Piktoriale R eflexivität
(Nach-)Denken über Bilder als Denken in Bildern
Von Simone Mahrenholz
»[D]ie einzige Art Neugier, die die Mühe lohnt, mit einiger Hartnäkkigkeit betrieben zu werden, [ist] nicht diejenige, die sich anzueignen
sucht, was zu erkennen ist, sondern die, die es gestattet, sich von sich
selber zu lösen. [W]as ist die Philosophie heute […] wenn nicht die
kritische Arbeit des Denkens an sich selber? Und wenn sie nicht, statt
zu rechtfertigen, was man schon weiß, in der Anstrengung liegt, zu
wissen, wie und wie weit es möglich wäre, anders zu denken?«
Michel Foucault
Grammatikalisch-logischer Diskurs liegt radikal im Widerstreit mit
Vokabular und Syntax von Materie, von Pigmenten, Stein, Holz oder
Metall […] Wenn überhaupt, dann erreicht Sprache den Bereich von
Materialität nur am Rande. […] Daß Intelligenz höchsten Ranges am
Werk ist, ist unverkennbar.
George Steiner
Die Thematik der visuellen Intelligenz, des visuellen Denkens ist gerade in jenem
»aisthetischen« Zwischenbereich von Bildlichkeit und Bildender Kunst historisch
wie systematisch viel diskutiert. Sie enthält philosophisch ein gewisses Sprengstoff potential. Berührt doch der scheinbar so folgerichtige Übergang vom »linguistic« zum »pictorial«, »iconic« oder jüngst »visualistic« turn1 auch ein ganzes System
der Rationalität, des Denkens und des Anspruchs auf Selbst-Transparenz des Subjekts. Dasselbe gilt für die von der Philosophie scheinbar schmerzlos integrierten
Medienwissenschaften.2 Diese interagierenden Disziplinen machen den auch heute
noch erstaunlich unkontroversen informellen Konsens, philosophischer Weisheitszuwachs bestehe im »Klären der Begriffe«, tendenziell pointenlos. Allerdings hatten
bereits die Diskurse im Umkreis der Gestaltpsychologie und Kunstwissenschaften
das Piktoriale als Form des Verstehens, der kognitiven und, qua ästhetisch verfaßt,
1 Vgl. zur Geschichte dieser Begriffe in geraff ter Form Gottfried Boehm: Iconic Turn – Ein
Brief und W.J.T. Mitchell, Pictorial Turn – Eine Antwort, in: Bilderfragen – Die Bildwissenschaften im
Aufbruch, hg. von Hans Belting, München 2007, 27-47; vgl. ferner Klaus Sachs-Hombach: Bildtheorien – Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, Frankfurt a.M. 2009.
2 So gibt es heute kaum ein philosophisches Institut, daß nicht Medienwissenschaften im
engeren und weiteren Sinn auf dem Lehrplan hat und kaum einen medienwissenschaftlichen
Lehrstuhl, der nicht Philosophen beschäftigt. Als Beispiele einer dezidiert philosophischen Auseinandersetzung mit den Medienwissenschaften vgl. etwa Medientheorien, hg. von Alice Lagaay,
David Lauer, Frankfurt a.M. 2004, ferner Dieter Mersch: Tertium datur – Einleitung in eine negative
Medientheorie, in: Was ist ein Medium?, hg. von Stefan Münker und Alexander Roesler, Frankfurt
a.M. 2008, 304-321.
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Simone Mahrenholz
auch reflexiven Welt- und Selbstaneignung intensiv erforscht und aufgewertet.3 Parallel und in Reaktion auf diese Entwicklung waren es vor allem symbol-logisch und
informationstheoretisch orientierte Philosophen, die das transzendentalphilosophische und konstruktivistische Erbe Kants entsprechend auf bildliche Phänomene ausdehnten.4 Im Zuge des angedeuteten weiten Horizonts existierender Ansätze zu bildlicher Reflexivität widmen sich die vorliegenden Überlegungen der
engeren Frage nach den unterschiedlichen Formen, in denen von bildlicher Reflexivität die Rede sein kann. Dabei erwägen sie zugleich, was mit der Rede vom
»Denken«, Wissen, Verstehen in Bildern näher gemeint sein kann: eine Fragestellung
in Analogie etwa zu der Frage, inwiefern ein Verstehen von Musik mit einem Verstehen in und durch Musik zusammenfällt.5
Das folgende gliedert sich in drei Abschnitte. Zunächst (1) werden Formen der
Reflexivität im Umgang mit Bildern in ihren Unterschieden und ihrer Interaktion
auseinandergelegt, anschließend (2) werden diese anhand von Beispielen zu konkretisieren gesucht, der Schlußteil (3) zieht ein Resumé und benennt einige sich
aus dem Gesagten ergebende weiterführende Fragen.
I. Piktoriale Formen der Refl exivität
Der Begriff der Reflexivität enthält intern eine Spannung, einen Sprung. Er basiert
auf der doppelten Genese dieses Begriff s: herkommend aus einerseits »reflektieren«,
über etwas nachdenken, aus andererseits »reflexiv« im Sinne von Auf-sich-selbstzurückgebogen-sein, selbstbezüglich.6 Die Rede etwa von der Reflexivität des Subjekts kann dieses als der Reflexion fähig beschreiben (im engen Sinne von nachdenken oder im weiten Sinne von mental aktiv, bewußt), sie kann es andererseits auch
als sich-selbst-thematisierend, seiner selbst bewußt charakterisieren. Beides kann
zudem zusammenfallen: Das Subjekt kann denkend oder wahrnehmend sich selbst
thematisieren. Das Subjekt kann jedoch auch über etwas reflektieren, das nicht es
selbst ist.7
3 Erwin Panofsky: Meaning in the Visual Arts, Garden City, NY 1955; Rudolf Arnheim: Anschauliches Denken – Zur Einheit von Bild und Begriff, Köln 1988; vgl. ferner das Œuvre von Ernst
Gombrich und Aby Warburg.
4 Zu denken ist hier v.a. an Philosophen wie C. S. Peirce, Ernst Cassirer, Susanne K. Langer
und Nelson Goodman; vgl. jüngst Nigel Cross: Designerly Ways of Knowing, Basel 2007.
5 Vgl. Simone Mahrenholz: Musik-Verstehen jenseits der Sprache – Zum Metaphorischen in der
Musik, in: Klang – Struktur – Metapher. Musikalische Analyse zwischen Phänomen und Begriff, hg. von
Michael Polth, Oliver Schwab-Felisch, Christian Thorau, Stuttgart . /.Weimar 2000, 219-236;
dies.: Komponisten als neue Philosophen, in: Hören und Denken – Musik und Philosophie heute, hg. von
Marion Demuth, Jörn Peter Hiekel, Mainz, im Erscheinen.
6 »Reflexion: Zurückwerfen, Nachdenken, s. reflektieren. […] Reflektieren: zurückwerfen,
zurückstrahlen, nachdenken«, in: Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache,
22. Aufl age, Berlin . /. New York 1989, 588.
7 Diesen Unterschied benennt im Sprachgebrauch die Unterscheidung von Bewußtsein und
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Piktoriale Reflexivität
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Wird »Reflexivität« mit Ästhetischem im allgemeinen bzw. mit den Künsten im
besonderen verbunden, so tritt zu der hier angedeuteten Oszillation, Dynamik aus
Entgegensetzung und Zusammenfall, eine weitere. Das Ästhetische als Sinnliches
wie als Lehre vom Schönen und der Kunst wurde und wird tendenziell noch heute
einerseits dem Denken entgegengesetzt (in Gestalt der historischen systematischen
Opposition von aisthesis und noesis) 8 , es wird andererseits als Ergänzung oder auch
Teil der Noesis beziehungsweise des »Logos« gefaßt. Eben dieses Zugleich von Entgegensetzung und Zusammenfall im Verhältnis von logisch-wissenschaftlichem und
sinnlich-künstlerischem Agieren war der historische Grund für die philosophische
Gründung der Disziplin der Ästhetik seitens A.G. Baumgarten.9
Die Rede von bildlicher Reflexivität beerbt damit die traditionelle Spannung aus
kognitiver und sinnlicher Aktivität. Bilder denken nicht, und Denken tun wir nicht
in Bildern. Aber woher rührt diese Auffassung? Ist die Währung des Denkens der
Begriff und der Stoff des Denkens das sinnlich Gegebene? Denken wir in Begriffen
und über Sinnliches? In dieser Fassung finden sich sofort die alten Oppositionen von
einerseits kognitiver und emotiv-sinnlicher Tätigkeit, von andererseits (passiver)
Perzeption und (aktiver) Kognition. Es sind jene Gegensätze, die mit der Wissenschaft der »Ästhetik« versucht wurden, aufzuheben, und die zum Zweck dieser
Auf hebung immer wieder erneut befestigt wurden.10 »Der Verstand vermag nichts
anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken«11, so etwa Kant in einer Argumentation mit eben dem Ziel, beide mentalen Aktivitäten zu vereinen.
Eben die Formen und Möglichkeiten dieser Vereinung, der Kognition via bildlich-ästhetischer Artefakte, ist Gegenstand der vorliegenden Überlegungen. Eine
ihrer Thesen ist, daß gerade der Reflexionsbegriff in seiner doppelten Struktur es
vermag, diese Figur näher zu beleuchten. Dabei wird sich zeigen, inwiefern speziell
für das Explizieren dieser Gleichzeitigkeit von Aisthesis bzw. Künsten und Noesis
bzw. Kognitivem in der bildlichen Reflexion der obengenannte zweite Sinn mit
konstitutiv ist: Reflexivität im Sinne des Zurückgebogen-seins, des Selbst-Rückbezugs.
Selbstbewußtsein. Nicht in jedem bewußten, wachen und ggf. denkenden Moment thematisiert
das Subjekt zugleich sich selbst. Gerade emotionell fordernde bzw. immersive ästhetische Erlebnisse können auf Zeit das »Ich«-Bewußtsein suspendieren.
8 Dies gilt von Aristoteles (De Anima) bis zum Kant der Kritik der reinen Vernunft. Vgl. hierzu
die Kapitel zu Aristoteles (3.3) sowie zu Kant (4.3) in: Simone Mahrenholz: Kreativität – Eine
philosophische Analyse, Berlin, 2010.
9 Vgl. z. B. Alexander Gottlieb Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, Hamburg
1983.
10 Dieses dialektische Ineinander von Auftrennen der Differenz von Denken und sinnlichem
Wahrnehmen und ihrer indirekten Befestigung im Zuge der Argmentation lässt sich etwa in
Baumgartens Verteidigung seiner neugeschaffenen Disziplin studieren; vgl. Alexander Gottlieb
Baumgarten: Theoretische Ästhetik (Aesthetica), hg. von Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1988,
§§ 1-13.
11 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 75.
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Die folgenden Ausführungen sind in erster Linie aus phänomenologischer Sicht
des Bilder-Sehens, also aus rezeptionsästhetischer Perspektive formuliert. Dennoch
erheben sie den Anspruch, zumindest in Teilen auch für die Produktion von Werken
zu gelten: Jeder Künstler ist auch ein Rezipient seiner eigenen Werke, und jeder
Rezipient schafft das Werk im Sehen teilweise neu. Ohne ein partielles Überlappen
von Rezeptions- und Produktions-Blick käme Kunst als Kommunikation und Mitteilung gar nicht zustande.
Was also geschieht, wenn wir ein ästhetisches, also künstlerisch intendiertes Bild
sehen? Inwiefern sehen wir nicht nur ein Bild, sondern sehen mit dem Bild? Eine
solche Frage beantwortet sich klarerweise nicht für jedes Bild, jedes Œuvre, Stil
und geschichtliche Epoche gleich. Dennoch lassen sich einige allgemeine Züge
konstatieren. Die folgenden Schritte, zu Zwecken der Analyse auseinandergelegt,
erfolgen in der Realität ungeschieden und nicht in einer spezifischen Reihenfolge,
jedoch in von Fall zu Fall sehr unterschiedlicher Akzentuierung. (1) Wir nehmen
in einem Bild zunächst eine Anordnung von Farben, Formen, ggf. Konturen auf
einer Fläche im Raum wahr (sinnliches Konstatieren). (2) Diese erkunden wir in der
Regel unwillkürlich darauf hin, ob etwas Gestalthaftes, ein Muster oder gar Gegenständliches in der wahrgenommenen Anordnung zu fi nden ist (Synthetisieren,
Gestalt-Bildung). Erstgenanntes, Gestalt- und Musterbilden, ist in der Wahrnehmung
nicht zu vermeiden und liegt insofern immer vor; letztere, Gegenständlichkeit, spielt
in der Kunst des 20. Jahrhunderts eine abnehmende Rolle. Im besagten Prozeß
des Synthetisierens, Strukturierens, Muster- oder Gestaltbildens konstruieren wir
gleichsam ein »inneres Bild« (was nicht mehr meint als das visuelle Pendant eines
Begriffs) oder auch: Struktur, Schema oder Konzept. Eben dies ist der Prozeß des
Strukturierens und Abstrahierens: der Erwerb einer Art visuellen Vokabulars in Auseinandersetzung mit dem Bild.12 In diesen beiden Prozessen spielen Begriffe (noch)
keine notwendige Rolle, ebenso wenig wie im folgenden. (3) Indem wir das Kunstwerk mit eben jenen identifi zierten/projizierten Mustern, Gestalten oder auch Gegenständen im Kopf ansehen – eben darin besteht die betrachtende Strukturierung
und ggf. das Konstatieren von Ähnlichkeitsbeziehungen – sehen wir zugleich mit
diesen auch anderes als dieses Bild an (Projizieren). Das heißt, daß das so akquirierte
visuelle Vokabular die Eigenschaft hat, wie Brillen auch anderes umzustrukturieren13: ähnlich dem Funktionieren von sprachlichen Begriffen, deren (Neu-)Erwerb
ebenfalls dazu führt, Wahrnehmung und damit Welt(-Auf bau) zu strukturieren.14
George Steiner faßt dieses Potential von Bildern dergestalt, daß künstlerische »Anordnungen von Zeit und von Raum […] auf eine Weise, die wir umfassend erfahren, wenn wir sie auch rational noch nicht erfassen können, den erlebten Puls
12 Der Ausdruck »visuelles Vokabular« beinhaltet den im folgenden weiter ausgeführten
Gedanken, daß die im Sehprozeß gewonnenen und abstrahierten Strukturen ebenso wie sprachliche Prädikate dasjenige formen und strukturieren, auf das sie – oft unwillkürlich – projiziert
werden.
13 Vgl. hierzu näher Simone Mahrenholz: Musik-Verstehen jenseits der Sprache [Anm. 5].
14 Vgl. Nelson Goodman, Ways of Worldmaking, Indianapolis 1978.
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Abb. 1: Vincent van
Gogh, Weizenfeld
unter dramatischem
Himmel, 1890.
unseres täglichen Lebens verändern. Die Straßen unserer Städte sind […] andere
geworden, Sommernächte, vor allem gen Süden hin, haben sich mit van Gogh gewandelt«15.
Diese Prozesse laufen wie gesagt im Umgang mit Kunstwerken nie getrennt von
einander ab, die Anwesenheit eines von ihnen impliziert strukturell die der anderen, jedoch treten sie in sehr unterschiedlicher interner Gewichtung auf, je nach
künstlerischer Epoche (und ggf. kunstgeschichtlichem Diskurs in der Auseinandersetzung mit ihnen).
Indem wir mithin ein Bild ›verstehen‹, modifi zieren wir – zumindest in künstlerischen Erfahrungen von Belang, die unser Bildverstehen in eine Auseinandersetzung zwingen – etwas in uns.16 Wenn ein Bild zunächst nichts auslöst, wir es schlicht
uninteressant fi nden und bei näherer Konfrontation allmählich den Eindruck gewinnen, etwas künstlerisch exzeptionell Bedeutendem gegenüberzustehen und dies
schließlich sogar erklären könnten, dann ist uns darin vor allem etwas an unserem
eigenen Sehens- und Verstehensprozeß sozusagen vor Sinnen geführt: Er ist im
Prozeß der Veränderung spürbar geworden.17 Das Bild ist eine Art Passage in einen
veränderten Modus der Wahrnehmung. Eindeutig wendet sich darin unsere Wahrnehmung des Bildes samt darin abgebildeter Sachlage (die keine gegenständliche
sein muß) zugleich auf uns zurück. Hier deutet sich die erwähnte Doppelsinnigkeit
von Reflexivität an, insofern gerade im Ästhetischen die Reflexion über etwas (Reflexivität qua Thematisierung) mit der Selbst-Thematisierung (Reflexivität alias Spiegeln) intim verschränkt ist. Wir bilden also in der verstehenden Auseinandersetzung
mit einem Bild unwillkürlich ein neues Strukturierungs- und WahrnehmungsVokabular, das wir indirekt mit unserem alten kurzschließen und dessen NeuOrdnung wir in diesem Vergleich spüren: ein Vokabular, das sich im von George
George Steiner: Von realer Gegenwart, München 1990, 217.
Vincent van Gogh, Weizenfeld unter dramatischem Himmel, 1890.
17 Mit Kant und der Kritik der Urteilskraft könnte man sagen, wir haben unsere Erkenntniskräfte (die differierenden Partner Imagination und Verstand) neu ge-stimmt (»wohlproportionierte Stimmung«) und als Ausdruck dieses Zusammenstimmens das ästhetische Urteil der Schönheit – im Kunstwerk – gef ällt. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Darmstadt 1968, §§ 9 f.,
21 f.
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Simone Mahrenholz
Steiner beschriebenen Sinn übergangslos und unthematisiert auf die Wahrnehmung
der außerkünstlerischen Alltagswelt überträgt und sie darin verändert.18
Welche Formen von Reflexion oder Reflexivität sind hier im Spiel? Zunächst
erstens: Wenn die Auseinandersetzung mit einem bildlichen Werk die Wahrnehmung (Wahrnehmungspraxis) nicht nur des Werks selber, sondern darin von Welt
modifi ziert, so ist dies gleichbedeutend damit, daß das Kunstwerk auf Welt reflektiert
oder das Subjekt in der Werk-Erfahrung Welt reflektiert, und letztlich auch, daß der
Künstler im Herstellen des Werks (auf ) Welt reflektiert. Entscheidend ist, daß der
Umgang mit dem Kunstwerk eine Form darstellt, Welt, Trans-Künstlerisches verändert aufzuschließen, anzueignen. Eben dies meint die Rede vom Sehen nicht nur
des Bildes, sondern mit dem Bild. Dies macht deutlich, inwiefern auch abstrakte,
also nichtgegenständliche Bildende Kunst, welche in keinerlei denotativen bzw.
darstellenden Beziehung zur Welt steht, dennoch immer und grundsätzlich einen
transkünstlerischen Bezug hat. Kunst ist so, wie selbstreflexiv auch immer, stets und
grundsätzlich auch über anderes als über Kunst.
Ein zweiter Aspekt wurde gerade berührt: der darin vollzogene Selbstbezug auf
Subjektseite, die Reflexivität als Sich-wenden des Subjekts auf seine eigene Erfahrung, sein Erfassen und darin Eingedenkwerden seiner Wahrnehmungs- und Erkenntnisformen und -fähigkeiten, und dies vor allem in der Dynamik der UmOrientierung, Um-Organisation.19 Man kann auch, beide Sinne von Reflexion
verknüpfend, sagen: Das Subjekt reflektiert (spürt) im Prozeß der Welt-via-Kunsterfahrung, oft im Modus der Plötzlichkeit20, seine eigenen sinnlichen Wahrnehmungs- und Symbolisationsformen – und darin seine kognitive Physiognomie im
umfassenden Sinne. Dieser Sinn von Reflexivität im Sinne von Selbstbezug beinhaltet das Realisieren der eigenen Verfaßtheit auf Subjektseite.
Der dritte Sinn künstlerischer Reflexivität liegt in der Selbstbezüglichkeit auf der
›Material‹-Seite des Kunstwerks. Elemente des Werks wirken nicht isoliert, sie beziehen sich grundsätzlich immer auf andere Elemente des Werks und beziehen erst
aus dieser Interaktion, und nicht aus ihrem isolierten Aussehen, ihren Gehalt. In
John Bergers Worten 21: »Alle Erscheinungen verändern einander unausgesetzt: visu18 Für diesen Prozeß ist Gegenständlichkeit, sofern vorhanden, von sekundärer Bedeutung. »Ich
glaube […], daß die sicherste Methode, ein Gemälde zu beurteilen, darin besteht, daß man zunächst
nichts in ihm wiedererkennt und Schritt für Schritt die Folge von Induktionen vollzieht, wie sie
die gleichzeitige Anwesenheit farbiger Flecken auf einem begrenzten Feld erforderlich macht, um
dann von Metapher zu Metapher, von Vermutung zu Vermutung bis zum Verständnis des Themas
aufzusteigen, manchmal auch nur bis zum Bewußtsein des Wohlgefallens, das man nicht immer auf
Anhieb verspürt hat.« Paul Valery: Leonardo da Vinci, in: ders: Werke, hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt,VI, Zur Ästhetik und Philosophie der Künste, Frankfurt a.M. 1995, 47.
19 Vgl. Ulrich Pothast: Philosophisches Buch, Frankfurt a.M. 1988, Kap. XIV.
20 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Zur Vorgeschichte des Plötzlichen – Die Generation des »gefährlichen
Augenblicks«, in: ders.: Plötzlichkeit – Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981,
43-67.
21 John Berger: Über Sichtbarkeit, in: ders.: Das Sichtbare und das Verborgene, München . /.Wien
2007, 235.
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ell hängt eins mit dem andern zusammen. Anschauen heißt, das Sehvermögen der
Erfahrung dieser gegenseitigen Abhängigkeit unterwerfen. Darum heißt anschauen:
erkennen, in ein Ganzes eintreten. … Sichtbarkeit enthüllt die Identität eines Gegenstandes, einer Farbe, einer Form: Identität ist der Schluß aus der Sichtbarkeit:
aber diese Identität hat nichts zu tun mit dem Prozeß der Sichtbarkeit.«
Zugleich und ineins mit dieser Dynamik jedoch beziehen sich die Gestalt(ung)
en indirekt weiterhin auch auf andere Elemente des Œuvres des Malers, auf Elemente im Œuvre anderer Maler der gleichen Epoche, auf Elemente im Œuvre anderer Maler anderer Epochen – sowie auf die Auslassungen in den darin markierten
Aspekten: auf die Grenzen, die in diesen Werken nicht nur gesprengt, sondern vor
allem auch gesetzt wurden. Diese intern-materiale Bezugnahme geschieht durch
Kontrast und Zitat und Bruch mit eingespielten Konventionen und Erwartungen,
durch Anspielung und Variation, durch Umformung, Konterkarieren. Diese Selbstbezüglichkeit auf Materialseite – ohne daß, wie gesagt, notwendig eine Referenz auf
Gegenstände, transkünstlerische Praktiken, Welt stattzufi nden hätte – ist ebenfalls
zentrales Spezifi kum künstlerischer Artefakte.
Wir haben jetzt also drei Formen von Reflexivität in der ästhetischen Erfahrung
herausgearbeitet, welche grundsätzlich zusammen auftreten, d. h. interagieren,
wenngleich in von Fall zu Fall unterschiedlich stark gewichteter Ausprägung und
keinesfalls notwendig in dieser Reihenfolge. Erst in ihrer Gesamtheit konstituieren
sie ästhetische Reflexivität. Es sind: (1) künstlerische Reflexivität als Reflexion-über
oder von etwas: von Welt bzw. Welt und Selbst (im folgenden Reflexivität1 oder kurz
R1 genannt). Dies ist die kognitive, Welt-aufschließende Seite der ästhetischen Erfahrung, symboltheoretisch die Seite des Sagens oder Verweisens – wobei der Verweis
oder die Referenz wiederum nicht in der Form gegenständlichen Bedeutens auftreten muß. Sie kann sich allgemein auf die oben zitierten »Anordnungen von Zeit und
von Raum« beziehen.22 Aus diesem Grund geht dieser »Weltbezug« auch nicht in
Abbildung oder Denotation auf. (2) künstlerische Reflexivität qua materiale Selbstbezüglichkeit auf Seiten des Werks, des Objekts (R 2); (3) künstlerische Reflexivität
als Selbstbezug und Selbstveränderung des Subjekts im Prozeß der ästhetischen
Erfahrung: das heißt, eine Modifi kation und ggf. Thematisierung der eigenen
Wahrnehmungs- und Erkenntnismodi (R 3). Dies liegt vor in Gestalt des in der
konkreten ästhetischen Erfahrung veränderten visuellen Wahrnehmungsvokabulars
oder Reaktions-Repertoires. Das Subjekt erfährt in der Bildwahrnehmung sein
eigenes Erfahren, und dies geschieht, insofern es in der Auseinandersetzung mit dem
Bild verändert wird.
Die genannten Formen der Reflexivität sind, wie betont, Aspekte eines einheitlichen Prozesses; sie treten in der Praxis zwar nie ungetrennt auf, doch im konkreten Prozeß bzw. ihrer Analyse stehen in der Regel einer oder zwei dieser Aspekte
im Vordergrund.
22
Steiner: Von realer Gegenwart [Anm. 15], 217.
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II. Beispiele
Betrachten wir vor dem Hintergrund dieser Unterscheidungen einige konkrete
Werke – ohne daß mit ihnen und mit der aus ihrer Diskussion hervorgehenden
Schlußfolgerung auch nur der mindeste Anspruch auf kunsthistorische Vollständigkeit oder auch nur Repräsentativität verbunden wäre.
Eben wurde in der Bemerkung George Steiners im Zusammenhang mit dem
Welt-verändernden Aspekt der Kunst bereits van Gogh erwähnt. Wesentlich ist,
wie angedeutet, daß etwa in dem oben abgebildeten Gemälde Weizenfeld unter
dramatischem Himmel von 1890 der transformative Effekt einer Umordnung von
Wahrnehmung – »von Zeit und Raum« und Farbe, Atmosphäre, Lichtverhältnissen – keineswegs zwingend mit der Gegenständlichkeit des Gemäldes zu tun
hat. Dies sei noch einmal näher erörtert, zunächst an dem folgenden Beispiel: fünfzig
Jahre später.
Wir sprachen oben von der Erkundung
der Anordnung von Farben, Formen, Konturen, Rhythmen auf einer Fläche im
Raum: dem sinnlichen Konstatieren. Dieses
ist nicht zu trennen vom Versuch der Synthetisierung, der Einheits- und Gestaltenbildung. Das vorliegende Bild ist in dieser
Hinsicht bemerkenswert Muster-resistent.
Evidenterweise spielt es u.a. mit und auf der
Grenze zwischen Gegenständlichkeit und
Ungegenständlichkeit und lebt gerade in
diesem Spiel davon, daß Teile untereinander
Bezug nehmen und diese Bezugnahmen zugunsten alternativer Synthesen dementieren,
Abb. 2: Paul Klee, Bergdorf, herbstlich, daß sie sich gegenseitig zitieren und variieren, voneinander absetzen und zugleich zu
1938.
einander in Ähnlichkeitsrelation treten, daß
sie aus ihren diskontinuierlich-sprunghaften Referenzen untereinander eine starke
Dynamik beziehen. Und dieser Prozeß beschreibt zugleich die Aktivität auf Subjektseite. Indem unser Blick Ähnlichkeiten herstellt, muß er beständig springen,
muß seine Spur kreuzen, muß zu früheren Verbindungen in Konkurrenz treten,
sie überschreiben, korrigieren – ein potentiell nicht endender Prozeß, der aber
gelenkt oder initiiert ist von dem vorliegenden Werk: dessen Organisation. Insofern fi ndet sich hier zunächst evidenterweise R 2: im Sinne von Selbstbezüglichkeit
auf Objektseite, der Seite des Materials.
In der Realität einer Bildwahrnehmung hätten wir als Betrachter längst bei
näheren Informationen Hilfe gesucht zur Leitung unserer Wahrnehmung. Bergdorf,
herbstlich heißt dieses Werk Paul Klees von 1938. Ziehen wir dieses Wissen bei der
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Betrachtung zurate, so fragt sich: Ist dieses Bild eine Reflexion im und mit dem Bild
über Bergdörfer – insofern als sie unsere Wahrnehmung ihrer verändert? »Denken«
wir also mit dem Bild über (das Wahrnehmen von) Bergdörfer(n) nach? Oder denken wir mit unserer Erfahrung von Bergdörfern, Bergen, Dörfern und dörfl ichen
Bestandteilen über das Bild nach? Denken wir mit der Spannung zwischen Bild und
Titel über das Sehen nach? Oder denken wir überhaupt nicht nach, sondern erfassen
bestimmte Aspekte der Welt in der Bild-Erfahrung und bestimmte Aspekte des Bildes
mittels unserer Welt-Erfahrung?23 All dies trifft zu, und die Entscheidung bezüglich
des Nachdenkens hängt davon ab, was wir unter »Denken« verstehen wollen. Obige
Rede von Sich-etwas-erfassend-aneignen oder Thematisieren deutet den hier impliziert vertretenen weiten Begriff von Denken an: im Sinne von Verstehen, auch
von Handeln können, von strukturierendem und integrierendem Umgang mit Symbolen, ein Begriff auch, der nicht trennscharf von körperlichem sowie emotionellem
Empfi nden, Erfassen, Unterscheiden und mithin Wahrnehmen zu scheiden ist.24
Paul Valery bezeichnet Malerei in diesem Sinne als eine »Kommunikation zwischen
[…] verschiedenen Denktätigkeiten« 25.
Abb. 3:
Wyndham Lewis,
Protraction, 1913.
Dieses Werk, Protraction (Verzögerung, Hinziehen), von Wyndham Lewis (1913)
ist in mindestens zweierlei Hinsicht auff ällig. Einerseits ist es »weniger« abbildend
(stellt keinen Gegenstand oder Szenerie als solche dar), andererseits wiederum stärker mimetisch als das obige von Paul Klee, insofern es formal-evokativ auf ErfahZu dieser Welt-Erfahrung gehören auch die ausgedehnteren Kunst-Erfahrungen.
Jede auch nur ansatzweise übersichtliche Verweis-Sammlung auf philosophische Bestimmungen des Denkens jenseits begriffl icher Aktivität würde den hier gegebenen Rahmen sprengen; vgl. für umfangreichere Bestimmungen des Denkens etwa John Dewey: How We Think,
Boston 1933; Antonio R. Damasio: Descartes’ Error – Emotion, Reason, and the Human Brain, New
York 1995; Hans Joas: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a.M. 2002; vgl. Francesco Varela,
Evan Thompson, und Eleanor Rosch: The Embodied Mind, Cambridge, MA 1991.
25 Paul Valéry: Leonardo da Vinci [Anm. 18], 48. Vgl. ferner in diesem Sinne unter informationstheoretischem Gesichtspunkt Gregory Bateson: Ökologie des Geistes, Frankfurt a.M. 1983,
596; vgl. ferner ders: Stil, Grazie und Information in der primitiven Kunst, in: ders.: Ökologie des
Geistes, 182-216.
23
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rungsfragmente aus der Welt bezug nimmt (Zahnräder von Uhren, Schwungräder,
Kathedralenperspektiven, Treppenfluchten, Pfl anzlich-Sedimentiertes – die Reihe
ließe sich fortsetzen). Klee unterläuft im obigen Beispiel die Ähnlichkeitsrelation
im einzelnen und zitiert sie im Ganzen; Lewis unterläuft die Ähnlichkeitsrelation
im Ganzen und zitiert sie im einzelnen. Damit löst er das Wahrnehmungsvokabular gleichsam in seine Atome auf, thematisiert den Prozeß der Auflösung und ReSynthetisierung im Akt (ästhetischer) Wahrnehmung. Dieses ist einerseits eine
Form der Reflexivität 3: das Selbst bekommt seine eigenen Wahrnehmungsmodi im
Akt der Synthetisierung spürend »vor Augen« geführt. Andererseits sind R1 und R 2
evidenterweise ebenfalls involviert: die Reflexion, Thematisierung des (visuellen)
»Auf baus der Welt« sowie die selbstreferentiellen Relationen im symbolisierenden
Werk. Zugleich unternimmt das Bild etwas, was Bilder strenggenommen nicht
vermögen: Es evoziert eine Bewegung, eine Verlangsamung. Darin operiert es
metaphorisch und streng genommen cross-modal, modusübergreifend, es reicht in
zeitliche Daseinsmodi hinein.26 Die Malerei jener Zeit konkurrierte mit dem noch
jungen Medium Film und dessen Darstellung von Bewegung; sie reagierte aber vor
allem auch auf die Fotographie: letzteres beispielsweise, indem sie durch die multiplen Perspektiven des Kubismus Abschied von schlichten Formen des Ähnlichkeit
nahm. Das Bild reflektiert in diesem Sinne die Möglichkeiten seiner Bildlichkeit als
solche, sich darin weniger auf sich selbst als auf sein Medium als Ganzes beziehend.
Obwohl eine solche, die Grenzen der eigenen Medialität transzendierende Reflexivität als Form materialer Selbstreferenz (R 2) anzusehen wäre, ließe sie sich zu
anderen Zwecken auch als eine weitere, vierte Form von Reflexivität bestimmen,
und sie wurde in symboltheoretischen Zusammenhängen als Charakterisierung von
»Ausdruck« (expression) eminent wichtig.27
Schließlich ein Sprung in die Mitte des letzten Jahrhunderts: Jackson Pollocks
Lavender Mist von 1950.
Es erforderte letztlich eine eigene Untersuchung, sich diesem und verwandten
Künstlern (wie etwa auch Mark Rothko) unter der Reflexivitätsfrage zu widmen.
Nahe liegt immerhin zunächst, das Werk als Kritik, Dementi, Verweigerung der
gebräuchlichen Formen von Reflexivität zu verstehen, insbesondere einer Verweigerung von R1 (Weltbezug, Kognition) und R 2 (Selbstbezug des Materials im
herkömmlichen Sinne). Damit erreicht er nebenbei gesagt eben darin, daß die
Schöpferintention im herkömmlichen Sinn ausgeschaltet scheint, auf einer anderen
26 Vgl. zu einer solchen cross-modalen Reflexion nicht nur von einzelnen Werken sondern
von Genres als ganzen z. B. Jean-Luc Nancy: Die Künste formen sich im Gegeneinander, in: Aisthesis – Zur Erfahrung von Zeit, Raum, Text und Kunst, hg. von Nikolaus Müller Schöll und Saskia
Reither, Schliengen 2004, 13-19; vgl. ferner zur Verbindung zweier konkreter Medien Lorenz
Engell: Bild und Ort des Klangs – Musik als Refl exion auf die Medialität des Films, in: Filmmusik –
Beiträge zu ihrer Theorie und Vermittlung, hg. von Victoria Piel et al., Hildesheim 2008, 11–24.
27 Vgl. Nelson Goodmans Konzeption des »Ausdrucks« als medienübergreifende (»metaphorische«) Exemplifi kation. Vgl. weiterhin Nelson Goodman: Languages of Art, Indianapolis
1976.
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Piktoriale Reflexivität
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Abb. 4: Jackson Pollock,
Lavender Mist, 1950.
Ebene eine Radikalisierung des materialen Selbstbezugs: kein störendes Malersubjekt steht mehr »zwischen« der Farbe und ihrem Effekt. Dieser Umschlag vom
Dementi in den Vollzug läßt sich naheliegenderweise auch für R1, den Weltbezug,
herstellen.
Schließlich ist mit Pollocks Tropftechnik der intentionale Farbauftrag, wie er
noch die Malerei von Klee und Lewis kennzeichnet, deutlich relativiert, und ausführlich dokumentiert ist in Clement Greenbergs Auseinandersetzung mit seinem
Mentee Pollock etwa dessen Bemühen, letzterem die Relikte des Symbolismus
auszutreiben, seinem Credo zufolge gilt: ›Farbe ist Farbe und Leinwand ist Leinwand und soll auch nicht mehr sein‹.28 Doch gerade darin, in dieser mehrfachen
Verweigerung, läßt sich, wenn man sich dem hypnotischen, gleichsam einsaugenden
Effekt dieses Werkes überläßt, dialektischer- oder paradoxerweise ein Effekt auf das
Selbstverhältnis, auf die eigene Wahrnehmung und die Wahrnehmung der eigenen
Wahrnehmung (R 3) konstatieren, welche von jedem Gegenstandsbezug, Formbezug,
jeder Intentionalität oder Sinnhaftigkeit abzuprallen scheint: eine Prozeßhaftigkeit
auch hier, insofern eine Art Wirbel, Schwingen, eine fl irrende Dreidimensionalität
sich auftut, in die der Betrachter wie in ein Zeit- und Raumloch eingehen kann.
Gerade in diesem, metaphorisch gesagt, emphatischen Abprallen der Betrachterintention von R1 (Welt) wie auch R 2 (Material-Selbstbezug) wird die Konfrontation
des Subjekts mit sich selber unausweichlich. – (Und von hier, ließe sich fortfahren,
geht die Passage gleichsam in die nächste Runde auch der beiden anderen Relata
der Reflexivitäts-Trias: auf einer höheren Ebene.)
28 Vgl. Clement Greenberg: Modernistische Malerei, in: ders.: Die Essenz der Moderne – Ausgewählte Essays und Kritiken, Hamburg 2009, 265-278.
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Simone Mahrenholz
III. Fazit
Betrachtet man die oben angesprochenen Beispiele im Zusammenhang, die jeweils
etwa ein Vierteljahrhundert auseinanderliegen – 1890 van Goghs Weizenfeld, 1913
Lewis’ Protraction, 1938 Klees Bergdorf, 1950 Pollocks Lavender Mist –, so scheint es,
als ließe sich, als Diskussionsangebot, eine These hinsichtlich der Reflexivitätsformen vom Weltbezug (R1) über den Werk-materialen Selbstbezug (R 2) hin zum
radikalisierten Subjekt-Selbstbezug (R 3) konstatieren. Werden die konzentrischen
Kreise, die das Werk in seinen reflexiven Bewegungen zieht, nicht immer enger,
oder genauer, wird die Schlinge immer enger, die das Werk um den Betrachter
zieht, auf daß es ihn nicht mehr direkt an seine Materie heranläßt, sondern vielmehr mit jedem Blick wie in einem Spiegel zurückprallen läßt? Andererseits wirft
dieser nun allerdings nicht mehr des Betrachters Bild zurück oder dessen SehBegehren, sondern, abstrakter und basaler, dessen eigene, prozessuale, Wahrnehmungsform. Es scheint, als sähe der Betrachter im Spiegel des Werks zunehmend sein
eigenes Sehen, als sähe die Betrachterin – beispielsweise auch bei Mark Rothko –
vor allem ihr eigenes Erfaßt-Sein: ihr Suspendieren der kognitiven Waffen – zugunsten der Konstatierung des »Passens« (Kant), der »Hörigkeit« (Susan Sontag)
oder der ausreichenden ›Stärke, sich überwältigen zu lassen‹ (George Steiner)29
Nach diesem Verständnis, das im übrigen so neu nicht ist 30, entspräche die Entwicklung der Bildenden Kunst zumindest bis ins 20. Jahrhundert dem Prozeß des Durchlaufens der drei genannten Ausformungen piktorialer Reflexivität in unterschiedlichen Emphasen oder Gewichtungen: von der Ausrichtung auf den Weltbezug (R1)
über die zunehmende Autonomisierung des internen Werk-Selbstbezugs (R 2) bis
hin zur radikalen Selbstkonfrontation des Subjekts: mit seinen, im Akt der Kunsterfahrung alterierten aisthetisch-kognitiv-emotiven Auffassungsmodi.
Es schließen sich an diese Überlegungen eine Fülle weiterer Fragen an, die hier
nicht verfolgt werden können. Etwa: Gibt es (ästhetische) Reflexivität jenseits des
(sie begleitenden) Bewußtseins des Kunst-Rezipierenden, und wie ist diese auszubuchstabieren? Hängt das die-Reflexion-begleitende Bewußtsein grundsätzlich mit
Sprache zusammen? Bin ich einer ästhetischen Erfahrung bewußter, besitze ich sie
klarer und deutlicher, wenn ich sie in Sprache ausdrücken kann? Oder verliere ich
gerade etwas von ihr, indem ich eine solche Erfahrung in Sprache überführe?31 –
29 Damit wäre Kant, der in seiner Kritik der Urteilskraft das ästhetische Urteil »das ist schön«
als Ausdruck des »lust«-vollen Konstatierens der eigenen Wahrnehmungs- und Erkenntnisf ähigkeit des rezipierenden Subjekts charakterisierte (vgl. ebd. insbesondere §§ 9 und 21), somit erst
um 1950 und später künstlerisch fi nal realisiert und eingeholt worden. Vgl. ferner Susan Sontag:
Kunst und Antikunst, Frankfurt a.M. 1982, 30; vgl. Steiner: Von realer Gegenwart [Anm. 15], 231237.
30 In anderem Vokabular steckt es in zahlreichen Theorien zur Kunst der Moderne; vgl.
beispielsweise Arthur Danto: The Transfi guration of the Commonplace, Cambridge, MA 1981.
31 Vgl. hierzu das 3-Stufen-Modell der Reflexion . /. Artikulation in kritischer Auseinandersetzung mit Brandom: Matthias Jung: Making Us Explicit, in: Anthropologie der Artikulation, hg.
von Magnus Schlette und Matthias Jung, Würzburg 2005, 125 ff.
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Piktoriale Reflexivität
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letzteres eine Position, für die eine Fülle von Künstler-Poietiken nachdrücklich
votierte. Was ist die innere »Währung« des Denkens? Welche Rolle spielen Bewußtsein und Selbstbewußtsein in dem Moment, wo der Denk-, und umfassender, der
Reflexionsprozeß nicht im Medium des Wortes statthat? Der Umstand, daß diese
Fragen nahezu mit dem ersten Schritt des Nachdenkens über das vielbesprochene
Phänomen ästhetischer Reflexivität aufgeworfen werden, macht vor allem deutlich,
daß sich die Forschungen zur Ästhetik und zur Kunstwissenschaft keineswegs in
einer disziplinären Nische der Philosophie und der Geisteswissenschaften im Ganzen bewegen. Es zeigt vielmehr, inwiefern die Thematik ästhetischer Reflexivität
schon in den ersten Schritten ins Herz philosophischer Epistemologie, Semiotik,
Philosophie des Geistes und Anthropologie führt. Und es erklärt vielleicht, warum
wir Subjekte zuweilen bereit sind, für ein Werk Himmel und Hölle in Bewegung
zu setzen, ohne je genau zu wissen, warum wir es tun
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