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Götterbilder Gottesbilder Weltbilder Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike Band II Griechenland und Rom, Judentum, Christentum und Islam Herausgegeben von Reinhard Gregor Kratz und Hermann Spieckermann Mohr Siebeck Tübingen 2006 Die Griechen und ihre Götter HEINZ-GÜNTHER NESSELRATH Auch dem Menschen von heute sind aus der antiken griechischen Religion wenigstens noch die griechischen Götter (oder doch einige von ihnen) zumindest dem Namen nach bekannt, und sei es nur, um mit Zeus, Hera, Apollon und Athena manches Kästchen im Kreuzworträtsel auszufüllen. Die folgenden Ausführungen wollen versuchen, ein (notgedrungen sehr gerafftes) Gesamtbild der griechischen Götterwelt zu skizzieren, gegliedert nach vier Aspekten, die vor allem die Unterschiede der griechischen Gottesvorstellung gegenüber der immer noch sehr stark christlich geprägten des heutigen Europa zeigen sollen. Diese vier Aspekte sind 1. der Anthropomorphismus der griechischen Götter; 2. ihre Stellung im Kosmos als mächtige, aber nicht allmächtige Wesen; 3. ihre extrem große Zahl und Vielfalt; 4. ihre lokal zum Teil sehr verschiedene Präsenz und Interaktion mit anderen Göttern. 1. Anthropomorphismus „Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.“ Dieser Satz Ludwig Feuerbachs (übrigens vorweggenommen von dem berühmten Göttinger Georg Christoph Lichtenberg) gilt für die griechischen Götter in ganz besonderem Maße: Sie haben nicht nur (in der Regel) menschliche Gestalt, sondern sie handeln und reagieren auch immer nach menschlichen Motiven und Kategorien. Schon die Griechen selbst haben diese Eigenart ihrer Götter als etwas typisch Griechisches empfunden. Immer wieder haben sie z. B. den Gegensatz zu den tierköpfigen Gottheiten Ägyptens hervorgehoben; so erklärt ein griechischer Sprecher in einem Stück des Komödiendichters Anaxandrides (1. Hälfte 4. Jahrhundert v.Chr.) einem Ägypter:1 1 2 Anaxandrides, Πόλεις, fr. 40 K.-A. Hdt. II 53,2: „Ich glaube nämlich, dass Hesiod und Homer chronologisch um vierhundert Jahre - und nicht mehr - älter sind als ich; sie aber sind es, die den Griechen das 22 Heinz-Günther Nesselrath Nicht könnte ich mit euch verbündet sein: Nicht nämlich Wesen noch Gesetz vergleichbar sind von uns; nein, voneinander vielmehr weit getrennt. Du betest Rinder an, ich aber opf’re Göttern; gewaltig groß als Gottheit, glaubst du, sei der Aal – gewaltig köstlich ist dagegen er für uns. Du isst kein Schweinefleisch, ich aber freue mich daran am meisten; du ehrst den Hund, ich schlage ihn, wenn ich ihn fressend meine Speis’ erwisch’. Die Priester hier sind unversehrt - so das Gesetz; bei euch, wie’s scheint, sie müssen angeschnitten sein. Wann immer du die Katze leiden siehst, dann weinst du; ich dagegen bring’ sie um und häute sie. Bei euch, da gilt die Spitzmaus viel, doch nicht bei uns. Ein halbes Jahrhundert vor Anaxandrides hat der Geschichtsschreiber Herodot die völlige anthropomorphische Ausgestaltung der Götter wesentlich als das Werk der bedeutenden ersten Dichter, also Homers und Hesiods, bezeichnet;2 und in der Tat ist in dieser Hinsicht der Einfluss der Mythenerzählung, wie die epischen Dichtungen Homers und Hesiods sie zeigen, von zentraler Bedeutung: Die unter dem Namen Homers überlieferten Epen Ilias und Odyssee erzählen von den griechischen Göttern in einer radikal ‘vermenschlichenden’ Sicht. Ein gutes Beispiel dafür bietet ein Stück vom Ende des 5. Buches der Ilias (V. 850-887), wo der griechische Held Diomedes – wenn auch mit Unterstützung der Göttin Athena – gegen keinen Geringeren als den griechischen Kriegsgott Ares selbst im Kampf anzutreten wagt. Die Partie zeigt sehr plastisch, wie gewaltig einerseits die griechischen Götter im Vergleich zu den Menschen sind, wie aber auch überaus menschlich sie sich andererseits gerieren: „(850) Und als sie nahe heran waren, gegeneinander gehend, / da stieß Ares zuerst zu ... / mit der ehernen Lanze, begierig, ihm [Diomedes] das Leben zu nehmen. / Doch diese [Lanze] ergriff mit der Hand die Göttin, die helläugige Athena, / und stieß sie weg, dass sie unter dem Wagenstuhl nutzlos herausfuhr. / (855) Als zweiter nun stürmte an der gute Rufer Diomedes / mit der ehernen Lanze. Und diese stemmte Pallas Athene / zuunterst gegen die Weichen, wo er [Ares] gegürtet war mit dem Schurz. / Dorthin traf sie ihn mit dem Stoß und riss die schöne Haut auf / ... Da brüllte der eherne Ares / (860) so laut, wie neuntausend hell aufschreien oder auch zehntausend / Männer im Kampf ... / Die aber ergriff ein Zittern, die Achaier und die Troer, / in ihrer Furcht; so brüllte Ares ... / Und wie aus Wolken finster erscheint der untere Luftraum, / (865) wenn sich bei Hitze ein Wind erhebt, ein schlimm wehender: / So erschien dem Tydeus-Sohn Diomedes der eherne Ares, / wie er (nun) zusammen mit Wolken auffuhr zum breiten Himmel. / Und schnell gelangte er zum Sitz der Götter, dem steilen Olympos, / und setzte sich nieder bei Zeus, dem 2 Hdt. II 53,2: „Ich glaube nämlich, dass Hesiod und Homer chronologisch um vierhundert Jahre - und nicht mehr - älter sind als ich; sie aber sind es, die den Griechen das ‘Werden der Götter’ schufen und den Göttern ihre Bezeichnungen gaben, sie nach Ehren und Fertigkeiten unterschieden und ihre Gestalten anzeigten.“ Die Griechen und ihre Götter 23 Kronos-Sohn, bekümmert im Mute, / (870) und zeigte ihm das ambrosische Blut, das herabfloss aus der Wunde. / Und wehklagend sprach er zu ihm die geflügelten Worte: / ‘Zeus, Vater! verargst du es nicht, wenn du siehst diese abscheulichen Dinge? / Immer ertragen wir Götter dir doch das Schaudervollste, / einer nach dem Willen des anderen, den Menschen Gunst erweisend. / (875) Mit dir hadern wir alle: du hast sie erzeugt, die sinnberaubte Jugfrau [Athena], / die verderbliche, die stets heillose Dinge anstellt. / Denn die andern Götter alle, so viele da sind im Olympos, / gehorchen dir ... Diese aber schiltst du weder mit einem Wort noch einem Werk, / (880) sondern lässt sie gewähren, da du selbst sie gezeugt hast, die abscheuliche Tochter. / Die hat jetzt des Tydeus Sohn, den übermütigen Diomedes, / aufgereizt, zu rasen gegen unsterbliche Götter! / Kypris hat er zuerst von nah in die Hand getroffen bei der Wurzel, / aber dann stürmte er gegen mich selbst, einem Daimon gleichend. / (885) Mich aber trugen davon die schnellen Füße – sonst hätte ich lange / dort Schmerzen ertragen unter den furchtbaren Leichen, / oder ich lebte geschwächt von den Hieben des Erzes.’“ (deutsche Übers. nach W. Schadewaldt, modifiziert) Der mächtige Kriegsgott Ares, der hier gegen einen menschlichen Helden zum Kampf antritt und dabei sogar den Kürzeren zieht, kann zwar so laut wie neun- bis zehntausend Menschen brüllen, aber er tut dies, weil er eine Verwundung erlitten hat, die ihn – höchst menschlich – Reißaus nehmen und sich bei seinem Vater Zeus dann recht wehleidig beschweren lässt. Wie stark dieser Anthropomorphismus bereits vor der Entstehung der homerischen Epen, also etwa zu mykenischer Zeit (im 14. und 13. Jahrhundert v. Chr.), angelegt war, muss offen bleiben. Die mykenische Ikonographie, soweit inzwischen bekannt, scheint jedenfalls auch noch ‘Dämonen’ in Tiergestalt zu kennen.3 Seit der Herausbildung der typischen griechischen Staatsform des Polis-Stadtstaats und der ‘klassischen’ griechischen Religion im 8. Jahrhundert aber zeigen die bildlichen Darstellungen, beginnend mit den Vasen der sogenannten ‘geometrischen’ Zeit (8. und frühes 7. Jahrhundert), die Götter durchgehend in menschlicher Gestalt. Bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. haben griechische Denker diesen Anthropomorphismus kritisch beleuchtet und zum Teil auch regelrecht verworfen. Zum einen wird hier der große Abstand des Göttlichen vom Menschen herausgestellt; die ‘Musenelegie’ des athenischen Staatsmanns Solon will u.a. zeigen, wie wenig einsehbar und noch weniger berechenbar das Handeln der Götter vom Menschen her ist. Zum anderen aber wird nun die Menschengestalt der Götter regelrecht als menschliche Projektion entlarvt: Den Philosophen Xenophanes von Kolophon, der dies in sehr eindringlichen Versen tut, könnte man geradezu einen griechischen Ludwig Feuerbach nennen, wenn er sagt: „Aber wenn Rinder und Pferde und Löwen nur Hände besäßen / und mit den Händen zu malen vermöchten und 3 Das ‘Familiensystem’ der olympischen Götter (vgl. dazu u. S. 29) scheint in mykenischer Zeit bereits weitgehend vorhanden gewesen zu sein; vgl. GRAF, F., Griechische Religion, in: NESSELRATH, H.-G., Einleitung in die Griechische Philologie, Stuttgart – Leipzig 1997, 457–504, hier 496. 23 Heinz-Günther Nesselrath 24 werken wie Menschen, / dann würden Pferde den Pferden und Rinder den Rindern ähnlich / auch der Götter Gestalten so malen und Körper so formen, / ganz genau wie sie selbst die Gestalt, ein jedes Tier, hätten.“4 Xenophanes verurteilt ferner, dass Menschen den Göttern ein (fragwürdiges) Handeln nach menschlichen Mustern unterstellen; als die Urheber solcher Unterstellungen nennt er bemerkenswerterweise genau die gleichen Dichter, die nach dem späteren Urteil Herodots die griechische Götterwelt in dieser Weise überhaupt erst konstituierten: „Alles den Göttern angehängt haben Hesiodos und Homeros, / was bei den Menschen nur immer Schmach und Tadel bedeutet: / Stehlen und Brechen der Ehe und gegenseitig Betrügen.“5 Xenophanes’ kritische Äußerungen haben auf die religiöse Praxis der Griechen jedoch keinerlei Einfluss gehabt, und im Umkehrschluss zeigt gerade diese Kritik, wie stark die anthropomorphischen Vorstellungen der Götter bei den Griechen waren. Wie bei den Menschen spielen auch im Denken und Handeln dieser Götter die Emotionen Zorn und Liebe eine entscheidende Rolle. So kann ein Mensch vor allem deswegen Wohlergehen und Glück haben, weil Götter zu ihm – aus welchen Gründen auch immer – eine besondere Zuneigung empfinden (wie Athena z.B. zu Herakles oder Odysseus). Umgekehrt aber können göttlicher Zorn und Neid auch für großes Unglück verantwortlich sein: Dass es böse Folgen haben kann, wenn jemand bei einem Opfer einen bestimmten Gott oder eine Göttin vergisst, zeigt eine bereits in der Ilias (9,533-542) erzählte Geschichte von der Göttin Artemis, die einem entsprechend nachlässigen König einen mächtigen Eber ins Land schickte, der dann die Felder verwüstete. Solcher Götterzorn kann lange anhalten: Nachdem Odysseus den Sohn des Meergottes Poseidon, den willden Kyklopen Polyphem, geblendet hat, ruft dieser seinen Vater um Vergeltung an, und Poseidons Grimm sucht fortan Odysseus’ Heimkehr bis zur letzten Etappe seiner Irrfahrten zu vereiteln. In ähnlicher Weise verfolgt der Zorn der Göttin Hera den Helden Herakles während seines ganzen irdischen Lebens, und dies nur deshalb, weil sie in ihm die Frucht eines Seitensprunges ihres allzu oft fremdgehenden Gemahls Zeus erblickt. Sind diese Götter einmal ergrimmt, zögern sie auch nicht, bei ihrer 4 Xenophanes VS 21 B 15. Vgl. B 16: „Schwarz und stumpfnasig, sagen Aithiopen, sei’n ihre Götter; / hellhäutig sei’n sie und rothaarig, sagen dagegen die Thraker.“ Xenophanes' eigene Gottesvorstellung ist sehr viel abstrakter; vgl. B 23: „Ein Gott ist da sowohl unter Menschen wie Göttern der Größte, / nicht irgendwie an Gestalt den Sterblichen gleich noch im Denken“; vgl. B 24: „Als Ganzer er sieht, als Ganzer er denkt, als Ganzer er hört auch“; B 25: „Fern von Mühe mit Geisteskraft nur beweget er alles“; B 26: „Stets verharrt er im selben, sich überhaupt nicht bewegend, / und seinen Platz zu wechseln schickt sich ihm nicht, mal hierhin, mal dorthin.“ 5 Xenophanes B 11. Vgl. auch B 12: „Möglichst viele verkündeten sie der Götter frevelnde Taten: / Stehlen und Brechen der Ehe und gegenseitig Betrügen.“ Die Griechen und ihre Götter 25 Vergeltung Menschen in Mitleidenschaft zu ziehen, die ihnen gar nichts getan haben: Im Stück Hippolytos des Euripides rächt die Göttin Aphrodite die Missachtung, mit der sie der Theseus-Sohn Hippolytos straft, dadurch, dass sie seine Stiefmutter Phaidra sich in ihn verlieben lässt und ihm dadurch eine tödliche Intrige spinnt, in der auch die unschuldige Phaidra, deren sich Aphrodite skrupellos als Werkzeug bedient, zugrunde geht. Als Hera den ihr verhassten Herakles im gleichnamigen Stück (wiederum des Euripides) im Augenblick seines größten Triumphes treffen will, versetzt sie ihn mit der Hilfe ihrer Dienerin Lyssa in Wahnsinn, und der rasend Gewordene erschießt daraufhin seine eigene Frau und seine Kinder. Gekränkte griechische Götter gehen in ihrem Zorn also buchstäblich über Leichen, auch über die von Unschuldigen. Immerhin aber lassen sich diese Götter in der Regel durch entsprechende Maßnahmen auch wieder gnädig stimmen, selbst wenn Odysseus nach einer Rückkehr erst noch eine weitere lange Reise antreten muss, um Poseidon zu besänftigen, und Herakles erst sein Erdendasein beenden und selbst zum Gott werden muss, bevor Hera aufhört, ihn zu verfolgen. Normale Sterbliche können sich mit dem Gedanken trösten, dass sie so langdauernde göttlichen Antipathien in der Regel nicht auslösen werden, da sie kaum in die Lage kommen, einem so ungeschlachten Götterkind wie Polyphem Schaden zuzufügen, noch auch selbst einem Seitensprung des Zeus entsprossen sind. Die griechischen Götter sind zwar leicht reizbar, aber in der Regel zumindest nicht dauerhaft nachtragend, wenn man sich Mühe gibt, einen Tort wieder gutzumachen Auch in einem anderen Punkt unterscheiden sich die griechischen Götter – so viele menschliche Fehler sie sonst auch haben – recht positiv von zumindest vielen Menschen: sie verstehen offenbar Spaß. Die Reihe der Texte, in denen Götter in einem unzweideutig komischen Licht erscheinen, beginnt wiederum bereits mit Homer: Im 8. Buch (266-367) der Odyssee trägt der Sänger Demodokos den Phäaken und ihrem Gast die Geschichte vom Ehebruch des Kriegsgottes Ares mit der Liebesgöttin Aphrodite vor, und wie der gehörnte Ehemann die zwei Sünder durch eine kunstreiche Vorrichtung in flagranti ans Bett fesselt, allen Göttern – die daran keinen geringen Spaß haben – öffentlich vorführt und sie erst wieder befreit, als man ihm eine ausreichende Entschädigung sicher zugesagt hat. Die Krone wird dem Ganzen aufgesetzt durch die Reaktionen der zu diesem Schauspiel eingeladenen göttlichen Voyeure – gesteht doch der verschmitzte Hermes dem Apollon, dass er sich eigentlich nichts Schöneres vorstellen kann, als genau so bei der wunderschönen Liebesgöttin zu liegen wie jetzt Ares: „O geschähe doch das ...! / Fesselten mich auch dreimal so viel unendliche Bande,/ und ihr Götter sähet es an, und die Göttinnen alle: / Siehe, so schlief' ich doch bei der goldenen Aphrodite!“ (339-342; Übersetzung 25 Heinz-Günther Nesselrath 26 J.H. Voß) Nach Homer geht der Götterspott in der griechischen Literatur munter weiter; einen Höhepunkt erreicht er in der attischen Komödie des Aristophanes, wie etwa die vorletzte Szene des Stücks ‘Die Vögel’ zeigen kann: Hier trickst der schlaue Mensch Peisetairos eine Delegation der Götter, die sich zu ihm bemühen muss, weil der von Peisetairos aufgebaute Vogelstaat die Götter sämtlicher Opfer durch die Menschen zu berauben droht, nach Strich und Faden aus, und man kann über die kollektive Hilflosigkeit dieser Götter nur den Kopf schütteln. Offenbar ist niemand auf die Idee gekommen, Aristophanes der Blasphemie zu bezichtigen; offensichtlich also verletzten solche Späße die Würde der Götter nicht. Von menschlichen Opfern seines Spotts – etwa dem mächtigen Politiker Kleon – hatte Aristophanes viel gefährlichere Reaktionen zu befürchten als von den Göttern seiner Polis. 2. Nicht Weltenschöpfer, aber mächtig: die Stellung der griechischen Götter in der Welt – und die Menschen Das Verhältnis der Griechen zu ihren Göttern ist wesentlich auch dadurch geprägt, dass die Menschen keine Geschöpfe dieser Götter sind; vielmehr war es nur ein einzelner dieser Götter – und bei weitem nicht der mächtigste –, nämlich Prometheus, der die Menschen geschaffen hat, und so zeigt auch nur er etwas wie Fürsorge für sie (indem er ihnen beispielsweise das Feuer verschafft, weswegen er dann seinerseits von Zeus schwer bestraft wird). Die übrigen Götter müssen sich in keiner Weise für die Menschen verantwortlich fühlen,und sie tun dies in der Regel auch nicht.6 Zwar gibt es Ausnahmen (vgl. u.), aber sie betreffen immer nur Wenige. Ja, nicht einmal mittelbar sind diese Götter Verursacher der menschlichen Existenz, denn sie haben auch die Welt nicht geschaffen: Folgt man der Darstellung der Weltentstehung in Hesiods Theogonie, dann entstand zuerst das Chaos, danach die Erde, unter ihr der Tartaros (Unterweltsschlund), und als viertes – bemerkenswerterweise – Eros, die Liebe. Danach entstehen aus Chaos und Erde weitere Potenzen und Phänomene der Welt, und es beginnen genealogische Abstammungen; aber erst nach mehreren Generationen sind die Götter vorhanden, denen die Griechen Opfer darbringen und Tempel bauen; sie verehren in ihnen nicht ihre Schöpfer, sondern Wesen, die in ihrer Welt nun einmal die größte Macht haben7 und mit denen man schon deshalb auf gutem Fuß stehen muss. 6 Vgl. hierzu LEFKOWITZ, M., Greek Gods, Human Lives, New Haven – London, 2003, 2. 29. 7 LEFKOWITZ, Greek Gods, 235. Die Griechen und ihre Götter 27 So ist trotz aller Ähnlichkeit im Verhalten der Abstand zwischen Göttern und Menschen riesengroß: Die Götter sind unsterblich und führen in wörtlichem Sinne ein ‘leichtes Leben’, wie es bei Homer mehrfach heißt (=e›a z≈ontew: Il. 6,138; Od. 4,805. 5,122), ohne Arbeit, Mühsal und Schmerz; die Menschen, deren Leben im Vergleich dazu – um mit Thomas Hobbes (Leviathan I 13) zu sprechen – „nasty, brutish and short“ ist, dienen ihnen oft nur zur unterhaltsamen Ablenkung: Zeus sieht sich die blutigen Kämpfe vor Troja geradezu wie ein Fußballspiel an (vgl. Il. 8,51f. 11,336f. 14,4-13), gelegentlich auch wie ein interaktives Computerspiel – dann nämlich, wenn es ihm gefällt, selber einzugreifen und das mörderische Spiel nach seinem Gutdünken zu beeinflussen (vgl. Il. 17,593-596). Nur als sein eigener Sohn Sarpedon auf diesem Schlachtfeld durch die Lanze des Patroklos zu Tode kommen soll, wie es das Schicksal vorsieht, vergießt er aus Kummer blutige Tränen (16,459-461). Die Episode zeigt gut, dass selbst der Götterherrscher Zeus zwar mächtig, aber nicht allmächtig ist. Wenn die Menschen angesichts dieser Sachlage die Götter überhaupt für ihre Belange interessieren wollen, müssen sie ganz offen an das Eigeninteresse dieser Götter appellieren. Am Beginn der Ilias bittet der ApollonPriester Chryses seinen Gott, ihm die Befreiung seiner Tochter aus der Gewalt des griechischen Heerkönigs Agamemnon zu gewähren, indem er ihn daran erinnert, wieviele Opfer er ihm schon dargebracht habe (Il. 1,3741) – die hier zugrunde liegende Logik ist: Wenn Apollon jetzt hilft, wird er noch mehr Opfer bekommen. Fast noch unverblümter gibt sich ein in elegische Distichen gefasstes Gebet an den gleichen Apollon aus dem Jahr 480 v.Chr., in dem der Verfasser darum bittet, die Stadt Megara vor der großen persischen Invasion zu retten, „damit dir die Menschen in Fröhlichkeit, wenn der Frühling kommt, die berühmten Hekatomben ausrichten können, sich an der Kithara und am lieblichen Fest erfreuend, mit Chören von Paiangesängen und lauten Festrufen rings um deinen Altar“ (Theogn. 775-779). Deutlicher kann man einem Gott wohl kaum klar machen, dass man ihm nur dann weiter aufwendige Opfer bringen kann, wenn er einem hilft zu überleben. 3. Ein ‘Polytheismus’ par excellence Unter den polytheistischen Religionen, die bisher in dieser Vortragsreihe vorgestellt wurden, ist die griechische (vielleicht neben der der Hethiter, die man auch das ‘Volk der Tausend Götter’ nennt8) eine der ausgeprägtesten; 8 Zu der Formel der „Tausend Gottheiten des Hatti-Landes“ vgl. HAAS, V., Die hethitische Religion, in: Die Hethiter und ihr Reich. Das Volk der 1000 Götter, 27 28 Heinz-Günther Nesselrath statt Polytheismus könnte man geradezu schon von ‘Pleistotheismus’ sprechen. Der wohl größte Vorzug einer polytheistischen Religion ist es, dass sie es möglich macht, sich die Kräfte und Eigenarten, aber auch die Widersprüche der Welt, in der man lebt, mithilfe einer Vielzahl von Göttern zu erklären, die man sich voneinander subtil differenziert, aber auch in allen möglichen Kontrasten und Kombinationen vorstellen kann;9 die Vielfalt der griechischen Götter bietet hier ein wahrlich hoch entwickeltes Instrumentarium. Diese Vielfalt lässt sich nach zwei Kriterien systematisieren: nach den Orten, wo diese Götter ihre Sitze haben – nämlich oberhalb der Erde (d.h. in himmlischen Gefilden), auf der Erde (und der Bereich des Wassers, also vor allem der Meere, aber auch der Seen und Flüsse, sei hier hinzugerechnet) und unter der Erde – und nach ihrer Bedeutung; man kann ‘große’ und ‘kleinere/kleine’ oder sehr bedeutende (d.h. in der ganzen Welt wirkende) und weniger bedeutende (nur lokal wirkende) Gottheiten unterscheiden. Dieses System geht nicht restlos auf: soll man z.B. die neun Musen – Töchter des Zeus – und eine Reihe von Meeresgottheiten wie Okeanos, den alten Nereus und seine Töchter wie Thetis eher zu den ‘großen’ rechnen oder noch eine ‘mittlere Gruppierung’ hinzufügen? Aber auch und gerade diese Schwierigkeiten demonstrieren, wie vielfältig die griechische Götterwelt ist. Hier seien zunächst die sogenannten ‘Großen’ Götter vorgestellt, die Hauptpotenzen im Weltgeschehen und Hauptakteure in den zahlreichen griechischen Mythen; bereits sie sind an Zahl nicht wenig, aber noch überschaubar.10 Die ‘Großen’ Götter sind mehrheitlich im oberirdischen Bereich anzutreffen und werden nach ihrem Hauptwohnsitz, dem Olymp (der ursprünglich wohl mit dem großen Berg dieses Namens im Norden Thessaliens identisch war, den aber schon Homer als palastartiges Gefilde in einem himmlischen Ambiente beschreibt), die ‘olympischen’ Götter genannt. Der seit Homer und Hesiod fassbare griechische Mythos stellt sich sie (und übrigens nicht nur sie) als Großfamilie vor; im Kult sind vor allem Ausstellungskatalog (Red.: Helga Willinghöfer mit Uta Hasekamp), Stuttgart 2002, 102– 111, hier 104. 9 Die im Monotheismus fast unvermeidliche Theodizee – si deus, unde mala? – tritt dabei gar nicht auf 10 Letzteres gilt nicht mehr für die anschließend zu betrachtenden sogenannten ‘Kleinen’ Götter, zu denen hier auch die sogenannten ‘Heroen’ gerechnet werden sollen; diese sind zwar in mancher Hinsicht von den ‘richtigen’ Göttern deutlich getrennt, zeigen aber in vielen einzelnen Fällen zum Teil Eigenschaften und Fähigkeiten, die von denen ‘echter’ Göttern oft kaum zu unterscheiden sind. Schließlich gibt es dann auch noch ursprünglich fremde, nicht-griechische Götter, die jedoch in heller historischer Zeit geradezu ‘eingemeindet’ werden und damit die Flexibilität und Adaptionsfähigkeit dieses Polytheismus eindrucksvoll zeigen. Die Griechen und ihre Götter 29 sie die Empfänger von Opfern und Patrone von Festen, und sie decken gemeinsam auch den Hauptbereich des Lebens der Polis und ihrer einzelnen Bewohner ab. Die Olympier werden gern als Zwölfergruppe gedacht, wobei die Zusammensetzung etwas schwankt (ähnlich wie bei den Sieben Weisen und den Sieben Weltwundern): Die Leitungsposition in dieser Familie hat das Geschwister- und Ehepaar Zeus und Hera; daneben stehen ihre Geschwister Poseidon und Demeter, hinzu kommen mehrere Kinder des Zeus: Athena, Apollon und Artemis (diese beiden von der Göttin Leto), Hermes und Aphrodite. Diese Neun gehören regelmäßig zu den olympischen Zwölf; zu den eher austauschbaren gehört der Kriegsgott Ares,11 der Schmiedegott Hephaistos (Sohn der Hera, nicht immer auch des Zeus), die Herdgöttin Hestia (ebenfalls eine Schwester des Zeus), schließlich Herakles und Dionysos, die beide ihre Karriere sogar einmal als Sterbliche begonnen haben.12 Am Rande dieses Familiensystems befinden sich die Eltern der regierenden Dynastie, Kronos und Rhea, noch etwas entfernter steht deren Mutter Gaia (‘Erde’). Im Zentrum dieser Familie steht eindeutig Zeus; ihm am nächsten ist aber wohl nicht Hera, sondern Athena als die einzig aus seinem Kopf geborene Tochter einzuordnen.13 In etwas ambivalenter Position zu Zeus steht Aphrodite; sie wird vom Mythos zum einen als seine Tochter von der Göttin Dione angesehen (Hom. Il. 5,370), zum anderen aber auch als die aus dem Meer geborene Frucht des kastrierten Glieds des Uranos, der seinerseits der Vater von Zeus' Vater Kronos ist (Hes. Theog. 190-202). Ähnlich ambivalent steht der Schmiedegott Hephaistos zu Zeus, der gelegentlich auch als vaterloses Kind der Hera gilt (Hes. Theog. 927).14 Apollon und Artemis, Zwillingskinder des Zeus von der Göttin Leto, sind unter sich eng 11 Und dies, obwohl er der einzige unbestrittene ‘eheliche’ Sohn des Paares Zeus und Hera ist; alle übrigen Kinder hat Zeus von anderen Göttinnen. 12 Zeus, Hera, Poseidon, Demeter, Hestia, Athena, Aphrodite, Hermes, Apollon, Artemis, Ares, Dionysos erscheinen als Zwölfgötter auf dem berühmten Fries des athenischen Parthenon-Tempels. Eine nicht unbeträchtliche Zahl dieser Olympier ist bereits auch in Linear B-Zeugnissen inschriftlich belegt: Zeus, Hera, Poseidon, Ares, Dionysos, Artemis, vielleicht Athena, auch Enyalios, Paian oder Eileithyia; abwesend sind vor allem Apollon und Aphrodite. Eine Getreidegöttin (Demeter?) ist in Mykene auf einem Fresko dargestellt. Vgl. Graf, Griechische Religion, 498. 13 Diese Kopfgeburt kommt dadurch zustande, dass Zeus diejenige Göttin, die die präsumptive Mutter Athenas geworden wäre, verschlungen hat, weil ihm zuvor geweissagt wurde, ein Kind dieser Mutter werde ihn genauso vom Thron stürzen wie er selbst einst seinen Vater Kronos (vgl. Hes. Theog. 886-900). 14 Eine vergleichbar isolierte Position in dieser Götterfamilie hat der Kriegsgott Ares, und es entbehrt nicht einer gewissen Brisanz, dass gerade diese drei – Aphrodite, Hephaistos, Ares – vom Mythos in einem pikanten Dreiecksverhältnis zusammengespannt sind. 29 Heinz-Günther Nesselrath 30 verbunden und bilden mit ihrer Mutter innerhalb dieser Familie eine Art ‘Nebenzentrum’,15 nicht zuletzt deshalb, weil Apollon und Artemis als Kinder einer Rivalin der rechtmäßigen Zeusgattin Hera ein Dorn im Auge sind. Kronos, der schon erwähnte Vater des Zeus, wurde von diesem in der Herrschaft abgelöst, um nicht zu sagen: gestürzt, und entweder an den Rand der Welt oder sogar in den Tartaros verbannt; dagegen hat seine Gemahlin (und Schwester) Rhea in dieser Familie eine viel integriertere Rolle behalten.16 Nur einige von diesen Göttern können hier – vor allem hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Menschen – etwas näher vorgestellt werden: Als höchster Gott ist Zeus der Erhalter jeglicher Art von Ordnung, auch der für die Polis relevanten. Seine Frau Hera ist vor allem für die ‘institutionelle’ Seite der zwischengeschlechtlichen Liebe unter Menschen zuständig, also für Ehe und Familie, seine Tochter (oder nach anderer mythischer Version auch Nicht-Tochter) Aphrodite dagegen für eine ‘funktionierende’ Sexualität.17 Im Bereich Liebe/Ehe spielt ferner die Göttin Artemis keine unverächtliche Rolle: Sie ist nicht nur Schutzherrin der Wildnis und der wilden Tiere, sondern auch – unter den Menschen – die spezielle Beschützerin aller jener, die sich noch nicht im Status der vollen ‘Zivilisiertheit’, d. h. des Erwachsenseins befinden, also aller Jungen und Mädchen vor der Geschlechtsreife und Ehe.18 Auch Demeter hat einen Anteil an der Ehe: Als Göttin des kultivierten Bodens ist sie nicht nur für das Wachsen einer neuen Saat auf dem Acker zuständig, sondern auch – und dies in nicht nur metaphorischem Sinne – für das Aufwachsen von in einer Ehe zustande gekommenen Kindern.19 So zeigen diese Götter nicht nur familiäre, sondern Funktionsverbindungen mit zum Teil feiner interner Differenzierung, wie sie gerade der Polytheismus möglich macht. Gleich drei Götter sind für den Krieg zuständig: Athena, Ares und ein unbekannterer Gott namens Enyalios. Zwischen Ares und Enyalios sind keine Funktionsunterschiede fassbar; Ares und Athena sind beide Gottheiten des Kampfes, doch kann in dieser Funktion nicht so sehr Ares einer Polis wichtige Dienste leisten – 15 Vgl. GRAF, Griechische Religion, 496. 16 Sie wird schon früh mit der aus Kleinasien stammenden (und dort immer noch vorrangig ansässigen) Bergmutter (mÆthr Ùre€a) Kybele identifiziert. 17 Deshalb werden sowohl Aphrodite als auch Hera im Hochzeitsopfer angerufen und bilden auf diese Weise ein weiteres Beispiel (vgl. u.) für ein komplementäres Zusammenwirken in einem wichtigen menschlichen Bereich. 18 Deshalb gebühren ihr immer dann Opfer und Gaben, wenn eine junge Griechin oder ein junger Grieche den Zustand der Kindheit hinter sich lässt. 19 Die in Athen übliche rituelle Formel bei der Eheschließung überantwortet die Braut dem Bräutigam „zur Aussaat legitimer Kinder“ (pa€dvn §p' érÒtƒ gnhs€vn); sie taucht regelmäßig auf, wenn in der Komödie ein Paar glücklich zusammenkommt: Men. Dysc. 842, Misum. 974 [444], Peric. 1013f. [435f.], Sam. 727, fr. 453 K.-A. Die Griechen und ihre Götter 31 denn er verkörpert nur das wütende Rasen des Krieges an sich –, wohl aber Athena: Sie repräsentiert die ‘rationaleren’ Seiten des Krieges und kann dadurch für die auf kluge Selbstverteidigung angewiesene Polis zu einer regelrechten Schutzherrin, zur Athena Polias, avancieren, was sie nicht nur in dem nach ihr benannten Athen geworden ist. Athena hat ferner Bedeutung im handwerklich-technischen Bereich:20 Als Athena Ergane ist sie zusammen mit dem göttlichen Handwerker par excellence, dem humpelnden Schmiedegott Hephaistos, Patronin der handwerklich tätigen Menschen und hat als solche zusammen mit Hephaistos in Athen auch einen Tempel, das Hephaisteion (heute immer noch oft unter dem falschen Namen ‘Theseion’ bekannt) zwischen der Agora (dem Zentrum auch des Wirtschaftslebens) und dem Handwerkerviertel Kerameikos. Während Hephaistos vor allem auf Metallhandwerk ‘spezialisiert’ ist, ist Athena stärker die Göttin des Konstruierens und Bauens,21 ferner auch des Webens; damit wirkt sie bis in die Sphäre der häuslichen Beschäftigung der verheirateten Frau hinein. Nicht nur Athena ist eine Göttin von erstaunlicher Vielseitigkeit; dies gilt fast noch mehr von Apollon, dem Zwillingsbruder der Artemis. Apollon sind wichtige Feste an ganz verschiedenen griechischen Orten gewidmet: im spartanischen Amyklai die Hyakinthia, in Athen die Thargelia und Pyanopsia (mit Darbringung pflanzlicher Opfer und Reinigungsritualen); auf Delos erhält er sowohl blutige Hekatomben am sogenannten ‘Altar aus Hörnern’ als auch unblutige an einem benachbarten Altar, der nie von Feuer berührt werden durfte. Auf die in diesen Ritualen zum Ausdruck kommenden ganz gegensätzlichen Aspekte weist der homerische Apollonhymnos hin, der von der Geburt Apollons auf Delos erzählt: Kaum ist der kleine Gott das erste Mal gewaschen und nicht etwa mit Milch, sondern mit göttlichem Nektar und Ambrosia genährt worden, hält es ihn schon nicht mehr in seinen Windeln, und er erklärt seiner Mutter und ihren göttlichen Helferinnen (V. 131f.): „Lieb soll mir sein die Leier und der gekrümmte Bogen; künden auch werd’ ich den Menschen des Zeus unfehlbaren Ratschluss.“ Als Inhaber der Leier ist Apollon der helle Gott der musischen Kunst und des Gesangs; als das Symbol strahlender, geradezu sonnenhafter Schönheit und Reinheit (man denke an den ‘Kasseler Apollo’) erscheint er einmal den zum Goldenen Vließ fahrenden Argonauten in einer morgendlichen Epiphanie in wunderschönen Versen des hellenistischen Dichters Apollonios Rhodios (Arg. 2,674-684): 20 Sie ist ja letztlich die Tochter der von Zeus verschlungenen Metis (vgl. o. Anm. 13), der personifizierten Geistes- und Verstandeskraft. 21 Sie ist nicht nur am Bau des ersten menschlichen Schiffes, der Argo, maßgeblich beteiligt, sondern auch am Trojanischen Pferd, wo sie Odysseus und Epeios assistiert. 31 32 Heinz-Günther Nesselrath Da erschien ihnen Letos Sohn, von Lykien kommend auf seinem Weg fernhin zu den weiten Hyperboreern; golden wehten zu beiden Seiten der göttlichen Wangen Locken in reicher Fülle und bebten bei seiner Bewegung. In linker Hand den silbernen Bogen, und auf seinem Rücken ragte der Köcher herab von der Schulter; doch unter den Schritten zittert die ganze Insel und branden ans Festland die Wogen. Als sie ihn sahen, ergriff sie lähmendes Staunen, und keiner wagte zu heben den Blick zu den schönen Augen des Gottes, sondern sie standen und schauten zu Boden. Er aber fern schon schritt weit aus übers Meer durch die Lüfte ... Als Gott des hier erwähnten silbernen Bogens kann Apollon Übles vertreiben oder vernichten (wie z.B. den Python-Drachen in Delphi, nach dessen Tod er dort sein Orakelheiligtum begründet), er kann den Menschen aber auch Übel senden, wie er es eindrucksvoll am Beginn der homerischen Ilias tut: Hier erhört er die Bitten seines Priesters, dem von König Agamemnon Unrecht geschehen ist, und erregt durch seine Pfeile im griechischen Heer eine verheerende Pest. Die Beschreibung seines Auftritts an dieser Stelle nimmt sich geradezu wie ein Negativ zu der strahlenden Schilderung des Apollonios aus (1,43-52, nach Voß, modifiziert): Also rief er betend, doch hörte ihn Phoibos Apollon. Von den Höhn des Olympos herab stieg er, zürnenden Herzens, auf der Schulter den Bogen und ringsverschlossenen Köcher, und die Pfeile erklangen laut an des Zürnenden Schulter, während er sich bewegt'; und gleichend der Nacht er einherging. Setzte sich drauf von den Schiffen entfernt, dann entsandte den Pfeil er; schrecklich klang dabei auf die Sehne des silbernen Bogens. Maultiere nur zuerst streckt’ er nieder und hurtige Hunde, dann aber richtet’ das bitt’re Geschoss er auch auf die Menschen, und er schoss; und die Leichenfeuer brannten ohn’ Ende. Der gleiche Gott, der solche Seuchen sendet, kann sie aber auch wieder nehmen: Athen weiht ihm am Ende der großen Seuche in den ersten Jahren des Peloponnesischen Krieges eine Gedenkstatue (um 430 v. Chr.), und auch an anderen Orten gilt er als Heilgott. Besonders wichtig ist dann aber das dritte Tätigkeitsfeld geworden, das Apollon an der zitierten Stelle im homerischen Hymnos ankündigt: das Weissagen der Ratschlüsse seines Vaters Zeus. Als Stätte solcher Verkündigungen ist Apollons Tempel in Delphi zum bedeutendsten Zentrum eines Apollonkults im griechischen Kulturraum geworden; in den dort im frühen 6. Jahrhundert v. Chr. eingerichteten ‘Pythischen Spielen’ kommen auch die musischen Aspekte Apollons voll zur Geltung. Während der Wintermonate weilt Apollon freilich fern von Delphi im Norden bei den glücklichen Hyperboreern, und dann regiert in Delphi ein Die Griechen und ihre Götter 33 ganz anderer Gott: Dionysos. Dionysos ist in manchem mit Herakles vergleichbar: Als illegitimer Sohn des Zeus von einer sterblichen Frau bringt ihm Zeus' Gemahlin Hera genauso wenig Liebe entgegen wie jenem, aber wie Herakles kann er Heras Anfeindungen nicht nur überstehen, sondern schließlich sogar selbst in den Götterhimmel aufsteigen. Weil Dionysos sich während seiner irdischen ‘Laufbahn’ weit von Griechenland entfernte und (im Mythos) erst nach einem langen Zug durch den Orient und Indien von Osten her nach Griechenland zurückkehrt, hat man ihn lange für einen ursprünglich nichtgriechischen Gott gehalten, dessen Kult sich in Griechenland zum Teil gewaltsam Bahn gebrochen habe, wie es noch die Bakchen des Euripides in packender Weise darstellen. Doch wurde Dionysos' Name inzwischen auf einem Linear-B-Täfelchen im kretischen Chania gefunden22 und muss daher bereits dem mykenischen griechischen Pantheon zugerechnet werden. So ist das Gewaltsame, das Mythen im Vordringen dieses Gottes festhalten, wohl etwas anders zu deuten: Dionysos verkörpert eine Tendenz, Grenzen zu sprengen und Ordnungen – zumindest zeitweilig – zu zerstören. Sein Beiname ‘Bakchos’ hängt mit einem zentralen griechischen Terminus für ‘wahnsinniges Rasen’ zusammen; sein Gefolge sind zum großen Teil die Satyrn, Mischwesen, die sowohl göttliche als auch tierische Eigenschaften besitzen. Dionysos selbst zeigt in seinem äußeren Erscheinungsbild sowohl männliche wie weibliche Elemente,23 verwischt also auch Geschlechtergrenzen; am attischen Anthesterienfest, wenn die Toten wieder in die Welt der Lebenden kommen, ist sein Tempel der einzige in der Stadt, der nicht geschlossen wird – dieser Gott ist also auch zur Unterwelt ‘offen’. Im Mythos hat Dionysos vor allem weibliche Anhänger (die Bakchantinnen), die in ihrem Verhalten jegliche zivilisatorische Grenze überschreiten (z.B. Tiere jagen, mit bloßen Händen zerreißen und roh auffressen). In Kultritualen sind diese zerstörerischen Tendenzen oft in sehr abgeschwächter Weise aufgefangen,24 und gerade in Athen sind die Dionysosfeste – vor allem die zwei großen Theaterfeste, die Lenäen und die Großen Dionysien – sogar zu großen Polisfesten geworden, an denen sich die ganze Stadt vor ihren eigenen Bürgern und nach außen darstellt. Das ‘Rasen’ des Dionysos kommt hier zum Teil noch in fröhlicher Ausgelassenheit zum Vorschein, ist aber ganz in feste ‘Feier-Tage’ eingebunden, nach denen die Polis wieder zu ihrer ‘normalen’ Ordnung zurückkehrt. 22 Vgl. BREMMER, J.N., Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland, Darmstadt 1996, 24. 23 Er trägt z.B. öfter den weiblichen Peplos als den männlichen Chiton. 24 Beispielsweise wird das ‘Rohfressen’, die Omophagie, durch ein Stück rohes Fleisch symbolisiert, das eine Priesterin in einen Korb legt. 33 34 Heinz-Günther Nesselrath Ein weiterer etwas schillernder (aber weniger gewaltsamer) Gott ist Hermes. Ihm ist einer der schönsten (und zugleich lustigsten) homerischen Hymnen gewidmet; er erzählt, wie Hermes gleich nach seiner Geburt seinem Bruder Apollon bereits eine Rinderherde stiehlt. Ertappt und vor den Thron des Zeus geschleppt, weiß der kleine Dieb seinen zornigen großen Bruder nicht nur durch die gerade von ihm erfundene Leier zu versöhnen, sondern sich mit geschickter Rede auch vor Zeus zu behaupten und einen Platz im Olymp zu sichern; so ist Hermes der wirkungsvolle Kommunikator par excellence und wird gern mit der Erfindung der Rhetorik – der Kunst der wirksamen (wenn auch nicht unbedingt wahrheitsgetreuen) Rede – in Verbindung gebracht. Während sein (Halb-)Bruder Dionysos Grenzen einfach niederreißt, überwindet Hermes solche Grenzen auf ‘sanfterem’ Wege dank seiner Geschicklichkeit und ist wohl auch deshalb nicht nur zum Boten seines Vaters Zeus, sondern als Geleiter der Seelen von Verstorbenen auch zum Verbindungsglied der oberirdischen Götter zur Unterwelt geworden. Mit Hermes’ Geleit können wir nun auch die andere Gruppe der großen Götter kurz ins Auge fassen, die unterirdischen oder ‘chthonischen’ (nach dem griechischen Wort für ‘Erde’), die übrigens mit den ‘olympischen’ ebenfalls durch familiäre Bande verknüpft sind: Neben dem als Totenherrscher gedachten Hades-Pluton (Zeus kataxyÒniow Hom. Il. 9,457), einem Bruder des ‘olympischen’ Zeus, steht hier seine Gattin Persephone, die als Tochter der Getreidegöttin Demeter (und ihres Bruders Zeus) im Attischen auch einfach Kore (‘das Mädchen’) heißt. Eine unheimliche Ergänzung dieser beiden stellt die Göttin Hekate dar, die genealogisch die Tochter einer Schwester der Mutter von Apollon und Artemis ist und im Verbund mit Gespenstern und schwarzer Magie auftritt. Die überwältigende Mehrheit der unterirdischen Götter bilden jedoch die namenlosen Totengeister, 25 die zu den unzähligen ‘kleinen’ Göttern’ (s.u.) gehören. Insgesamt mag die griechische Götterwelt nicht ganz so dicht bevölkert sein wie etwa die indische (die in die Millionen geht), aber auch die griechischen Zahlen sind ganz beachtlich: In Hesiods Werken und Tagen (V. 252-255) heißt es einmal, es gebe auf Erden 30.000 (oder heißt tr‹w ... mÊrioi sogar ‘dreimal unzählige’?) unsterbliche Wächter des Zeus, die über die guten und schlechten Taten der Menschen wachen. 25 In der römischen Kaiserzeit heißen sie kollektiv yeo‹ kataxyÒnioi und entsprechen den lateinischen Di Manes. Reguläre Kulte der Polis sind für auch die ‘großen’ chthonischen Gottheiten kaum bekannt, weil ihr Bereich nicht zu dem des Polislebens gehört. Kore-Persephone besitzt zwar eigene Heiligtümer und Feste, aber in anderer Funktion, nämlich z.B. als Stadtherrin von Kyzikos etwa oder als Schützerin der heiratsfähigen Mädchen in Lokroi. Individuell erhalten die Toten natürlich den ihnen zustehenden Grabkult (vgl. u.). Die Griechen und ihre Götter 35 Diese vielen ‘kleinen’ Götter haben oft nur beschränkte Funktionen – z.B. ist Pan als Gott der Wildnis vor allem Beschützer der dort lebenden Hirten und ihrer Herden; Eileithyia ist nur in ihrer speziellen Funktion als göttliche Geburtshelferin bekannt –; sie sind ferner oft lokal sehr beschränkter Natur und viele ihrer Kulte deshalb vor allem (oder auch nur) inschriftlich fassbar.26. Lokal gebunden sind vor allem die zahlreichen Naturgottheiten. Grundsätzlich kann jeder Berg und jeder Fluss als Gottheit aufgefasst werden; kultisch verehrt werden aber nur die Flüsse. Manchmal bringen diese Flußgötter es zu einer Rolle im Mythos, wie der trojanische Fluss Skamander, der in Homers Ilias (21,211-384) einmal zum gefährlichen Gegner des griechischen Helden Achill wird, oder Acheloos, der Gott des gleichnamigen westgriechischen Flusses, der mit Herakles um dessen künftige Frau Deianira kämpft (und dabei eines seiner Hörner einbüsst). Im Kult schließen sich kleinere Götter gern an größere an, wenn sie verwandte Funktionen haben: Die Silene und Satyrn folgen dem Dionysos, Nymphen dem Pan, aber auch dem Hermes (denn beide sind Hirtengottheiten oder können es jedenfalls sein), die Musen dem Apollon (der darum auch ‘Musenführer’ heißt), die Moiren dem Göttervater Zeus als dem Hüter der göttlichen Ordnung.27 Mit gewissen Abstrichen darf man zu den vielen ‘kleinen’ griechischen Gottheiten auch die sogenannten ‘Heroen’ (¥rvew) rechnen. Zum Teil werden sie deutlich von den ‘richtigen’ Göttern geschieden: Herodot sagt einmal (2,44,5), dass es sowohl einen Gott namens Herakles gebe als auch einen ‘Heros’ (d.h. einen verstorbenen menschlichen Helden) dieses Namens und dass diejenigen Griechen am korrektesten handeln, die zum einen dem olympischen Gott Herakles opfern (yÊousi) und zum anderen dem Heros Herakles als Verstorbenem kultische Ehren erweisen (§nag€zousi);28 hier wird also sprachlich explizit zwischen Götter- und Heroenverehrung 26 Etwa derjenige der Leukothea, der ‘Weißen Göttin’, die vom Mythos mit Ino, der Tochter des Kadmos (Hom. Od. 5,333f.: hier trägt sie zur Rettung des schiffbrüchigen Odysseus vor dem Phaiakenland bei) identifiziert wird; dieses Beispiel zeigt, wie gelegentlich auch solche Lokalgottheiten in die panhellenische Mythologie ‘aufsteigen’ konnten. 27 Vgl. GRAF, Griechische Religion, 499. 28 Gerade Herakles ist ein besonderer (auch besonders komplexer) Fall mit seinen zahlreichen Kultstätten und Heiligtümern überall in Griechenland (mit vielen lokal sehr verschiedenen Ausprägungen, die auch Herodot hier immerhin andeutet). Eine gewisse Entsprechung zu dem hier skizzierten ‘doppelten’ Herakles findet sich bereits in der Odyssee (11,601-627), wo Odysseus in der Unterwelt auf den Schatten des – mithin also verstorbenen (und damit ‘heroisierbaren’) – Herakles trifft, während gleichzeitig ausdrücklich gesagt ist, daß Herakles in einer ‘zweiten Ausführung’ auch als Gott auf dem Olymp existiert. 35 Heinz-Günther Nesselrath 36 differenziert. Gleichwohl ist es zu Verwischungen und Annäherungen zwischen Götter- und Heroenstatus angekommen, nicht zuletzt deshalb, weil sich im Lauf der Zeit in der Kategorie der Heroen Wesenheiten verschiedener Herkunft gesammelt haben, angefangen von solchen, die in einer Frühzeit vielleicht einmal als regelrechte Götter galten (vgl. Helena, besonders in Sparta) bis hin zu wirklichen Menschen, die – aus verschiedenen Gründen (s.u.) – zu kultischen Ehren kamen.29 Zunächst aber sind Heroen einfach verstorbene Menschen, allerdings solche, die man nach ihrem Tod als mit besonderer Macht ausgestattet betrachtet und daher für würdig hält, verehrt (und um Hilfe angegangen) zu werden. Eine solche Verehrung kann in den Leistungen dieser Personen zu ihren Lebzeiten begründet sein, z.B. bei Stadtgründern (kt€stai). Ein athenisches Beispiel dafür ist Theseus, der nicht nur in einem sogenannten ‘Synoikismos’ ganz Attika zu der einen Polis Athen vereinigt, sondern mit seinem Königtum auch den verfassungspolitischen Keim der späteren Demokratie gelegt haben soll.30 Vor allem in der Zeit der großen griechischen Kolonisationsbewegung (8. bis 6. Jahrhundert v. Chr.) war es üblich, die (in der Regel adligen) Leiter der Ansiedlungs-Expeditionen, die sogenannten Oikisten, nach ihrem Tod mit ‘heroischen’ Ehren und entsprechenden Kulten auszustatten. In anderen Fällen wird man auf Tote aufmerksam: Wenn diese nach ihrem Hinscheiden bestimmte Zeugnisse von ihrer (fortdauernden oder neuen) Macht ablegen, z.B. als Wiedergänger, kommen auch sie für einen solchen Kult in Frage. Besondere Bedeutung erlangen dabei die, die sich dauerhaft als Nothelfer und sogenannte Heilheroen erweisen; so brachte es der mythische Seher und Held Amphiaraos bei Oropos (an der Grenze Südostboiotiens zu Nordostattika) zu einem großen Kultzentrum, weil er dort von der (durch einen Blitz des Zeus gespaltenen) Erde verschlungen worden sein soll.31 Eine weitere Gruppe Heroen (und Heroinen) – zum Teil mit schon Genannten identisch – sind diejenigen, die 29 Zum Teil scheinen Heroenkulte in ihrer Entwicklung und Ausbreitung auch mit Initiationsriten und -kulten zusammenzugehen; ein Beispiel dafür ist der griechische Held Achill, dessen Kult besonders um den Hellespont herum – Nähe Trojas! –zu finden war und sich dann mit der griechischen Kolonisation an der Nordküste des Schwarzen Meeres entlang ausbreitete). Vgl. GRAF, Griechische Religion, 481. 30 Im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. nahm Theseus’ Verehrung einen besonderen Aufschwung: Um 475 brachte der athenische Feldherr und Staatsmann Kimon die angeblich auf der Insel Skyros liegenden Gebeine des Theseus feierlich nach Athen, um ihm hier ein Heroon zu begründen und Spiele, die sogenannten Theseia, einzurichten. Vgl. auch die mythische Gründerfigur Kadmos im Fall der Polis Theben. 31 Das bei Oropos zu findende Amphiareion wurde in klassischer Zeit zu einem großen Komplex, geradezu zu einer Art ‘Kur-Zentrum’ fast wie das Asklepios-Heiligtum in Epidauros; und noch seine heute zu besichtigenden Überreste (u.a. mit einem Theater) haben beeindruckende Ausmaße. Die Griechen und ihre Götter 37 nach Erzählung des Mythos als Kinder aus der Verbindung von Göttern und Sterblichen auf die Welt kamen; von ihnen berichten die Heldengeschichten, die in den großen epischen Kriegen um Theben und Troja gipfeln. Bemerkenswerterweise kamen diese Helden im frühen 1. Jahrtausend oft zu neuen ‘heroischen’ Ehren, wenn ihnen nun noch aus mykenischer Zeit stammende Kuppelgräber zugeschrieben wurden: Gerade vom 8. Jahrhundert an finden sich bei einer Reihe dieser Gräber kultische Weiheoder Opfergaben, die nichts mit dem sonst in Griechenland üblichen Familien-Totenkult zu tun haben können, da die in den Kuppelgräbern bestatteten Toten bereits Hunderte von Jahren früher beigesetzt wurden; wahrscheinlich hängt diese neu aufkommende Verehrung von Helden der Vorzeit als Heroen mit der gerade in dieser Zeit einsetzenden neuen Phase der Verbreitung der homerischen Epen zusammmen (die nunmehr in schriftliche Form gebracht wurden). Es gibt sogar aus vergleichsweise ‘heller’ historischer Zeit noch Nachrichten über die ‘Heroisierung’ bestimmter Verstorbener, die einiges von den ‘Kriterien’ erkennen lassen, die zu einer solchen Heroisierung führen konnten. Im fünften Buch seines Werks erzählt Herodot von Philippos, dem Sohn des Butakides aus Kroton, einem Olympioniken, der „aufgrund seiner Schönheit von den Bewohnern von Egesta etwas erhielt, was keinem anderen zuteil wurde: an seinem Grab errichteten sie ein Heroenheiligtum und ehren ihn mit Opfern“ (5,47,1f.). Grund für die Heroisierung dieses Philippos ist also seine explizit hervorgehobene besondere Schönheit, weil sie ihm etwas verleiht, das über normales Menschenmaß hinausgeht.32 Im siebten Buch berichtet Herodot vom Tod und feierlichen Begräbnis des hochadligen Persers Artachaies, der den berühmten Athos-Durchstich des Xerxes leitete, in der griechischen Stadt Akanthos; er zeichnete sich durch sehr hohen Wuchs und eine sehr weit tragende Stimme aus, und deshalb „opfern die Akanthier diesem Artachaies aufgrund eines Götterspruchs wie einem Heros“ (7,117,1f.). Auch hier sind besonderer körperlicher Wuchs und die mächtige Stimme ausschlaggebend dafür, dass diesem Mann – der nicht einmal ein Grieche ist! – ‘heroische’ Qualitäten zugesprochen werden.33 Einen noch bemerkenswerteren Fall einer Heroisierung in historischer Zeit schließlich berichtet der kaiserzeitliche Schriftsteller Pausanias (6,9,6-8): Dem Boxer Kleomedes von der Ägäis-Insel Astypalaia war 492 v.Chr. von den Kampfrichtern in Olympia der Sieg aberkannt worden, weil er seinen Gegner – wohl ohne Absicht – getötet hatte; 32 Auch Götter zeichnen sich in der Regel durch eine potenzierte Schönheit aus; vgl. den goldlockigen Apollon, den Apollonios Rhodios vor den Argonauten erscheinen lässt, s.o. 33 Bei dem Entschluss, diesem Mann kultische Ehren zuteil werden zu lassen, ist übrigens ein Orakel involviert; das dürfte ein recht häufiger Vorgang gewesen sein. 37 38 Heinz-Günther Nesselrath Kleomedes verlor vor Wut und Schmerz über diese Zurücksetzung den Verstand, ging nach seiner Heimkehr nach Astypalaia in eine Schule mit sechzig Kindern und riss hier den das Dach tragenden Pfeiler nieder – mit entsprechenden Folgen für die anwesenden Schüler. Als die wütenden Eltern Kleomedes steinigen wollten, floh er ins Heiligtum der Athena, stieg dort in eine Truhe, zog den Deckel über sich zu, und niemand gelang es, ihn zu öffnen, bis die Verfolger das Holz der Truhe zerbrachen; da aber war in ihr kein Kleomedes mehr zu finden. Die entgeisterten Astypalaier erkundigten sich beim Orakel in Delphi, was da passiert sei, und erhielten zur Antwort: „Der Heroen letzten, Kleomedes von Astypalaia, / ihn ehret nunmehr mit Opfern, denn er ist nicht mehr sterblich!“ Ausschlaggebend in diesem zugleich skurrilen und gruseligen Fall ist wiederum, dass Kleomedes eben kein ‘gewöhnlicher’ Mensch ist: Seine gewaltige Kraft (die hier ähnlich wie bei dem biblischen Helden Samson zu einer Katastrophe führt) hebt ihn über Menschenmaß hinaus, und die geheimnisvollen Umstände seines Verschwindens tragen mit dazu bei (bzw. geben wohl sogar den Ausschlag), dass Kleomedes von der delphischen Pythia eines Heroenkultes für würdig befunden wird. Wie wichtig auch ‘politisch’ die Einrichtung und Aufrechterhaltung solcher Heroenkulte sein kann, sei kurz am Beispiel der zehn sogenannten attischen ‘Phylenheroen’ vorgeführt. Diese wurden im Zusammenhang mit der Etablierung der attischen Demokratie durch Kleisthenes um 510 v. Chr. vielleicht nicht völlig neu geschaffen, aber jedenfalls neu institutionalisiert: Kleisthenes wollte an die Stelle der vier alten, stark durch den alten Adel dominierten Phylen (das Wort bedeutet ‘Stämme’ und bezeichnet die wichtigsten Gruppierungen der attischen Bürgerschaft) zehn neue und in ihrer Zusammensetzung möglichst ausgewogene setzen, in denen der alte Adel keine solche Macht mehr haben sollte; und um diesen Phylen auch eine Dignität zu geben, die den ihr jeweils Angehörigen eine Identifikation mit ihnen erleichtern sollte, stellte er sie alle unter das Patronat je eines Heros, der mit der mythischen attischen Geschichte in besonderer Weise verbunden war.34 Die zehn seien hier kurz vorgestellt, um zu zeigen, aus welchen verschiedenen Substraten solche Heroen kommen können: — Erechtheus, Kekrops, Pandion und Aigeus waren mythische attische Könige: Erechtheus hatte erfolgreich Feinde von Attika abgewehrt (und dabei seine Töchter geopfert); Kekrops war der attische Ur-König par excellence (übrigens ein erdgeborenes, mischleibiges Wesen: sein Unterkörper lief in eine Schlange aus); von König Pandion sind dem Mythos vor allem seine Töchter Prokne und Philomele bekannt (er 34 Übrigens soll Kleisthenes diese Idee, mit Heroen Politik zu machen, von seinem gleichnamigen Schwiegervater, dem Tyrannen Kleisthenes von Sikyon, übernommen haben (vgl. Hdt. 5,66,2-67,1). Die Griechen und ihre Götter 39 selbst scheint aber schon in alter Zeit sowohl in Athen wie in Megara einen Kult gehabt zu haben); Aigeus war vor allem als Vater des Theseus (und als Namengeber des ägäischen Meeres) berühmt. — Leos ist ein Kultheros rein lokal attisch-patriotischer Bedeutung: Seine Töchter, die Leokorai, opferten sich wie die Erechtheus-Töchter zum Wohle Athens. — Aias und Akamas nahmen beide am Trojanischen Krieg teil, wurden also im alten mythischen Epos gefeiert; Aias kam von der (seit dem frühen 6. Jahrhundert zu Athen gehörenden) Insel Salamis und war nach Achill der herausragendste griechische Held vor Troja; Akamas ist von lokalerer Bedeutung (er wurde vor allem im Kerameikos und im Hafen Phaleron verehrt). — Die drei noch übrigen Heroen, Hippothoon, Antiochos und Oineus, entstammen der attischen Lokalsage und sind daher im ‘panhellenischen’ Mythos kaum zu finden. Hippothoon war in Eleusis beheimatet (er soll in seiner Jugend ausgesetzt und von einer Stute ernährt worden sein); Oineus war vielleicht ein Angehöriger des attischen Königshauses; Antiochos soll von Herakles abstammen. Alle zehn hatten jeweils ein besonderes Phylenheiligtum an einem Hauptort ihrer Phyle (ringsum in Attika); dazu kam aber auch ein gemeinsames Standbild/Denkmal auf der athenischen Agora (die Basis kam man dort heute noch sehen), das sinnfällig demonstrierte, wie sich die zehn attischen Phylen im Zentrum des athenischen Staates vereinigten. Insgesamt stellen die Heroen ein sehr heterogenes Konglomerat dar; sie bilden gleichwohl einen wichtigen Teil des griechischen Polytheismus, vor allem in seiner je verschiedenen lokalen Ausprägung, die unter Punkt 4 noch etwas genauer zu betrachten ist. Wie flexibel und geschmeidig dieser Polytheismus ist, zeigen schließlich zwei weitere Kategorien, in denen sich ebenfalls eine ganze Reihe griechischer Götter fassen lässt: Vergöttlichte Abstrakta und in die griechische Götterwelt ‘eingemeindete’ nicht-griechische Götter. Eine große Zahl vergöttlichter Abstrakta sind bereits im Pantheon von Hesiods Theogonie präsent: Unter den allerersten göttlichen Wesenheiten, mit denen Hesiods Kosmos beginnt, befinden sich Chaos (die ‘gähnende Leere’) und Eros, der vergöttlichte Geschlechts- und Paarungstrieb; aus dem Chaos entsteht die schwarze Nacht, aus dieser wiederum (in gleichsam dialektischem Umschlag) der helle Tag. An etwas späterer Stelle der Theogonie bringt die Göttin Eris (selber die personifizierte Zwietracht) folgende wenig anheimelnden Abstrakta als ihre göttliche Brut hervor (V. 226-232): schmerzensreiche Mühsal, Vergessen, Hunger, tränenreiche Schmerzen, Kämpfe, Schlachten, Morde und Männertötungen, Zänkereien, Lügen, Reden, Gegenreden, Rechtsverletzung, Verblendung, Eid. Die 39 Heinz-Günther Nesselrath 40 Vergegenständlichung und Vergöttlichung solcher Abstrakta ist also in der griechischen Religion eine seit jeher angelegte Möglichkeit. Gottheiten, die mit konkreten Gegebenheiten verbunden sind, wie Gaia (‘Erde’), Eros (‘Liebe’) oder Hestia (‘Herd’), besitzen schon in früher Zeit Kulte; Hestia ist wahrscheinlich sogar bereits eine Kultgöttin noch indoeuropäischen, d.h. vorgriechischen Ursprungs und ist sogar innerhalb der olympischen Götterfamilie (vgl.o.) als Schwester des Zeus präsent. Im Lauf der archaischen Zeit treten weitere Vergöttlichungen abstrakter Vorstellungen hinzu, z.B. Nike (‘Sieg’ = Siegesgöttin) oder Themis (‘Recht’); in hellenistischer Zeit sind dann sogar Gottheiten wie Dhmokrat€a oder ÑOmÒnoia (‘Eintracht’) „nicht literarische Fiktionen, sondern real verehrte Wesenheiten“.35 In der Neuzeit hat man in einer solchen Proliferation von göttlichen Abstrakta oft einen Verfall echten religiösen Gefühls gesehen; dies aber wird dem Phänomen schon deshalb nicht gerecht, weil es sich eben bis in unsere ältesten Texte zur griechischen Religion zurückverfolgen lässt. Vielmehr zeigt sich hier wiederum eine der Möglichkeiten des Polytheismus: In ihm können Potenzen, deren Wirkung Menschen zu erfahren ggeglaubt haben, zu völlig anthropomorphisierten Gottheiten werden.36 Schließlich sind auch die ursprünglich nicht-griechischen Götter in der griechischen Götterwelt eine keineswegs gering zu schätzende Erscheinung: In einem kontinuierlichen und schon früh beginnenden Prozess erscheinen in den Panthea der griechischen Städte im Lauf der Zeit immer mehr solche aus nichtgriechischen Regionen kommende Gottheiten. So scheint keine Geringere als Aphrodite in den sogenannten ‘Dark Ages’ (d.h. zwischen 1200 und 800 v. Chr.) von Osten her eingewandert zu sein, und wohl im späten 8. Jahrhundert beginnt der Kult der phrygischen Bergmutter (Kybebe oder Kybele) zu expandieren, die schnell mit Rhea, der Mutter des Zeus (und seiner Geschwister) identifiziert wird. Als sich der Blick der Griechen dann – namentlich seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. – bewusst reflektierend auf andere Religionen ausweitet, erweist sich ihr polytheistisches System erneut als bemerkenswert anpassungsfähig, denn es kann nunmehr in zwei Weisen auf diese fremden Götter reagieren: Zum einen lassen sich diese Gottheiten als grundsätzlich mit den griechischen identisch auffassen; in diesem Fall sucht man das Verbindende zu den eigenen Göttern zu 35 GRAF, Griechische Religion, 499. Die Attraktivität, die solche Personalisierungen von Abstrakta haben, liegt auf der Hand: Die Griechen haben sich mit Lust – und teilweise auch mit Verzweiflung – darum bemüht, sich mit Hilfe von Etymologien die Bedeutung der Götternamen und damit auch die Wesensmmerkmale ihrer Träger zu erschließen (Kardinalbeispiel: der Kratylos Platons); vergöttlichte Abstrakta besitzen demgegenüber den Vorteil, dass sie unmittelbar verständlich sind. 36 Vgl. GRAF, Griechische Religion, 499. Die Griechen und ihre Götter 41 entdecken, in der Überzeugung, dass der jeweils verschiedene einzelsprachliche Name nur eine andere Bezeichnung für ein bereits bekanntes göttliches Wesen ist, die man ohne weiteres in die eigene Sprache (und in eine eigene Gottheit) ‘übersetzen’ kann. Diese auch Interpretatio Graeca genannte Betrachtungsweise ist z.B. bei Herodot sehr prominent:37 Er verwendet gern den griechischen Namen zur Bezeichnung auch ungriechischer Gottheiten und nennt etwa die ägyptische Isis Demeter (Hdt. 2,59,2) und den ägyptischen Osiris Dionysos (Hdt. 2,42,2). Kriterien für solche Gleichsetzungen sind die beobachteten Funktionen (und natürlich auch das Geschlecht: eine ägyptische Göttin kann nicht einem griechischen Gott entsprechen); die dabei gemachten Annäherungen sind freilich immer recht oberflächlich. Anders wird verfahren, wenn der spezifische fremde Kult regelrecht in Griechenland eingeführt wird. Das konnte durch in den griechischen Städten niedergelassene Fremde geschehen, die ihre Lokalkulte mitbrachten, die dann freilich außerhalb der engen ‘Landsmannschaften’ meist keinen großen Anhang gewannen. Ein Fall aber, in dem eine ausländische Gottheit recht prominent wird, ist der der thrakischen Göttin Bendis in Athen: Diese hat unter ihrem angestammten Namen bereits im späteren 5. Jahrhundert im athenischen Piräus viele Anhänger und ein eigenes Heiligtum sowie auch ein eigenes regelmäßiges Fest (die Bendideia), an dem sich auch Athener wie Sokrates ohne weiteres beteiligen, wie der Anfang der platonischen Politeia (1, 327a) zeigt, wo das betreffende Fest sogar eine recht ausführliche Beschreibung erhält38. Andere Kulte, wie diejenigen der Götter Adonis oder Sabazios, fassten in eher privaten Kultgruppen Fuß. Im Hellenismus expandierte dann stark der Kult der Isis – der in Alexandria bereits hellenisiert worden war – rund um das Mittelmeer, weil er über eine offensichtlich attraktive „Mischung von Exotik und Bekanntheit“ verfügte.39 In griechischer Spottliteratur (neben klassischen Komödienzeugnissen ist hier vor allem der Satiriker Lukian zu nennen, der einmal eine Götterversammlung beschreibt, in der sich alt eingesessene Götter heftig über fremde ‘Neuzugänge’ beklagen) und dann auch in der Moderne wird der Gegensatz zwischen einheimischen und fremden Göttern in der griechischen Religion zum Teil stark betont; dies wird jedoch der Realität nicht 37 Vgl. BURKERT, W., «Herodot als Historiker fremder Religionen», in: Hérodote et les peuples non grecs (Entretiens sur l'antiquité classique 35), Vandoeuvres-Genève 1990, 1–39. 38 Plat. rep. I 327a. 328a. Schon Kratinos' um 430 v. Chr. aufgeführte Komödie Yrçittai (fr. 73-89 K.-A.) machte sich offenbar über den Bendiskult lustig; höchstwahrscheinlich bestand der Chor des Stücks aus thrakischen Bendisverehrerinnen. 39 GRAF, Griechische Religion, 500. 41 42 Heinz-Günther Nesselrath gerecht – der griechische Polytheismus konnte von außen kommende Kulte weitgehend assimilieren, umso mehr, wenn ihm dazu bereits vorhandene griechische Ansätze zur Verfügung standen (wie z.B. bei Rhea-Kybele, s.o.). 4. Die ‘doppelten’ Götter: Lokale und ‘panhellenische’ Prägung Griechische Götter haben gewissermaßen eine doppelte Identität: einerseits eine ‘panhellenische’, die vor allem im Mythos zutagetritt und die, wie erwähnt, vor allem durch frühe Dichter wie Homer und Hesiod ausgestaltet wurde, und andererseits eine betont lokale, die stark an bestimmte örtlich gebundene Kulte geknüpft ist. Daraus ergibt sich ein bemerkenswertes Paradox: Einerseits ist der Wohnsitz der Götter par excellence der Olymp (gleich, ob man ihn sich als großen Berg oder als himmlischen Ort vorstellt); andererseits wohnen sie aber auch in ihren Lieblingsheiligtümern (Apollon in Delphi, Athena in Athen, Aphrodite auf Kythera) und sind darüber hinaus sogar an jedem ihrer Kultorte in ihrer Kultstatue direkt anwesend gedacht (vgl. dazu u. ‘Tempel, Riten und Orakel’, S. 47); logisch ist das eigentlich unmöglich, aber Logik hat in einer Religion oft nur eine begrenzte Gültigkeit. Die lokal sehr verschieden ausgeprägten Identitäten der jeweils verehrten Gottheiten sind wesentlich dadurch geprägt, dass die maßgebliche politische Systemeinheit des klassischen Griechentums die Polis ist. Je nach Polis können daher die lokalen Erscheinungsformen einer Gottheit in Funktion, Kultform und selbst im Mythos differieren; dass aber diese lokal so unterschiedlich präsenten Götter dennoch Wesen bleiben, die man in auch an anderen Orten verehrten Göttern noch wiedererkennen kann, dafür hat eben die Traditionsstiftung der frühen griechischen Dichtung gesorgt, die über der lokal unterschiedlich ausgeprägten göttlichen Person gewissermaßen einen panhellenischen Überbau errichtet hat. Diese doppelte Identität spiegelt sich auch in der Namengebung der Götter in den einzelnen Kulten wider. Dort setzt sich dieser Name in der Regel aus zwei Bestandteilen zusammen: dem eigentlichen ‘Eigennamen’ (Zeus, Hera, Athena etc.) und einem kultischen Beinamen, einer Epiklese, abgeleitet von §pikal°v = ‘anrufen’. Ohne diese Epiklese könnte man die betreffende Gottheit im Kult gar nicht anrufen; sie zeigt die jeweilige Funktions-Differenzierung bei der betreffenden Gottheit an, und mit ihrer Hinzufügung steigen wir aus der mythischen Vorstellung der Götter in die Bereiche der ‘praktischen’ Religion hinab; wie nämlich die in Heiligtümern gefundenenen Weihinschriften zeigen, gelten die von Menschen dargebrachten Opfer und Dedikationen in der Regel einer durch einen spezi- Die Griechen und ihre Götter 43 fischen Beinamen gekennzeichneten Gottheit. Anders als die Götter‘Eigennamen’, deren Bedeutung meist weder ‘selbst-redend’ noch etymologisch leicht erklärbar ist (was etwa heißt ‘Zeus’?), sind die Epiklesen meist unmittelbar verständlich, und dies aus gutem Grund: Ihre Aufgabe ist ja gerade die genauere Determinierung der Gottheit. Zum einen heben solche Epiklesen bestimmte Kultorte hervor, die als Herkunftsort der Gottheit verstanden werden können (z.B. Artemis Ephesia, Apollon Pythios, wenn diese Götter außerhalb von Ephesos oder Delphi verehrt werden oder wenn ihre lokale Besonderheit stärker betont werden soll), in anderen Fällen können sie auf Funktionsverbindungen mit ähnlichen Gottheiten hinweisen (z. B. Athena Areia).40 Vor allem aber drücken die Epiklesen bestimmte noch deutlich ablesbare Funktionen aus: So ist Apollon Apotropaios, der ‘Abwender’, der Abwehrer von Übeln, und Zeus Ktesios der Hüter des Besitzes. Auch wenn die Epiklese auf einen bestimmten Ort in der Polis hinweist – Zeus Agoraios wird auf der Agora, Apollon Propylaios vor dem Stadttor verehrt –, steht in der Regel dahinter eine entsprechende Funktion: Der Agoraios hat die Aufsicht über das politische Leben (das sich wesentlich auf der Agora abspielt), dem Propylaios ist der apotropäische Schutz des Tordurchgangs anvertraut. In dieser Weise kann z.B. der Gott Zeus einem Athener der klassischen Zeit in seinem alltäglichen Leben in vielen speziellen Formen entgegentreten:41 Als Zeus Hypatos wird er mit unblutigen Opfern verehrt; als Zeus Soter wird er innerhalb eines häuslichen Gastmahls mit der jeweils dritten Trankspende geehrt; als Zeus Polieus feiert man ihn an den Dipolieia im gleichen Monat Skirophorion (etwa Juni-Juli), als Zeus Meilichios am Diasien-Fest im Monat Anthesterion (Anfang Oktober). Im Hause selbst tritt er als Zeus Philios auf, d.h. als Schutzherr einer Mahlfeier; als Zeus Ktesios, d.h. als Schutzherr des häuslichen Besitzes; als Zeus Herkeios, Beschützer des Oikos und seiner Umfassung nach außen; als Zeus Kataibates, Abwender von Blitzen bei Gewitter; und die Reihe ließe sich fortsetzen. Fazit: Der griechische Polytheismus hat göttliche Wesen in erstaunlicher Vielfalt und Fülle – dazu mit vielen lokalen Spielarten – konzipiert und sich über viele Jahrhunderte hinweg als vorzüglich fähig erwiesen, immer noch neue Wesenheiten in diesen reichen Kosmos zu integrieren. Alle diese Wesen sind zwar unsterblich, aber in menschlicher Gestalt und mit 40 Seltener deutet der Beiname auf die Identifizierung zweier Gottheiten hin (z.B. Apollon Paian als Verbindung Apollons mit dem in mykenischer Zeit noch unabhängigen Heilgott Paiawon oder in der späteren Antike Zeus Asklepios als dem Zeus an Machtfülle ähnlicher Asklepios). 41 Nach BRUIT ZAIDMAN, L./SCHMITT PANTEL, P., Die Religion der Griechen: Kult und Mythos, München 1994 (frz. Originalausgabe Paris 1989, 21991), 177f. 43 44 Heinz-Günther Nesselrath menschlichen Eigenarten gedacht; sie sind mächtig (wenn auch nicht allmächtig), und ihre Macht zwingt die Menschen, sich mit ihnen zu arrangieren – was bei entsprechender Umsicht und mit geeigneten Maßnahmen (vor allem Opfern) in der Regel auch gelingt. Gelingt es nicht, d.h. muss der Mensch Unglücksfälle und Schicksalsschläge erleben, so kann er sie sich recht gut als von einer aufgebrachten Gottheit verursacht erklären (wobei deren Zorn gar nicht dem Betroffenen selbst gelten muss); die Welt wird damit zumindest verstehbar (wenn auch nicht unbedingt ungefährlich). Mehr als tausend Jahre lang half dieses Götterbild vielen Griechen, sich in ihrer Welt zurechtzufinden, und weder die kritischen Fragen eines Xenophanes im 6. Jahrhundert vor Chr. noch der Spott eines Lukian im 2. Jahrhundert nach Chr. konnte seine Lebensfähigkeit ernsthaft bedrohen; es waren erst die zum Teil recht brachialen Maßnahmen christlich gewordener römischer Kaiser, die ihm den Todesstoß versetzten.