proteste gegen den
che, dass sie es geschafft hat, eine Mehrheit funktioniert natürlich am besten in kleinen Forren, wie überhaupt über eine Entzerrung und G8-Gipfel in Genua im Juli 2001 zeigt, dass
des bevölkerungsreichsten Landes Lateiname- maten. Zwar haben auch davon mehrere HunDezentralisierung nachgedacht werden muss. es den beteiligten Akteuren durchaus gelingt,
rikas hinter sich zu bekommen, sollte uns neu- dert stattgefunden - viele durchaus mit Erfolg
Letztlich wird das Gewicht der globalisierungs- die Heterogenität der Ideologien und Zielgierig darauf machen, wie dieser erstaunliche -, aber insgesamt haben sich die Gewichte etkritischen Bewegung nur so groß sein, wie vorstellungen nutzbringend zusammenzufühwas zu den großen Frontalveranstaltungen verErfolg zustande kam.
ihre Mobilisierungsfähigkeit im nationalstaat- ren und unter identitätsstiftenden Symbolen
(Logos und Slogans), aber auch mit inhaltlischoben.
lichen Rahmen und vor Ort.
chen Positionierungen (Flugblätter, ZeitunAllerdings, und hier liegt eine der Schwächen
gen) unterschiedlichste Akteure zu bündeln.
des Dritten WSF, hat diese Art von Diskussion Hauptursache für diesen Trend war der AnNächstes WSF in Indien
Im Ergebnis kommt es zu mehr als nur dem
noch zu wenig stattgefunden. Eine der rühmli- sturm von 100.000 Teilnehmern, der sich naDas nächste WSF wird in Indien stattfinden.
schlichten Nebeneinanderher der „lose verchen Ausnahmen war eine Veranstaltung von türlich leichter in großen Veranstaltungen aufDas ist eine Bereicherung. Eine Fixierung auf
knüpften, teils völlig unverbundenen Grup,Focus on the Global South' (die Organisation fangen lässt. Hinzu kamen drei Wahlkämpfe
Porto Alegre führt auf Dauer zu Exklusivität,
pen" (Rucht 2001).
von Waiden Bello) und der .Friedrich Ebert in der zweiten Jahreshälfte 2002: kommunal,
so sympathisch gerade uns Europäern Brasili1
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Pulsschlag
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Forschunpsiournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Welche Strategien benutzen die Mobilisierungsakteure bei der Verwirklichung ihrer wichtigsten Aufgaben, der strukturellen (organisatorischen) und inhaltlichen (ideologischen) Integration dieses heterogenen Akteurspotenzials?
Zur Beantwortung dieser Frage untersuchte ich
die Struktur der Mobilisierung und die verwendeten Framingstrategien , insbesondere sogenannte ,interpretative Masterframes', d.h. repräsentative Arten, den Protest samt seiner
Gründe, Ziele, Adressaten, Erfolgsaussichten
und Selbstlegitimierung der Beteiligten auf einen begrifflichen Nenner zu bringen (Gerhards
1992: 315).
3
129
als Hauptplattform für die internationale Koorganisierte als Bündnis eine Mobilisieden Mesomobilisierungsakteuren, also Bündordination, aber auch verantwortlich für die
rungsveranstaltung, die einzelnen Gruppen
nissen, die mit ihrer vielfältigen und großen
konkrete Durchführung der Gegenaktivitäführten jedoch auch unabhängig voneinander
Unterstützerschaft jeweils eine gewisse Reten und die Mobilisierung vor Ort (desweAktionen und Veranstaltungen durch. Statt
präsentativität für Segmente der Bewegung
gen glokal). Es organisierte im Vorfeld zwei
eines eigenen Aufrufs veröffentlichte das
beanspruchen können und deswegen hier vorinternationale Koordinierungstreffen. Ferner
Bündnis einen Reader mit Aufrufen der
gestellt werden sollen. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
stellte es Protestinfrastruktur (Medien, ÜberGruppen.
nachtungsmöglichkeiten, Verpflegung etc.) Die hier beschriebene Baumstruktur bildet die
Struktur der Mesomobilisierung
bereit, versorgte Interessenten weltweit mit Basis der Protestorganisation. Sie ist aber nicht
Die Unterscheidung von Mikro- und MesomoInformationen und veröffentlichte einen Auf- als hierarchisch zu misszuverstehen, sondern
bilisierung geht auf Gerhards und Rucht (1992)
ruf, in dessen Zeichen die Proteste stattfan- eingebettet in ein dezentrales Netzwerk, v.a.
zurück. DiezyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Mikromobilisierungsebene (vgl.
den. Das GSF organisierte auch den parallel mit Überlappungen und vielen Beteiligten, die
Snow et al. 1986) bilden die einzelnen Grupzur G8-Tagung stattfindenden Gegenkon- ,quer' zu diesen Strukturen agieren (bspw. Parpen und Personen, die in erster Linie versugress. In thematischer Hinsicht dominierten teien und Bewegungsorganisationen, die auf
chen, Individuen zu mobilisieren, und dabei
dort Globalisierungskritik, Dritte Welt, Men- allen drei Ebenen mitwirken oder lokale Grupan Mikromobilisierungskontexte (Freundschenrechte, Frieden und Umwelt , doch die pen, die beim internationalen, aber nicht beim
schaftsnetzwerke u.ä.) anknüpfen. Die MesoPalette der vertretenen Angebote war schier nationalen Koordinationsgremium involviert
mobilisierungsakteure und -gruppen sind auf
unbegrenzt.
waren usw.). In seiner segmentären Differender Ebene der Mobilisierungsbündnisse und
anderer gruppenübergreifender Koordinationsb) Ein wesentlicher Pfeiler der Mobilisierungs- zierung orientiert es sich an bestehenden poliformen angesiedelt. Sie mobilisieren in erster
struktur war die nationale Ebene. In Deutsch- tischen Raumeinheiten, v.a. dem nationalstaatLinie Gruppen und andere Multiplikatoren.
land war es das sogenannte ,Kasseler Bünd- lichen Rahmen, durchbricht diese aber vielDiese Ebene lässt sich, wie später noch genis', welches alle überregional relevanten fach. Die hohe Bedeutung des nationalen Rahzeigt werden soll, mehrfach untergliedern. Die
Vorbereitungen koordinierte. Dazu gehört mens legt jedoch die Kennzeichnung der Probestehenden politischen Netzwerke zwischen
die Abstimmung von Bussen, Verhaltens- teste als international und nicht als transnatioGruppen, Parteien und Bewegungen - immer
und Demonstrationsstrategien, Unterbrin- nal nahe. Auf allen Ebenen kommt eine ähnlimehr auch vermittelt durch Mailinglisten und
gung und v.a. der Kontakt zum GSF und die che funktionsorientierte Aufgaben- (und RolDiskussionsforen im Internet - bilden den MeWeiterleitung von Informationen über eine len-) Differenzierung hinzu: Es müssen orgasomobilisierungskontext, an welchen die Meeigens eingerichtete Mailingliste und die vier nisatorische Aufgaben erledigt und es sollen
somobilisierungsakteure anknüpfen. Die Akbundesweiten Koordinierungstreffen. Auch Inhalte transportiert werden. Dazu im folgenteure auf der Mesomobilisierungsebene leisten
das Kasseler Bündnis schrieb einen Aufruf, den Abschnitt.
die wesentlichen Beiträge zur strukturellen und
der von 25 Gruppen unterzeichnet wurde,
inhaltlichen Integration einer Protestkampagdie allerdings wiederum ein größeres Spek- Framingstrategien
ne. Sie drücken der Mobilisierung ihren Stemtrum repräsentierten.
All diese Bündnisse mussten als zweite Vorpel auf. Diese Analyse gilt insbesondere für
c) Auf der regionalen und lokalen Ebene gab aussetzung für gelingende Protestmobilisierung
transnationale Proteste wie in Genua.
es ebensolche Bündnisse, zumindest in vie- auch gute Gründe liefern. Wie oben schon anlen größeren Städten (u.a. Berlin, Leipzig, gedeutet, war aber das interessierte Spektrum
München, Harmover, Bremen, Frankfurt), hochgradig heterogen. Die Stichprobe bestand
Auf drei Ebenen waren bei dieser Kampagne
auch wieder mit Aufgabengebieten wie aus 42 Aufrufen von 20 Issue-Groups (darunter
Mesomobilisierungsakteure wichtig: (a) gloTransport, Unterbringung, Informationsver- 6 heterogene Genua-Bündnisse, 4 Gewerkkal, (b) national und (c) regional/lokal,
mittlung. Bei diesen Bündnissen kam es z.T. schaftsorganisationen, 3 Gruppen zu den Thea) Neben verschiedenen kommunistischen und
auch zu direkten Mobilisierungsaktivitäten men Globalisierung/Neoliberalismus, 2 mal
anarchistischen internationalen Bündnissen
auf der Mikroebene. Der Übergang zwischen Migrantinnen/ Antirassismus und 2 mal Dritte
spielte auf der übernationalen Ebene v.a.
Mikro- und Mesoebene ist hier also flie- Welt, sowie je eine Studentinnen-, Umweltdas Genoa Social Forum (GSF) eine wichtißend. Das Leipziger Bündnis beispielsweise und kirchliche Gruppe) und 21 allgemeinpolige Rolle, in einer Doppelfunktion sowohl
4
Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass das notwendige Maß an empfundener inhaltlicher Gemeinsamkeit für erfolgreichen Protest nicht sehr
groß ist. Der bunte Haufen hat in ideologischer Hinsicht nur eine ,bounded identity'.
Daten
Grundlage der Studie waren v.a. qualitative
Daten. In die Frameanalyse gingen Aufrufe,
sich am Protest in Genau zu beteiligen, ein,
darunter Flugblätter, Internetseiten und Parteibeschlüsse. Diese waren die Basis für eine
Typologisierung des Spektrums in ideologischer und organisatorischer Sicht und für die
Untersuchung ihrer anlassbezogenen interpretativen Masterframes und ihrer Globalisierungsvorstellungen. Des weiteren wurden
viele Dokumente ausgewertet, aus denen sich
die Struktur der Mobilisierung rekonstruieren ließ. Hauptquelle dafür waren Mailinglisten, mit deren Hilfe die Protestvorbereitungen koordiniert wurden, und SitzungsProtokolle von Vorbereitungstreffen der Mobilisierungsbündnisse, sowie Mobilisierungszeitungen, Presseerklärungen und Homepages. Hinzu kamen teilnehmende Beobachtung bei einem lokalen Genua-Mobilisierungsbündnis und Gespräche mit .Experten'
aus der Bewegung. Der Hauptfokus lag auf
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Wie hier leider nur am Rande ausgeführt wer- die Zusammenarbeit .nachhaltig' beeinflusst
den kann, zeigt sich, dass der mediengängige werden. Ebenso denkbar wäre auch, dass die
Begriff,Globalisierungsgegner' nur einen Teil inhaltlichen Annäherungen ausschließlich takder Bewegung wirklich bezeichnet, weil Kritik tischer Art sind und somit keinen Einstellungseher in den Masterframes Neoliberalismus', wandel implizieren. Dies ist jedoch kein Ge.Kapitalismus' oder einfach .Ungerechtigkeit' genargument, denn massiv kommuniziert (in
geübt wird. Das Konzept Globalität wurde den Tausenden verteilter Flugblätter) und damehrheitlich positiv besetzt wird, jedoch nicht mit Basis des Massenprotestes wurden ja eben
im Hinblick auf die ökonomische Globalisie- nicht die Einzelmeinungen (ob nun geändert
rung, sondern auf die ,Globalisierung von Ge- oder nicht), sondern die Kompromisse.
rechtigkeit'. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Peter Ullrich promoviert z.Zt. zum Thema .Politik und Identität. Zur Soziologie linker IdenFazit
Die untersuchten Fälle zeigen, dass ideologi- tität in Deutschland'. Email: angina8@web.de
sche Heterogenität kein Grund für das Nichtzustandekommen von Zusammenarbeit bzw. Anmerkungen
Der GSF-Auffuf bspw. wurde von den verDer Artikel entsteht auf der Grundlage meieiner gemeinsamen, wenn auch begrenzten Proschiedensten Organisationen (fast 1200) von Weniger heterogen als die beiden bisher betestidentität ist. Die Protestbewegung - und in ner Magisterarbeit. Diese ist online verfügbar
allen Kontinenten unterzeichnet. Das Dilem- schriebenen Bündnisse, aber trotzdem auch
ihr besonders die radikale Linke - erwies sich und als Buch in Vorbereitung (Ullrich 2002a).
ma, die große Vielfalt an Ideologien und The- von den Differenzen zwischen den beteiligbei dieser Kampagne als hochgradig kompro- Sämtliche hier nur kurzen Ausführungen sind
menpräferenzen zu integrieren, löste das GSF ten anarchistisch-herrschaftskritischen, antimissfähig und flexibel. Dies steht in einem dort en detail nachlesbar.
mit Formulierungen, die erstens sehr allgemein kapitalistischen und links-gewerkschaftlichen
krassen Gegensatz zu fast zeitgleich geführten
In diesem Rahmen kann ich leider nicht auf
blieben und zweitens bewusst die .bewegte Gruppen geprägt war das Leipziger Bündnis.
harten Auseinandersetzungen (bspw. zwischen die Symbole (z.B. die Weltkugel) und die KonVielheit' hervorkehrten. Die Problemdefiniti- Noch expliziter als bei den anderen BündnisAttac und autonomen Gruppen) um Antisemi- struktion einer gemeinsamen Geschichte (v.a.
on war so keine Analyse im eigentlichen Sin- sen wird hier mit der Vielheit umgegangen.
tismus und den Nahostkonflikt, die wohl von mit bezug auf die Zapatistenproteste, die Kamne, sondern das Beschreiben von Phänomenen Es war den Gruppen einerseits nicht möglich,
stärker ausgeprägten, der Bewegung vorgela- pagne gegen das MAI und die Krawalle in
wie z.B. Armut. Dem wurden als Ausweg, und sich auf einen gemeinsamen Aufruf zu einigerten Identitäten geprägt sind, in diesem Fall Seattle) eingehen, sondern konzentriere mich
auch nur aufzählend, die vielfältigen Aktivitä- gen, andererseits waren sie alle von einer
der nationalen Identität (Ullrich 2002b).
auf die Analyse des Problemframings.
ten gegenübergestellt, „mit denen wir uns en- zumindest strategischen, möglichst aber auch
gagieren für internationale Kooperation, Öko- weiterreichenden Zusammenarbeit überzeugt.
Zu den Strategien und Dimensionen des Fralogie, Bürgerinnen- und Arbeiterinnenrechte, So entschied sich das Bündnis, eine Art ZeiDie Gemeinsamkeit wird durch verschiedene mings vgl. Snow et al. (1986), Klandermans
Förderung ethischer und solidarischer Wirt- tung herauszugeben, die Aufrufe mehrerer der
Mechanismen hergestellt. Ein ganz wichtiger (1988), Gerhards (1992).
schaftsmodelle (...)" usw. Die abschließende beteiligten Gruppen enthielt. Auf einer öfMechanismus der Identitätsstiftung ist, was ich Diese Rangfolge ergibt sich aus der quantita.Forderung' lautete: .Eine andere Welt ist mög- fentlichen Diskussionsveranstaltung mit dem
mit Frameanpassung bezeichnen möchte. In tiven Themen-Analyse des Gegenkongresses.
lich'. Das Wort Globalisierung kommt im üb- Ziel der Protestmobilisierung wurde den GrupMan bedenke, dass allein Attac auch noch für
Fällen von Koordinierungsversuchen, in derigen in dem Aufruf nicht vor. Den Masterfra- penvertreterinnen ein kurzes Eingangsreferat
nen ideologische Kongruenz von an dem The- seine Mitgliedsorganisationen BUND, ver.di
me der Kritik nennt man am bestenzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Ungerech- ermöglicht, in welchem die gesehenen Gema G8-Gipfel Interessierten nicht bestand, kam (damals ÖTV und HBV), Jusos u.v.m. steht,
te Weltordnung.
meinsamkeiten beschrieben, aber auch Abes aus Gründen der inhaltlichen Integration und dass einige Gruppen die Erklärung im
grenzungen vorgenommen wurden. Auch in
zumindest zu Annäherungen. Allerdings argu- Wortlaut übernahmen, ohne sich auf die Unmentieren so entstehende Masterframes auf terzeichnerinnenliste setzen zu lassen.
Auch das Kasseler Bündnis war ähnlich bunt diesem Bündnis spielte das Thema Globalisehr allgemeinem Niveau und kehren oft VielI.d.R. Vernetzung, Logistik (Transport, Unzusammengesetzt. Es umging die Probleme, sierung nur eine Nebenrolle. Im Zuge der lanheit und Differenz als Stärke heraus. Nachfol- terkunft, Verpflegung), Finanzen, Vorgehen/
die sich durch die ideologische Heterogenität gen Auseinandersetzungen um den Titel eigearbeiten müssten im Einzelfall untersuchen, Taktik und Rechtliches.
ergeben, durch einen ,Trick' (der im übrigen nigte sich das Bündnis auf den hier als Masob und wie beispielsweise Problemdeutungen
Von den Unterzeichner-Organisationen kaexplizit beschlossen wurde): Berichtend wur- terframe fungierenden Slogan, Gegen Ausbeuvon an Bündnissen beteiligten Gruppen durch men 1015 aus Italien, die anderen 170 verteilden in seinem Aufruf, der überall in Deutsch- tung und Unterdrückung'.
tischen Gruppen/Parteien (darunter 14 radikale Linke und 7 sozialistische und kommunistische Organisationen). Diese Vielfalt betrifft alle
Ebenen der Mobilisierung. Ein Beobachter von
außen mag hier ein klassisch linkes Spektrum
mit in erster Linie an das Wirtschaftssystem
adressierten Forderungen erkennen. Innerhalb
der Bündnisse erwiesen sich die Differenzen
aber als ein ernstes Problem. Im Angesicht der
gemeinsamen strategischen Interessen musste
man deutsche Linksradikale, argentinische
Umweltschützer, französische Bauern und baskische Nationalisten unter einen Hut bekommen.
land verteilt wurde, die verschiedenen politischen Ansätze im Stil von .Einige stellen
sich...', .anderen geht es...' oder ,und wieder
andere...' nebeneinandergestellt, ohne dass klare Forderungen herauskamen. Die Forderungen beschränkten sich auf die Sätze ,Wir alle
wollen, dass möglichst viele Menschen nach
Genua fahren und dazu beitragen, dass die Aktionen dort zu einem Erfolg werden. Auf nach
Genua!'. Globalisierungskritik kam nur als einer der aufgezählten Ansätze vor. Als Masterframe, der sowohl die (weitergehende) Kritik
der radikalen als auch die der Reformer integriert (vgl. Pianta 2001: 190), fungierte die
Kritik am Neoliberalismus.
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ten sich wie folgt: 72% Europa, 12% Südamerika, 7% aus Nord- und Mittelamerika, 5%
aus Asien und 3% aus Afrika. Etwas anders
gestaltet sich die geografische Herkunft der
Referentinnen beim Gegenkongress. Von den
im Programm eindeutig national zuzuordnenden kamen 44% aus Europa, 21% aus Asien,
16% aus Südamerika, 11% aus Nordamerika
und 7% aus Asien.
,Unsere Ziele', Aufruf des GSF, www.genoag8.org/doc-ger.htm [23.01.2002]
Noch einmal sei betont: Da sich eigentlich
nur schwer begründen lässt, was objektiv große bzw. kleine ideologische Heterogenität ist,
sei die Selbstwahrnehmung der Akteure zum
Maß genommen, die die Schwierigkeiten mit
den Differenzen ja offen thematisieren.
schr/ezl201-6.htm [19.12.2001].
regierung, die den Vorgaben einzelner LobbySnow, David A./Rochford jun., Burk/Worden,
gruppen und der Ministerialbürokratie nachSteven K/Benford, Robert D. 1986: Frame
gab.
Alignment Processes, Micromobilization and
Movement Participation. In: American SocioVon Beginn an hatte der Regierung zu dem
logical Review, 51, 464-481.
ehrgeizigen Projekt der Mut gefehlt. Zwar hatUllrich, Peter 2002a: Gegner der Globalisiete Bundesinnenminister Otto Schily im Somrung? Organisation und Framing der Proteste
mer 2001 einen Entwurf für ein Informationsgegen den G8-Gipfel in Genua, http://www.
freiheitsgesetz vorgelegt. Doch schon dieser
stud.uni-leipzig.de/~soz96jtv/
griff in den entscheidenden Punkten zu kurz.
magisterarbeitdoc [11.03.2003], in VorbereiDer Entwurf ließ einen weiten Spielraum für
tung als: Peter Ullrich 2003, Gegner der GloInterpretationen, die zu einer restriktiven Handbalisierung?, Leipzig.
habung geradezu einluden. So sollte nach den
Ullrich, Peter 2002b: Projektionsfläche Naher
Plänen Schilys der Anspruch auf Zugang zu
Osten. Palästinenserinnen, Israelis und die deutInformationen entfallen, wenn der „Kernbesche Linke bei der Selbstzerfleischung, In: Kulreich exekutiver Eigenverantwortung berührt"
tursoziologie. Aspekte, Analysen, Argumente
werde oder wenn es um Informationen aus
2-02, 109-125. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
„laufenden Verwaltungsverfahren" gehe. Dies
Literatur zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
wäre widersinnig gewesen, da Verwaltungshandeln immer „exekutive Eigenverantwortung"
Gerhards, Jürgen 1992: Dimensionen und Stratangieren kann und die Bürger sich natürlich
tegien öffentlicher Diskurse. In: Journal für
gerade für die Vorgänge interessieren, auf die
Sozialforschung, Heft 3/4, 307-318.
sie noch Einfluss nehmen können. Vollendete
Gerhards, JUrgen/Rucht, Dieter 1992: Meso- Das Scheitern als Chance
Tatsachen erfordern keine Nachfragen. Ein
mobilization Contexts: Organizing and Framing
schwer wiegendes Hindernis für die Informain Two Protest Campaigns in West Germany. begreifen zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
tionsfreiheit: das Fehlen einer Fristenregelung
In: American Journal of Sociology 98 (3), 555- Überforderung der Politik durch die
Informationsfreiheit?
für die Auskünfte. Der Entwurf von Schilys
589.
Referenten sah keine Zeiträume vor, innerhalb
Klandermans, Bert 1988: The Formation and Als Gerhard Schröder und Joschka Fischer am
derer die Anträge von Bürgern hätten bearbeiMobilization of Consensus, In: Klandermans, 20. Oktober 1998 mit viel Elan ihre Koalititet werden müssen. Die meisten InformatioB./Kriesi, H./Tarrow, S. (Hg.): International onsvereinbarung begossen, hatten auch die Benen sind jedoch nur hilfreich, wenn man sie
Social Movement Research 1, Greenwich, Lon- fürworter der Informationsfreiheit Grund zu
feiern. Erstmals wurde das Ziel einer bundesschnell und unkompliziert bekommt. Um wissdon: JAI Press, 173-198.
begierige Bürger ganz abzuschrecken, setzte
Leggewie, Claus 2000: David gegen Goliath: deutschen Regierung verankert, die Verwaltung
Schilys Entwurf zudem auf die GebührenkeuSeattle und die Folgen. In: Aus Politik und des Bundes für die Bürger transparenter zu
gestalten. In der Koalitionsvereinbarung hieß
le. Der vorgesehene Höchstsatz für Auskünfte
Zeitgeschichte, B48, 3-4.
lag bei bis zu tausend Mark zuzüglich AuslaPianta, Mario (2001): Parallel Summits of Glo- es:„Durch ein Informationsfreiheitsgesetz wolgen - eine durchaus wirksame Regelung, um
bal Civil Society. In: Anheier, H./Glasius, M . / len wir unter Berücksichtigung des DatenschutAuskunftsbegehren abzuwehren.
Kaldor, M . (Hg.): Global Civil Society 2001, zes den Bürgerinnen und Bürgern Informationszugangsrechte verschaffen." Vier Jahre späOxford: Oxford University Press., 169-194.
Rucht, Dieter 2001: Zwischen Strukturlosig- ter tauchte erneut ein solcher Passus im KoaliTrotz dieser weitgehenden Einschränkungen
keit und Strategiefähigkeit. Herausforderungen tionsvertrag auf. Rot-Grün hatte es in vier Jahder Informationsfreiheit ging der Entwurf des
für die globalisierungskritischen Bewegungen. ren Regierungszeit nicht geschafft, ein InforBundesinnenministers seinen Kollegen noch zu
In: E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit, 12, mationsfreiheitsgesetz (EFG) auf den Weg zu
weit. Er scheiterte schließlich am Widerstand
Dezember, 358-360, http://www.dse.de/zeit- bringen - ein Armutszeugnis für die Bundesdes Finanz-, Verteidigungs- und Wirtschafts8
9
133
ministeriums und an der Lobbyarbeit des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI).
In einer internen Stellungnahme hatte das Bundesfinanzministerium im Frühjahr 2002 zu bedenken gegeben, dass fiskalisches Handeln
grundsätzlich von der Informationsfreiheit ausgenommen werden müsse. Darüber hinaus hatte
Finanzminister Eichel die Forderung aufrecht
erhalten, dass die Gebühren für die Informationserstellung, -aufbereitung und -bereitstellung
in voller Höhe und kostendeckend von den
Informationssuchenden übernommen werden
sollten, so dass selbst die Höchstgrenze von
1000 Mark hätte überschritten werden können.
Auch das Bundesverteidigungsministerium und
der dem Bundeskanzleramt untergeordnete
Geheimdienstapparat wollten - gerade nach den
Anschlägen des 11. September 2001 - ihre
Bereiche interessierten Bürgern und Journalisten weiter verschließen. Den erbittersten Widerstand leistete aber das Bundeswirtschaftsministerium. Es hatte die Zustimmung der Betroffenen für jede Bereitstellung von Informationen gefordert, die den Geschäftsbereich
kommerziell tätiger Unternehmen betreffen.
Diese Regelung hätte nicht nur Bürgeranfragen, sondern auch der Korruptionsaufdeckung
einen Riegel vorgeschoben.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie
hatte hier erfolgreich seinen Einfluss ausgespielt und systematisch Zweifel in die Ministerialbürokratie gestreut. Ihre Lobbyarbeit wirkt
bis heute nach. Die Angst vor der Offenlegung
von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, vor
Wirtschaftsspionage und dem Verlust von Wettbewerbsvorteilen durch Informationsvorsprung
machten den BDI zu einem gewichtigen Gegner der Informationsfreiheit. Und dass, obwohl
Unternehmen in anderen europäischen Ländern mit Informationsfreiheitsgesetzen durchaus positive Erfahrungen gemacht haben und
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mehr Bürgerinformation durchaus als positive
Standortfaktoren sehen.
vom Senatsamt für Inneres erstellte Statistik
zeigt, wurden zwischen Oktober 1999 und November 2000 in Berlin lediglich 164 Anträge
Es war also die Mischung aus Lobby-Arbeit gestellt, darunter elf von Pressevertretern. Die
der Industrie und Blockade-Arbeit der Minis- von Gegnern beschworene Lahmlegung der
terialbürokratie, die das Informationsfreiheits- Ämter durch zahlreiche Bürgeranffagen hat
gesetz zum Scheitern brachte. Die Fraktionen bisher in keinem der vier Bundesländer stattvon SPD und Grünen sahen sich außer Stande, gefunden. Stattdessen ist die bürgerfreundliden Bedenken der Ministerien entgegen zu wir- che Reform den meisten Menschen bisher unken und verzichteten auf die Verabschiedung bekannt geblieben, weil sie kaum aktiv über
des Gesetzes in der vergangenen Legislaturpe- ihre Rechte aufgeklärt werden.
riode. Der Bund hinkt mit seiner verzagten
Politik den SPD-geführten Bundesländern Verantwortlich sind auch die Medien. Die VorSchleswig-Holstein, Brandenburg, Berlin und teile, die ein Informationsfreiheitsgesetz nicht
Nordrhein-Westfalen weiter hinterher. Diese nur den Bürgern, sondern insbesondere auch
verfügen bereits über Informationsfreiheitsge- Journalisten bei ihrer Arbeit bringt, sind nach
setze und öffnen ihre Aktenschränke bei allen wie vor nur wenigen Medienschaffenden beBelangen, die von öffentlichen Stellen bear- kannt. Aus journalistischer Sicht ist das Inforbeitet werden. Das Informationsrecht erstreckt mationsfreiheitsgesetz wichtig, weil es die deutsich auf die Unterlagen der Landesbehörden sche Tradition der,Amtsverschwiegenheit' von
genauso wie auf die Akten und Computerda- der Regel zur begründungsbedürftigen Ausnahteien der Kreisverwaltungen oder der Gemein- me macht und damit zu einem generellen Kliden. Gemeinsam ist den vier Landesgesetzen, ma der Offenheit beiträgt. Diese Umkehrung
dass sie die Geheimhaltung amtlicher Akten ist überfällig, weil Journalisten immer wieder
und Datensammlungen von der Regel zur be- durch verschlossene Behördenvertreter in der
gründungsbedürftigen Ausnahme machen. Die Recherche behindert werden. Pressesprecher
Antragsteller brauchen ihre Anliegen nicht zu deutscher Behörden erteilen Auskünfte nicht
begründen und folglich keine eigene Betrof- selten nach Gutsherrenart, Informationsblockafenheit bei ihrem Informationswunsch nach- den sind an der Tagesordnung.
weisen. Allerdings ist auch hier der Anspruch
auf Informationsfreiheit eingeschränkt. Dies Besonders viele Beschwerden beziehen sich
betrifft die Belange der Landesverteidigung, auf die Behördenwillkür besonders in ostdeutder Strafverfolgung, den Schutz von Geschäfts- schen Kommunen. Bislang haben die Journageheimnissen und die Vertraulichkeit von nicht listen nur einen besonderen Auskunftsanspruch
abgeschlossenen behördlichen Entscheidungs- gegenüber Behörden, damit sie ihren Informaprozessen.
tionsauftrag erfüllen können. Wenn ein Amt
Als entscheidender Mangel hat sich in den betroffenen Bundesländern die geringe Bekanntheit der Akteneinsichtsrechte erwiesen. In Berlin hat die Alternative Liste, die seit Jahren ein
solches Gesetz gefordert hatte, sogar Zeitungsanzeigen geschaltet, um die Bürger auf ihre
neuen Rechte aufmerksam zu machen. Wie eine
mauert und die Pressestelle nur dürftige Antworten gibt, bleibt Journalisten kaum eine
Chance, ihre Position durchzusetzen: Der Gang
vor das Verwaltungsgericht ist langwierig und
für die aktuelle journalistische Arbeit nicht
praktikabel. Und im Zweifelsfall muss ein Journalist sich mit mündlichen oder schriftlichen
Aussagen des Pressesprechers zufrieden ge-
ben - einen Anspruch auf Originaldokumente
zu den Vorgängen, die ihn interessieren, hat er
nach geltendem Recht nicht. Dieser ist jedoch
in den bestehenden Informationsfreiheitsgesetzen festgeschrieben. Und da das BFG ein ,Jedermannsrecht' ist, braucht ein Journalist, der
einer für die Behörde brisanten Angelegenheit
auf der Spur ist, auch sein berufliches Interesse nicht gleich zu offenbaren. Es ist problemlos möglich, den IFG-Antrag als Privatperson
zu stellen. Damit wird es für Behörden schwieriger, heikle Anfragen über die Pressestelle abzublocken.
Das fehlende Wissen der Journalisten um die
Relevanz und den Nutzen eines Informationsfreiheitsgesetzes für die Bürger und für die
eigene Arbeit führte zu einer mangelnden Berichterstattung. In Nordrhein-Westfalen fand die
Einführung eines landesweiten EFGs Anfang
2002 kaum Resonanz in den Medien - mit der
Folge, dass bislang nur wenige Bürger die Möglichkeit zur Akteneinsicht genutzt haben. Das
mangelnde Interesse der Bürger wiederum beflügelt das Desinteresse der Politik an der Umsetzung der Informationsfreiheit.
135
nen gemeinsamen Aufruf der Journalistenverbände initiiert, in dem das Netzwerk, der DJV
und die DJU in Verdi eine sofortige Einführung des immer wieder verschleppten Gesetzes forderten. Doch auch auf diesen Aufruf
hin hielt sich die mediale Resonanz in Grenzen. Ob die Informationsfreiheit in Deutschland noch einmal eine Chance bekommt, liegt
daher nicht zuletzt daran, ob die Medien eine
interessierte Öffentlichkeit schaffen, die den
Entscheidungsdruck auf die Politik erhöht.
Gleichzeitig müssten sie im Falle der Verabschiedung eines Informationsfreiheitsgesetzes
den Bürgern den Nutzen ihrer neuen Rechte
vermitteln.
Wie wichtig die Einführung eines Informationsfreiheitsgesetzes wäre, zeigt sich beim Blick
auf das Korruptionsranking der Anti-Korruptionsorganisation Transparency International
(TI). Im vergangenen Jahr belegte Deutschland hier lediglich den 18. Platz. Aus diesem
Grund fordert auch TI die rasche Einführung
eines Informationsfreiheitsgesetzes. Staaten wie
die skandinavischen Länder, die bereits über
ein IFG verfügen und Transparenz im staatlichen Handeln zeigen, schneiden im Vergleich
Die Folgen dieses Desinteresses werden beim deutlich besser ab, verfügen also über signifiGesetzgebungsprozess im Bund deutlich. We- kant weniger Korruption.
der die Bundestagsabgeordneten noch die Bundesministerien verspürten den Druck, bundes- Die bisherigen Akteneinsichtsrechte reichen
weit Informationsfreiheit zu ermöglichen. Bei nicht aus, um Korruption oder andere Misseinem Experten-Gespräch der Bertelsmann- bräuche in Behörden aufzudecken oder zu verStiftung im Sommer 2002 brachte der damali- hindern. Sie beschränken sich auf Bundesebege Staatssekretär im Bundesinnenministerium, ne nur auf einige wenige Spezialfälle. BetrofClaus Henning Schapper, diese Haltung auf fene können in eigener Sache nach dem Verden Punkt: Da kein Interesse und folglich kein waltungsverfahrensgesetz Auskunft begehren.
Druck der Öffentlichkeit da gewesen sei, hät- Das Umweltinformationsgesetz, das von
ten die Verantwortlichen auch keinen Druck Deutschland nur zögerlich aufgrund einer EUempfunden, das IFG politisch umzusetzen. Der Richtlinie in nationales Recht umgesetzt wurfehlende Druck der Öffentlichkeit lag nicht de, ermöglicht jedem Bürger, sich in deutschen
zuletzt auch am mangelndem Engagement der Amtsstuben über umweltrelevante Belange
Gewerkschaften und Verbände. Immerhin hat- kundig zu machen. Allerdings ist auch dieses
te daszyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Netzwerk Recherche im März 2002 ei- Gesetz kaum bekannt, und die Versuche von
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Pulsschlag
Umweltverbänden, sich mit seiner Hilfe über
umstrittene öffentliche Bauplanungen zu informieren, wurden von den Ämtern derart häufig mit abschreckenden Kostenrechnungen für
ein paar Kopien quittiert, dass sich schließlich
sogar der Europäische Gerichtshof mit der deutschen Praxis beschäftigen musste. Die alte Gebührenordnung, bei der bis zu 10.000 Mark
auf einen Fragesteller abgewälzt werden konnten, wurde erst gekippt, nachdem die E U die
Notbremse gezogen hatte. Akteneinsichtsrechte gibt es außerdem nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz - seit der Klage von Helmut Kohl
gegen die Herausgabe seiner Akte gilt allerdings eine restriktivere Praxis.
Die Einführung eines bundesweiten Informationsfreiheitsgesetzes hätte Signalwirkung auch
für die Bundesländer, die sich bislang trotzig
der Informationsfreiheit verweigern: „Wollen
wir denn unsere Hosen ganz runterlassen?",
sagte erst kürzlich der sozialdemokratische
Chef einer deutschen Staatskanzlei. Auf die
Einführung eines bundesweiten Gesetzes gilt
es daher die Kräfte von Gewerkschaften, Verbänden und NGOs zu richten. Die Vorraussetzungen dafür sind besser geworden. Zum einen haben die Grünen, die seit jeher ein IFG
befürworten, durch die Bundestagswahl ihre
Position in der Regierung gestärkt, zum anderen sitzt mit Wolfgang Clement ein Minister
an der Spitze des Wirtschaftsministeriums, in
dessen Regierungszeit in Nordrhein-Westfalen
die Einführung eines Informationsfreiheitsgesetzes fiel.
Die Tatsache, dass Deutschland zusammen mit
Luxemburg bei der Informationsfreiheit das
Schlusslicht in der E U ist, sollte daher nicht
Anlass zur Resignation geben, sondern als
Chance begriffen werden. Da aus praktisch allen westlichen Ländern bereits Erfahrungen mit
Informationsfreiheitsrechten vorliegen, bietet
sich die Möglichkeit, darauf aufzubauen und
die bewährten Regeln zu übernehmen, um ein
Die Dokumentation dieser feministischen Arbürgerorientiertes und j ournalistenfreundliches
beit soll gleichzeitig dazu beitragen, ein verGesetz zu schaffen. Doch ohne besonderen Einnachlässigtes Stück Migrationsgeschichte hersatz der Befürworter einer aktiven Bürgergevorzuheben und somit das Bild der anatolischsellschaft wird sich nichts ändern. Der zuständeutschen Frau, die all zu oft als die unterdige (neue) Staatssekretär im Innenministeridrückte, hilflose Türkin wahrgenommen wird,
um, Göttrik Wewer steht der Informationsfreizu verändern. Der in diesem Aufsatz verwenheit mehr als reserviert gegenüber. In einer
dete Begriff ,anatolisch-deutsch' bezieht sich
internen Runde in der Friedrich-Ebert-Stiftung
auf die Community aller Zuwanderer aus der
ließ der Verwaltungsmanager seiner Skepsis
Türkei. Er reflektiert die ethnische Diversität
freien Lauf. Zuviel Bürokratie, zu viele neue
innerhalb der Community; gleichzeitig unterStellen und zuwenig Interesse in der Öffentstreicht er die Tatsache, dass sich der Lebenslichkeit. Die Kosten-Nutzen-Kalkulation erinmittelpunkt ihrer Mitglieder in Deutschland
nert fatal an das Scheitern des Informationsbefindet.
freiheitsgesetzes in der ersten Periode von rotgrün. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
In der englischsprachigen Literatur ist dem Engagement der schwarzen feministischen Bewegung großes Interesse entgegengebracht
Ingmar Cario ist freier Journalist und Vorworden. So hat z.B. Sudbury 1998 durch eine
standsmitglied des Netzwerk Recherche.
detaillierte Studie autonomer schwarzer FrauThomas Leif ist Chefreporter Fernsehen des
enorganisationen in Großbritannien dargelegt,
SWR, Landessender Rheinland-Pfalz, und Vorwie dieses Engagement sowohl als Interessensitzender des Netzwerk Recherche.
vertretung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft
gedient als auch die theoretische Auseinandersetzung mit der (weißen) feministischen Bewegung bewirkt hat. In der deutschsprachigen
OrganisationenzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
AnatolischLiteratur hingegen wurde die Rolle von Immigrantinnenvereinen lange Zeit fast ausschließDeutscher Frauen zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
lich aus der sozialpädagogischen Perspektive
Eine Skizze Feministischen Engagements
betrachtet. Zwar steht seit ca. zehn Jahren nun
Organisationen türkeistämmiger Frauen spieauch die politisch und kulturell integrative Rolle
len durch ihre feministische Arbeit eine beethnischer Vereine im Mittelpunkt der Unterdeutende soziale und politische Rolle in der
suchungen. Aber gender hat dabei bislang als
anatolisch-deutschen Community. Sie fungieKategorie politischer Organisation und politiren als Bindeglied zwischen der Community
scher Analyse kaum Berücksichtigung gefunund den verschiedenen Institutionen des deutden. Anders formuliert: Immigrantinnen werschen Wöhlfahrtstaates. Vor allem aber erschafden immer noch nicht als kollektive Akteurfen sie einen ,dritten Raum' (third Space), den
innen politischen Handelns anerkannt.
Mirza wie folgt definiert: „a space which (...)
overlaps the margins of the race, gender and
class discourse and occupies the empty Spaces
Durch eine vergleichende Skizze der feminisin between" (Mirza 1997:4). Dieser .dritte
tischen Ansätze von zwei der ältesten autonoRaum' verleiht den auf der Migrationserfahmen Berliner Immigrantinnenprojekte, BTKB
rung basierenden geschlechtspezifischen kolund TIO, soll dem entgegengewirkt werden.
lektiven Erfahrungen politischen Ausdruck.
Beiden Projekten ist gemeinsam, dass ihre
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Gründung auf der frühen Erkenntnis der Notwendigkeit eines .dritten Raumes' basiert, auf
der Erkenntnis nämlich, dass ihre Belange als
Immigrantinnen weder innerhalb der deutschen
feministischen Bewegung noch in den bereits
existierenden, männlich dominierten Migrantenvereinen angemessen zum Ausdruck kamen.
Das soziale und politische Klima in Berlin,
das die Existenz dieser Projekte ermöglichte,
wird ausführlich in Heinrich u.a. 1990 beschrieben. Durch ihr Engagement haben beide Vereine zur Bildung neuer politischer Identitäten
beigetragen, die sich aus der alltäglichen Notwendigkeit entwickelten, sich gleichzeitig mit
rassistischen, sexistischen und klassenspezifischen Strukturen in der deutschen Gesellschaft
und innerhalb der Migranten-Community auseinander zu setzen. Wie im Folgenden näher
erläutert werden soll, führten die unterschiedlichen Zielsetzungen und Strategien feministischen Engagements trotz gewisser Ähnlichkeiten zur Entstehung sehr unterschiedlich geprägter ,dritter Räume'.
Türkischer Frauenverein Berlin (BTKB)
Der 1975 gegründete Verein Berlin Türkiye
Kadlnlar Birlii (BTKB - Türkischer Frauenverein Berlin) gilt in der anatolisch-deutschen
Community als Vorreiterin feministischer Politik. Ziel der Gründungsmitglieder war es, Migrantinnen aus der Türkei im Rahmen einer
„sozial fortschrittlichen und demokratischen
Organisation" zusammenzubringen und durch
die kollektive politische Mobilisierung von
Migrantinnen zu ihrer „vollständigen Teilnahme im Kampf für Frieden, Demokratie und
Gleichstellung beizutragen." Die Vereinsstruktur unterschied zwischen den Mitgliedern, die
sich als ,organische Intellektuelle' im Sinne
von Gramsci für die Belange von Immigrantinnen einsetzen, und dem Klientel, das den
Verein als Anlaufstelle zur Beratung und zum
Besuch von Kursen und Veranstaltungen benutzt. Dadurch wurden die Grundsteine für das
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Forschungsjournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Pulsschlag
auch heute noch praktizierte duale Konzept
feministischer Intervention gelegt.
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legte. Diese Entwicklungen waren zum einen
Einen besonderen Schwerpunkt in der Zielgrup- Schlussfolgerungen
die fortschreitende politische Demobilisierung
pe bilden Migrantinnen, die durch die Famili- Anatolisch-deutsche Frauenorganisationen sind
der sozialen Bewegungen Ende der 1980er Jahenzusammenführung nach Deutschland gezo- ein Beispiel dafür, dass Immigrantinnen nicht
Dem feministischen Engagement des BTKB re sowohl in der Community der Migranten
gen sind. Der Einsatz für die frauenspezifischen passive Opfer, sondern Akteure politischen
lag zwar vor allem ein Diskurs der türkei- als auch in der deutschen Gesellschaft im all(wie z.B. Gewaltsituationen in der Familie) so- Handelns sind. Die zwei Dimensionen dieser
stämmigen Migrantin als Mitglied der Arbei- gemeinen (gemäß Howard, Norval und Stavwie arbeits- und aufenthaltsrechtlichen Belange politischen Arbeit sind zum einen die Mobiliterklasse zugrunde, der die zunehmende Poli- rakakis 2000 eine Umbesetzung von ,points
dieser Gruppe von Frauen aus wirtschaftlich sierung von Immigrantinnen zur eigenständitisierung der Frauenbewegung in der Türkei de capiton' ), zum anderen die sinkende Erschwachen Verhältnissen hat die Entwicklung gen Interessenvertretung, zum anderen die Krireflektierte. Doch entgegen der Heimatorien- werbsquote anatolisch-deutscher Frauen in Folvon TIO nachhaltig beeinflusst. So wurden ne- tik an diskriminierenden Gesellschaftsstruktutierung vieler Migrantenvereine agierte BTKB ge des Abbaus von Arbeitsplätzen im verarbeiben der Sozialberatung zwei Qualifizierungs- ren. Bereits die in dieser Skizze vorgestellten
von Anfang an fest auf dem Boden deutscher tenden Gewerbe. Obwohl der BTKB weiterhin
projekte (jeweils im Gesundheits- und Bürobe- zwei Richtungen der Vereine zeugen von einer
Politik. Neben der ,Hilfe zur Selbsthilfe' für vor allem türkeistämmige Frauen der Arbeiterreich) ins Leben gerufen, die zur Förderung der lebhaften feministischen Debatte innerhalb eiMigrantinnen anhand verschiedener Angebo- klasse zur Zielgruppe hat, machen Arbeiteberuflichen Integration von Migrantinnen in den ner sehr heterogenen Migrantinnen Commute - wie z.B. Sozialberatung, Deutschkurse, rinnen inzwischen nur noch einen geringen
nity.
qualifizierten Arbeitsmarkt dienen.
Alphabetisierungskurse - setzte sich der Ver- Anteil des Klienteis aus. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
ein in den Aktionen der 1970er und 1980er
Im Laufe der Zeit durchlief TIO einen grund- Die unterschiedlichen Konzepte und IntervenJahre vor allem für die Belange von Migran- Treff- und Informationsort für Frauen aus
legenden Wandel politischer Identität und es tionen haben zur Entwicklung von zwei intinnen auf der wirtschaftspolitischen Ebene der Türkei (TIO)
erfolgte die interkulturelle Öffnung des Pro- haltlich unterschiedlichen ,dritten Räumen' geein. Beispiele hierfür sind der Kampf gegen Der 1978 von türkeistämmigen und deutschen
jektes für Frauen aller Nationalitäten - sowohl führt. Zur Aufrechterhaltung des auf der Verethnische und geschlechtspezifische Diskri- Frauen zusammen gegründetezyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Treff- und Inin Bezug auf die Zusammensetzung des Mitar- ankerung der Gender Identität in der Zugehöminierung auf dem Arbeitsmarkt, für die 35- formationsort für Frauen aus der Türkei (TIO)
beiterinnenteams als auch des Klienteis. Es er- rigkeit zur Arbeiterklasse basierenden KonzepStunden-Woche und die Sicherung von Ar- wurde von Anfang an als eine interkulturelle
folgte damit ein Wandel gemäß Stuart Hall: tes des BTKB bedurfte es nach der Verringebeitsplätzen.
Organisation konzipiert. Damit kristallisierte
Zum Kampf um die , relations of representati- rung des Arbeiterinnenanteils unter dem Klisich neben der Sozialberatung für Migrantinon' (d.h. der Darstellung von Migrantinnen) entel einer Umorientierung in Richtung nichtDie Unterstützung der Friedensbewegung in nen auch der Kampf für Chancengleichheit
kam die Auseinandersetzung auf der Ebene erwerbstätiger Frauen. Die interkulturelle UmDeutschland stellte einen weiteren Schwer- und gegen rassistische Gesellschaftsstruktuder ,politics of representation' (d.h. die Aner- strukturierung erleichterte es dem H O , auch
punkt feministischen Engagements des BTKB ren als Schwerpunkt ihres politischen Agiekennung der Diversität von Subjektpositionen die Interessen anderer Gruppen von Migrandar, denn ,,[w]ir Frauen, die der Menschheit rens heraus.
innerhalb der Kategorie ,Migrantin') hinzu. Vor tinnen vertreten zu können. Inwiefern diese
das Leben schenken, wollen nicht mit ansedem Hintergrund des quantitativen und politi- Interessenvertretung repräsentativ in Bezug auf
hen, wie unsere Kinder zu Kanonenfutter ge- Auch bei TIO gilt das duale Konzept der femischen Gewichts türkeistämmiger Immigrantin- nicht im Verein aktive Immigrantinnen ist, ist
macht werden." Zudem wurde der Kontrast nistischen Intervention. Die politische Kritik
nen in Berlin ist eine solche Entwicklung noch eine mit der ,politics of representation' zuzwischen den hohen Aufwendungen im mili- an den diskriminierenden Strukturen der deutbedeutsamer. Der gemeinsame Kampf gegen sammenhängende Frage, die sich beide Vereitärischen Bereich und den unzureichenden In- schen Bürokratie und die konkrete Arbeit mit
den alltäglichen und institutionellen Rassismus ne auch in der Zukunft stellen müssen.
vestitionen im sozialen Bereich - unter denen den Klientinnen zur Erweiterung ihres indiviinnerhalb der deutschen Gesellschaft, aber auch
vor allem die in strukturschwachen Gebieten duellen Handlungsspielraums im Alltag steldie Auseinandersetzung mit den unbewussten Das politische Engagement von TIO und
konzentrierten Migrantenfamilien leiden muss- len die zwei Aspekte der feministischen Arbeit
rassistischen Denk- und Handlungsformen in- BTKB wird durch diverse strukturelle Faktoten - kritisiert.
nerhalb von TIO stellen unentbehrliche politi- ren stark beeinträchtigt. Trotz der nunmehr seit
von TIO dar: „Immer haben wir es als einen
sche Basisarbeit dar, die in Deutschland immer über 25 Jahren geleisteten erfolgreichen ArBestandteil unserer Arbeit angesehen, Öffentnoch Raritätswert hat. Die Bemühungen sei- beit ist ihre Existenz von ständiger finanzieller
In den 1990er Jahren führten zwei Entwick- lichkeitsarbeit für die Belange der Frauen aus
tens TIO, in Form von Veröffentlichungen und Unsicherheit geprägt. Die Perspektiven, die
lungen dazu, dass sich viele ehrenamtlich täti- der Türkei zu machen, weil sich nur grundTagungen die öffentliche Diskussion zu die- dem Klientel angeboten werden können, stoge Mitglieder des BTKB zurückzogen und das sätzlich etwas an ihren Problemen ändern lässt,
sem Thema anzuregen, stellen eine weitere Di- ßen sehr schnell an vom Ausländerrecht geProfil der Vereinsaktivitäten sich schwerpunkt- wenn sich die gesellschaftlichen Strukturen und
mension des von ihnen geschaffenen ,dritten setzte rigide Grenzen. Die unterschiedlichen
mäßig von wirtschaftspolitischen Interventio- das gesellschaftliche Bewusstsein ändern."
Raumes' dar.
Lebensbedingungen der anatolisch-deutschen
nen auf die professionelle Sozialberatung ver- (Heinrich u.a. 1990: 151)
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Treibgut
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und deutschen Frauen führen zudem dazu, dass Vortrag anlässlich des 8. März 1984
Europa und Ziviigesellschaft
die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit der
Detaillierte Informationen über Europa unter
siehe Howarth/Norval/Stavrakakis 2000.
deutschen feministischen Bewegung eingedem Schwerpunkt Zivilgesellschaft bietet das
siehe z.B. Heinrich u.a. 1990
schränkt sind. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Europäische Bürger-Netzwerk EUROPA
JETZT! mit der Verknüpfung zum .Ständigen
Esru Erdem promoviert an der University of
Literatur
Forum der Zivilgesellschaft'.
Massachusetts, Amherst im Fachbereich
Berger, Maria'Galonska,
Christian/KoopKontakt: www.europa-jetzt.org.
Wirtschaftswissenschaften.
mans, Ruud 2002: Political integration by
e
Kontakt: esra_erdem_de@yahoo.de zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
detour? Paper präsentiert auf der Tagung
„Demokratie und Sozialkapital - die Rolle
Remarque-Friedenspreis
Anmerkungen
zivilgesellschaftlicher Akteure". Berlin:
Der palästinensische Autor Mahmud Darwisch
Mein Dank gilt allen Mitarbeiterinnen von WZB.
und der israelische Psychologie-Professor Dan
BTKB und TIO, die sich die Zeit für die Inter- Dürkop, Marlis 1990: DurchsetzungsstrategiBar-On erhalten in diesem Jahr den Erich-Maviews genommen und mir Archivmaterial ver- en autonomer Frauenprojekte in Berlin. In: Berria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabfügbar gemacht haben. Für zahlreiche kriti- lin Forschung, Freie Universität.
rück. Zu den bisherigen Preisträgern gehören
sche Anregungen möchte ich mich bei Alev Fijalkowski, Jürgen/Gillmeister, Hellmut 1997:
Lew Kopelew und Hans Magnus Enzensberger.
Karata, Asiye Kaya und Neet Özevin bedan- Ausländervereine - ein Forschungsbericht. BerIn diesem Jahr hat sich die Jury mit Blick auf
ken.
lin: Hitit.
den Konflikt im Nahen Osten entschieden, zwei
Für eine Einführung siehe Mirza 1997.
Gümen, Sedef 1998: Das Soziale des GeAuszeichnungen mit gleicher Dotierung zu verDie Zeitschrift .Migration und soziale Ar- schlechts. In: Das Argument, 224,187-202.
leihen.
beit' befasst sich schon seit langem regelmä- Hall, Stuart 1988: New Ethnicities. In: Black
9
ßig mit sozialpädagogischen Aspekten ethni- Film, British Cinema. ICA Documents, Nr. 7,
Nachhaltig leben
scher Selbstorganisation.
27-31.
Haben Sie gewußt, dassTextilien immerbilliger
siehe z.B. Berger/Galonska/Koopmans 2002; Heinrich, Karin u.a. 1990: Zwischen Alltagswerden, den sozialen und ökologischen Preis
Özcan 1989; Fijalkowski/Gillmeister 1997; frust und Größenwahn. Weinheim: Deutscher
aber andere bezahlen? Oder: dass die NavahoJonker 1997.
Studien Verlag.
Indianer mit 236 Gegenständen auskamen, wir
Es sollte einschränkend darauf hingewiesen Howarth, David/Norval, Aletta JJStavrakakis,
dagegen uns mit einer Warenwelt umgeben, die
werden, dass in einem so kurzen Beitrag Yannis 2000: Discourse Theory and Political
mehr als Hunderttausend Gegenstände zählt?
keineswegs ein repräsentatives Bild des politi- Analysis. Manchester: Manchester University
Diese und viele weitere brisante Fakten enthält
schen Vereinslebens ttirkeistämmiger Immig- Press.
die Publikation .Nachhaltig leben. 25 Vorschlärantinnen in Deutschland dargestellt werden Jonker, Gerdien 1997: Die islamischen Gemeinge für einen verantwortungsvollen Lebensstil'.
kann. Insbesondere die Vielfalt an Frauenver- den in Berlin zwischen Integration und SegreThematisiert werden die Bereiche Landwirteinen die spezifische Subgruppen türkeistäm- gation. In: Leviathan, Heft 17, 347-364.
schaft und Ernährung, Kleidung, Bauen und
miger Immigrantinnen ansprechen, so z.B. die Laclau, Ernesto 1994: The Making of PolitiWohnen, Mobilität, Güterwohlstand, Nord-Südkurdischen oder islamisch geprägten Frauen- cal Identities, London: Verso.
Solidarität und Reisen sowie nachhaltig arbeiorganisationen, bedarf einer eigenständigen Un- Mirza, Heidi Safla 1997: Black British Femiten. Der Autor Hans Holzinger, wissenschaftlitersuchung.
nism. A Reader. London: Routledge.
cher Mitarbeiter der Robert-Jungk-Bibliothek
BTKB Vereinsbroschüre undatiert. Alle Zita- Özcan, Ertekin 1989: Türkische Immigrantenfür Zukunftsfragen, zeigt dabei auf, dass einzelte wurden von mir selbst aus dem Türkischem organisationen in der Bundesrepublik Deutschne isolierte Schritte noch kein nachhaltiges Verland. Berlin: Hitit.
übersetzt.
halten ausmachen. Vielmehr sei eine ganzheitliche Veränderung des eigenen Lebensstils gefordert. Oder - systematisch gesprochen - der
Blick auf die Summe aller Spuren, die ich durch
mein Leben hinterlasse.
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Die Publikation kostet 12 Euro.
Kontakt: Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen, Robert Jungk-Platz 1, A-5020 Salzburg,
Tel.: (0043) 662 873 206, Fax : (0043) 662 873
206 14, eMail: jungk-bibliothek@salzburg.at.
9
Freiwilligendienste
,Für mich und andere' lautet der Titel einer
neuen Broschüre des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Zum
Freiwilligen Sozialen Jahr und dem Freiwilligen Ökologischen Jahr sind viele Informationen, ein Wegweiser durch die Bestimmungen
der gesetzlich geregelten Freiwilligendienste
und Adressen von Anlaufstellen aufgelistet. Die
Broschüre kann kostenlos bestellt werden.
Kontakt: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Tel.: (0180) 532 93
29, eMail: broschuerenstelle@bmfsfj.bund.de,
www.bmfsQ.de.
Bürgerschaftliches Engagement in
Ostdeutschland
Zur Situation und Entwicklung des Ehrenamts
und des bürgerschaftlichen Engagements liegen in einer neuen Publikation aktuelle empirische Befunde und theoretische und fachpolitische Beiträge vor, die eine differenzierte Engagementlandschaft sichtbar machen. Sie zeigen
sowohl die fortwirkenden sozialkulturellen Traditionen aus DDR-Zeiten als auch unkonventionelle und neuartige Engagementerfahrungen
aus den 90er Jahren auf. Der Sammelband wird
von Holger Backhaus-Maul gemeinsam mit Olaf
Ebert, Gisela Jakob und Thomas Olk herausgegeben und kostet 27,90 Euro. ISBN 3-81002855-X.
Kontakt: Verlag Leske + Budrich, www.leskebudrich.de.
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Forschunpsiournal NSB, Jp. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Treibput
Aktionsformen in der Arbeitswelt zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Tagung „Schwingungen 2003"
chen Gruppen und Netzwerke engagierter Bür, Wer kämpft, kann verlieren - wer nicht kämpft, Der Verband Kommunaler Unternehmen (VKU)
ger, die die herkömmlichen verkrusteten Instihat schon verloren! Aktiv gegen Rassismus - und die Arbeitgsgemeinschaft für sparsame
tutionen der verfaßten Demokratie und politiAktionsformen für die Arbeitswelt' ist der Titel Energie- und Wasserverwendung (ASEW) verschen Parteien aufbrechen und das politische
einer neuen Handreichung, die vom Bereich anstalten am 12./13. Juni 2003 in Düsseldorf
Handeln zukunftsfähiger machen? Die Autoren
Migration und Qualifizierung beim DGB Bil- eine Fachtagung zum Thema Schwingungen
Rolf Kreibich und Christian Trapp geben Antdungswerk entwickelt wurde. Die Broschüre 2003 - Jugend - Zukunft - Stadtwerke'. Die
wort: Die vielfältigen Einmischungen der Bürbildet den Grundstein bei der Errichtung eines Präsenz einiger großer Energieversorger in den
gergesellschaft bieten zahlreiche Modelle, wie
Good Practise Centers. Ziel ist es einerseits, Medien hinterlässt Spuren auch bei Kindern
durch Wahrnehmung von Verantwortung und
Aktivitäten gegen Fremdenfeindlichkeit und für und Jugendlichen. Die örtlichen VersorgungsKompetenz der Bürger ein höheres Maß an
Chancengleichheit im Bereich der Arbeitswelt unternehmen bleiben deutlich dahinter zurück.
zukunftsfähiger Entwicklung erreicht werden
zu dokumentieren, um damit einen Anstoß für Dies zeigt, dass eine auf langfristigen Erfolg
kann. Sie präsentieren Bürgerbeteiligungsvereigene Aktivitäten zu geben und andererseits angelegte Kommunikations- und Marketingfahren, bei denen sich Laien binnen kürzester
eine Vernetzung zwischen den verschiedenen strategie Kinder und Jugendliche als die KunZeit kompetent machen und hochwertige BürInitiativen und Projekten herzustellen. Die Bro- den von Morgen nicht vernachlässigen darf.
gergutachten erstellen und sie beschreiben, wie
schüre kann kostenlos bestellt werden.
Deshalb beschränken sich Stadtwerke längst
durch kreative und innovative Bürger und BürKontakt: Der Setzkasten GmbH, Tel.: (0211) 40 nicht mehr auf traditionelle Informations- und
ger-Netzwerke produktive zukunftsorientierte
800 90-0, Fax: -40, eMail: mail@setzkasten.de, Bildungsangebote, sondern gehen aktiv auf verArbeit geschaffen wird. Die Bürgergesellschaft
www.migration-online.de. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
änderte Lebenswelten und Lernorte der jugendbietet somit mannigfaltige Ansätze für ein neues
lichen Zielgruppen zu. Die Tagung soll dazu
Miteinander von Politik, Wirtschaft und zivildienen, ein Zwischenresümee zu ziehen. In Vorgesellschaftlichen Aktivitäten. Die ZukunftsMaßnahmen der EU-Kommission gegen
trägen werden neue Erkenntnisse der Jugendstudie Nr. 28 kostet 17 Euro und ist im NOMOS
Diskriminierung
forschung sowie Grundlagen des BeziehungsVerlag erschienen. ISBN 3-7890-8236-8.
, Kampf um Gleichheit - Maßnahmen der Euro- marketings vermittelt und Praxisbeispiele der
Kontakt: www. izt. de/pub likationen/zukunftspäischen Union zur Bekämpfung von Diskrimi- Wien/Energie Österreich sowie der Jugendinitistudien/buergergesellschaft_28.html.
nierung' ist der Titel einer Broschüre, in der die ative re:spect von Aktion Mensch präsentiert.
entsprechenden Richtlinien und das Aktions- Workshops widmen sich den Fachfragen aus
programm vorgestellt werden. Eine Richtlinie der Praxis der Stadtwerke.
Palästina droht Umwelt-Katastrophe
(200/43/EG) verpflichtet zur Anwendung des Kontakt: Markus Eichert, Arbeitsgemeinschaft
Die von Israel besetzten Palästinensergebiete
Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unter- für sparsame Energie- und Wasserverwendung,
sind ökologisch bedroht. Das ergibt ein Bericht
schied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, Volksgartenstr. 22, 50677 Köln, Tel.: (0221)
der UN-Umweltbehörde Unep. Allein 30 Millidie andere (2000/78/EG) legt einen allgemei- 931819-12, eMail:
onen Kubikmeter Abwässer fließen demnach
eichert@asew.de,
nen Rahmen für die Verwirklichung der Gleich- www.asew.de
direkt ins Mittelmeer oder sickern ins Grundbehandlung in Beschäftigung und Beruf fest.
wasser. Gerade die Hälfte der israelischen SiedDas ,Aktionsprogramm zur Bekämpfung von
lungen in den besetzten Gebieten reinige ihre
Diskriminierung' fördert verschiedenste Initia- Bürgergesellschaft
Abwässer zufriedenstellend. In den Gemeinden
tiven und Projekte gegen Diskriminierung auf- Das Institut für Zukunftsstudien und Technoloder Palästinenser ist die Situation noch schlimgrund von Herkunft, Religion, Weltanschau- giebewertung (IZT) hat eine Studie zum Thema
mer, zumal die israelische Armee vielerorts die
ung, Behinderung, Alterund sexueller Orientie- ,Bürgergesellschaft. Floskel oder Programm'
Wasserleitungen und Trinkwasserzisternen zerrung sowie für Gleichstellung. Die Broschüre herausgegeben. Immer lauter erschallt der Ruf
stört hat. Da es praktisch keine Zusammenarbeit
kann im Internet heruntergeladen werden.
mehr zwischen israelischen und palästinensinach demokratischen Strukturen und ProzesK o n t a k t : w w w . e u r o p a . e u . i n t / c o m m / sen, die den großen Herausforderungen der
schen Behörden mehr gibt, verschlechtert sich
employment_social/fundamental_rights/pdf/ Gegenwart und Zukunft besser gerecht werden.
die Situation nahezu täglich.
pubdocs/equality_de.pdf.
Ist es die Bürgergesellschaft, sind es die zahlrei-
143
Was geht?!
Ob es darum geht, Seminare und Ausstellungen
zu organisieren, Zeitungen zu machen oder
Konzerte zu veranstalten: Bei der Arbeit von
Jugendinitiativen kann eine ganze Menge schiefgehen. Ein neuer Ratgeber des Beratungsbüros
profondo und der Stiftung MITARBEIT hilft
Initiativen bei der Arbeit. Die Arbeitshilfe behandelt die Schwerpunktthemen Projektplanung, Öffentlichkeitsarbeit, Internationale Aktionen, Finanzierungsmöglichkeiten sowie Problemlösungen in der Gruppe. Das von Mathias
Wiards und Jochen Butt verfaßte Buch ,WAS
GEHT. Probleme lösen, mehr Durchblick bekommen, Projekte machen' ist im Verlag Stiftung MITARBEIT erschienen und kostet 6 Euro.
ISBN 3-928053-77-9.
Kontakt: Stiftung MITARBEIT, Bornheimer Str.
37,53111 Bonn, Tel.: (0228) 60424-0, Fax: -22,
eMail: info@mitarbeit.de, www.mitarbeit.de.
Kindersoldaten
Nach wie vor werden rund 300.000 Kinder und
Jugendliche in vielen Ländern der Erde zwangsrekrutiert und zum Kämpfen gezwungen. Darauf machte das Kinderhilfswerk terre des
hommes anläßlich des ersten Jahrestages des
Inkrafttretens des Zusatzprotokolls zur UN-Kinderrechtskonvention über die Beteiligung von
Kindern an bewaffneten Konflikten aufmerksam, das den Einsatz von Kindersoldaten verbietet. Kinder würden sowohl als Kämpfer wie
auch als Spione, zum Auffinden von Minen oder
zur Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse erwachsener Soldaten eingesetzt. Das Abkommen ist von mittlerweile 111 Regierungen unterzeichnet, doch erst 46 Länder haben es ratifiziert.
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Treibgut
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Forschunpsiournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Drogen zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Menschenrechte
Das Handbuch ,Drogenpraxis, Drogenrecht, Die Organisation Human Rights Watch hat den
Drogenpolitik' sammelt die Erfahrungen von 13. Jahresbericht zur weltweiten Situation der
mehr als 40 Autoren unterschiedlicher Fachbe- Menschenrechte veröffentlicht. Der Berichtsreiche und gibt einen umfassenden und aktuel- zeitraum reicht von November 2001 bis Nolen Überblick über wichtige Bereiche des Dienst- vember 2002. Für Europa stellt die Menschenangebots, der Politik und der Rechtsprechung rechtsorganisation fest, dass die Situation sich
zum Thema Drogen in Deutschland. Suchtthe- in den Mittel- und Osteuropäischen Ländern
orien, grundlegende Behandlungs- und Bera- verbessert hat, während in vielen Nachfolgetungsansätze, Modelle für Dienstangebots- und staaten der Sowjetunion eine Verschlechterung
Qualitätsmanagementfragen werden ebenso festzustellen sei. DerBerichtvonHumanRights
behandelt wie der ganze Bereich von traditio- Watch steht im Internet (nur auf Englisch) zur
nellen' Maßnahmen zur Drogenbekämpfung - Verfügung.
von Primärpräventionen und Substitutionsthe- Kontakt: www.hrw.org/wr2k3.
rapien bis hin zur beruflichen Rehabilitation
und Wohnungsbeschaffungsprogrammen. Der
Gruppenauseinandersetzungen
von Lorenz Böllinger und Heino Stöver herausJugendliche werden nicht nur in Familien und
gegebene Leitfaden für Drogenbenutzer, ElSchulen, sondern auch in Gleichaltrigengruptern, Drogenberater, Ärzte und Juristen kostet
pen sozialisiert. Sie schließen sich zu Skatern,
14,90 Euro. ISBN 3-931297-59-4.
HipHopern, Punks und Alternativen, aber auch
Kontakt: www.fhverlag.deundwww.archido.de.
zu Hools, Skins und Rechten zusammen. In den
Gruppen finden sie Gemeinschaft und Unterstützung. Es kommt aber auch immer wieder zu
Bürger- und Volksbegehren
Die Bürgerinnen und Bürger mischen wieder Konflikten. Cliquen geraten mit anderen Gruphäufiger in der Politik mit. Die Zahl der neu pen und Jugendlichen, mit ihrer Nachbarschaft
eingeleiteten kommunalen Bürgerbegehren und aneinander. Manchmal sind Interventionen von
der landesweiten Völksbegehren hat 2002 zuge- Lehrern, Streetworkern bzw. Polizisten nötig.
nommen. In diesem Jahr könnte es deshalb in Warum Konflikte entstehen und vor allem, wie
mehreren Bundesländern zu Volksabstimmun- Jugendliche sie selbst be- und verarbeiten, ist
gen kommen. Der .Volksbegehrens-Bericht eine Kernfrage des geplanten Forschungspro2002' berichtet über Trends, Themen, Akteure jektes Gruppenauseinandersetzungen. Nicht nur
und Erfolge der direkten Demokratie, die Be- der Vergleich zwischen Ost und West sowie
hinderung von Bürgerentscheiden und Refor- Stadt und Land, sondern auch die Bedeutung
men in den Ländern. DerBerichtkann kostenlos von Gender innerhalb und zwischen den Juim Internet angesehen und heruntergeladen gendcliquen, die Wirkungen von Schulen und
lokale Politik, den Einfluss von öffentlichen
werden.
Programmen
auf die Jugendszene sollen in dieKontakt: www.mehr-demokratie.de/vbsem Projekt untersucht werden. Laufzeit: 2002bericht2002.htm.
2005.
Kontakt: Hochschule Magdeburg-Stendal (FH),
FB SGW, Forschungsprojekt Gruppenauseinandersetzungen, Dr. Peter-Georg Albrecht, Breitscheidstr. 2, 39114 Magdeburg, Tel.: (0391)
8864567.
Bürgerstiftung
Die Initiative Bürgerstiftungen informiert in
regelmäßigen Abständen über Nachrichten aus
dem Bürgerstiftungssektor. Ausführliche Informationen, Nachrichten und Veranstaltungshinweise finden sich im Internet. Ein Newsletter
kann ebenfalls abonniert werden.
Kontakt: Dr. Alexandra Schmied, Initiative
Bürgerstiftungen, eMail:
alexandra.
schmied@buergerstiftungen.de,
www.
buergerstiftungen.de.
Demokratiepreis
Der Demokratiepreis der Monatszeitschrift
,Blätter für deutsche und internationale Politik'
geht in diesem Jahr an die israelische Journalistin Amira Hass. Amira Hass ist Korrespondentin der israelischen Zeitung Ha'aretz und lebt
seit vier Jahren freiwillig als erste und einzige
israelische Journalistin im Gazastreifen und im
Westjordanland, derzeit in Ramallah. Mit ihren
Reportagen aus dem palästinensischen Alltag
konfrontiert sie die israelische Gesellschaft mit
den Folgen der Besatzungspolitik, ohne der
Autonomiebehörde notwendige Kritik zu ersparen. Fähigkeit und Bereitschaft, sich in die
Situation der ,anderen Seite' zu versetzen, die
Amira Hass mit bewundernswertem Mut demonstriert, gehören zu den elementaren Voraussetzungen dafür, Konflikte lösbar und Demokratie möglich zu machen.
Brücke zur islamischen Welt
,Qantara' ist das arabische Wort für Brücke. Mit
dem Internerportal .Qantara.de' wollen die Bundeszentrale für politische Bildung, die Deutsche Welle, das Goethe-Institut Inter Nationes
und das Institut für Auslandsbeziehungen eine
Brücke zur islamischen Weltschlagen. DasPortal
greift politische, kulturelle und gesellschaftliche Fragen auf. Auf Grund der aktuellen Lage
informiert die Datenbank über die Entwicklung
im Irak. Darüber hinaus behandelt,Qantara.de'
Themen wie den EU-Beitritt der Türkei, Feminismus im Islam, einen Dialog der Religionen
oder die Globalisierung.
Kontakt: www.qantara.de
e
Iran-report
Mit dem monatlich erscheinenden iran-report
stellt die Heinrich-Böll-Stiftung der interessierten Öffentlichkeit eine Zusammenfassung ihrer
kontinuierlichen Beobachtung relevanter Ereignisse im Iran zur Verfugung. Der Bericht kann
kostenlos im Internet heruntergeladen werden.
Kontakt: Heinrich-Böll-Stiftung, Hackesche
Höfe, Rosenthaler Str. 40/41, 10178 Berlin,
Tel.: (030) 285 34-0, Fax: -109, www.boell.de/
de/14_presse/1662.html
Forschungsjournal im Jahr 2003
1/03 Bundestagswahl 2002
Analyse eines Zufalls
2/03 Konturen der Zivilgeselischaft
Zur Profilierung eines Begriffs
3/03 Lobbyismus in Deutschland
Fünfte Gewalt: unkontrolliert und einflussreich?
4/03 Alte Gefahr - Neue Wege.
Was tun gegen Rechts?
146 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Forschungsjournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003
Literatur
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Lebensformen oder darum, wie Gemeinschaf- das Band zur sozio-moralischen Ressource des
ten funktionieren. Auch im Mittelalter und in Gemeinsinns zerschnitten. Gemeinwohl wird
der Antike war dies umstritten. Daher ist die entweder als Ergebnis eines Prozesses gesehen
sei der republikanische Pathos fragwürdig, wenn
Entscheidung der Herausgeber, den historischen oder es wird unterschiedlichen Akteuren zur
es um Gemeinwohl im Singular geht.
Gemeinwohl aus vier
Semantiken dieses Leitbegriffs nachzuspüren, Aufgabe gemacht - dem Staat, den Regierenden,
Dies macht auch gleichzeitig das AnspruchsPerspektiven zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
die Richtige. Die Formeln Gemeinwohl und der Beamtenschaft, dem Verfassungsgericht- es
volle und das Unerreichbare des Unternehmens
gemeiner Nutzen wurden in unterschiedlichen zu realisieren und zu bewahren.
deutlich. In vier Bänden hat die ForschungsAbsichten benutzt und erfüllten in gesellschaft- Von Gemeinwohl aber wäre heute nicht mehr in
Gemeinwohl und Gemeinsinn, zwei Begriffe gruppe vielfältige Positionen zum Thema aus
lichen Interessenkonflikten eine legitimierende dem Maße die Rede, wenn es nicht doch einige
aus der Jahrtausende alten Tradition des politi- historischer, ideengeschichtlicher, philosound delegitimierende Funktion. So zeigt der Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten gegeschen Denkens, sind heute immer noch zentrale phisch-normativer und juristischer Perspektive
Historiker Peter Blicke wie die Formel .gemei- ben hätte, die das Verhältnis von Moral und
Leitbegriffe des politischen Handelns. Dies will zusammengetragen. Herausgekommen ist ein
ner Nutzen' seit dem 12. Jahrhundert half, die Politik neu justiert hätten. Da ist die aus AmeridieArbeitsgruppeder Berlin-Brandenburgischen Werk, das sicherlich als Standardwerk des Gekommunale Welt zu entwickeln und Begrün- ka kommende kommunitaristische Debatte soAkademie der Wissenschaften mit ihren vier meinwohldiskurses wird zählen dürfen. Gleichdungen für städtische Innenpolitik, Regulierun- wie die Suche in den prozeduralistischen Theogewichtigen Bänden unterstreichen. Bundes- wohl bleibt ein Unbehagen. Dieses drückt sich
gen des Wirtschaftslebens und der kommunalen rien nach Designs für Institutionen, die moralikanzler Gerhard Schröder liefert für die These darin aus, dass aristotelische Bestimmung über
Infrastruktur zu liefern. Der Begriff diente der sches Verhalten ermöglichen und prämieren.
der Arbeitsgruppe immer wieder Belege. Wenn das Wesen des Menschen und der politischen
Herausbildung kommunaler Selbstorganisati- Darüber hinaus gibt es auch in der MikroÖkonodie Interessengruppen allzu aufdringlich wer- Gemeinschaft neben einen habermasianischen
on, weil er den .Gemeinen Nutzen' gegen den mie Ansätze, die sich Gedanken über die Senden, versucht er ihnen mit dem Begriff Gemein- Prozeduralismus gestellt werden. Das Unbehader Klöster und Grundherren richten konnte.
kung von Transaktionskosten und erfolgreiche
wohl die Grenzen aufzuzeigen: Seine Aufgabe gen drückt sich weiterhin darin aus, dass der
Die Verstaatlichung des Gemeinwohls tritt erst Kooperation machen. Nicht zuletzt sind es aber
sei es, am Gemeinwohl orientiert Politik zu republikanische Traum angesichts der Pluralisehr viel später mit der Staatsbildung auf. Den- die zivilgesellschaftlichen Debatten, die dem
machen, während er sich die Anliegen der Lob- sierung und der Scheu gegenüber inhaltlichen
noch kommt es in der Neuzeit zu einer Umpo- Nachdenken über Gemeinwohl und Gemeinbyisten zwar anhören, sie aber nicht zur Leitli- Gemeinwohlkonkretisierungen das Gemeinlung, die man auch als eine Ablösung vom alten sinn wieder neuen Auftrieb gegeben haben. Die
nie seines Handelns machen dürfe. Politik habe wohl zu einer leeren Formel oder zu einem
republikanischen Ideal deuten kann. Zu einer Zivilgesellschaft scheint heute als der besondedas Gemeinwohl zu realisieren - jenseits des ohnmächtigen Sollen werden lässt. Darüber higrundsätzlichen Veränderung kam es seit dem re Regenerationsraum für die sozio-moralischen
Streits der Interessengruppen, so könnte der naus bleibt unter modernen Bedingungen unfrühen 18. Jahrhundert. Die Forschergruppe Ressourcen angesehen zu werden, ohne die
Auftrag verstanden werden. Dennoch hat das deutlich, wie sich die Solidaritätshorizonte der
deutet dies als ,semantischen Coup des Libera- Gemeinwohl lediglich ein blasses Sollen bleiVerhalten des Kanzlers hier etwas Irritierendes. verschiedenen Gemeinschaften untereinander
lismus'. Mit Bernard de Mandeville, Adam Smith ben würde.
Ist man doch eher von ihm ein pragmatisch- verhalten. Gewiss können wir nicht mehr wie
und Immanuel Kant trat eine Argumentationsfisituationistisches Verhalten gewohnt und keine Aristoteles noch davon ausgehen, dass alle Gegur hervor, die das Eigeninteresse als den Gegen- Die Metamorphosen von Gemeinwohl
Ausflüge in die Sphäre des politisch-morali- meinschaften Teileder staatlichen Gemeinschaft
begriff des Gemeinwohls umdeutet und zum In historischer Perspektive ist es der Zusamschen Sollens. All zu oft bezieht sich der Kanz- sind. Diese Politik- oder Staatszentriertheit ist
Ausgangspunktundzur Entwicklungsbedingung menhang von Assoziationen und Gemeinsinn,
ler aber nicht auf das Gemeinwohl und schiebt heute obsolet. Doch wenn Gemeinwohl Gedes allgemeinen Wohls machte. Seitdem ist das den Alexis de Tocqueville in Amerika entdeckt
auch keinen erläuternden Satz nach, denn der meinschaft voraussetzt, auf die es sich bezieht,
Individuum mit seinem Eigeninteresse und sei- hat. In den geselligen Vereinigungen würden
Zuhörer möchte dann doch gerne wissen, worin so sind doch unterschiedliche Gemeinschaften
denkbar, deren Vorstellungen vom Gemeinwohl
ner Freiheit der Ausgangspunkt der Begründung sich bürgerschaftliche Tugenden wie Gemeinnun das Gemeinwohl inhaltlich besteht.
jeglicher politischer Ordnung geworden - und sinn bilden können. Dort würde die SelbstGemeinwohl, so versichern die Herausgeber, ist nicht immer deckungsgleich sind. So unternicht länger das an der Gemeinschaft orientierte sucht' und das in allen modernen Gesellschaf.normativer Orientierungspunkt sozialen Han- scheidet sich beispielweise das Wohl DeutschIndividuum. Und das Eigeninteresse muss nicht ten aufkeimende Eigeninteresse in zivilisierendelns' und Gemeinsinn ,die Bereitschaft des lands von einem europäischen und einem schlesimmer mit dem Gemeinwohl übereinstimmen. de und die Demokratie fördernde Formen versozialen Handelns, sich an diesem normativen wig-holsteinischen Gemeinwohl. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Smith hat das mit der Metapher der .unsichtbaren wandelt. Was Stefan-Ludwig Hoffmann im ersIdeal tatsächlich zu orientieren, seinen Anspruch
Hand' ausgedrückt und Kant mit der Formel, ten Band historisch entfaltet, untersucht Eckart
auf soziale Verbindlichkeit in Verhalten und
Die Historie des Begriffs
wonach auch einem Volk von Teufeln (wenn sie Pankoke in soziologischer Perspektive im zweiHandeln umzusetzen'. Im Grunde, so Hasso
Die inhaltliche Füllung des Gemeinwohls war
nur Verstand haben) möglich sei, eine institutio- ten Band: Es geht um die Leistungen der OrgaHofmann sei dies der ,alte republikanische
vermutlich immer schon umstritten. Geht es
nalisierte Rechtsordnung zu gründen. Damit ist nisationsformen des Dritten Sektors. Diese OrTraum vom Gemeinwohl aus Gemeinsinn', der
dort doch nicht um weniger als um bestimmte
heute auf eine Wirklichkeit trifft, die für ihn
REZENSIONEN zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
keinen günstigen Nährboden bereithält. Zudem
148 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Literatur
Forschungsjournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
ganisationsformen müssen sich verändern, weil
Motivations- und Interessenlagen sich verändern. Pankoke sieht diese Vereinigungen als
Produktionsstätten von,sozialem Kapital'. Damit wird die Bedeutung der mikropolitischen
Praxis herausgestellt. Gemeinwohl entsteht nicht
mehr an der Spitze, sondern an der Basis, in der
Alltagspraxis der Bürgerinnen und Bürger. Aber
soziales Kapital als öffentliches Gut wird heute
nicht mehr selbstverständlich bereitgestellt.
Robert Putnam und andere gehen gar von einem
Schwund des sozialen Kapitals aus.
Die Veränderungen in den zivilgesellschaftlichen Organisationsformen und die Prozesse der
Globalisierung lassen ein zentrales Problem
deutlich werden: Gemeinwohl und Gemeinsinn
sind partikularistisch und beziehen sich immer
auf konkrete Gemeinschaften. Weil der alte
republikanisch-nationale Bezugsrahmen nicht
mehr trägt und die Grenzen der Sozialverbände
verschwimmen, wird es zunehmend schwieriger, den Referenzpunkt von Gemeinwohl zu
bestimmen. Denn als ethisch-normatives Konzept bezieht sich das Gemeinwohl immer auf
eine bestimmte Gemeinschaft. Zwar kann man,
wie es Adloff und Joas nahe legen, immer noch
von der Existenz sozialer Milieus ausgehen,
unbestreitbar ist aber ein Aufweichen der Grenzen und Bindungswirkungen und ein Überlappen der Mitgliedschaften. Denn nur wenn es
diese Gemeinschaften gibt, existiert auch eine
Reproduktionsbasis für Werte. Fragen des Gemeinwohls und des Gemeinsinns sind als ethische Fragen nicht von den Kontexten bestimmter Lebensformen zu trennen, so Udo Titze in
seinem Beitrag. Damit wird einer zivilgesellschaftlichen Orientierung sehr viel aufgeladen,
denn wenn damit Belange kollektiver Identität
aufgerufen werden, kann es damit keine verbindlichen Antworten mehr geben. Zudem wird
Gemeinwohl damit unrettbar partikular und
somit bestreitbar.
ben dann auch zu Überlegungen derPluralisten
geführt, das Gemeinwohl zu prozeduralisieren.
Gerade die Juristen sehen darin eine Chance,
mit diesem offenen normativen Begriff umzugehen. Schon Kant hat - in Fortsetzung der
Lockeschen Tradition - auf die Rechtsordnung
und den darin zentralen Prinzipien der Freiheit
und Autonomie als Grundlage einer jeden politischen Ordnung verwiesen. Mit dem Rekurs
auf das Verfassungsprinzip der Freiheit, der
auch im Grundgesetz zum Tragen kommt, wird
nun Gemeinwohl nicht mehr durch staatliche
Aktivität erreicht. Es sind vielmehr die zahllosen Formen .individueller Entfaltung' und die
.Autonomie der verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssysteme', die zum Gemeinwohl
beitragen, so Dieter Grimm. Grimm stellt daher
auch fest, dass Gemeinwohl kein zentraler Begriff in der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts sei. Im Grundgesetz selbst sind
aber Inhalte des Gemeinwohls festgelegt. Freiheit und soziale Gerechtigkeit zählen dazu wie
auch die Sozialpfl ichtigkeit des Eigentums. Aber
Gemeinwohl sei keine feststehende, substantielle Größe mehr, sondern notorisch unbestimmt.
Das Recht ist ein Ordnungsrahmen, das die
unterschiedlichen Leistungen der Gemein wohlbeträge ermöglicht. Im Grunde sind es die Interessen, die, geleitet durch das rechtsstaatliche
Normengerüst, zu Gemeinwohlbeiträgen verschmolzen werden. Dass Gemeinwohlbeiträge
nicht immer von Gemeinsinn inspiriert und
getragen sind, das ist nicht nur bei marktförmigen Austauschprozessen so. Auch im zivilgesellschaftlichen Bereich bekunden immer öfters
Engagierte, dass sie auch für sich etwas tun
wollen, indem sie für andere tätig werden. Vermutlich war der Altruismus immer schon ein
Randphänomen oder eine Erfindung der Philosophen.
Vermutlich befinden wir uns nicht auf der schiefen Ebene des beschleunigten Verlustes der soSolche Probleme der Undeutlichkeit der Ziel- zio-moralischen Ressourcen durch Ausdehnung
gruppe und der Diffusität des Allgemeinen ha- der Marktmechanismen und Globalisierung.
149
Vielmehr - so ist begründet zu vermuten - Arbeitsgruppe am Wissenschaftszentrum mit
erzeugen Marktmechanismen, wenn sie klug diesem Schwerpunkt, aber auch die zahlreichen
gewählt sind, auch normative Orientierungen selbsternannten Bürgerkommunen. Badenund Gemeinsamkeiten von strategischen Ak- Württemberg hat sich sogar als ,Bürgerland'
teuren. Es hilft jedenfalls wenig, eine Politik der ausgerufen. Dass es sich bei dieser Sphäre zwiGemeinwohlappelle zu verfolgen, denn die Un- schen Markt, Staat und Familien nicht um ein
scharfen dieses Konzepts sind beträchtlich und einheitliches Phänomen handelt und auch ihr
die Verbindung des moralischen Sollens zum Eigensinn, ihre relative Autonomie keineswegs
tatsächlichen Handeln sind nicht verlässlich. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGF
unstrittig ist, steht dabei ebenso außer Frage wie
der Umstand, dass es in dieser Debatte einen
normativen Überhang gibt. Zivil- und BürgerRudolf Speth, Berlin zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
gesellschaft werden als etwas Gutes und Erwünschtes präsentiert, auch wenn ,reale ZivilBesprochene Literatur
gesellschaften' selten wie ein demokratisches
Forschungsberichte der interdisziplinären Ar- Wunschkonzert klingen. Überhaupt erinnert die
beitsgruppe „Gemeinwohl und Gemeinsinn" Suche nach ,realen' Zivilgesellschaften (vgl.
der Berlin-Brandenburgischen Akademie der den Beitrag von Roland Roth über ,unzivile'
Wissenschaften 2001/2002: Bände I-TV, Berlin: Gesellschaften in dieser Ausgabe) ein wenig an
die Debatte über den ,realen' Sozialismus. Zu
Akademie Verlag.
Münkler, Herfried/Bluhm, Harald (Hg.): „Ge- hoffen ist, dass in diesem Fall nicht alles mögmeinwohl und Gemeinsinn". Historische Sem- liche real ist, nur nicht die Zivilgesellschaft und
nicht erneut die Wirklichkeit eine Idee blamiert.
antiken politischer Leitbegriffe.
Münkler, Herfried/Fischer, Karsten (Hg.): „Ge- Ansgar Klein hat für den deutschsprachigen
meinwohl und Gemeinsinn". Rhetoriken und Raum ein prämiertes Standardwerk über die
Perspektiven sozio-moralischer Orientierung. theoretischen Debatten, politischen Akteure und
Münkler, Herfried/Fischer, Karsten (Hg.): „Ge- gesellschaftlichen Umbrüche vorgelegt, die in
meinwohl und Gemeinsinn im Recht". Konkre- den letzten zwei Jahrzehnten zu einer Revitalitisierung und Realisierung öffentlicher Interes- sierung des Diskurses über Zivilgesellschaft
beigetragen haben. Gründlich, ungewöhnlich
sen.
belesen und theoretisch ambitioniert lädt uns
Münkler, Herfried/Bluhm, Harald (Hg.): „Geder Autor zunächst zu einer Zeitreise ein, auf der
meinwohl und Gemeinsinn". Zwischen Normawir zuerst den Dissidenten und Bürgerbewetivität und Faktizität.
gungen in Osteuropa begegnen, dann geht es
ffl zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFED
zurück zur Neuen Linken, vorwärts zu den
neuen sozialen Bewegungen, um schließlich
Altes und Neues über
höchst aktuell bei den transnationalen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen anZiviigesellschaft
zukommen. Im zweiten Teil des Buches präsentiert der Autor ideengeschichtliche Traditionen
Das politische und wissenschaftliche Interesse
und aktuelle theoretische Entwürfe, wobei er
an Zivilgesellschaft bzw. Bürgergesellschaft sich vornehmlich mit zeitgenössischen Autoren
zumeist werden beide Begriffe synonym gewie Jürgen Habermas, Ulrich Rödel, Günter
braucht - hält an. Dies bezeugen Kanzlerreden
Frankenberg, Helmut Dubiel und Rainer
und eine Enquete-Kommission des Bundestags,
Schmalz-Bruns befasst.
eine neue historisch-sozialwissenschaftliche
Literatur
150 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Forschungsjournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Für all diese Themen und Ansätze erweist sich nierende Organisationsform europäischer Ge(Blickle 20001:115). Die Sicherung von Zivilität ist in der kommunalistischen Phase (noch)
das Buch als wahre Fundgrube und solide Quel- sellschaften analysiert. Als Verfassung des Allle. Freilich hat auch Ansgar Klein auswählen täglichen rangiert Kommunalismus unterhalb
nicht an die Staatsgewalt delegiert, sondern ein
müssen. Es fehlt z.B. die DDR-Opposition, und der großen Epochenbegriffe (Feudalismus,
wechselseitiges Versprechen der Bürger unterdie intensive Debatte über Bahras, Alternative'. Absolutismus). Er „umschließt Stadtgemeineinander und zum Schutze gegen Kriege und
Ökonomische, gesellschaftliche und staatliche den und Landgemeinden als funktional und
Fehden der Obrigkeit. Eine ähnliche DoppelBezüge der aktuellen Zivilgesellschaftsdebat- institutionell im Prinzip analog aufgebaute
funktion erfüllt auch der Gemeine Nutzen.„Er
ten werden nur spärlich beleuchtet. Kritische Verbände, geprägt durch Satzungskompetenz
dient als Maß, um einerseits die konfligierenGegenentwürfe und gesellschaftsanalytische der Gemeinde beziehungsweise ihrer repräden Interessen in der Kommune abzugleichen, andererseits die kommunalen Interessen
Alternativen zur Theorie-Linie der ,zweiten' sentativen Organe, Verwaltung im Rahmen des
gegenüber der Herrschaft zu vertreten" (BlickFrankfurter Schule, wie z.B. die Arbeiten von von den Satzungen gedeckten Kompetenzbele 2000 II: 213). Blickle gelingt mit seiner
Althusser, Poulantzas, Bourdieu, Foucault, Jes- reichs und Rechtsprechung im Rahmen des
ungeheuer materialreichen, weniger systemasop oder Hirsch tauchen kaum auf. Es geht nicht gesatzten Rechts" (Blickle 2000 II: 1). Was
tischen als fallorientierten Studie zweierlei: Er
darum, andere Theorievorlieben ins Spiel zu sich hier sehr formal und trocken anhört, dekann zum Einen Kommunalismus als eine hisbringen, zumal Ansgar Klein für seine Autoren monstriert Blickle anschaulich an zahlreichen
torische Epoche verfasster örtlicher Gemeinins Feld führen kann, jene gewählt zu haben, die regionalen und lokalen Beispielen. Es treten
schaft vor der Herausbildung moderner Staatsich positiv auf den Begriff Zivilgesellschaft dabei die Umrisse einer wesentlich kommunal
lichkeit verlebendigen, die in den notorisch
beziehen. Aber der Autor hätte mit etwas mehr geprägten Welt hervor, die voll von lokalem
Staats- und herrschaftsfixierten Geschichtseingebautem Widerspruch und größerer empiri- Eigensinn und regionalen Besonderheiten
schreibungen kaum Erwähnung findet. Zum
scher Bodenschwere einen deutlicheren Ak- steckt. Dennoch orientieren die sich weitgeZweiten präsentiert er historische und theorezent gegen jene Tendenz setzen können, die als hend selbst verwaltenden Bauern und Bürger
tische Quellen einer ,kommunitaristischen'
„Zähmung der Idee der Zivilgesellschaft" (Ba- an teils altmodisch klingenden, aber außerorUniversalie (,little Community'), die schon
ker 1999) beklagt wird.
dentlich ,modernen' Normen und Werten: „Zu
Tocqueville nicht nur in Neuengland, sondern
Wir haben uns daran gewöhnt, Zivilgesellschaft ihnen gehören Gemeiner Nutzen, Hausnotauch in der Alten Welt entdeckt hatte. Auch
als eine moderne Erscheinung zu begreifen, die durft, Frieden, Gerechtigkeit sowie möglichst
wenn man bei der Lektüre das Engagement für
erst entsteht, wenn sich Staat, Ökonomie und freie Verfügbarkeit über die eigene Arbeitsdie Sache spürt, vermeidet Blickle weitgehend
eine familiär geprägte Privatsphäre separieren. kraft und den Arbeitsertrag, was im vorgegeberomantisierende Rückblicke und konstatiert
Dass die Begriffsgeschichte nicht nur facetten- nen herrschaftlichen System zu persönlicher
nüchtern den Herrschaftscharakter einer auf
reicher ist (vgl. Kocka et al. 2001), sondern auch Freiheit und Eigentum tendiert" (Blickle 2000
Haus- und Grundbesitzer gegründeten patriarbis heute darüber gestritten wird, welche Akteu- II: 2). Besonders ins Auge springt die Friechal geprägten Gemeinschaft. In Erinnerung
re zur Zivilgesellschaft gehören (Schade 2002: densnorm, d.h. praktisch hatte vor allem die
an Tocquevilles Diktum „Der Einwohner Neu34), mag nicht verwundern. Überraschend ist ländliche Gesellschaft immer wieder selbst für
englands fühlt sich mit seiner Gemeinde verjedoch, dass wesentliche normative und prakti- die Friedenssicherung zu sorgen. „Jeder Bürbunden, weil sie stark und unabhängig ist..."
sche Elemente, die heute mit dem Konzept ger und jeder Bauer war für den Frieden in
wird auch die Schwäche heutiger, lokal meist
Zivilgesellschaft verbunden werden, ihre Blü- seiner Kommune verantwortlich. Und dies in
nur schwach begründeter Zivilgesellschaften
tezeit in ,vormodernen' Zeiten hatten, also be- mindestens zweifacher Weise - er hatte den
deutlich. Wesentliche zivilgesellschaftliche
vor es den modernen Nationalstaat und die Frieden zu gebieten, die streitenden Parteien
Elemente gab es offensichtlich bereits vor der
kapitalistische Ökonomie gab. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
zu versöhnen oder vor Gericht zu bringen, und
Herausbildung von Kapitalismus und moderzwar unter Einsatz seiner ganzen Person, was
ner Staatsgewalt. Dieser historische Kommuunter Umständen j a durchaus lebensbedrohenDer Kommunalismus
nalismus könnte durchaus Anregungen bieten,
de Formen annehmen konnte, und er hatte an
Peter Blickle hat ein beeindruckendes zweiwenn aktuell bei der Suche nach Alternativen
der Urteilsschöpfung im Gericht mitzuwirken,
bändiges Werk vorgelegt, in dem er mit dem
zur neoliberalen Globalisierung über Formen,
denn er konnte, wenn er für ein Richteramt
Epochenbegriff ,Kommunalismus' die vom
Bedingungen und Möglichkeiten eines dezennominiert wurde, ein solches nicht ablehnen"
Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert domi1
151
tralen Föderalismus nachgedacht wird (vgl.
Heller 2002).
Die Hybridisierung
Eine ganz andere empirische Herausforderung
für die Zivilgesellschafts-Debatte bietet eine
Studie von Evers, Rauch und Stitz, die den
Übergang von öffentlichen Einrichtungen zu
sozialen Unternehmen analysiert. An jeweils
einem halben Dutzend Beispielen von Einrichtungen aus den Bereichen Schule, Kultur und
Sport, Altenpflege und Altenhilfe geht das Autorenteam schleichenden Veränderungen nach,
die in der öffentlichen Debatte eher pauschal
mit Begriffen wie Privatisierung und Liberalisierung verhandelt werden. Evers und sein Forschungsteam können an ihren Fällen zeigen,
dass der meist durch Mittelkürzungen ausgelöste Druck auf öffentliche Einrichtungen eher zu
hybriden Einrichtungen fuhrt, die Elemente von
Staat, Markt und Zivilgesellschaft eigenwillig
kombinieren. Solche Hybridisierung muss nicht
notwendig instabile und prekäre Einrichtungen
zur Folge haben. Vielmehr setzen die Autoren
darauf, dass es gelingen könnte, die Vorteile der
verschiedenen Leitprinzipien zu kombinieren.
„Warum z.B. sollte eine Schule nicht mit eigenem Budget als selbständiges Unternehmen
geführt werden, durch verlässliche staatlich festgelegte Standards und Zuwendungen sozialstaatlichen Qualitäts- und Gleichheitsansprüchen genügen und durch die Nutzung der Selbständigkeit zur Etablierung von Kooperationsbezügen mit Elternvereinen, der Jugendarbeit
und der sozialen Wirtschaft zusätzliche Ressourcen und Qualitäten aktivieren können?"
(Evers 2003:16). Ein wenig von solcher Vielfalt
ist bereits in vielen Organisationen anzutreffen.
Wie weit dieser Trend zu hybriden Organisationen allerdings vorangeschritten ist, könnenFallstudien nicht erhellen. Auch wenn sie ihr anspruchsvolles hybrides Ideal, das soziale Unternehmen, kenntlich machen, verweisen die Autoren auf Widerstände und gegenläufige Ent-
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Forschungsjournal NSB, Jp. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Literatur
Wicklungen. Viele Anlagerungen von unternehmerischen und bürgerschaftlichen Elementen
bleiben bloße Ornamente. Veränderungen vollziehen sich pfadabhängig, d.h. dort wo staatliche Autorität eine lange Tradition hat, wie z.B.
im Schulwesen, fallen die Öffnungen eher bescheiden aus. Wo sich der Staat aus der Finanzierung stiehlt, wie z.B. in der kommunalen
Kulturförderung, können sich hybride soziale
Unternehmen nur selten halten. Vielmehr besteht
dieGefahr.dassunterKbmmerzialisierungsdruck
auch ihr kulturelles Spektrum verarmt. Ein besonderes Verdienst der Studie ist es, die demokratiepolitischen Aspekte dieser Veränderungstendenzen zu diskutieren. Selbst wenn die ökonomischen und beschäftigungspolitischen Probleme
gelöst sind und die Öffnung zur Bürgerschaft
gelingt, kann dies zur Klientel- und Klüngelbildung statt zur ,kleinen Demokratie' führen (Evers
et al. 2002:228,256). Sollte der Trend zu hybriden sozialen Organisationen anhalten, steht die
Zivilgesellschaftsdebatte vor einem massiven
Problem: Wie soll sie mit solchen polymorphen
Gebilden analytisch umgehen?
sierungsprozess zu zivilisieren und zu demokratisieren. Neben Beiträgen zur konzeptionellen Debatte über globale Zivilgesellschaft gibt
es eine Rubrik zu aktuellen Themen (u.a. AIDS,
, humanitären Interventionen', corporate responsibility, internationaler Strafgerichtshof) und
zur Infrastruktur (Aufsätze zur Internetverbreitung, zu Parallel- und Gegengipfeln, Spendenunterstützung für NGOs, .global cities' etc.).
Ein informativer Daten teil (zur Weltwirtschaft,
zu transnationalen Konzernen, Handelsströmen,
Energieverbrauch, aber auch zu Internationalen
Organisationen, NGOs oder Menschenrechtsverletzungen) mit einer Chronologie schließt
das Werk ab. Die namentlich gezeichneten Beiträge sind zwar von unterschiedlicher Qualität
und Originalität, aber alle sind von der redaktionellen Linie geprägt, einen möglichst hohen
Informationsgehalt zu sichern (unter anderem
durch Kästen, Statistiken, Schaubilder etc.). Dass
die Herausgeberinnen nach den Anschlägen
vom 11.9.2001 und dem späteren AfghanistanFeldzug dringenden Bedarf sehen, das zuvor
eher hoffnungsfroh gestimmte Konzept einer
globalen Zivilgesellschaft (Zuwachs an zivilgesellschaftlichen Akteuren, gestiegene BedeuZahlen, Daten, Fakten
tung
von Menschenrechten und internationalen
Verdienstvoll ist das 2001 zum ersten Mal erAbkommen
etc.) zu revidieren und auf wachschienene, ansprechend aufgemachte und nun
sende
globale
Unterschiede einzugehen, spricht
in zwei Ausgaben vorliegende Jahrbuch ,Glofür
dieses
Jahrbuch
und begründet seinen enorbal Civil Society', das von einer Gruppe um die
London School of Economics herausgegeben men informativen Gebrauchswert.
wird. Dass sie keinen sicheren Grund, sondern Die Durchsicht der Beiträge und Daten beider
eine konzeptionelle und empirische Entde- Jahrbücher verstärkt den Eindruck, dass wir erst
ckungsreise anzubieten haben, an der sich die am Anfang eines Verständigungsprozesses über
Leserinnen und Leser aktiv beteiligen mögen, die Umrisse dessen stehen, was heute sinnvoll
versichern die Herausgeber gleich zu Beginn als .nationale'bzw. .internationale'Zivilgesell(2001: 3). Unsicherheiten kennzeichnen ein schaft gelten kann. Es wäre zu wünschen, dass
Diskussionsfeld, das deutlich stärker zerklüftet künftig nicht nur Daten zu den verschiedenen
und umstritten ist als auf nationaler Ebene. transnationalen Akteursgruppen angehäuft, sonInspiriert ist das Jahrbuch von den spektakulä- dern Themen, Akteure und politische Prozesse
ren Mobilisierungen der globalisierungskriti- im Kontext strukturierter globaler Regime anaschen Bewegungen der letzten Jahre, sein er- lysiert werden. Auch eine stärkere Berücksichklärtes politisches Ziel ist es, der Zivilgesell- tigung der Schattenseiten von Globalisierungsschaft eine Stimme zu geben, um den Globali- prozessen (organisierte Kriminalität, Geldwä-
153
sehe, Korruption etc.) könnte nützlich sein, um gen anders denken! In: Theorie und Praxis der
mitdemDemokratisierungsanspruch zumindest Sozialen Arbeit, Nr. 1,11-17.
auf dem Niveau der Problemwahrnehmung ernst Heller, Patrick 2002: Den Staat in Bewegung
zu machen. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
bringen: Die Politik der demokratischen Dezentralisierung in Kerala, Südafrika und Porto
Alegre. In: Peripherie, Jg. 22, No. 87,337-377.
Roland Roth, Magdeburg zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDC
Kocka, Jürgen/Nolte, PauURanderia, Shalini/
Reichardt, Sven 2001: Neues über ZivilgesellAnmerkungen
Erinnert sei an Niklas Luhmanns an Jürgen schaft aus historisch-sozialwissenschaftlichem
Habermas gerichtete Polemik gegen die Karriere Blickwinkel, Berlin: WZB (P 01 - 801).
des Begriffs Zivilgesellschaft:„Die heutige Wie- Luhmann, Niklas 2000: Die Politik der Gesellderaufnahme des Begriffs auf Grund historischer schaft. Frankfurt/M: Suhrkamp.
Rekonstruktionen hat so deutlich schwärmeri- Nullmeier, Frank 2002: Vergesst die Bürgergesche Züge, dass man, wenn man fragt, was dadurch sellschaft?! In: Forschungsjournal NSB, Jg. 15,
ausgeschlossen wird, die Antwort erhalten wird: 4,H. 4, 13-19.
Schade, Jeanette 2002: „Zivilgesellschaft" die Wirklichkeit" (Luhmann 2000: 12).
eine vielschichtige Debatte, Duisburg: INEFBesprochene Literatur
Report, Heft 59.
Anheier, Helmut/Glasius, Marlies/Kaldor, Mary
m zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZ
(eds.) 2001: Global Civil Society 2001, Oxford:
Solidarität in Bewegung
Oxford UP.
Anheier, Helmut/Glasius, Marlies/Kaldor, Mary
(eds.) 2002: Global Civil Society 2002, Oxford: Auf den Epochenbruch von 1989 folgte das
Oxford UP.
Gerede vom ,Ende der Geschichte', weltweit
Blickle, Peter 2000: Kommunalismus. Skizzen schien der Durchmarsch des Neoliberalismus
einer gesellschaftlichen Organisationsform. unaufhaltsam. Wer sich gegen Deregulierung,
Band 1: Oberdeutschland; Band 2: Europa, Privatisierung und den Abbau von Sozialleistungen stellte, wurde schnell zum ,Altlinken'
München: Oldenbourg.
Evers, Adalbert/Rauch, Ulrich/Stitz, Uta 2002: abgestempelt, die meisten SolidaritätsbewegunVon öffentlichen Einrichtungen zu sozialen Un- gen verflüchtigten sich. Seit einigen Jahren zeigt
ternehmen. Hybride Organisationsformen im sich aber immer deutlicher, dass die ökonomiBereich sozialer Dienstleistungen, Berlin: edi- sche Globalisierung mehr Verlierer als Gewinner kennt und die Strukturanpassungsprogramtion sigma.
Klein, Ansgar 2001: Der Diskurs der Zivilge- me von IWF und Weltbank oder der von der
sellschaft. Politische Hintergründe und demo- WTO propagierte Freihandel die Armut in den
kratietheoretische Folgerungen, Opladen: Les- Ländern des Südens vergrößert statt sie zu beseitigen. Der Neoliberalismus ist selbst in die
ke + Budrich.
Krise geraten, allerorten regt sich Widerspruch.
Spätestens die Proteste gegen die MilleniumsZitierte Literatur
Baker, Gideon 1999: The Tamingof the Ideaof runde der WTO in Seattle im November 1999
Civil Society. In: Democratization, Vol. 6, No. haben deutlich gemacht, dass sich eine neue
internationale Bewegung formiert. Der rasante
3, 1-29.
Zulauf
zu Attac zeigt, dass sich GlobalisieEvers, Adalbert 2003: Soziale Unternehmen die Zukunft öffentlicher sozialer Dienstleistun- rungskritik im Aufwind befindet.
1
Literatur
154 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Forschungsjournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Die Einführung in die Ideengeschichte des Internationalismus von Josef Ffierlmeier setzt hier
an. Der Autor, selbst seit vielen Jahren in internationalistischen Gruppen aktiv, will die Brüche und Kontinuitäten zwischen vergangenen
internationalistischen Bewegungen und der neuen Protestbewegung aufzeigen. Er unterscheidet - neben einer Vorgeschichte des proletarischen Internationalismus - drei Phasen und
stellt deren wichtigste Ideen in den jeweiligen
zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext. Sein Schwerpunkt liegt deutlich auf
(West-)Deutschland.
Die erste Phase der revolutionären Ungeduld'
entspricht in etwa der Zeit der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition' (APO) in den 1960er Jahren. Sie setzt mit
der Kritik an der mangelnden Beschäftigung
mit dem Nationalsozialismus und den autoritären Tendenzen der westdeutschen Gesellschaft
an und findet ihren internationalistischen Ausdruck in der Solidarisierung mit dem revolutionären Kampf in Vietnam. Im längsten und spannendsten Kapitel seines Buches stellt Hierlmeier die wichtigsten Debatten bis hin zum Bruch
der APO mit der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno dar und zeichnet die Argumentation der Befreiungstheoretiker Frantz Fanon, Lin Biao und Che Guevara nach. Aber er
spart auch nicht mit Kritik an der verkürzten
Faschismusanalyse wichtiger Vertreter der APO,
die in Faschismusvorwürfen an die USA und
Israel gipfelten, und präsentiert Beispiele für
antisemitische Argumentationsmuster sich radikalisierender Gruppen.
Die zweite Phase ab Mitte der 1970er Jahre sieht
den Internationalismus in der Defensive. Auf
die Hoffnungen auf Veränderung folgten die
Militärdiktaturen Lateinamerikas und seit 1982
die Verschuldungskrise. Schwerpunkt der Solidaritätsbewegung war zweifelsohne Nicaragua,
doch auch dort ging es mit Beginn der Aggression der Contras in erster Linie um die Verteidigung der sandinistischen Revolution und weni-
ger um eine Ausweitung der Befreiungskämpfe
auf den ganzen Kontinent, wie sie in den 1960er
Jahren Che Guevara noch erträumte. Doch Hierlmeier beschreibt auch romatische Projektionen
auf das so ganz andere (und scheinbar bessere)
Leben in der .Dritten Welt', die aus dem Aufstieg
der Alternativbewegung und ihrer Theoriefeindlichkeit seit Ende der 1970er Jahre resultierten während zeitgleich der Neoliberalismus zu seinem Siegeszug ansetzte. Diese mündeten in eine
Entpolitisierung, die der Autor vor allem in den
ersten Jahren der dritten Phase sieht, die mit dem
Zusammenbruch der sozialistischen Länder 1989
und der Abwahl der Sandinisten 1990 einsetzt.
Vehement kritisiert der Autor die Kooperation
von NGOs mit Regierungen und internationalen
Organisationen und ihre Fixierung auf Lobby arbeit für die Zeit seit dem Umweltgipfel in Rio
1992. Ebenso kritisiert er Attac und andere dafür,
dass sie sich auf den Staat als Adressaten ihrer
Proteste und damit als Akteur der Veränderung
konzentrieren.
ANNOTATIONEN
MEYER, THOMAS/WEIL, REINHARD (HG.)
Die Bürgergesellschaft
Perspektiven für Bürgerbeteiligung und
Bürgerkommunikation
Bonn: J.H.W. Dietz 2002
155
Zivilgesellschaft an. Die Kapitel diskutieren
zunächst die theoretischen Grundlagen, danach
die Wechselbeziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft sowie handlungsorientierte Projekte aus dem politischen Bereich. Daran schließen sich Erörterungen der transnationalen Handlungsmöglichkeiten an. Die neuen Aufgaben bürgerschaftlichen Engagements in Städten sowie
die Anforderungen an eine modernisierte politische Bildung, die sich den Herausforderungen
der Zivilgesellschaft stellt, beschließen denBand.
nb
Der Sammelband ist ein Wegweiser durch den
Dschungel der Zivilgesellschaftsdebatte. Die
Basistexte zur Bürger- bzw. Zivilgesellschaft
m
wollen einen Beitrag zur Aktivierung des demokratischen Bürgerengagements und zur För- BUCHSTEIN, HUBERTUS/NEYMANNS, HARALD (HG.)
derung der politischen Bildungsarbeit leisten,
mit dem Ziel, diese verstärkt an den Kompe- Online-Wahlen
tenzbedürfnissen für effektives Bürgerhandeln Opladen: Leske+Budrich 2002
auszurichten. So zeigen die Analysen, Praxisberichte und Handlungsempfehlungen Chan- Der Gang zum Wahlbüro könnte in Deutschland
cen des politischen Handelns in der Bürgerge- schon bald der Vergangenheit angehören. An
sellschaft auf. Die Aufsatzsammlung bündelt seiner statt trete dann der Mausklick von zu
Entwicklungstendenzen
sowie Probleme und Hause aus, um Volkes Stimme geltend zu maDas Schlusskapitel ist spannend, doch manchmal
Herausforderungen
der
Zivilgesellschaft.
Die chen: Click'n'Vbte - Vision oder nahe Zukunft,
müsste Hierlmeier genauer differenzieren: So
HerausgeberThomas Meyer und Reinhard Weil, Schaden oder Belebung für die Demokratie?
verkennt er, dass sich NGOs in ihrer Ausrichzuständig für die Politische Bildungsarbeit der Der Sammelband Online-Wahlen versucht eine
tung und Arbeit teils enorm unterscheiden. Auch
Friedrich-Ebert-Stiftung,
in deren Auftrag der Antwort zu geben. Bereits 2004 will das europäattestiert er Attac etwas zu vereinfachend ein
Band entstanden ist, konnten die Wissenschaft- ische Parlament die Möglichkeit des Online.unkritisches Staatsverständnis', weil es pragler Helmut Anheier, Adalbert Evers, Peter Hen- Wählens anbieten und 2010 könnte auch die
matische Reformansprüche formuliert.
ning
Feindt, Heiko Geiling, Hubert Heinelt, Wahl zum Deutschen Bundestag elektronisch
Schließlich vermag er nicht schlüssig zu beAnsgar Klein, Sabine Krüger, Claus Offe, Eck- erfolgen. Zu bedenken ist dabei aber, dass „die
gründen, weshalb die globalisierungskritische
hardt Priller, Ulrich Rauch, Adrian Reinert, Einführung von Online-Wahlen weit mehr BeBewegung nicht auf eine Doppelstrategie des
Roland Roth, Birgit Sauer, Uta Stitz, Norbert deutung als nur eine eher unbedeutende techniAufbaus von Gegenmacht ,von unten' und der
Wohlfahrt, Annette Zimmer sowie die Politiker sche Veränderung in der Art und Weise haben
Orientierung auf die Reform nationalstaatlicher
Gerhard Schröder, Wolfgang Thierse, Michael kann, wie Bürger ihr Votum abgeben." Die
und internationaler Politik setzen sollte. Trotz
Bürsch und Karin Kortmann als Autoren ge- lange Geschichte der politischen Wahlen habe
dieser Mängel bleibt das Buch eine sehr empwinnen. Der Band umfasst die Bereiche Ge- gezeigt, dass Reformen in der Technik des Abfehlenswerte und zudem gut lesbare Lektüre. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
schichte, Begriffe und Diskurs der Zivilgesell- haltens von Wahlen und Abstimmungen oft
Michael Krämer, Berlin zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
schaft; Dritter Sektor und Zivilgesellschaft; Zu- auch zu Veränderungen im Wahlverhalten gesammenarbeit von Staat und Zivilgesellschaft; führt haben, so die Herausgeber. Das Buch
Besprochene Literatur
Geschlechterverhältnis, kultureller Pluralismus vermittelt einen Überblick über den bisherigen
Hierlmeier, Jose/2002: Internationalismus. Eine
sowie transnationale Demokratie und Zivilge- Stand der politischen, technischen und rechtliEinführung in die Ideengeschichte des Internasellschaft. Er bietet Praxisbeispiele, politische chen Entwicklungen sowie kontroversen Distionalismus von Vietnam bis Genua. Stuttgart:
Konzepte sowie Strategien zur Förderung der kussionen zum Thema. Dabei werden u.a. die
Schmetterling Verlag.
156 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Forschunpsiournal NSB, Jp. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Literatur
politischen und demokratietheoretischen Fra- Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten
gen zu Online-Wahlen diskutiert, die Kompati- Abschnitt steht der Protestwähler und dessen
bilität von Wahlgeheimnis und e-voting analy- Motivation im Mittelpunkt. Diese untersucht
siert, erste Erfahrungen mit Online-Wahlen aus- Holtmann anhand einer Wahlanalyse der DVU
gewertet sowie die Vor- und Nachteile von On- zu den individuellen Beweggründen der Proline-Wahlen dargestellt und die Unterschiede testwähler und den gesellschaftlichen Hinterzwischen Online-Wahlen zu Parlamenten und gründen der Wahlentscheidung. Im zweiten und
in Vereinen oder Parteien untersucht. Der Sam- längeren Buchteil analysiert der Autor die Parmelbandes will die Diskussion über Online- lamentsarbeit der rechtsextremen Partei anhand
Wahlen aus dem Schatten der Fachöffentlich- von Sitzungsprotokollen, Medienberichten sokeit herauslösen und einem breiten Publikum wie Expertengesprächen. Als Anti-Parteien-Parund Multiplikatoren zugänglich machen,
tei gestartet, verlor die DVU alsbald ihre Kontunb zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
ren und rieb sich auf zwischen den Optionen
von Protestpartei und konstruktiver Parlamentsm zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
opposition. Dies sei ein grundsätzliches Dilemma von Protestparteien, so Holtmann. Sein FaHOLTMANN, EVERHARD
zit: Protestparteien unterliegen ,der Logik der
Die angepassten Provokateure Selbstzerstörung'. Weder als Sprachrohr reinen
Protests noch mit angepasster konventioneller
Aufstieg und Niedergang der rechtsextreParlamentsarbeit
könnten sich Protestparteien
men D V U als Protestpartei im polarisierauf
Dauer
behaupten.
Dennoch gehören sie zum
ten Parteiensystem Sachsen-Anhalts
bundesdeutschen Parteiensystem. Jüngstes BeiOpladen: Leske+Budrich 2002
spiel ist die Schill-Partei in Hamburg,
nb
In der Fallstudie Uber die DVU in Sachsenea
Anhalt werden exemplarisch die Handlungsmuster einer Protestpartei im parlamentarischen Re- BUTTERWEGGE, CHRISTOPH
gierungssystem untersucht. Holtmanns Analyse
liegt die These zugrunde, dass Protestparteien Themen der Rechten mit ihrem Erfolg bereits den ,Keim des Nieder- Themen der Mitte
gangs' in sich tragen. Denn der bloße Protestgestus tauge nichts für dauerhaften Zuspruch, da Zuwanderung, demografischer Wandel
Wähler politische Taten sehen wollen. Dazu aber und Nationalbewusstsein
müsse auch eine Protestpartei sich auf parlamen- Opladen: Leske+Budrich 2002
tarische Sacharbeit und Kooperation einlassen.
Sie wird somit zum „angepassten Provokateur, War das Plädoyer für eine .deutsche Leitkultur'
dernicht mehr kenntlich ist als Stachel imFleisch vom Ex-CDU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich
der Altparteien" (10). Bei den Landtagswahlen Merz eine Steilvorlage für die extreme Rechte?
1998 hatte die rechtsextreme DVU aus dem Oder hat dieser viel eher rechtsextreme Hetze
Stand 13 Prozent der gültigen Wählerstimmen gegen eine multikulturelle Gesellschaft in mogeholt und zog mit 16 Abgeordneten in das derat verklausulierter Form aufgegriffen? Das
Landesparlament ein. Nach dreieinhalbjähriger neunköpfige Autorenteam um Christoph
Parlamentsarbeit trat die DVU nicht wieder an - Butterwegge untersucht anhand den Diskussiodie Begründung des Landesvorsitzenden: perso- nen in Wissenschaft und Medien zu Zuwandenelle sowie finanzielle Auszehrung.
rung, Kultur, Nation und Volk, inwiefern die
157
bürgerliche Mitte sich den klassischen Themen
von rechts außen öffnet. Umgekehrt wird vor
diesem Hintergrund auch der Frage nachgegangen, inwiefern Rechtsextreme einen Konsens
mit Verlautbarungen oder Kampagnen aus der
etablierten Politik suchen. These des Sammelbandes: Es gibt immer mehr Überlappungen
bzw. ideologische Schnittmengen zwischen den
Themen der Rechten und denen der Mitte. Anhand folgender Debatten dokumentiert das vorliegende Buch dies: demographischer Wandel Stichwort ,Vergreisung oder Schrumpfung der
deutschen Bevölkerung' - Anwerbung ausländischer Arbeiter - Stichwort ,Green Card' -,
Reform des Staatsbürgerschaftsrechts - Stichwort .Doppelpass' - sowie der NationalstolzDebatte. Weitere Themen sind die Zuwanderung im Spiegel von Arbeitgeber- und Gewerkschaftspresse, der neue deutsche Opferdiskurs
und die Rolle der Vertriebenenverbände. Der
Sammelband ist aus einem von Butterwegge
geleiteten Projektkurs zum Thema entstanden,
nb
Mehr Wahrheitssuche? (...) Mehr Demokratie?
(...) Bessere Information? (...) Mehr Qualität?
(...)." Prokop will „die historischen Interessenkonstellationen erforschen, die dafür verantwortlich sind, das es nicht mehr davon gibt (7)."
Kritisch nennt Prokop sein Mediengeschichtsbuch, weil er die historischen Medienstrukturen
sowie deren Existenz und Dauerhaftigkeit aus
wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Interessenlagen erklären möchte. Ihn interessieren die Vorteile, die der Gesellschaft oder
Teilen der Gesellschaft aus den entsprechenden
Medienstrukturen erwachsen. Die Monographie
beginnt mit der Antike, wo zwar noch nicht die
Schrift, aber bereits öffentliche Bilder eine dominierende Rolle spielten. Anhand des Theaters bei
den Griechen als erstem Massenmedium beschreibt Prokop die Entstehung der Kulturindustrie und den daraus resultierenden Medienkapitalismus im Mittelalter und dessen Entwicklung
bis heute, dem Zeitalter von Multimedia, digitalem Femsehen, Internet, der RTL-Group, etc.
nb
ea
ffi
PROKOP, DIETER
KRONAUER, MARTIN
Der Kampf um die Medien
Exklusion
Das Geschichtsbuch der neuen kritischen
Medienforschung
Die Gefährdung des Sozialen im hoch
entwickelten Kapitalismus
Hamburg: VSA2001
Frankfurt a.M.: Campus 2002
Im Mittelpunkt von Prokops Geschichtsbuch steht
das Interesse der Herrschenden an den Medien.
Die Geschichte des Kampfes um die Medien ist
einerseits die Geschichte vom Kampf um die
Vorherrschaft der öffentlichen Wahrnehmung denn die Inszenierung von Macht braucht die
Medien. Auf der anderen Seite ist sie aber auch
eine Geschichte des Kampfes um Meinungsfreiheit und Emanzipation. Als Rechtfertigung für
sein Geschichtsbuch schreibt Prokop: „Zurück
zu gehen in die Geschichte hat den Sinn, zu
überlegen, was anders hätte verlaufen können.
Was ist Exklusion und was hat diese mit Demokratie zu tun? Der Begriff, am ehesten mit
sozialer Ausgrenzung zu übersetzen, steht im
Mittelpunkt von Kronauers Untersuchung. Ziel
des Buches ist, „den Ausgrenzungsbegriff (...)
zu schärfen, um ihn für weitere Analysen der
Gegenwartsgesellschaften nutzen zu können"
(7). Angesichts prekärer Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und Armut in Europa und den USA
führe soziale Exklusion zur Herausbildung einer neuen städtischen Unterklasse (Underclass),
die ausgeschlossen ist insbesondere von sozia-
Literatur
158 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Forschunpsiournal NSB, Jp. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
len Rechten und informellen Netzwerken der Rechtsextremismus hat sich neu formiert, so die
,Mehrheitsgesellschaft'. Kronauer zieht histo- Hauptthese des Autors. Alte und starre Organisarisch begründet und theoretisch fundiert den tionsformen würden abgelöst von flexiblen AktiBogen vom gesellschaftlichen Umbruch der onsbündnissen, informell geplanten Projekten
hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaf- und regionalen Neonazi-Kameradschaften. Der
ten im 21. Jahrhundert hin zum Ausgrenzungs- Struktur nach sei der deutsche Rechtsextremisproblem sowie dessen Bedeutung für die Zu- mus mit den neuen sozialen Bewegungen gleichkunft der Demokratie, ihrem universalen Gel- zusetzen, so Pfeiffer. „Vernetzung mit allen tungsanspruch und ihren sozialen Grundlagen. technischen - Mitteln statt formaler Hierarchien
Der Habilschrift liegt die These zu Grunde, das ist die Maxime. Die Ziele lauten: Gegenöffentes sich um „AusgrenzungzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
in der Gesellschaft, lichkeit und kulturelle Hegemonie" (15). Pfeiffer
als Gleichzeitigkeit des Drinnen und Draußen" analysiert anhand von neun Fallstudien die Me(Georg Simmel) handele (26). Exklusion und dienlandschaft von rechts außen. Dabei reicht
Underclass führe zu neuen gesellschaftlichen deren Palette vom Flugblatt bis zur Homepage.
Spaltungen. Kronauer unterteilt seine Analyse Nach einer genauen Positionsbestimmung und
in vier Abschnitte: Im ersten setzt er sich mit den begrifflichen Differenzierung von RechtsextreBegriffen des gesellschaftlichen Umbruchs - mismus und der Darstellung der bestehenden
Exklusion, Unterklasse -, und mit deren Ur- Rechtslage bzgl. Äußerungs- und Verbreitungssprüngen und Entwicklungen in Frankreich und delikten u.a in Computernetzen beschreibt und
den USA, auseinander. Im zweiten Teil unter- vergleicht Pfeiffer das rechte Medien-Netzwerk
sucht er nach einem historischen Rückblick das anhand der Kriterien Leserschaft, Anbieter, Ver,Neue' der Ausgrenzung durch Arbeitslosigkeit leger, Autoren, Nutzer, Vernetzungsleistung, Verund Armut am Übergang ins 21. Jahrhundert. Der breitung, Aufbau, Symbolische Integration und
dritte Teil beschäftigt sich mit den theoretischen Professionalität. Er untersucht: den Sammelband
Kontroversen um den Ausgrenzungsgedanken, .Deutschlands Rechte'; die rechtsintellektuelle
u.a. mit den Problemen des dichotomischen Ex- Wöchenzeitung Junge Freiheit'; die Zeitschrift
klusionsbegriffs und den Aporien des Exklusi- ,Nation&Europa', das älteste Organ des Rechtsonsbegriffs in der Systemtheorie. Der vierte Teil extremismus in Europa; die Gothic-Band, Weissschließlich analysiertdieAusgrenzungserfahrun- glut'; ,Nationale Infotelefone', die eine wichtige
gen und gesellschaftliche Zugehörigkeit an Hand Rolle bei der Kommunikation der neonazistivon empirischen Ergebnissen,
schen Szene spielen; ,Rocknord', das auflagennb
stärkste deutsche Magazin für Skinhead-Musik;
sowie die ,Zündelsite', die Vorbildcharakter für
£Q zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
rechtsextreme Aktivisten hat.
nb
PFEIFFER, THOMAS
Für Volk und Vaterland
Das Mediennetz der Rechten Presse, Musik, Internet
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Forschunpsiournal NSB, Jp. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Abstracts
Andreas Büro:zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Friedensbewegung in Protest, FJ NSB 2/2003, S. 7-9
In seiner Analyse, die kurz vor Beginn des Irak-Krieges geschrieben und nunmehr - nur wenige
Monate später - nach dessen scheinbarer Beendigung durch die Niederlage der irakischen Armee
erscheint, widmet sich Andreas Büro den Anti-Kriegsprotesten der international wiedererstarkten
Friedensbewegung. Der Autor kennzeichnet unterschiedliche .Aggregatzustände' der Friedensbewegung, die auch in Zeiten geringerer Mobilisierung durch das Engagement .sensibel und
dauerhaft betroffener' Aktivisten Kontinuität erfährt. Angesichts des im Februar 2003 drohenden
Irak-Krieges gelang es der Friedensbewegung, international breite Bevölkerungsschichten zu
mobilisieren. Büro geht vor diesem Hintergrund auf die Motivlage der Demonstrationsteilnehmer
ein. Er kommt zu dem Schluss, dass die Überführung dieses Mobilisierungserfolges in ein
kontinuierliches Engagement von der Dauer des Konfliktes und der dabei vollzogenen Lernprozesse in lokalen .Werkstätten des Friedens' abhängt.
Andreas Büro: Peace Movement in Protest, FJ NSB 2/2003, pp. 7-9
The analysis of the international peace movement was written before the war against iraq. Also in
times of little mobilization the peace movement was kept alive by sensitive and concerned activists.
In February 2003 when the war became likely it was possible to mobilize large parts of the
population. Discussing the motivation of protesters Büro concludes that continuing engagement is
dependent on the duration of the conflict and learning by local peace camps.
Dieter Rucht: Die Friedensdemonstranten - Wer sind sie, wofür stehen sie?
FJNSB 2/2003, S.10-13
Anlässlich der weltweiten Mobilisierung von Kriegsgegnern im Februar 2003 wurden in sieben
europäischen Ländern und in den USA Befragungen von Friedensdemonstranten durchgeführt.
Dieter Rucht präsentiert die Ergebnisse einer Fragebogenstudie, die am Rande der Friedensdemonstration in Berlin - mit 500.000 Teilnehmern das größte Anti-Kriegs-Protestereignis Deutschlands - stattfand. Die hochaktuellen Ergebnisse zeigen unter Anderem, dass die Mehrheit der
Demonstranten aus jüngeren Bevölkerungsschichten mit vergleichsweise hoher Schulbildung
entstammt, politisch engagiert ist, sich überwiegend dem linken politischen Spektrum zuordnen
lässt und deutlich mehr Vertrauen in soziale Bewegungen und globalisierungskritische Organisationen setzt als in institutionalisierte politische Akteure.
Dieter Rucht: Peace Protesters - Who are They, What do they Want? FJ NSB 2/2003, pp. 10-13
Düring the world wide protests to stop the war against Iraq, in seven countries surveys among
activists were conducted. Dieter Rucht presents results from a questionnaire based study among
protesters of the largest German peace rally in Berlin. The majority of the protesters is highly
educated and young, politically active and oriented towards the left. They trust social movements
and globalization critical organizations much more than established political actors.
163
Joachim Raschke: Bewegung, Reform, Protest - Blockaden und Veränderungen,
FJNSB 2/2003, S. 14-23
In einem Festvorträg zum 15-jährigen Bestehen der Redaktion Forschungsjournal Neue Soziale
Bewegungen untersucht Joachim Raschke Blockaden und Veränderungen linker Reformbewegungen und Proteste in der Bundesrepublik Deutschland. Entlang politischer Entwicklungen der
letzten Jahrzehnte zeigt er auf, dass die Studentenbewegung der 1960er Jahre und die daran
anschließenden Neuen Sozialen Bewegungen (NSB) die Basis für die Wahlerfolge des rot-grünen
Parteienbündnisses Ende der 1990er Jahre und im Herbst 2002bildeten. Die sozialen Bewegungen
sind Ausgangspunkte für eine ökologisch-kulturelle sowie eine an sozialer Gerechtigkeit orientierte gesellschaftliche Mehrheit, welche den rot-grünen Wahlerfolg gegen eine ökonomische gesellschaftliche Mehrheit durchsetzen konnte. Anhand dieser aktuell vorliegenden Wählerschaften und
Mehrheiten analysiert Raschke die Wirkungen der NSB. Als Motor dieser langfristigen Wirkungen
politischen Engagements beschreibt der Autor die Dialektik von Konflikt und Transformation.
Sowohl an der SPD seit Willy Brandt als auch an der Geschichte der Bewegungspartei Die Grünen
weist Raschke politische Transformationsleistungen von Impulsen sozialer Bewegungen als
wesentlichen Faktor späterer Wahlerfolge nach.
Joachim Raschke: Movement, Reform, Protest - Blockades and Changes,
FJNSB 2/2003, pp. 14-23
Düring the ceremony for the 15th anniversary of the Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen
Joachim Raschke analyzes effects of the new social movements. The national electoral success of
the red-green government 1998 and 2002 can be ascribed to the movements, which have been the
basis for a majority oriented towards ecological goals and social justice. This part of the population
was able to outnumber the economically oriented fraction. The movements have been the driving
force for changes in the social democratic and the green party which were crucial for later electoral
success.
Ansgar Klein: Diskurspolitischer Interventionismus - Zum Selbstverständnis und Anspruch des
Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen, FJ NSB 2/2003, S. 24-28
Zum 15-jährigen Jubiläum des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen widmet sich der
Herausgeber Ansgar Klein dem Selbstverständnis und dem Anspruch der Journalredaktion.
Anhand von 5 Thesen zeigt er auf, wie sich die publizistische Arbeit des Forschungsjournals durch
einen diskurspolitischen Interventionismus auszeichnet.
Ansgar Klein: Discourse-Political Intervention - On the Goals of the Forschungsjournal Neue
Soziale Bewegungen, FJ NSB 3/2003, pp. 24-28
On the occasion of the 15th anniversary of the Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen the
editor Ansgar Klein discusses the goals and selfdescription of the journal. At the core is the idea
of political Intervention in the tradition of deliberative discourse politics.
164 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
Abstracts
Forschungsjournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
Jürgen Kocka:zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Zivilgesellschaft in historischer Perspektive, FJ NSB 2/2003, pp. 29-37
Aus einer historischen Perspektive analysiert Jürgen Kocka den Zivilgesellschafts-Diskurs.
Aufbauend auf seiner Untersuchung der Begriffsgeschichte schlägt er eine Definition von
Zivilgesellschaft vor, welche drei Dimensionen berücksichtigt: einen spezifischen Typus sozialen
Handelns, die Verortung zwischen den Sektoren Wirtschaft, Staat und Privatsphäre und die
utopischen Züge des Begriffsverständnisses. Kocka analysiert das Verhältnis von Marktwirtschaft/Kapitalismus und Staat zu zivilgesellschaftlichen Strukturen. Sowohl marktwirtschaftliche
Entwicklungen als auch Formen demokratischer Rechtsstaatlichkeit sind mit Zivilgesellschaft
verbunden. Sie können sich wechselsaeitig jeweils fördern als auch behindern. In seiner historischen Analyse zivilgesellschaftlicher Akteure kann der Autor für Deutschland einefrüheAffinität
zwischen der Kultur des Bürgertums und dem Zivilgesellschafts-Projekt nachweisen. Anfang des
20. Jahrhunderts schwächt sich diese Allianz jedoch zugunsten eines stärkeren zivilgesellschaftlichen Engagements qualifizierter und sozialdemokratisch geprägter Arbeiterschaft. Eine Analyse
von Zivilgesellschaftsfähigkeit und Mechanismen zivilgesellschaftlichen Engagements zeigt,
dass soziale Ungleichheit erschwerend wirkt und Vertrauen eine zentrale Ressource darstellt.
Ebenso ergibt Kockas Untersuchung von Zivilgesellschaft und Nationalstaat, dass zwar transnationale Ansätze von Zivilgesellschaft erkennbar, wir jedoch noch weit von einer ,globalen
Zivilgesellschaft' entfernt sind.
Jürgen Kocka: Civil Society in Historical Perspective, FJ NSB 2/2003, pp. 29-37
The author analyzes the historical discourse on civil society and suggests a definition which
combines three aspects: civil society denotes (1) a specific type of social action which is (2) located
between the sectors economy, State, and privacy. Furthermore (3) it is an utopian concept. Jürgen
Kocka discusses the relation between capitalism respectively State on the one hand and civil society
on the other hand. Market development as well as democracy are related to civil society in a sense
that they support or hinder each other. In Germany a long tradition of sympathy for the civil society
project can be found among the bougeoisie. At the beginning of the 20th Century working class
become more active in the civil society. Social inequality hinders the project of civil society and
trust is a prerequisite. Transnational developments are only vague by now.
Paul Nolte: Zivilgesellschaft und soziale Ungleichheit, FJ NSB 2/2003, S. 38-45
Die Auswirkungen sozialer Ungleichheit auf Zivilgesellschaft untersucht Paul Nolte. Er widerspricht der Auffassung, Zivilgesellschaften seien durch weitgehende Rechtsgleichheit und ausgeglichene ökonomische Privilegien gekennzeichnet. In seinem Beitrag beschreibt Nolte stattdessen
das komplexe Verhältnis von Zivilgesellschaft und sozialer Ungleichheit. Er zeigt, dass soziale
Ungleichheit sowohl positive, bedingende Wirkung für Zivilgesellschaft hat als auch ein nicht zu
unterschätzendes Risikopotential beinhaltet. Dieses ambivalente Verhältnis zwischen Affinität
und Spannung zeigt der Autor am Beispiel moderner westlicher Gesellschaften auf, in denen
,Gemeinsinn' und Sozialkapital ebenso wachsen wie soziale Ungleichheitsstrukturen. In seiner
Interpretation sozialempirisch dominierter Studien zu sozialer Ungleichheit und sozialtheoretischer Forschung zu Zivilgesellschaft weist der Autor darauf hin, dass die Zivilgesellschaftsfähigkeit sozialer Akteure ganz wesentlich an ihre Position im Ungleichheitssystem gekoppelt ist.
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Paul Nolte: Civil Society and Social Inequality, FJ NSB 2/2003, pp. 38-45
Civil societies are not characterized by juridical and economical equality. Social inequality has
some positive effects on civil society but also puts the project at risk. This ambivilant relation can
be found in modern societies where a spirit of Community developed hand in hand with increasing
inequality. The potentiality of actors to become a part of civil society is related to their social
Position.
Detlef Pollack: Zivilgesellschaft und Staat in der Demokratie, FJ NSB, 2/2003, S. 46-58
In seiner Analyse von Zivilgesellschaft und Staat in der Demokratie versucht Detlef Pollack einen
nicht-normativen Zugang zum Thema zu präsentieren. In seiner Analyse des in den meisten
Zivilgesellschaftskonzepten als problematisch angelegten Verhältnisses von Staat und Zivilgesellschaft kommt der Autor zu dem Schluss, dass die Vertreter normativ geprägter Zivilgesellschaftskonzeptionen ihren staatskritisches Ansatz nicht aufgeben, obwohl - wie er konstatiert - ihre
Entwürfe den normativen Impetus und den systemtheoretischen Biss bereits weitgehend verloren
haben. Pollack plädiert vor diesem Hintergrund für ein nicht-normatives Konzept von Zivilgesellschaft, das prinizipiell pluralistisch angelegt ist und in dem die Differenz und die Auseinandersetzung prägender sind als Harmonie oder Konsens. Um die ,dunklen Seiten' der Zivilgesellschaft
zu berücksichtigen, kennzeichnet er gleichwohl Toleranz und ein inklusives Demokratieverständnis als Bestimmungsmerkmale von Zivilgesellschaft. Er untersucht die (weitgehend positiven)
Auswirkungen der Zivilgesellschaft auf die input- und output-Funktionen des politischen Systems
und unterscheidet im Weiteren zwischen einer politischen und vorpolitischen Dimension der
Zivilgesellschaft.
Detlef Pollack: Civil Society and State in Democracy, FJ NSB, 2/2003, pp. 46-58
Detlef Pollack presents an approach to civil society which avoids normative connotations. Most
normative concepts include implicitly a critical assessment of the State, though the criticism has
declined in sharpness. According to the author civil society should by a plural concept which
highlights difference and conflict over consent and harmony. To include the 'dark side' of civil
society he wants to consider also tollerance and democracy as constitutive. Civil society is by and
large supportive for the input- and output-function of the political System.
Roland Roth: Die dunklen Seiten der Zivilgesellschaft, FJ NSB, 2/2003, S. 59-73
Die Schattenseiten von realen Zivilgesellschaften im Hinblick auf demokratische Prozesse
untersucht Roland Roth. Er geht davon aus, dass demokratieförderliche Wirkungen der Zivilgesellschaft erst dann angemessen erfasst werden können, wenn auch die gegenläufigen antidemokratischen und unzivilen Tendenzen innerhalb ,realer Zivilgesellschaften' ernsthaft berücksichtigt werden. Roth zeigt auf, dass die Existenz von Gruppierungen einer ,bad civil society'
analytisch nur unzureichend berücksichtigt werden. Je korporatistischer die Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen ausfällt, desto weniger dürften sie den Idealen autonomer, selbst-
Forschungsjournal NSB, Jp. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Abstracts
166 zywvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRPONMLKJIHFEDCBA
167
Helmut Anheier/Nuno Themundo/Matthias Freise: Transnationale Zivilgesellschaft und
organisierter und freiwilliger Assoziation entsprechen und demokratische Lernorte anbieten. Als
Organisationsentwicklung, FJ NSB 2/2003, S. 87-96
Gefahren an den Grenzen von Zivilgesellschaft zu den Sektoren Markt und Staat diskutiertzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
der
Helmut Anheier, Nuno Themundo und Matthias Freise widmen sich in ihrem Beitrag OrganisatiAutor die Problematik zunehmender Korruption und von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
onen, die sie der ,transnationalen' Zivilgesellschaft zuordnen. Die Autoren untersuchen hierbei
Seine Analyse macht deutlich, dass die Demokratisierung liberaler Demokratien neue institutioinsbesondere die Infrastruktur und die Organisationsentwicklung in internationalen Nichtregienelle Formen benötigt und sich nicht in der Anrufung der Zivilgesellschaft erschöpfen darf.
rungsorganisationen (INGOs) und Netzwerken. Die organisatorische Dynamik der transnationalen Zivilgesellschaft sehen sie dabei geprägt durch eine Vielzahl von Faktoren in einer hochdynaRoland Roth: The Dark Side of Civil Society, FJ NSB, 2/2003, pp. 59-73
mischen und komplexen Umwelt. Die Notwendigkeit, umweltangemessene OrganisationsstrukThe assessment of civil societies in respect to democracy needs a look at the supportive but also
turen zu entwickeln, führt zu teilweise widersprüchlichen und gegenläufigen Trends: INGOs
the obstructive aspects. Groups of a 'bad civil socitey' are only seldom included in the research
werden sich gleichzeitig ähnlicher und unähnlicher, sie werden in sehr unterschiedlichem Maße
agenda. Also, the more corporatist the established structure the less civil society actors comply with
von der Globalisierung geprägt und entwickeln innovative und hybride Organisationsformen. Die
the expectations of autonomous, voluntary organizations. At the borders of civil society on the one
Autoren zeigen in ihrer Studie, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Erscheinungsformen und die
hand and market respectively State on the other hand racism and corruption are serious problems.
Ungleichzeitigkeit organisationaler Entwicklungen die Infrastruktur der transnationalen ZivilgeThe democratization of liberal democracies needs new institutional structures. A call for civil
sellschaft prägen.
society is insufficient.
Annette Zimmer: Rahmenbedingungen der Zivilgesellschaft, FJ NSB 2/2003, S. 74-86
Annette Zimmer plädiert in ihrem Beitrag für ein Zurückholen des Staates in die Zivilgesellschaftsdebatte. Sie skizziert ein Verständnis von Zivilgesellschaft als normativem, zukunftsgerichtetem
Gegenentwurf zu herrschenden Verhältnissen, die insbesondere durch einen starken Legitimitätsverlust des Staates gekennzeichnet sind. Die Akteure dieser Zivilgesellschaft werden mithilfe der
Verbindung demokratietheoretisch-normativen Konzeptes von Zivilgesellschaft und des empirisch-organisationssoziologischen Ansatzes des .Dritten Sektors' analysiert. Diese Akteure und
ihre zivilgesellschaftlichen Aktivitäten lassen sich - so Zimmer - nicht angemessen untersuchen,
wenn man die institutionellen Rahmenbedingungen nicht berücksichtigt. Die Autorin präsentiert
eine Typologie zivilgesellschaftlicher Organisationen und beschreibt deren Strukturmerkmale und
Handlungslogik sowie ihr Verhältnis zu staatlichen Aufgaben, Institutionen und Strukturen.
Insbesondere weist sie auf die Rolle der zivilgesellschaftlichen Akteure als Garanten wohlfahrtsstaatlicher Effizienz, als Beschaffer demokratischer Authentizität sowie als Instanzen sozialer
Integration hin. Sie kommt zu dem Schluss, dass eine realistische Zivilgesellschaftsdebatte die
staatlichen Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln stärker berücksichtigen muss.
Annette Zimmer: Structural Conditions for Civil Society, FJ NSB 2/2003, pp. 74-86
The debate on civil society has paid too little attention to the State. Civil Society should be a
normative utopian alternative to the current Situation in which legitimacy of the State is eroding.
This concept should be based on theory of democracy and on the organisational sociology of the
third sector. Research has to take structural conditions into account. Therefore Annette Zimmer
presents a typology of civil society organizations which classifies them according to structural
aspects, their relation to the State. The most important tasks of civil society actors are guarantor of
welfare efficiency, democratic authenticity, and social integration.
Helmut Anheier/Nuno Themundo/Matthias Freise: Transnational Civil Society and Organizational Development, FJ NSB 2/2003, pp. 87-96
The article presents information on infrastructure and organizational development of international
non governmental organizations (INGOs) and networks. The organizational dynamic is driven by
multiple factors in a highly dynamic and complex environment. This results in contradictory
organizational changes. The scene is marked by various organizational types.
Ludwig Pott: Die Enquete-Kommission als soziales System, FJ NSB 2/2003, S. 97-106
Die Frage, was die Enquetekommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" mit der
Zivilgesellschaft zu tun hat, untersucht Ludwig Pott in seinem Beitrag. In seiner Analyse des
Systems Enquete-Kommission stellt er fest, dass es wie in anderen sozialen Systemen hier neben
den Inhalten ebenso um Statusunterschiede, um die Verteilung von Rollen, um Macht und
Ohnmacht, um Attraktivität und Autorität, um Führung und Gefolgschaft, um Mechanismen der
Entscheidungsfindung, um vorgegebene und sich herausbildende Normen sowie um entsprechende Sanktionen geht. Er erläutert Thema, Funktion und Arbeits weise der Kommission und analysiert
interne Rituale, Beziehungsmuster, mikropolitische Machtverhältnisse sowie Normen und Tabus
der Arbeit. Pott kommt zu dem Ergebnis, dass Konzepte der Bürgergesellschaft nicht auf dem
Reissbrett von Parlamentariern und Sachverständigen erfunden werden können. Er zeigt auf, wie
das Ergebnis der Enquete-Kommission durch soziale Mechanismen beeinflusst und beschränkt ist.
Ludwig Pott: The Enquete-Commission as Social System, FJ NSB 2/2003, pp. 97-106
Ludwig Pott revues the work of the enquete commission "Future of civil volunteering" which was
established by the German Bundestag and now presents its results. The commission was not only
structured around its task. As in other social contexts also role definitions, power differences,
opinion leadership, and authority were decisive for decision making. The author describes the
commission's task, function, and way of working and analyzes rituals, micropolitics, norms, and
taboos. It becomes clear that concepts of civil society cannot be designedfromthe Scratch.
Forschunpsiournal NSB, Jg. 16, Heft 2, 2003 zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYWVUTSRPONMLKJIHGFEDCBA
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Europäisierung nationaler Migrationspoiitik
Eine Studie zur Veränderung von Regieren in Europa
Michael Opielka:zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZYXWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
Bürgergesellschaft und Sozialpolitik. Entscheidungspfade grüner Sozialpolitik, FJ NSB 2/2003, S. 107-114
Michael Opielka untersucht die Bezugnahme auf Grundlagen der ,Bürgergesellschaft' in der
grünen Sozialpolitik. Er antwortet damit auf einen provokativen Beitrag des Sozialpolitikwissenschaftlers Frank Nullmeier im Forschungsjournal NSB (1/2003) in dem dieser das Konzept
Bürger-/Zivilgesellschaft grundlegend kritisiert. Nullmeier fordert eine subjektive Freiheit und
individuelle Differenz anerkennende sozialpolitische Theorie, die soziale Ungleichheit als Gegebenheit akzeptiert und nicht normativ deren Überwindung fordert. Nullmeier kritisiert einen
bürgergesellschaftlichen Mangel an Selbststeuerungsmechanismen und entsprechenden Interaktionsmedien, über die Systeme Markt und Staat verfügen. Er schlussfolgert, dass die Bürgergesellschaft im Hinblick auf Sozialpolitik lediglich eine untergeordnete Rolle spiele. Opielka kritisiert
diese Analyse als einseitig und unzutreffend und weist am Beispiel der Arbeitslosigkeit die
negativen Auswirkungen dieses Verständnisses auf bündnisgrüne sozialpolitische Vorstellungen
auf. Der Autor benennt die fehlende Akteursperspektive und die zunehmende Markt(system)rationalität der grünen sozialpolitischen Konzeption als Hauptursachen für deren aktuelle
Bedeutungslosigkeit. Im Gegensatz zu Nullmeier kommt Opielka zu dem Schluss, dass nur die
Bürgergesellschaft gegen einen .aktivierenden Sozialstaat' helfen kann, der auf wirtschaftsliberalen und etatistischen Grundlagen aufbaut.
von Verönica Tomei
2001. 228 S. kt. € 24,90 / sFr 43,60. ISBN 3-8282-0156-3 (Forum Migration Band 6)
Zu den Herausforderungen des 21. Jhts. gehören auch die internationalen Wanderungsbewegungen. Die Staaten der Europäischen Union sind zu einer der größten Einwanderungsregionen der Welt geworden, wobei die Bundesrepublik Deutschland als das bedeutendste Aufnahmeland hervorsticht. Die Studie untersucht die Strategien, die diese Staaten im
Umgang mit internationalen Wanderungsbewegungen entwickeln. Es wird der Frage nachgegangen, wie sich die Bedingungen nationaler Politik durch eine multilaterale Kooperation im
Politikfeld Migration verändern.
Aus
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•
•
utsonmlhedaJICA
dem Inhalt:
Ausgangslage: Motive und Bedingungen der Kooperation im Politikfeld Migration
Europäisierung des Politikfeldes Migration
Europäisierung nationaler Migrationspolitik zwischen Demokraüeerfordernissen und migrationspolitischen Herausforderungen
The Integration of Immigrants in European Societies
National differences and Trends of Convergence
Friedrich Heckmann / Dominique Schnapper (eds.)
Michael Opielka: Civil Society and Social policy. Green Social Policy at a Corssroads, FJ NSB
2/2003, pp. 107-114
2003. 261 S., kt. € 32,- / sFr 56,- (ISBN 3-8282-0181-4)
In the last issue of the Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen (1/2003) Frank Nullmeier
European societies have become Immigration countries. The Illusion of temporary irnmigracritized the concept of civil society. Michael Opielka answers on this article by analyzing green
tion has disappeared, new groups of people have to be integrated. What policies of integrasocial policy. Opielka rejects the Suggestion to accept economic inequality as reality and the focus
tion are being implemented in Europe?
of social policy on seif engagement. To him such a perspective is the reason why green social policy
Reseatchers from eight different European countries write about the mode of integration in
is currently insignificant. The acceptance of market rationality and the lack of an actor perspective
their respective nations. Is there a national mode of integration that could serve as a model
is higly problematic. Civil society is the only balancing actor against a policy which is based on
for other countries or the European Union? The book offers an answer to this important
economically liberalism and State centered. zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTSRQPONMLKJIHGFEDCBA
question.
Contents
Friedrich Heckmann/Dominique Schnapper:
French Immigration and Integration Policy. A
Complex Combination
Dominique Schnapper/Pascale Krief/Emmanuel Peignard: From Ethnic Nation to Universalistic Immigrant Integration: Germany
Friedrich Heckmann: Integration Policy in
Great Britain
John Rex: Immigration and Integration of Immigrants and their Descendants: The Swedish
Approach
I I If I I IQ
LUCIUS
Charles Westin/Elena Dingu-Kvrklund:
Integration without Immigrant Policy: the Case of
Switzerland
Hans Mahnig/Andreas Wimmer Integration
Policies Towards Immigrants and their Descendants in the Netherlands
Jeroen Doomernik Towards the Development
of an Integration Policy in Finland
Eve Kyntäjä: Towards an Analysis of Spanish
Integration Policy
Rosa Aparicio/Andres Tornos: Conclusion
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