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Zuerst ersch. in : Die List der Gene : Strategeme eines neuen Menschen / hrsg. von Bernhard Kleeberg ... - Tübingen : Narr, 2001. - S. 21-72. - (Literatur und Anthropologie ; 11). - ISBN 3-8233-5710-7 Bern/;ard%Ieeberg / Tttmann Waiter Der mehrdimensionale Mensch Zum Verhaltnis von Biologie und kultureller Entwicklung1 Mit der Entschliisselung des menschlichen Genoms gewinnt die Idee der "Biologie als Leitwissenschaft" erneut an Gewicht. Damit scheint auch eine Konjunktur naturalistischer Wesensbestimmungen des Menschen einherzugehen. Vermehrt wird auf Genetik und Evolutionsbiologie verwiesen, die allein den Zugang zum Verstandnis des Menschen und seiner Kultur eroffneten: Nur sie lieferten ein eindeutiges und fortschreitendes Wissen iiber das If-as des Menschen und das f,f:7i'e seiner Entstehung - eine Ansicht! die wir im folgenden als netlen Nattlrttiismtls bezeichnen. Aber ist dem Menschen ein VorversUindnis seiner Natur nicht immer schon und auf verschiedene Weisen gegeben? Gibt es nicht alternative Bestimmungen des Menschen in anderen Wissensgebieten? Im Rahmen des Denkstils des neuen Naturalismus werden diese Fragen verneint: Die Erforschung der conditt'o IJtlmana obJiege allein der Biologie. Ein Grund dafiir mag in der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zum Topos gewordenen Unterstellung Jiegen, daB es sich bei alien Gegnern einer rein evolutionstheoretischen Bestimmung des Menschen urn Kreationisten handeln miisse: AuBerhalb der Alternative Evolution oder Schopfung erscheint keine Bestimmung des Menschen denkbar. Diese Dichotomisierung geht vielfach mit dem Vorwurf seitens der Vertreter evolutionsbiologischer Position en einher, der Mensch stelle sich zu Unrecht in das Zentrum der Natur. Angesichts des Ganzen der Natur und ihrer Evolution sei er aber nur ein kleiner und unbedeutender Organism us. DaB dieser Vorwurf freilich in erleen - wer sollte sich sinnvoll mit Mensch und Natur auseinandersetzen, wenn Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-233703 Fur ausfiihrliche Kritik und Anregungen danken wir Ruth und Dieter Groh. Wolfgang Enard. Wolfgang Friedlmeier. Amrei Onnasch sowie Ingrid Wurst. Unser besonderer Dank fUr die vielen Muhen der Literaturbeschaffung geht an Silke Armbruster. Anna Doyle und Franziska Zahn. Die AbsGhnitte Ibis 7 des vorliegenden Texts abzuglich der AusfUhrungen zum psychosomatischen Zeichenmodell stammen von Bernhard Kleeberg unter Mitarbeit von Tilmann Waiter. die Abschnitte 8 und 9 von Tilmann Waiter. Selbst· verstandlich zeichnen beide Autoren ftir den gesamten Text verantwortlich. 22 nicht der Mensch selbst? - wird nicht erkannt.2 Kurioser Weise teilen Vertreter des neuen Naturalismus und schOpfungstheologischer Argumentationen allerdings einen Fortschrittsoptimismus, der sich auf Seiten der NaturaIisten in Prognosen tiber das notwendige und unausweichliche Fortschreiten der neuzeitlichen Wissenschaften zu einer "Einheit des Wissens" niederschlagt. Eine Auffassung, hinter der der Glaube an einen linearen ProzeB naturwissenschaftlicher Wissensakkumulation steht.3 Dieser jetzt wieder vehement vertretene Standpunkt bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das Menschenbild. Vor kurzem erregte der Edinburgher Biologe Austin Smith Aufsehen, als sich herausstellte, daB sein 1993 erteiltes Patent zur Herstellung transgener Tiere die Herstellung transgener Afenschen nicht explizit ausschloB. Zu seiner Verteidigung betonte er: "Bis 1998 muBte niemand eigens darauf hingewiesen werden, daB mit Tieren keine Menschen gemeint sind. "4 Es scheint, als ha be sich unbemerkt ein Wandel des Menschenbildes vollzogen. Zum Problem der Dichotomisierung in Evolutionsgegner und -befiirworter, die beson· ders die nordamerikanische Debatte pragt, vg!. Thomas Nagel. me Last Word, New York/Oxford. 1997. 133. Hierzu vgl. auch Jeremy Rifkin, Das biotecbnologisc/;e Zeitaltcr. Die Geschifie mit der Genetik, Miinchen 1998, 15: Skeptiker wiirden pauschal als "Maschinenstiirmer, Vitalisten, Angstmacher und Fundamentalisten" bezeichnet. Ein gutes Beispiel fUr diese Art der Dichotomisierung liefert Daniel C. Dennet!, Darwins Dan· gerofls Idea: Evolution and tbe meanings 0/Lift, New York 1995. dt.: Darwins g/ffohrlIches Erhe. Die Evolfltton flndder Sinn des Lehens, Hamburg 1997, bes. 17-24. Seine Gegner be· zichtigt Dennett, eine "postdarwinistische Konterrevolution" voranzutreiben (84). Vor die Alte"rnative Kreationismus vs. Evolutionstheorie sieht man sich selbst in ansonsten ausgewogenen und informativen Studien gestellt, wie etwa in Andreas Paul, Vim Affen Imd;f;fenschen. VerhaltensblologiederFnmaten, Darmstadt 1998, VII. Wohl der prominenteste Vertreter dieser Denkfigur ist Edward O. Wilson, Consilec~ The Unityo/f(nowledge, New York 1998 (dt.: D;eEinhettdes Wissens, Berlin 1998). Wilson bezeichnet seine Position als "scientific holism" (85). Diese Idee flndet sich bereits in seiner mittlerweile klassischen Schrift Socioblology. me new syntheJ'is, Cambridge (Mass.) 1975: "Sociology and the other social sciences, as well as the humanities, are the last branches of biology waiting to be included in the Modern Synthesis. One of the functions of sociobiology, then, is to reformulate the foundations of the social sciences in a way that draws these subjects into the Modern Synthesis. Whether the social sciences can be truly biologicized in this fashion remains to be seen" (4). Vg!. dazu den Beitrag von Tilmann Waiter im vorliegenden Band. Eine vergleichbare Position in Ankniipfung besonders an Richard Dawkins vertritt Dennett, Darwins gefihrlIches Erbe (Anm. 2). Ken Wilbur geht ,r..-/d&4g~(:.>j'"I O£C f---eTSOOTlllng van wt?is!:eit "net W/sse?t, Frankfurt/M. )l)!)13, noch elnen Schrltt weiter und visioniert ein neues Zeitalter, in dem Naturwissen· in /W".:'Qwrfc,(~l schaft und "tiefe Wissenschaft" (263) - die Erleuchtung aus dem Osten - vereint die Grundlagen einer gliicklichen Menschheit bilden. ,,!ch bin der erste, der offen iiber unsere Vision spricht", Interview mit Austin Smith, in: h't1nkforterAIlgememe Zetilmg Nr. 123, 27. 5. 2000, 43. 23 Ludwig Fleck hat es als den "charakteristischen Fehler" der Geisteswis· senschaften bezeichnet. angesichts der Erkenntnisse der Naturwissenschaf. ten in allzu grofiem Respekt zu versinken. 5 In diesem Sinne wollen wir die jiingsten Erkenntnisfortschritte der Humangenetik als Chance und als Anregung aufnehmen. aktueIle Ansatze in den Biowissenschaften zu disku· tieren. soweit sie mit ihren Aussagen iiber das Wesen des Menschen und der menschlichen Kultur fachiibergreifende Orientierungsanspriiche anmelden. Wir wollen den Versuch unternehmen. einen Einblick in zentrale biologische Positionen innerhalb dieser Debatte zu vermitteln und mit Hilfe eines wissenschaftstheoretischen. wissenschaftshistorischen und sprachphilosophischen Instrumentariums zur konstruktiv-kritischen Einschiitz,mg solcher Argumente zu gel an gen. Ausgehend von einer einleitenden Stellungnahme zur Diskussion urn Naturalismus od er Konstruktivismus werden verschiedene lebenswissenschaftliche Positionen auf ihren Anspruch auf Eindeutigkeit hin untersucht. Dabei zeigt sich. daB diese vom neuen Naturalismus viel beschworene Eindeutigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse lediglich ein Postulat darstellt. denn das empirische Datenmaterial erlaubt eine Vielzahl von lnterpretationen und SchluBfo!gerungen iiber das Verhaltnis der bio!ogischen Ausstattung des Menschen zu seinem sozioku!turellen Handeln und seinem Selbstverstandnis. Und mehr noch: Die Suggestion einer endlich erreichten neuen Eindeutigkeit erweist sich bereits mit Blick auf den Forschungsstand innerbal6 der Biowissenschaften selbst als starker konstruiert. als den neuen Naturalisten lieb sein mag. Tatsachlich haben sich auf methodischer Ebene und im Objektbereich !angst pluralistische Ansatze durchgesetzt. lm ersten Abschnitt nehmen wir zunachst eine erkenntnis· und wissenschaftstheoretische Positionsbestimmung vor. die urn die Problemkornplexe Konstruktivismus/Naturalismus und sinnhafte/sinnferne Natur kreist. Davon ausgehend werden evolutionare Einheitsvorstellungen und Eindeutigkeitsannahmen der Verhaltensgenetik zum Thema gemacht. urn diese anschlieBend rnit mebrdimeasional verfahrenden Erklarungsansatzen der eigenen Disziplinen zu konfrontieren. Den Naturalisierungstendenzen. wie sie in der Zuriickfiihrung des Menschen. seiner Kultur und Geschichte auf Lebenszusammenhange und Evolution nichtmenschlicher Lebewesen auszurnachen sind. werden folglich nicht-reduktive ModelIe aus denjenigen angewandten Lebenswissenschaften gegeniibergesteIlt. fUr die der eigenstandige Charakter des Menschen konstitutiv ist und die den diversen Fragestellungen nach dem Menschen jeweils eigene Methoden zuordnen. Die Vie!- 5 Ludwig Fleck. £ntsteh"ng ttnd£ntwtckbtng einer wissenschaJibchen 7dtSdChe: £tl?/ilhrtl7tg in die Lehre vom Denkstt/;mdDmkkollektiv. Frankfurt/M. 1993. 54. 24 zahl unterschiedlicher Diskussionsstrange innerhalb der besprochenen Kontexte lieB es uns dabei angemessen erscheinen, inhaltliche Fortftihrungen zu einzelnen Teilaspekten in einem weitraumigen FuBnotenapparat naher darzustellen. 1. Sinnhaft konstruierte Natur Die Rolle des Hauptgegners des neuen Naturalismus hat der "postmoderne Relativismus" iibernommen, wie er nach Ansicht einiger Naturwissenschaftler namentlich innerhalb der Kultur- und Geisteswissenschaften vertreten wird. Der Unmut richtet sich in erster Linie gegen die Idee der kultJlrelien Konstruktion der Wirklichkeit, die mit der Leugnung der RealiUit der AuBenwelt verwechselt und in jeglicher Form abgelehnt wird. 6 Nun meint die Idee def kulturellen Konstruktion von Wirklichkeit in ihrer urspriinglichen durch Peter Berger und Thomas Luckmann formulierten Fassung zunachst nur, daB die menschliche Erfahrung der Welt durch soziale Umfelder g..:pnigt wird, nicht aber, daB auBer sozialen Konstrukten nichts existiert. 7 Oder wie Martin Seel es formuliert: "DaB wir die von uns erzeugten Begriffe verwenden miissen, urn etwas in seinem Sosein zu erkennen, bedeutet nicht, dieses Sein selbst sei ein Erzeugnis unserer Begriffe" - vielmehr greifen die beteiligten Begriffe nur, "wenn ihnen sachlich etwas entgegenkommt."8 Selbstverstandlich gibt es keine umfassende Plastizitat der Realitat, Menschen konnen nicht beliebig iiber die Realitat verftigen, auch wenn ihr Realitatsbtldkulturell geformt ist. Mitgemeint ist hier durchaus auch das Realitatsbild der Naturwissenschaften, denn diese sind als menschliche Praxis zur Erkenntnis der Gegenstande der Realitat kulturell konstruiert. 6 Stellvertretend fUr diese Kritik kann hier auf Wilson, Consllience (Anm. 3), 40-44, verwiesen werden, der von einem antiaufklarerischen .. postmodernen Solipsismus" spricht, der die Geistes- und Sozialwlssenschaften prage. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, DIe geselhchttjiliche f(on5tTtlktIOn der WirklicMell, Frankfurt/M. 1970; vgl. Ian Hacking, 7k Social ConstTtlction 0/ W1.Jatr. Cambridge (Mass.)/London 1999, 24-26 (dt.: Wds ilei/lt sozktle f(onstrllktion/ ZII7' f(ol'9itnktllr einer f(ampfookailel In den It''issensdttjien, Frankfurt/M. 1999); vg!. auch Ders., Elnjliilrllng in dIe Pili/osopilie der NatllrztJissenscilajien, Stuttgart 1996. John R. Searie, DIe f(onstrllktion der geselIJCilq/illi:ilen Wirkhc-Meu, Reinbek 1997, bezeichnet die soziale Welt als Produkt kol1ektiver Praktiken, der die nicht -konstruierte, von den Naturwissenschaften thematisierte Wirklichkeit gegeniibersteht. Einen pragnanten Uberblick zur Frage des Konstruktivismus gibt Martin Seel, "Kapriolen des Konstruktivismus". in: Jlferkllr 55, (Januar 2001). 51-57. an dem wir unshier orientieren. See!, f(apnolen des f(onstTtlktiv:smlls (Anm. 7), 54[, 25 Es ist fUr den vorliegenden Zusammenhang also von zentraler Bedeutung, die analytische Differenz zwischen der thoretisclxn und der O-o/ektebene, zwischen 8egr£fund Gegenstandzu betonen, wie lan Hacking angemahnt hat. 9 Die Gegenstande der Naturwissenschaften bestehen offenkundig unabhangig von kulturellen Praktiken und von ihrer Erkenntnis, nicht aber ihre Beurteilung und Klassifikation. In diesem Sinne verwerfen gemaBigt konstruktivistische Ansatze die Vorstellung einer objektiven Realitat im Sinne einer direkt zuganglichen Au13enwelt. Auch naturalistische Gegenpositionen stehen demzufolge innerhalb eines universalen anthropozentrischen Zirkels - ihre vielfach hypostasierte "objektive" Realitat ist eine eingeschrankte, sie ist kulturelI vermittelt und damit nocwendig perspektivisch.lO Dies bedeutet allerdings keineswegs, einem erkenntnistheoretischen Relativismus das Wort zu reden. Auf Basis eines solchen tbeoretisc/;en Konstruktivismus ll geht man davon aus, daB die Erkenntnisse naturwissenschaftlicher Klassifikationen nicht auf ihre Untersuchungsgegenstande zuriickwirken. Vielmehr bleiben die Objekte unverandert und konnen sich ihrerseits bestimmten ErkIarungsansatzen gegeniiber widerstandig verhal- 10 11 Hacking. Social Constrllction (Anm.7). 14. 21f. Mit ..Ideen" meint Hacking das Medium (Begriffe. Theorien). durch das die Konstruktion erfolgt. Die Idee schafft Tatsachen. die nur im Zusammenhang mit ihr existieren: vg!. See!. /{ajJnolen des /{onstTllktivismlls (Anm. 7). 52. Peter Janich. "Kritik des Informationsbegriffes in der Genetik". in: ]beor)' in 8iosciences 118 (1999), 66-84, vermerkt kritisch. Objekt und Theorieebene wtirden in der biologischen Theorie generell nicht ausreichend getrennt. Dies zeige si ch besonders bei der Verwendung des Adjektivs "biologisch", das si ch eigentlich auf die wt.fJ'em,haji VOlll Leben bezieht. miBverstandlich aber auch "Belebtes" bezeichnen soli. z.B. Prozesse in "biologischen Systemen" oder .. biologische Informationen". Diese terminologische Ungenauigkeit zieht Fehler in der Theoriebildung nach sich, aus denen sich eine .. konsequente Form des Naturalismus" ergebe (81). Die Ansicht. daB eine einzelne Person tiber Wahrheit oder Falschheit einer Aussage ent· scheiden k6nne. ist spatestens durch Wittgensteins Privatsprachenargument widerlegt worden (Ludwig Wittgenstein ...Philosophische Untersuchungen". in: Ders .. Werk:tllsgabe Bd. I. Frankfurt/M. 7. Auf1. 1990. 225-580. hier: I, §§ 243ff.. 360ff.). Gabe es allerdings nur zwei Menschen auf dieser Welt. so ware selbstverstandlich deren gemeinsam festgestellte Wahrheit die einzige fUr sie - in diesem Fall: die Menschheit handlungsrelevante. Dies galte auch. wenn wir ihre Einschiitzung aufgrund wissenschaftli· cher Erkenntnisse vielleicht nicht teilen wtirden. Zur Begrtindung eines solchen "epistemischen Anthropozentrismus" vg!. ausftihrlich Ruth GrohiDieter Groh, .. Natur als Ma13· stab - eine Kopfgeburt". in: Dies., Die Alllenzeelt der Innenwelt. ZII?' /{ultlllgeschichte der Natll?' 2. Frankfurt/M. 1996. 83-146. Vg!. Hacking, Social Constrltctton (Anm. 7). 31f. Hacking unterscheidet den theoretischen vom interaktiven /{onstrllktivismus der Klassillkationen der Sozialwissenschaften. der auf seinen Gegenstandsbereich zurtick wirkt. 26 ten.1Z Ober die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage iiber die Welt kann aUerdings in letzter Instanz nur im Rahmen einer (Wissenschafts-)Praxis entschieden werden. die sinnvolle Beurteilungskriterien fUr empirische Daten bereitstellt und aufgrund historischer Umstande als soziale Praxis kontingent entstanden iSt. 13 Was im Rahmen einer solchen Praxis fUr wabr od er filscl; befunden wird. kann aufgrund von pragmatischen und handlungsrelevanten Oberlegungen entschieden werden. ohne daB ein direkter Zugang zu einer objektiven Realitat vonnoten ware. Selbstverstandlich muBten und miissen sich aber auch sozial konstruierte Weltzugange kultureIl. ja teilweise gar evolutionar bewahren. Als paradigmatisch fUr die hier benannte Art der Kritik an einem .. postmodern en" Relativismus und Konstruktivismus konnen die Ausfiihrungen von Alan Sokal und Jean Bricmont gelten. auf die sich Anhanger naturalistischer Positionen seit Sokals fulminanter wissenschaftlicher Parodie mit dem Titel .. Die Grenzen iiberschreiten: Auf dem Weg zu einer transform ativen Hermeneutik der Quantengravitation" gerne berufen. 14 Selbst wenn Bei der Oberwindung eines erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Dualismus setzt auch die konstruk tive Wissenschaftstheorie an. indem sie wissenschaftliche Gegenstande als Produkte einer teleologischen menschlichen Handlungspraxis versteht: vg!. mit ausfiihrlichen Literaturhinweisen Carl Friedrich Gethmann. "Wissenschaftstheorie. konstruktive". in: Jiirgen MittelstraB (Hg.). Enzyklopddie Fhi!osopbie Itnd Wissenscbafistbeone. Bd. 4. Stuttgart/Weimar 1996. 746-758. 13 Hacking. Social Constrllctton (Anm. 7), 19-21. Hacking unterscheidet hier verschiedene Grade des Konstruktivismus: historisch. ironisch, ref ormistisch/entlarvend, rebellisch. revolutj.onar. Die schwachste Variante ist der oben gemeinte historische Konstruktivismus. 14 Vg!. Alan Sokal. "Transgressing the Boundaries - Toward a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity". in: Soctal Text 46/47 (1996). 217-252; erneut in: Alan Sokal/Jean Bricmont. Eleganter Unsmn. Wle dte Denker der Fbstmodeme cite Wissensch:rfien mi/lbrallcben. Miinchen 1999. 262-309; vg!. zustimmend die Rezension von Richard Dawkins. "Postmodernism disrobed", in: Nat/ITe 394 (9. 7. 1998). 141-143. Dawkins spricht von "fashionable French ,intellectuals'" als "intellectual impostors with nothing to say. but with strong ambitions to suceed in academic life" (141). Eine zuriickhaltende Zustimmung findet sich bei Steven Weinberg, "Sokals Experiment", in: fiferkllr I (Januar 1997).30-40. Die Hauptmotivation Sokals und Bricmonts liegt la ut eigener Aussage darin, die angebliche Selbstlahmung linker Gesellschaftskritik aufzuheben. die sie in deren relati· vistischem Wahrheitsbegriff begriindet sehen. Edward O. Wilson hingegen beklagt. ein relativistischer Wahrheitsbegriff fiihre zur GleichsteIlung und Af1irmation unterschiedlicher politischer. moralischer und sexueller Praferenzen (Wilson. Com-dtmce (Anm. 3). 41). - DaB die KrWk SokaIs und Bricmonts an der "postrnodemen Phraseologie" umgekehrt auch auf so manchen naturwissenschaftlichen Text zutrifft. macht der Berliner Humangenetiker Joachim Klose deutlich: "Wo geht's lang zum Paradies? Gedanken iiber das .Buch des Lebens'''. in: Ltieratll7'en 1 J (2000). 24-29. Klose ironisiert die Oberheblichkeit und den simplifizierenden sprachlichen Duktus innerhalb popularer naturwissenschaftli· cher Darstel\ungen zu Erkenntnissen der Genetik. Auch dabei werden - urn mit Sokal 12 27 man Sokals und Bricmonts Kritik an "postmoderner" Vereinnahmung naturwissenschaftlicher Theorien weitgehend fUr berechtigt halten mag. legitimieren sich ihre erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen SchluBfolgerungen doch nicht von selbst. Ihre Kritik an einem radikal subjektivistischen und konstruktivistischen Wahrheitsbegriff und Wirklichkeitszugang ist zwar teilweise berechtigt, allerdings ist ein solcher weder kennzeichnend flir den geistes- und kulturwissenschaftlichen Zugang zur Realitat. noch besteht die einzig denkbare Alternative hierzu in dem von den Autoren vertretenen szientistischen Realismus. 15 Ein von den Autoren selbst fur zentral erachtetes Beispiel solI im folgenden einige grundlegende MiBverstandnisse von Realitatsauffassungen illustrieren. die in die Ablehnung jeglicher konstruktivistischer Positionen munden. Als zentrales Argument gegen die Idee der kulturellen Konstruktion der Wirklichkeit fiihren Sokal und Bricmont die Hktive Geschichte eines Mannes an. der aus einem Harsaal rennt und aus Leibeskraften schreit. drinnen befande sich eine stampfende Elefantenherde. Sie folgern daraus. daB die Ursache fur diese Behauptung vorwiegend davon abhange. "ob in dem Raum tatsachlich eine stampfende Elefantenherde is! oder genauer. da wir zugegebenermaBen keinen direkten. unmittelbaren Zugang zur auBeren Realitat haben. ob wir oder andere bei einem (vorsichtigen!) BIick in den Raum eine stampfende Elefantenherde sehen od er haren (oder die Zerstarung. die eine solche Herde gerade angerichtet haben kannte. bevor sie den Raum verlieB}."16 Ergaben die eigenen Beobachtungen aber keine Hinweise auf Elefanten. so lautete die "plausibelste Erklarung. daB keine trampelnde Elefantenherde im Raum war" und daB der Mann sich alles nur in Folge einer Psychose eingebildet habe. Anhand dieser "rationalen Einstellung im Alltag". die von der Erkenntnistheorie der Wissenschaft und Bricmont zu reden - Begriffe ohne empirische od er theoretische Fundierung verwen· det. wird die wissenschaftliche Terminologie. die im gegebenen Zusammenhang vollig ir· relevant ist. lediglich zum Zweck der Einschiichterung der Leser .. miBbraucht". wird .. Gleichgiiltigkeit" und .. Verachtung" gegeniiber .. Fakten" und wissenschaftlicher .. Logik" bewiesen (so SokallBricmont. Eleganter Unsinn. 20-23). Zur .. evolutionaren Phraseologie" siehe unten. Anm. 58. 15 Sokal und Bricmont setzen postmoderne Philosophie. radikalen Relativismus und jegliche Form von Konstruktivismus in eins und verwenden den Ausdruck .. Relativismus" deshalb ..zur Bezeichnung jeder Theorie I... ]. die behauptet. die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage hange von einer Person oder gesellschaftlichen Gruppe ab." (69) Mit Vertretern eines radikalen Subjektivismus haben sich Sokal und Bricmont freilich den denkbar leich· testen Gegner zum Ziel gewahlt. Zum radikalen Konstruktivismus vg!. Ulf Dettmann. Der radtkale KonstTllktivismlls. Tiibingen 1999. der auf den FehlschluB aus der Konstrukti· villit des Erkennens auf die durchgehende Konstruiertheit des Erkannten hinweist; vg!. weiterhin Seel. Kaprtolen (Anm. 7). 56. 16 SokallBricmont. Eleganter Unsinn (Anm. 14). lllf. 28 lediglich "erweitert" und "verfeinert" werden miisse, zeige sich die offenkundige UberlegenheH der von ihnen vertretenen realistischen Erkenntnistheorie. Entgegen der Betonung des "Selbstverstandlichen" und "Offenkundigen" enthalten die von Sokal und Bricmont dargelegten Uberlegungen allerdings zwei schwerwiegende Irrtiimer: £rstens ist das Urteil iiber den Elefantenfliichtigen mcht grundsatzlich oder in erster Linie davon abhangig, ob sich eine solche Herde tatsachlich im Horsaal befindet, sondern davon, wie hoch wir die ?/ausibzlitdt eines solchen Vorkommnisses einschatzen. Lassen wir Sokals und Bricmonts Geschichte an einem spezifischen Ort spielen, der Universitiit Konstanz beispielsweise, wobei wir beiden eine Rolle im Spiel zuteilen. Da rennt also jemand in beschriebener Manier aus dem Horsaal. Sokal und Bricmont gehen nun dort hinein, urn festzustellen, ob tatsachlich eine Elefantenhorde anwesend ist. Es bestiinde die Gefahr, daB sie selbst fUr verriickt erklart wiirden: Denn sie wollen etwas empirisch iiberpriifen, was selbstverstandlich nicht der Fall sein kann - auch wenn es vielleicht logisch moglich ware. Bei einem im Berliner Zoo od er in der freien Wildbahn der Serengeti gelegenen Horsaal ware der Fall freilich anders gelagert und wir wiirden einen entsprechenden Zwischenfall aus guten Griinden durchaus fUr moglich halten. Anhand ihres eigenen Beispiels laBt sich also zeigen, daB eine gesellschaftliche Praxis, die bestimmte grundlegende Einschatzungen von Situationen bereitstellt, ausschlaggebend fiir deren Beurteilung und somit auch fUr die Beurteilung von ursachlichen Zusammenhangen ist. Natiirlich konnen sich solche Vorannahmen iiber die Struktur der Realitat als falsch erweisen, im Rahmen (kulturell oder historisch) unterschiedlicher Situationen eine unterschiedliche VerlaBIichkeit aufweisen usf. - doch sind sie Grundlage unseres Handelns. Der zweite Denkfehler der Autoren liegt in dem Versuch, das Problem des Zugangs zur "objektiven Realitat" mit Hilfe der Idee der "Passung" unseres Erkenntnisapparates auf die Wirklichkeit zu losen. 17 Dieser Ansatz der Evolutionaren Erkenntnistheorie seit Konrad Lorenz 18 krankt daran, daB es fUr die Idee einer Passung unseres Erkenntnisapparats auf die auBere Realitiit keinerlei unabhangige Kriterien gibt. Es erscheint deshalb kaum sinnvoU, die Kriterien fUr objektiv wahre Aussagen weiterhin in einer vom Menschen unabhangigen Realitat anzusiedeln. Etwas als "wahr" oder 17 18 SokallBricmont, Eleganter UnslJm (Anm. 14),73. Konrad Lorenz, Die J?,icksette de> Spitgels, Versllch t'lner Naturgesch;chte mensc/;/iciJen Erkennens. Miinchen 1973; vgl. auch Gerhard Vollmer. Evollltiondre Erkenntnistheone. AngelJorene Er1:enntmSj·trttkturen im J(ontext von ili%gie, Psyc/;ologie, Linglllstik, Philasophie theorie", in: InformatIon PhilosophteS (1984).4-23. 29 .,falsch" zu bezeichnen. macht vielmehr nur innerhalb menschlicher Alltags- oder Wissenschaftspraxis Sinn. Dies IaBt sich gut an hand der VorstelIung von der Nattlr aLr Text verdeutlichen. die derzeit eine Renaissance erlebt: Ideen der "Lesbarkeit der Welt" oder der Natur als dem "Buch der Bucher" gewinnen wieder an Plausibilitat. der genetische Bauplan wird direkt und nicht metaphorisch als Text verstanden. man spricht von der .. Grammatik der Biologie". der .. Rechtschreibung des Lebens". dem Genom als .. aufgeschlagenem Buch der Gattungsgeschichte". 19 Hans Blumenberg hat ein solches "Lesen der Welt" als den Versuch beschrieben... Lesbarkeit dorthin zu projizieren. wo es nichts Hinterlassenes. nichts Aufgegebenes Regibt. "20 Gemeint ist damit. daB die sinn/eme Natur mittels anlogi~cher deweisen aus dem Bereich menschlicher Kommunikation sinn6aJi aufgeladen wird. Peter janich hat deutlich gemacht. daB eine soIche Orientierung am AlItagsverstandnis menschlicher Kommunikation in der Biologie sowohI aus heuristischen wie rhetorfschen Grunden erfoIgt. der ErkHirungswert entsprechender bildhafter Redeweisen jedoch offen bleiben muB.21 janich zeigt dies am BeispieI der Leitmetapher der Biowissenschaften. dem Begriff der ..Information". der mit der Entdeckung der Doppelhelix durch james Watson und Francis Crick den der .. Maschine" abgelost hatte. 22 Vg!. beispielhaft Matt Ridley. Alphahet des Lehens. DIe Geschichtedes menschlichen Genoms. Munchen 2000. Fur Ridley ist die Vorstellung vom "Genom als Buch" laut eigener Aussage "strenggenommen nicht einmal eine Metapher". sondern "buchstablich wahr" (13). In diesem vermeintlichen "Buch" (gemeint ist das Genom) gebe es Kapitel. Absatze. Werbeanzeigen. Worter und Buchstaben (vg!. 12f.). 20 Hans Blumenberg. DIe Leshar,eelt der welt. Frankfurt/M. 1986. 409. Dies verrate. so Blumenberg weiter. "nichts als Wehmut. es dort nicht finden zu konnen. und den Versuch. ein Verhaltnis des AIs-ob dennoch herzustellen." Vg!. auch "Wer denkt die Welt? Ein Streitgesprach zwischen dem Philosophen Lutz Wingert und dem Hirnforscher Wolf Singer uber den freien Will en. das moderne Menschenbild und das gestOrte VerhiiltniS zwischen Geistes- und Naturwissenschaften", in: DIE ZEI7Nr. 50 (7.12.2000), 43f. 21 Vg!. Janich, f(riti,e des InJbrmationshegnffis (Anm. 9). 71. Zur weiteren grundsatzlichen begriffiichen und methodologischen Kritik der Informationsmetapher in der Biologie vg!. das Literaturverzeichnis des Aufsatzes von Janich. Den sinnfernen Charakter der Natur ubersieht Hans-Jorg Rheinberger. wenn er von prazise arbeitenden und effizienten Aqui. valenten zu den Schreibanalogien Lesen (DNA-Sequenzierung). Schreiben (DNA-Synthese) und Kopieren (Polymerase-Kettenreaktion) spricht: Hans-Jorg Rheinberger. "Reprasentationen der molekularen Biologie", in: Nicola Lepp/Martin Roth (Hgg.), Der nelle Hensch. Ohsessionen des Lt? /al;rhunderts (Katalog zur Ausstellung im Deutschen HygieneMuseum Dresden vom 22. 4. bis 8. 8.1999). Ostfildern 1999. 81-89. 22 Vg!. Lily E. Kay, JP170 [Prote the Boo,e ifLiftlA History ifthe Genetic Cafe. Stanford 2000. Dabei waren Kay zufolge "the 1950s a watershed period during which a rupture in representations of life shifted from purely material and energetic to the informational. resulted in a molecular vision of life supplemented by an informat\~.gsW1Dlb 3. Aufi. 1981; wurde dieses Bild der verschlusselten militarischen Nachrichtenubermittlung entnomlS r:: 30 ,.Information" besitzt in der Biologie. anders als im Alltag. kein wa/;rljalscf;. Kriterium. Urn zu entscheiden, ob eine Maschine od er ein Gen .,falsch" informiert, ist aber eine semantische Kompetenz vonnoten. die nur der Mensch besitzt.23 Eine so1che Kompetenz hat ihren Sitz in alltaglicher sprachlicher Kommunikation. auf der die wissenschaftliche Praxis der Biologie aufsitzt. 24 Diese wiederum fungiert als Beurteilungsinstanz fur korrek- 23 24 men. seine besondere Stol3kraft erhielt es durch extensionale Kopplung mit dem Inf orma· tionsbegriff der Informatik: Wenn namlich natiirlich gewachsene .. Informationen" im Buch des Lebens und technisch bereitgestellte Mbglichkeiten der Informationsverarbei· tung riick wirkend ineinander iibersetzbar sind. dann werden ganz neuartige und bisher ungeahnte Mbglichkeiten des Eingriffs in die Natur den,Mar. Dieses Denkmodell ermbgIichte einen gewaltigen Erkenntnisfortschritt. etwa im Rahmen des Human·Genome· Projekts. dessen Mitarbeiterin Kay war: ..The imagery of information written in the genomic Book of Life. which awaits reading and editing. has proved to be scientifically productive and culturally compelling." (236) Derartige bildhafte Analogien sind also heuristisch sinnvoll. aber es bleiben "slippery scriptural analogies" (326) Die sachliche Gletchsetzung von Belebtem und Unbelebten. von Mensch und Tier mul3 zu schwerwiegenden Mil3verstandnissen fiihren. Vg!. auch das Interview mit Kay. "Wer schrieb das Buch des Lebens?" (Die Wissenschaftshistorikerin Lily E. Kay iiber Hinter· griinde der Genomforschung). in: Ltteratllren 11 (2000): Darwin und die Gene. 40-43. Zur Geschichte des Begriffs des "Gens" in Verbindung mit denen des .. Codes" und der ..Infor· mation" in der Biologie sowie zur wissenschaftlichen Effizienz von Metaphern vg!. Evelyn Fox Keller. Das !.ehen nett Denhen. kfe/aphern der .8tOlogle tin 20. jahrhttndert, Miinchen 1998, 36-40, 67-70. 96-99 (.. Code"); 107-116 (Information und Kybernetik). 121-136 (zur Verwendung und Verbreitung der Informationsmetapher in der Molekularund Entwicklungsbiologie). Zur mbglichen Verabschiedung des Genbegriffs vg!. neuerdings auch Dies.. '7l7e Centttry 0/ the Gene, Cambridge (Mass.)/London 2000. Vg!. weiterhin Richard Doyle. On IJeyond Livtng: Rethorics 0/ Vitality and Fost Vitality In kfdemlar IJiology. Palo Alto (Calif.) 1997. Vgl.Janich. fi.?ittkdesln/ormationshegrtj1i(Anm. 9). 76. Vgl.Friedrich Kambartel, .. Versuch iiber das Verstehen", in: Brian McGuinness u.a .. »Der Liiwe spnchl." ttnd wir honnen tlm mcht verstehen. " Ein Symposion an der Universitiit Frankfurt anlal3lich des hundertsten Geburtstages von Ludwig Wittgenstein. Frankfurt/M. 1991. 121-137. Kambartel expliziert hier im Anschlul3 an Wittgensteins Satz .. Wenn ein Lbwe sprechen kbnnte. wir kbnnten ihn nicht verstehen." fFhilosophische Unle7sttchttngen (Anm. 10). hier: n. xi. 568) ein hermeneutisches gegeniiber einem (rein) funktionalen Sprachverstandnis: "Es reicht nicht. dal3 jemand lediglich Sdtze ttmerer Sprache spnch. wenn wir ihn verstehen wollen. Es mul3 uns am Ende eine gemeinsame prahtische Einbettung dieser Satze gelingen. Wo dies nicht der Fall ist, bleibt uns der blol3e Sprecher fremd. undurchsichtig wie der sprechende Lbwe der Bemerkung in Wittgensteins Fhilosophschen Unters/lchtmgen." (124) Selbstverstandlich handelt es sich bei dem .. Buch der Natur" um ein Buch "berdie Natur ...geschrieben von Biologen in einer Sprache, die durch die Methoden und Begriffe ihrer Wissenschaft gepragt ist", betonen Jost Herbig und Rainer Hohlfeld im Vorwort zu: Dies. (Hgg.). Dte Zl£Jeite ScLVpJitng. Get'st find UngeistderIJIOlogtedes.i!? ja6r6ttndert.r. Miinchen/Wien 1990,9-16, hier 9. Weiter heil3t es: .. Der experimentelle Dialog mit der Natur, den die moderne Wissenschaft entdeckte. beruht weniger auf passiver Beobachtung als vielmehr auf praktischer Tatigkeit." (IO); dazu vg!. auch Robert P. Crease. "Hermeneutics and the natural sciences: 31 te biologische Aussagen uber die Natur des Menschen. Als historisch gewachsene und in diesem Sinne sozial konstruierte Forschungspraxis unterliegen auch ihre Beurteilungsma13sUibe fUr empirische Daten der Gefahr perspektivischer Verzerrung. Eine soIche Verzerrung liegt mit dem Behar· ren auf einem rein evolutionaren Blickwinkel auf den Menschen vor, der im folgenden diskutiert wird. 2. Konstruierte Einheitlichkeit: Evolution AIs Folge des beklagten "postmodernen Relativismus" fur die Wissenschaften vom Menschen machen Naturalisten eine Inhomogenitat des anthropologischen Diskurses aus, die durch einen neuen Gesamtentwurf des Menschen uberwunden werden soIl. Da dem vereinheitlichenden Prinzip evolutionarer Erklarungen prinzipieIl nichts entzogen sei, eigne sich die Evolution zum universalen und verbindlichen Paradigma allerWissenschaften.25 So zeichnen sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Reaktion auf die kulturanthropologisch bewirkte Ausdifferenzierung der anthropologischen Disziplinen im Zuge der kulturalistischen Wende seit den sechziger Jahren erneut Entwurfe einer Gesamtanthropologie ab. Z6 Diese Entwurfe reichen von der Wiederaufnahme traditioneIler Formeln des Menschen als Saugetier od er als kompensierendem Mangelwesen bis hin zu aktualisierten Fassungen des "vorprogrammierten" Menschen oder des Menschen als "Uberlebensmaschine" fur seine GeneY Mit der Wesensbestimmung des Menschen 25 26 27 Introduction". in: Ders. (Hg.): Hemzeneutlcs and the Natura/Sciences, Dordrecht u.a. 1997, 1-12; Hacking, P/;i/osofJ/;teder NattnWissensc/;afien (Anm. 7). 10. Auf solche umfassenden Erkliirungsanspruche in einem vergleichbaren Kontext haben bereits kritisch hingewiesen: Gerd H. H6velmann, "Sprachkritische Bemerkungen zur evolutioniiren Erkenntnistheorie". in: 2eitsciJri/i for ai/gememeine Wissensckfist/;eone 15 (1984). 92-121. und Gunther P61tner, Evo/utiontire Vernuo/t. Eine Auseinandersetztmg mtt der Evo/utiontiren Erkenntmst/;eone. Stuttgart u.a. 1993. In iihnlicher Weise hatte sich die Philosophische Anthropologie als Globaldisziplin in Reaktion auf die Ausdifferenzierung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert zu etablieren versucht. Zur Pluralisierung der Menschenbilder vg!. jungst Achim Barsch/Peter M. Hejl. "Zur Verweltlichung und Pluralisierung des Menschenbildes im 19. Jahrhundert: Ein· leitung". in: Dies. (Hgg.). Alensc/;enbtlde?: 2ur P/ura/islerung der f/orste//lmg von der menscNic/;en Natur(/350-/9/4). Frankfurt/M. 2000, 7-90. lrenaus Eibl· Eibesfeld. Der votprogrammterte Alenscb. Das Ererbte air /;esttinmendn- Faktor in menscNic/;em Ver/;a/ten. Wien 1973; Edward 0. Wilson. "Biology and the Social Sciences". in: Daeda/us (1977). 127-140; Ders.. On Human Natllre. Cambridge (Mass.) 1978. dt.: 8i%gie ah Sc/;icksaL Dte sozio/;i%gisc/;en Gmndlagen mensc/;/ic/;en Ver/;a/tens. Frankfurt/M. u.a. 1980; Richard Dawkins. me Se!fis/; Gene. Oxford 1976 (dt.: Das egoistisc/;e Gen. Berlin u.a. 1978): Ders .. 71::e Extended P/;eno!)1Je 71::e Gene as t/;e Umt o/Se- 32 als Maschine wird dabei die "Teilwirklichkeit der biologischen Maschinerie"28 mit dem ganzen Menschen gleichgesetzt. so daB auch die Utopien der Robotik oder des reparablen Menschen an PlausibilWit gewinnen. 29 Gemeinsam ist soIchen eindimensionalen anthropologischen Entwurfen. daB sie den konstruktiven und metaphorischen Charakter ihrer Menschenbilder nicht erkennen oder ihn sogar explizit zuruckweisen: Sie treten als anthropologische Wesensbestimmungen in Erscheinung. die den Anspruch erheben. notwendige und hinreichende Bedingungen dessen zu sein. was der leetion. Oxford 1982; DeI's .. ?be blind watcbmaker. Harlow 1986 (dt.: Der hlime Uhrmacw. Ein nelles Flddop/lir den DalWlnismlls. Miinchen 1987); DeI's .. Rwer Ollt 0/ Eden. A Darwinian View o/Iifi. New York 1995; DeI's .. Unweavlng the Ralnhow. Sdence; Detlmon andtheApperitefor Wonder. Boston/New York 1998. - Die Ansicht, daB sich die Herangehensweise del' Soziobiologie seit Erscheinen von Wilsons Standardwerk Socio· lJiology (Anm. 3) zunehmend in den Medien durchgesetzt habe und heute triumphiere. vertritt die Wissenschaftssoziologin UlIica Segerstale. Dr:fenders o/the Trllth ?be 8attlefor Sdence!n the SOClohlOlogy Dehate and 8eyone/, New York 2000; vg!. Alison Jolly, .. Battle· field Sociobiology". in: Science 288 (23. 6. 2000), 2137. Segerstale unterschatzt in ihrem Fazit, laut dem die Soziobiologie aUe Gegenargumente iiberdauert ha be. allerdings die Be· deutung del' mittlerweile fast schon als "klassisch" zu bezeichnenden Einwande gegen den soziobiologischen Panadaptionismus (vg!. Steven Jay Gould/Richard C. Lewontin...The Spandrels of San Marco and the Panglossian Paradigm: A Critique of the Adaptationist Programme". in: Elliott Sober (Hg.). Concept/ldllssues In Evollltionary 8iology. An Antho· logy. Cambridge (Mass.)/London 1984. 252-270). Eine grundlegende Kritik del' Soziobiologie findet si ch bei Philip Kitcher. Valllting Amhillon: SociolJiology and the Quest /01' Hllman Nature. Cambridge (Mass.) 1985. DaB die Soziobiologie mittlerweile selbst zum Opfer del' von ihren Protagonist en beklagten .. postmodernen ZerspIitterung" geworden ist, beweist das Beispiel von Wilsons Schiilerin Sarah Blaffer Hrdy. In ihrem Buch Nt,/?7~ Natm: Die wei!;liche Seite der Evolllt!on. Berlin 2000. versucht sie eine soziobiologi· sche Untermauerung gangiger }emlnistiscw Argumentationen. Sie selbst sieht sich damit als Pionionierin eines neuerdings zeitgemaBen ..soziobiologischen Feminismus". Hrdy betrachtet ihre Position gegeniiber friiheren verhaltensbiologischen Ansichten iiber die weibIiche Natur hierbei als ..frei von VorurteiIen" (563). Ahnlich argumentiert Helen Fisher. Das starke CesclJlecht U;,e eLlS weiNicIJe Denken tite ZlIkulli verdndem wire/, Miinchen 2000. Fiir beide Autorinnen. die sich mit ihren Ver6ffentlichungen fiir explizit tages· politische Ziele stark machen. sind lJiologiscbe und nicht kultureIle Faktoren im Hinblick auf die geseUschaftlichc Gleichstellung del' Frau ausschlaggebend. - Gegen die soziobiologische Verkiirzung des Menschen wandte sich bereits kurz nach Erscheinen von Wilsons SOClolJiology kritisch Marshall Sahlins. ?be Use and Ahllse 0/8iology. An Antm'opological CniitJlle o/SoaolJiology. Ann Arbor. 5. Auf1. 1977; vg!. weiterhin Hansj6rg Hemminger, Der fifensch - e!ne fifanonette der Evollltlon/ Eine /(rftik an der Sozlohiologie. Frankfurt/M. 1983; Hans-Walter Leonhard. "Diktat del' Gene? Eine Kritik del' Soziobiologie". in: G. Fischer/M. W6lfingseder (Hgg.), 8iologismlls, RassismNs, Natlonalismll5- /(ecIJte /deologien im Vormarscb, Wien 1995. 37-52. 28 Herbig/Hohlfeld. Dlezwe!teScbo/J}img(Anm. 24). Vorwort.14f. 29 Vg!. Rudolf Drux (Hg.). Der Frankenste!n·j(omplet.: /(lIltmgeschicbtltcheAspektede.r Traltlm vom k,tnstltchen fifenschen. Frankfurt/M. 1999; vg!. dazu auch den Beitrag von Fabio Crivellari im vorliegenden Band. 33 Mensch ist. 30 Es scheint, als geniige dazu ein thetischer Verweis auf rnutrnaBliche Einzelheiten der evolutionaren Vergangenheit bzw. auf die bloBe Tatsache, d4/'der Mensch eine Gattungsgeschichte besitzt. Den Hinweis auf die kulturelle Konstruktion atlc6 der korperlichen Seite des Menschen ersetzt hier die Betonung der korperlichen Bedingtheit atlc6 kultureller Konstruktionen. 3. Konstruierte Eindeutigkeit: Verhalten Das gattungsgeschichtliche Erbe des Menschen, das sich in seiner g~notypi­ schen Struktur niederschlagt, reicht nicht aus, urn den soziokulturellen Spielraurn seines intentionalen Handelns hinreichend zu bestirnrnen. Die weitreichenden analytischen und therapeutischen Versprechungen. die die Verhaltensgenetik zwischen der Mitte der achtziger und der neunziger Jahre hinsichtlich der genetischen Bedingtheit von InteIligenz, der Veranlagung zu Verbrechen 31 , hornosexueIlern Verhalten 3Z oder gar Ehescheidung 33 30 31 32 Der Biologe Steven Rose, Darwlns geflihrllche Erhen. Biologie jenseits der egoistiscben Gene, Miinchen 2000 (orig. Li/i-l,neJ. BiiJlogy Beyond Dete7mlnISm, New York 1998), 363, bezeichnet soiche engftihrenden Sichtweisen des Menschen als "ultradarwinistisch": Sie gehen davon aus, daB man Lebensprozesse mathematisch linear beschreiben kbnne, Morphologie und Physiologie lebender Organism en immer auf Anpassungen zuriickgingen und somit die Soziobiologie die Welt erschiipfend erkHiren kbnne. Demgegeniiber betont Rose die Notwendigkeit eines methodischen Pluralismus bereits Innerhalh der Biologie und ihren Teilfachem Physiologie, Ethologie, Entwicklungsbiologie, Evolutions· theorie und Molekularbiologie. Gegen die Idee methodologischer Einheit innerhalb der Natur.vissenschaften verwehrt sich auch Ernst Mayr, Das ist BiiJlogle. Die IPissenscba/i des Lehens, Heidelberg 1998, 65. Zu Fragen des Reduktionismus, Adaptionismus/Exaptationismus und des evolutionaren Fortschritts vg!. neuerdings: jeremy C. Ahouse, "The Tragedy of a ;Jnon Selection ism: Dennett and Gould on Adaptionism", in: BIO/ogy rind Philosophy 13 (1998), 359-391. VgL lames Q. Wilson/Richard ]. Herrnstein, Cnme rind hllman nrl!lIre 77:;e Drjini!ive S!IIc/y 0/ the Callses 0/ Cnme, New York 1986; Gregory Bockl jamie Goode (Hgg.), Gene!I!'S 0/ Cnmlnal and AntIsocial Behavlolll; Chichester 1996; Richard J. Herrnsteinl Charles Murray, Tbe Bell ClI1ve' Intelligence and Class St1l1ctltre In AmerIcan lift, New York 1994. Die Hypothese einer genetischen Bedingtheit von Homosexualitat vertreten Simon LeVay, "A Difference in Hypothalamic Structure between Heterosexual and Homosexual Men", in: Science 253 (1991), 1034-1037; Ders., Tbe Sexual Bmn, Boston 1994; Robert Poole. "Evidence for Homosexuality Gene", in: Safflce261 (1993), 291f.; Dean H. Hamer u.a., "A Linkage between DNA Markers on the X Chromosome and Male Sexual Orientation", in: Samce 261 (1993), 321-327; Jim McKnight, St1aight Safflce.? Homosexlfality, evollttlon and adapt/on, London/New York 1997. Demgegeniiber betont R.C. Kirk· patrick, "The Evolution of Human Homosexual Behavior", in: Cmren! Anthropology 4113 (2000),385-413 (einschlieBlich Kommentaren und Replik des Autors), daB die gangi- 34 33 gen drei adaptionistischen Erklarungsansatze mittels (1) Verwandschaftsselektion und parentaler Manipulation, (2) parentaler Manipulation und (3) Allianzf ormation bzw. rezi· prokem Altruismus nicht nur aufgrund nicht ausreichender Daten, sondern auch ohne die Einbeziehung 6kologischer und soziokultureller Faktoren keine befriedigenden Erklarun· gen liefern k6nnten. Kirkpatricks Position liegt damit jenseits der Dichotomie von Essen· tialismus und Konstruktivismus. Vg!. dazu weiterhin kritisch Volker Sommer, Widerdtf: l-latHr/ HomosexHalitd't find EvolHtion, Miinchen 1990; Ders., "Natur - die Hure der Mora!' 1st Homosexualitat widematiirlichT, in: Helmut Puff (Hg.) , LHst, Angst find Prowkatton. Homosexllalttdt in der Gesel/schafi, G6ttingen/Ziirich 1993, 52-66; Bonnie B. Spanier, ",Lessons' from ,Nature': Gender Ideology and Sexual Ambiguity in Biology", in: Julia Epstein/Kristina Straub (Hgg.), 80dy G'larm. l77e Cllltlffal Politics 0/ Gender Amhzglll/y, New York/London 1991, 329-350. - Die in den Kulturwissenschaften seit Jahren nuanciert gefiihrte Debatte urn Essentialismus vs. Konstruktivismus beziiglich homosexueller Identitat wird, soweit wir sehen k6nnen, in der Verhaltensforschung bisher noch iiberhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Voreilige Schliisse von einem falschlich fiir kulturell invariant erachteten Verhalten auf dessen genetische Grundlagen k6nnten so freilich vermieden werden; vg!. grundlegend dazu Martin Dannecker, "Zur Konstitution des Homosexuellen", in: Zeitschnji jiir Sexlla/forschtmg 2 (1989), 337-349; Rolf Gindorf, "HomosexualWiten in der Geschichte der Sexualforschung", in: Ders.! Erwin J. Haberle (Hgg.), Sexlldlitdten in Hnserer Geselhrhafi, 8eitrdge ZIIr GeschtChte, l77eorie find Empine (Schriftenreihe Sozialwissenschaftliche Sexualforschung, Bd. 2), Berlin/New York 1989, 9-32; Riidiger Lautmann (Hg.), Homosexllaltidt. HandhllCh Zftr l77eone· IInd Forschfmgsgeschichte, Frankfurt/M.lNew York 1993; Riidiger Lautmann, "Homosexualitat? Die Liebe zum eigenen Geschlecht in der modemen Konstruktion", in: Puff (Hg.), LIIst, Angst IIndProvokation, 15-37; Edward Stein (Hg.), Forms 0/DeSIre. Sexllal On'entatzon and the Social Constrtlctzonist ControveJ:SY, New York/London 1992. Jonathan Ned Katz, "Die Erfindung der HeterosexuaIWit", in: Manfred Herzer (Hg.), 100 Jahre SchwlIIenhewegHng. Dokllmentation einer f/oJtagsreihe In d er A kademze d er f(ilnste, Berlin 1998, 129-143, weist darauf hin, dail die Begrifflichkeit einer Homo-/Heterosexualitat· Dicho)omie erst im jahr 1869 durch Karl-Maria Kertbeny eingefiihrt wurde, spatestens aber seit Alfred Kinsey (1948) von Sexualwissenschaftlern in Zweifel gezogen wird, da empirisch fiieilende Ubergange bestehen. Kulturhistorische uild ethnographische Daten bestatigen die kulturelle Variabilitat dessen, was iiblicherweise als "Homosexualitat" bezeichnet wird (1380. Vg!. Thomas]. Bouchard jr.lP. Propping, "Twins: Nature's Twice-told Tale", in: Dies. (Hgg.), Twzns as a Tool 0/8ehavloral GenetiCs, Chichester u.a. 1993, 1-15. Dail die Zwillingsforschung allein aufgrund ihres Untersuchungsgegenstands ein besonderes Gewicht auf genetische Substrate von Verhalten legen muil, rechtfertigt schwerlich die Polemik, mit der sich die Autoren gegen ;ede Form der Psychologie wenden, die Umwelteinfliisse stark macht. Unter Verweis auf M. McGue/D.T. Lykken, "Genetic Influence on Risk of Divorce", in: Psychological Safflce3 (1992),368-372, heiilt es: "Divorce is heritable!" (12)hier fragt man sich unwilIkiirlich, seit wieviel Millionen von jahren Primaten eigentlich heiraten. Die Ignoranz der Autoren gegeniiber alternativen Erklarungen fiihrt dazu, die Fehler konstruktivistischer Extrempositionen nur unter umgekehrtem Vorzeichen zu wiederholen. In "Twin Studies of Behavior. New and Old Findings", in: Klaus Atzwanger u.a. (Hgg.), New Aspects o/Htlma7l Ethology. New York/London 1997, 121-140, beklagt sich Bouchard (127) iiber Fehlinterpretationen der "Medien" zu Herrnstein und Murrays "The Bell Curve" (An m. 31) und bespricht zustimmend Studien zur Heritabilitat von politischem Konservativismus, Radikalismus und Stufen der Religiositiit (132f.). Ahnlich undilferenziert attackiert c.R. Brand Kritiker der Idee der Vererbbarkeit der generellen 35 formuliert hat, sind inzwischen samtlich widerlegt. Dennoch bewirkt das Interesse der Offentlichkeit an den genetischen Grundlagen unseres Verhaltens immer wieder eine hOchst selektive Auswahl der kolportierten Forschungsergebnisse. So taucht ein genetischer Essentialismus trotz der zahlreichen Einwande allenthalben wieder auf. Es ist mittlerweile ein Stuck moderner Folklore geworden, im Sinne der Formel it} all tbe genes allen nur denkbaren Verhaltensweisen genetische Grundlagen zuzuweisen. 34 Offenbar aus marktstrategischen Grunden, doch sicherlich nicht ohne Einverstandnis der Verfasser suggerieren bereits die Titel vieler Publikationen die. Moglichkeit einfacher und eindeutiger genetischer Erklarungen fUr komplexe Verhaltensweisen und menschliche Eigenschaften:35 "A Natural History of Rape", .. Biologie als Schicksal" , .. Crime and Human Nature. The Definitive Study of the Causes of Crime", "Der dritte Schimpanse", 34 35 Intelligenz als empirisch uninformierte Traditionalisten: Die experimentelle Psychologie and ere ihre Konzepte jedes halbe Jahrzehnt und hange einer "multidimensionalist ideolo· gy" an: "Cognitive Abilities: Current Theoretical issues". in: Bouchard/Propping (Hgg.). Twins as a Too/, 17-32. hier 21. Gegen Brand laBt sich die Position seines Kollegen H. Gardner ins Feld fUhren (Framer of#ind· lhe lheory oJAfllltiple Intelligences. New York 1983). Gardner betont in seiner Theorie multi pier Intelligenzen die raumliche. musikali· sche kinasthetische. interpersonale. intrapersonale. sowie die linguistische und logische Intelligenz; dazu vg!. L.A. Baker u.a .. "Group Report: Intelligence and Its Inheritance - A Diversity of Views". in: Bouchard/Propping (Hgg.). Twins as a Too/, 85-108. Vg!. kritisch: Rose. Darwtns gefohrliche frhen (Anm. 30). 301-306; in wissenschaftshistorischer Perspek. tive Steven Jay Gould. De;filsch vmnessene filensch. Frankfurt/M. 1988. 157-355. Vgl. Dorothy Nelkin/Susan Lindee. 77;e DNA ;lfystlqlle lhe Gene as a Odtllrallam. New York 1995. Nelkin und Lindee untersuchen diverse pop-kulturelle Quellen im Hinblick auf ihre Verwendung des Genbegriffs: "There are selfish genes. pleasure· seeking genes. vio· lence genes. celebrity genes. gay genes. couch-potato genes. depression genes. genes fur genius. genes for saving. and even genes for sinning. These popular images convey a striking picture of the gene as powerful, deterministic. and central to an understanding of both everyday behavior and the .secret of life· ... (2) Wie die Autorinnen zu zeigen versuchen. hat die DNA dabei den Charakter eines sakularen Aquivalents der christ lichen Seele angenommen: sie ist unsterblich. unabhangig vom K6rper und fundamental fur die ldentitat - da sie nicht in der Lage sei. zu Uiuschen. zeige sich in ihr das wahre Selbst. Fur Volltitel und Kommentare verweisen wir auf die Anmerkungen: Thomhill/Palmer. A Natllrai History 0/ Rape (Anm. 47); Wilson. 8tOlogte als Schtcksal (Anm. 27); Wilson/Herrnstein. Cnmeand hllman natlffe(Anm. 31); Diamond. De;dntteSchimpanse (Anm. 50); Eibl·Eibesfeld. De; v07programmterte filensc/; (Anm. 27); Cheney/Seyfarth. How monkeys see the world(Anm. 46); Morris. lhe Naked Ape (Anm. 73); Hauser. Wdd ;I1.inds(Anm. 46). Nelkin und Lindee entgeht dieser zumeist von den Fachwissenschaftlern selbst gewahlte Verkaufstrick. wenn sie eine wissenschaftsinterne und eine wissenschaftsexterne Bedeutung des .. Gens" unterscheiden: ..The biological gene I... J has a cultural meaning independent of its precise biological properties. Both a scientific concept and a powerful social symbol, the gene has many powers." (DNA ,1iystiqlle (Anm. 34). 2) Auf ahnliche Marktstrategien im Zusammenhang mit dem Begriff der .. Konstruktion" in den Kulturwissenschaften hat Hacking. Social Constrllction (Anm. 7). 18. hingewiesen. 36 "Der vorprogrammierte Mensch" , "How Monkeys see the World", .. The Naked Ape", .. Wild Minds. What Animals Really Think". MU derartigen Formulierungen wird Erklarungen, die auf der Annahme eindeutiger Verursachungszusammenhange basieren, zu Unrecht eine VorrangsteUung gegentiber multifaktoriellen Erklarungen eingeraumt. Selbst die Untersuchungsergebnisse von Experimenten, bei denen Gene ausgeschaltet oder verdoppelt werden und sich die prognostizierten Verhaltensanderungen einstellen, konnen nicht ohne weiteres als Beweise ftir einen direkten Zusammenhang zwischen Veranlagung und Verhalten gelten. 36 Festgestellt werden kann hier nur, daB Gene EinfluB auf ein bestimmtes Verhaltensmuster haben - nicht aber, daB sie es verursacht haben. Einen Beleg fUr die Notwendigkeit zurtickhaltender SchluBfolgerungen lieferte jtingst unbeabsichtigt ein Forscherteam, das Tests standardisieren wollte, die den EinfluB von Genen auf Verhalten nachweisen sollen: Man fiihrte Experimente an genetisch identischen Mausen durch, die in sorgsamst eingerichteten, moglichst identischen Umwelten aufwuchsen - nichtsdestotrotz zeigte derselbe Test von Labor zu Labor gravierende UnterschiedeY Dementsprechend betont der Verhaltensbiologe Andreas Paul: .. Kein ernst zu nehmender Biologe glaubt mehr an die Existenz von ,Killer-Genen', ,Untreue-Genen' und was an ahnlichem Unsinn noch durch die populare Literatur geistert. Komplexe Verhaltensmechanismen werden mit Sicherheit nicht durch einzelne Gene gesteuert. Auch die Vorstellung eines einfachen Automatismus [... ] ist reichlich naiv. "38 36 37 38 Vg!. R,.obert M. Sapolsky. "Anekdotenhafte Belege. Der Wirbel urn den Zusammenhang zwischen Genen und Verhalten", in: Neue Z,inckr Zeittmg Nr. 93 vom 19. 4. 2000, 79, und in: lbe Sciences (Marz/ April 2000), 12·-15. Sapolsky schildert folgenden Fall: Einer Reihe von Testmausen wurde eine zusatzliche Kopie eines Gens eingepflanzt, das fUr die Produktion eines Proteins zustandig ist. welches wiederum als Teil eines Rezeptors fiir einen Neurotransmitter fungiert, der als wichtig fiir Lernprozesse und Erinnerungsvermogen angesehen wird. In der Tat schnitten diese Mause bei den folgenden Versuchen deutlich besser ab als ihre normalen Verwandten. Dennoch miisse man sich mit der Feststellung eindeutiger Verursachungszusammenhange zuriickhalten. Sapolsky verweist auf: T.V.P. Bliss, "Young receptors make smart mice", in: NatNre401 (2.9.1999),25-27; Ya·Ping Tang u.a., "Genetic enhancement of learning and memory in mice", in: Natfl7~ 401 (2. 9. 1999), 63-69. Martin Enserink, "Fickle Mice Highlight Test Problems", in: Science 284 (4. 6. 1999). J599-1600; John C. Crabbe u.a., "Genetics of Mouse Behavior: Interactions with Labora· tory Environment", in: SCIence 284 (4. 6. 1999), 1670-1672. Enserink beschreibt als klassisches Dilemma der Verhaltensgenetik: "NO sooner has one group or researchers tied a gene to a behavior when along comes the next study, proving that the link is spurious or even that the gene in question has exactly the opposite effecl." (1599). Paul. f/on Affen und Afensc/;en (Anm. 2), 61. Gegen die Rede von einem "Gen f'iir" wendet sich auch Horace Freeland judson, "Talking about the Genome. Biologists must take Responsibility for the Correct Use of Language", in: Mtllre 409 (15. 2. 2001), 769. Jiingst 37 4. Konstruierte Mehrdeutigkeit? AIs Ergebnis der Untersuchungen zur genetischen Basis menschlichen Verhaltens tindet man mittlerweile nicht mehr Aufweise kausaler Determinationen, sondern lediglich Aufweise der statistischen Disposition, bestimmte kognitive, emotionale und behaviorale Muster bevorzugt zu erlernen. Dabei gilt grundsatzlich der Satz: "Genes make proteins, not behaviour."39 Lineare monogenetische (sogenannte "mendelsche") Beziehungen zwischen einzelnen Genen und einzelnen Merkmalen bilden prinzipiell eine seItene Ausnahme. Schon bei vielen chronischen Krankheiten,40 die naher unter- 39 40 haben ]onathan Michael Kaplan/Massimo Pigliucci. "Genes .for' Phenotypes: A Modern History View". in: Biology and Philosophy 16 (2001). 189-213, einen Kriterienkatalog aufgestellt. anhand dessen sich ein angemessener Gebrauch der Rede von einem "Gen fUr" bestimmen lassen soli: Sie fordern Nachweise einer direkten kausalen Beziehung zwischen Gen und phanotypischer Erscheinung sowie der Pravalenz eines Gens in einer Population als Resultat der natiirlichen Selektion. Patrick Bateson/Paul Martin. DeJlgn For a Lift. How Behavttwr Dpvelops. London 1999. 63. Bateson und Martin stellen fest, es gebe keine einfachen Korrespondenzen zwischen Genen und individuellem Verhalten oder Personlichkeitsstrukturen: "The notion of genes .for' behaviour undoubtedly corrupts understanding." - "A more honest translation of the .gene for' terminology would be something like: .We have found a particular behavioural difference between individuals which is associated with a particular genetic difference. all other things being equal." (238) Auch das Konzept der "heritability ratio", das als Mittelweg aus den jahrelangen Auseinandersetzungen iiber natllre oder nllrtllre erwuchs. halten sie fUr problematisch. da die HeritabiliUit keine fixe quantitative Gr6Be darstellt. sondern von einer Vielzahl von Faktoren. wie etwa den Besonderheiten der untersuchten Populationsgruppe abhangt. Das Konzept der "heritability ratio" beruhe aber auf der Annahme. daB Gen· und Umwelteinfliisse voneinander unabhangig seien und nicht interagierten. Zudem sage die Heritabilitat nichts iiber die Wege. iiber die Gene und Umwelt in den EntwicklungsprozeB eingreifen. So ist selbstverstandlich die Heritabilitat der Eigenschaft "auf zwei Beinen gehen" gleich null und klar umweltabhangig: Ein Mensch kann bei einem Un fall die Fahigkeit verlieren. aufrecht zu gehen. obwohl der aufrechte Gang offensichtlich auf genetische Grundlagen zuriickzufiihren ist (vg!. 56-63). Zur vernachlassigten Bedeutung von Proteinen vg!. Richard Lewontin. "The Dream of the Human Genome". in: New York J?evtew o/Books. 28. 5. 1992.31-40. Vg!. Stephen]ay Gould. "The Confusion over Evolution". in: New York J?evlew q/Books (19. 11. 1992). 48; Richard Lewontin. Biology as Ideology, New York 1992. Es sind etwa 4000 monogene Krankheiten bekannt. wobei man jedoch davon ausgeht. daB Gene die Krankheiten nicht direkt verursachen. sondern lediglich das Risiko modellieren. Dement· sprechend sind Therapien von erblich bedingten Krankheiten schwierig: hierzu vg!. Florian Holsboer. "StreB - Angst - Depression: Die neue Psychopharmakologie". in: ;lfaxPlanckForschung HV /99, 40-53; Alfred Gierer. Im J"piegel der Natur erkennen W;?'lIns selhsI. JPissenschd)t IInd Ifkmchenbtld. Reinbek bei Hamburg 1998. betont. daB die biologisch angelegten Fahigkeiten des Menschen die kulturelle Entwicklung zwar bedingen, sie aber nicht determinieren. Andreas Paul spricht van einem Wechselspiel van natllre und ntlr/llre. und hebt hervor. daB genetische Dispositionen bestimmte Verhaltensweisen lediglich wahrscheinlicher machen (Paul, Van Affen Itnd;lfenscben (Anm. 2), 40). Damit ist 38 sucht wurden, wie Schizophrenie, manische Depressionen, Diabetes od er Asthma, werden vielmehr polygenetische Beziehungen als Ursachen zu Grunde gelegt. Deutlich komplizierter verhaIt es sich mit der Untersuchung von Verhaltensdispositionen. Dies hangt nicht nur damit zusammen, daB die Rede von "aggressivem", "eiferstichtigem", "liebevollem" und anderem Verhalten primar einem alltagsweltlichen Sinnzusammenhang entnommen ist, innerhalb dessen Bezeichnungen der jeweiligen Verhaltensweisen eine weit verzweigte Semantik aufweisen: Die Bedeutungsnuancen des Begriffs der "Aggression", die sich in Aussagen, wie "ErlSie ist aggressiv ", "Dieser Musiker spielt aggressiv" usf. zeigen, gehen in naturwissenschaftlichen Reduktionen der Semantik des Begriffs auf biochemische Zusammenhange verloren. Setzten wir aber eine gelungene begriffliche Bestimmung einmaI voraus, so ergibt sich eine zusatzliche Schwierigkeit: Verhaltensmerkmale sind nie eindeutig an- od er abwesend. Eine genetische Determination von Verhaltensmustern kann daher ausgeschlossen werden. Statt dessen muB mit einem hochkomplexen Wechselspiel einer VielzahI von Genen und Umwelteinfltissen sowie deren Rtickkoppelungseffekten gerechnet werdenY Dabei lassen sich Iediglich statistische Korrelationen, nicht aber kausal determinierte Beziehungen zwischen genetischer Ausstattung und MerkmaIsauspragung aufweisen. Anders gewendet: Es gilt zwar als wahrscheinlich, daB menschliches Verhalten durch genetische Grundlagen mitkeinfl~wird, doch ist die Bedeutung genetischer Einfltisse auf das individuelle Verhalten damit noch vollkommen offen.42 Dies liegt nicht zuletzt daran, 41 die biologische Ausstattung des Menschen als zentraler beschrankender Faktor handlungs· relevant, indem sie den Handlungsspielraum einengt. sie determiniert Handlungen aber nicht; vg!. Dieter Groh. "Pierre Bourdieus .allgemeine Wissenschaft der Okonomie praktischer Handlungen· ... in: Ders.. Antb10p%gi;cbe Dime?1Slonen der Gescb!cb!e, Frankfurt/M. 1992, 15-26 (vgL Anm. 71). - Zum genetischen Determinismus vgL Evelyn Fox Keller, "Nature. nurture, and the Human Genome Project", in: Daniel]. Kevles/Leroy Hood (Hgg.), lhe cate 0/ cat.... Cambridge (Mass.)/London 1992. 281-299; weiterhin lens B. Asendorf. "Entwicklungsgenetik". in: Heidi Keller (Hg.). Lebbllcb En!wlck/llng!PSYCbO/Ogle. Bern u. a. 1998.97-118. Vgl. etwa Wolf Singer, ..Ironische Ztige im Gesicht der Wissenschaft. Wissen fUr die Zukunftsplanung steht nicht zur Verftigung", in: FmnijUr!er A//gemeine Zeit=g Nr. 232. 6. 10. 1999, 53. 42 Eine genetische Mikrodetermination von Verhalten muB zumindest in probabilistische Determiniertheit aufgelost werden, urn der Verwechslung von Korrelation und KausaliUit zu entgehen. Ganz abgesehen davon besteht bei der Untersuchunggenetischer Verhaltensdetermination en auch die ethische und experimenteUe Unmoglichkeit. entsprechende Verfahren beim Menschen anzuwenden. DaB zwar Fruchtfliegen. nicht aber Menschen fUr Laborexperimente gekreuzt werden konnen, liegt auf der Hand. Zur Frage des geneti· schen Determinismus vgL Kaplan/Pigliucci, Gene! jc?r'Pbenorypes(Anm. 38); vg!. weiter- 39 daB man einen erwachsenen Organismus nicht ohne weiteres mit dessen Erbmaterial gleichsetzen kann. weB sich dieses erst noch entwickeln muB. Entwicklungen allerdings finden immer nur zwischen Organismus und Umwelt. nicht aber zwischen Erbmaterial und Umwelt statt: 43 Sich entwickelnde Organismen sind als dynamische Systeme aufzufassen. deren Entwicklung einem Wechselspiel multikausaler Einf1iisse unterliegt und die eine aktive Rolle in ihrer eigenen Entwicklung spielen.44 43 44 hin Stephen Jay Gould, "Biologische Potentialitat contra biologischer Determinismus", in: Herbig/Hohlf eld (Hgg.), DIe zweite ScMpJimg (Anm. 24), 132-142; Richard C. Lewon· tin/Steven Rose/Leon J Kamin, DIe Cene sind es nicbt... giologie, Ideo/ogle Hmi mensclr licbe Nattlr, Miinchen/Weinheim 1988; der Genetiker Jens Reich hat dazu festgestellt: "Wegen der durchgehenden riickbeziiglichen Vernetzung ist es zudem bei biologischen Phanomenen nicht mehr sinnvoll, Ursache und Wirkung zu trennen, Beweger und Bewegtes. Es ist nicht moglich :w entscheiden, ob die Umwelt den Organismus modelliert oder der Organism us die Umwelt - wir haben ein Netz von Wechselwirkungen. bei dem die Inf ormationsverarbeitung so sehr mit dem materiellen ProzeB verzahnt ist. daB eine Trennung dieser Spharen nicht mehr gelingt." Uens Reich, "Erfindung und Entdeckung. Wie weit will die Menschheit die technische Inbetriebnahme der Natur treiben?", in: FrankjimerAllgemet!zeZetflmgNr.146, 27. 6. 2000,11). In ihrem Erklarungsanspruch weit iiber unsere Argumentation hinaus geht die im Rahmen des Modells der sogenannten orgamsmiscben giologle vertretene Ansicht, morphologische Prozesse im Organismus seien unabhangig von ihrem Genotyp. So vertritt bei· spielsweise Wolfgang Friedrich Gutmann, DIe Evoltltion by:iraHliscber /{onstJ'llktionen: Organismcb~ wandlllng stat! aitciarwinitircber AnfJdSslmg (Senckenberg-Buch, Bd. 65), Frankfurt/M. 1989. ausgehend von einer "neuen organismisch konstruktiven Erklarung le bender Organism en" (10) die Auffassung, der Phanotyp determiniere den Genotyp: "Es sind durchweg und fast total die internen biomechanischen Konstruktionsgefiige - Beziehungen [in LebewesenJ. die die Bahnen moglicher evolutiver Transformationen festlegen, die Richtung bestimmen und die Sequenz komtruktiver Stadien determinieren." (9) Zur "organimischen" Sichtweise innerhalb der Biologie vg!. Ders. (Hg.), DIe /{onstTllktton der Organismen. I. /{obtiren2, Energie Ilnd simlll!ane /{aHsaltftit (Aufsatze und Reden der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft. Nr. 38), Frankfurt/M. 1992, besonders Ders.!Michael Weingarten, "Grundlagen von Konstruktionsmorphologie und organismischer Evolutionstheorie", in: ebd., 51-68. Zu wissenschaftshistorischen Hintergriinden der organismischen Biologie vg!. Hans-Dieter Mutschler, "Die Geschichtlichkeit der Natur und die Ungeschichtlichkeit der Naturgesetze", in: Alexius J Bucher/Stefan Dieter Peters (Hgg.), EvolHtion im Disktlrs. CrenzgeJ'jJrticbe zwiscben NatllJ"Zl/issenscbaft, Pbllosopbic IInd lbeologle (Eichstatter Studien, Neue Folge, Bd. XXXIX), Regensburg 1998, 251-262; Michael Weingarten, Organtsmen - Oo/ekte oder SlIo/ekte der EvolHtlon'? Pbilosopbisc6e Stldien ZHm Paroa'lgmenwecbsel in der Evoltttionsbiologle (Wissenschaft im 20. Jahrhundert), Darmstadt 1993. Diesen Vorgang bezeichnen Bateson/Martin, DesIgn For a L~re (Anm. 39), 89, 238f., als dewlofJmental cooking. Die Metapher des "Kochens" dient den Autoren zur Verdeutlichung der multikausalen und konditionalen Natur der Entwicklung: ob man Butter oder Margarine benutzt, kann, vorausgesetzt alle anderen Zutaten und der Kochvorgang bleiben gleich, einen Unterschied machen. Werden andere Zutaten oder Kochmethoden benutzt, kann der Unterschied aber auch verschwinden. Auch kann ein Kuchen nicht 40 5. Die zwei Naturen: Der Mensch als Tier Selbstverstandlich ist der Mensch atlc/; ein biologisches Wesen. Eigenschaf. ten, die si ch im Laufe seiner Entwicklung als iiberlebens· und fort· pflanzungsdienlich erwiesen haben, konnten si ch evolutionar verfestigen. Inwieweit sich der Mensch durch Verweis auf diese Merkmale indes er· sc/;q.ofindbestimmen und verstehen laBt, muB hinterfragt werden. Von der biologischen Natur des Menschen muB analytisch eine zweite, seine kulturelle Natur, unterschieden werden. Diese kulturelle Natur des Menschen zeichnet si ch gegeniiber seiner biologischen Natur durch ihren intentionafen und sinn/;ajien Charakter aus, d.h. sie ist maBgeblich durch verschiedenartige, immer wieder neue oder veranderte kulturelle Selbstentwiirfe bestimmt. Zudem entwickelt sie sich in einem viel engeren zeitlichen Rahmen als die biologische Natur des Menschen, welche sie historisch iiberformt. 45 Dies bedeutet einerseits, daB bei weitem nicht allen menschlichen Charakteristika ein genetisches Substrat gegeniiberstehen muB, was zur Vorsicht gegeniiber allzu schnellen Verweisen auf die genetischen Grundlagen dieser oder jener Eigenschaft gemahnt. Es bedeutet aber auch, daB der Mensch durchaus in der Lage ist, bestimmte biologische Merkmale zu transzendieren oder gar zu negieren. Fortpflanzung beispielsweise steUt keinen kulturellen Imperativ dar. Eine in diesem Sinne naturalistische Anthropologie, die den Menschen unter alleinigem Verweis auf biologisch universale Verhaltensweisen zu erklaren versucht, greift also notwendig zu kurz. Hier wird die partilettlar biologische Natur des Menschen zu dessen tlniversafer Natur hypostasiert. Solche deterministisch enggefiihrten Formen der Anthropblogie entbehren zudem auch wissenschaftlicher Grundlagen innerhalb der Biologie. Laut dem Verhaltensbiologen und Neurowissenschaftler Marc D. Hauser existieren beispielsweise biologisch universale mentale Mechanismen zur Steuerung bestimmten Wahrnehmungs- oder Navigationsverhaltens. Diese mentalen Werkzeuge kbnnen zwar im Sin ne grundlegender Fahigkeiten und Dispositionen als angeboren gelten, nicht aber ihre konkrete Ausformung, die von bkologischen Faktoren abhangt und durch intentionale Handlungen variierbar iSt,46 45 46 ohne weiteres in seine Bestandteile und die Kochprozesse aufgel6st werden, womit Bateson und Martin die Frage emergenter Phanomene ansprechen. Michael Tomasello. me Cultllral Ongins q/ Htlman Cognition. Cambridge (Mass.)/ London 1999, 216, betont: "The fact that culture is a product of evolution does not mean that each one of its specific features has its own dedicated genetic underpinnings; there has no! been enough time for that." Vg!. Marc D. Hauser, WIld tifind.J; /MJat Ammals Really mink, London 2000. 20ff. Hauser spricht von "mental toolkits". die es in erster Linie erm6glichen, Objekte wiederzu- 41 Trotz dieser Einsichten scheint die Eindeutigkeit deterministischer Antworten immer noch einen groBen Reiz auszuiiben. So wird etwa im Rahmen der Evolutionaren Psychologie sexuelle Gewalt neuerdings als ein universales Phanomen bestimmt, das sich evolutionar verfestigen konnte denn Vergewaltigung bedeute schlieBlich Geschlechtsverkehr und damit: Fortpflanzung. Manner werden dabei als aufgrund genetischer Veranlagung promiske, aggressive und sexuell leicht erregbare Wesen aufgefa13t. 47 Mit 47 erkennen und deren Verhalten vorauszusagen. Anders als der anthropomorphe Tite!. der wohl auch in diesem Fall aus marktstrategischen Grunden gewahlt wurde. vermuten laBt, verneint Hauser in seiner Untersuchung alle zentralen Fragen, die darat;f abzielen. Mensch und Tier kognitiv oder sozial auf eine Stufe zu stellen. Lediglich die basal en Emotionen Angst und Arger HiBt Hauser auch fUr Tiere gel ten. Zu den biologischen Universalien - die allerdings wohl nicht fUr Mikroorganismen gelten sollen - zahlt Hauser ein Verstandnis von Objektkontakt und Bewegung (30ft·.). die elementare Einschiitzung von Zahlenverhaltnissen (44ff.). Navigationsfahigkeit (64ff.). Fremdwahrnehmung und -wiedererkennung (90ff.). die Existenz von Lernmechanismen (114ff.). das Zuruckhalten von Informationen bzw. die Falschinformation (140ff.) und die Kommunikationsflihigkeit (174ff.). Hausers insgesamt einleuchtende Darstellung weist hinsichtlich der Frage der Kommunikation von Tieren allerdings Schwachen auf. die trotz einzelner Verweise auf aktuelle Iinguistische Ansatze wohl einem abbildtheoretischen Sprachverstandnis geschuldet sind; dazu vg!. George Lakoff. Women, Fire andDangerous lbings: /f7Jat Categories Reveal abollt tbe #l11(/, Chicago/London 1987. Hauser beschaftigt sich in lbe EvolutIon o/Commlmicatton. Cambridge (Mass.)lLondon 1997. in Anknupfung an Tinbergen mit der Evolution der Kommunikation. die er in ihrer ontogenetischen. funktionalen und phylogenetischen Dimension behandelt. da nur eine in diesem Sinne komparative Perspektive eine Analyse ermogliche. Dorothy L Cheney/Robert M. Seyfarth. How monkeys see the world /nsuie the mindo/another speCIes. Chicago/London 1990. nennen das Wiedererkennen von Verwandtschaft biologisch universal (12). Abstraktions- und GeneraIisierungsleistungen (17). Selbst- und Fremdreflexion (312) aber spezifisch menschlich. Bei Tieren funktionierten Urteile liber die Gedanken anderer. die Attributierung mentaler Zustande nicht (144. 306f.). weshalb ihnen Lernen nur durch Beobachtung moglich sei. Vg!. Randy Thornhill/Craig T. Palmer. A Na/llral History q/Rape. 8iological8ases 0/ Sexual Ca>rClon. Cambridge (Mass.) 2000. Die Autoren dieser (auch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Implikationen) auBerst fragwurdigen Studie stellen ihren evolution istischen Ansatz zunachst als einzig denkbaren wissenschaftlichen Zugang dar: "The social science theory of rape is based on empirically erroneous. even mythological. ideas about human development. behavior. and psychology." (xiii) - "The choice between the social science explanation's answers and the evolutionary informed answers provided in this book is essentially a choice between ideology and knowledge." (189) Die "nicht-ideologische" Antwort der Autoren auf die Frage. warum Manner vergewaltigen (53-84). findet si ch in der soziobiologisch zentralen "parental investment"·Theorie (52). Danach hat der Vergewaltiger die hestmtigliche mannliche Paarungsstrategie verwirklicht, namlich "minimum parental investment" (190). Die Rechtssprechung habe sich in Zukunft auf diese Erklarung einzustellen. Die Vorstellung, in der Tier- und Menschenwelt seien Mannchen durchweg aggressiver als Weibchen - doppelt mannlich bedeute also doppelt aggressiv -, nennt Heino F.L. Meyer-Bahlburg ein "schlichtes Denkmodell"; vg!. Beino F.L MeyerBahlburg. "Geschlechtsunterschiede und Aggression: Chromosomale und hormonale Faktoren". in: N. BischoflH. Preuschoft (Hgg.). Gescblechtsunterschlea'e. Entstehllng find 42 einer solchen Sichtweise stehen Evolutionare Psychologen in der Tradition der Ethologie seit Konrad Lorenz, dessen These von einem biologischen Aggressionstrieb 48 immer wieder neu formuliert wird. So forderte jiingst der Physiologe Jared Diamond, der Mensch solle aus seiner Stammesgeschichte lernen und Volkermord und Umweltzerstorung als den Kennzeich en der ltetWelt entsagen. Unter Diamonds pessimistischem Blick auf Mensch und Natur 49 erwachsen anthropomorphe Negativkonstruktionen des Natilrlichen. So ist die Rede von "Genozid bei Wolfen", "Vergewaltigung bei Enten", "biologischem Holocaust" an Vogeln, "Blitzkrieg" und "Genozid" des Cro-Magnon-Menschen am Neandertaler.50 Entwiekltmg, Munchen 1980, 123-145. Auch die weniger spektaku1aren, von der Evolutionaren Psychologie aufgestellten biologischen "Universalien" sind problematisch, da sie unhinterfragt auf dem Konzept absoluter statt relativer evolutionarer Adaption (also der Adaption an eine 10kaleUmwelt) basieren; vgl. hierzu kritisch Bateson/Martin, Destgn For a L#(Anm. 39), 225. 48 Vg!. Konrad Lorenz, Dassogenannte8ose 2ttrNatll?gesehiebtederAggression, Wien 1963. 49 Es handelt sich hier urn die ungerechtfertigte Verabsolutierung etnerm6glichen Perspektive auf Mensch und Natur, in diesem Fall der pessimistischen. Mit dieser Denkfigur der Umversalisiertmg des Fartwularen beschaftigen sich die Projekte "Zur Entstehung asthetischer Naturerfahrung" (Ruth Groh) und "Anthropologische Voraussetzungen wissenschaftlicher Diskurse" (Dieter Groh) des Konstanzer Sonderf orschungsbereichs 511 "Li· teratur und Anthropologie", im Rahmen derer die vorliegende Untersuchung entstanden ist. Zu perspektivischen positiven/optimistischen und negativen/pessimistischen Konstruktionen von Mensch und Natur vgl. demnachst Dieter Groh, ;/femeh find Natp7. 2flJ' Tradition optlmistiseher pnd fJi?ssimistiseher Detltungen, Frankfurt/M. 2002. Zu positiver und negativer Anthropologie vgL Ruth Groh, Arheit an der Heillosigkeit der Welt. 2ur politisch-theologisehen A1ytbologie findAnthmpologie Carl Sehmitts, Frankfurt/M. 1998, 206[ 50 Vg!. J;red Diamond, Der dntte Seblmpanse Evolution und 2ukunji des ;/femehen, Frankfurt/M. 1994; W6ife, Enten (219), V6gel (405; vg!. 397-423), Cro-Magnon·Mensch/ Neandertaler (455; vgL 424-434). DaJ3 Ethnozentrismus und Krieg die menschliche Entwicklung tatsachlich von Anfang an begleiteten, darf angezweifelt werden. Neuere palaoanthropologische Erkenntnisse widersprechen Diamonds Negativkonstruktion der Natur; vg!. Richard Leakey/R. Lewin, Der UrsfJJ'ung des /l1ensehen, Frankfurt/M. 1993; lan Tattersall, Ftlzzle frfensebwerd,mg. A,!/' den SjJllren der mmrebliehen Evoltllion, Heidelberg/Berlin 1997; Ders., Neandertaler. Der Sireit pm /lnsere Ahnen, Basel 1999. Auch Irenaus Eibl-Eibesfeld, Die 8iologie des mensebliehen Verbaltens. Cmndn}l der h'tlmanetbologie, Munchen, 3. Aufl. 1995, 142[" halt an der Lorenzschen These von einem pathologischen Aggressionsverhalten rest: "lch meine, daB es si ch hier urn Pathologien handelt. Paviane und Schimpansen eskalieren auch im naturlichen Habitat oft in ihrem aggressiven Verhalten. I... ] Ich vermute, daB diese mangelnde Ausgeglichenheit und Patho· logieanfalligkeit mit der raschen Hirnevolution bei diesen Prima ten zusammenhangt. Mit der 7ellvermehrung hielt die fur die Steuerung sozialen Verhaltensnotwendige Feinstruk· turierung m6glicherweise nicht ganz Schritt, SO daB die Absicherung kritischer SteUen des Sozialverhaltens wie auch bei uns Menschen nicht immer ausreicht." Eibl-Eibesfelds Thesen zum Zusammenhang von Aggression und Hirnevolution sind freilich reine Speku· lation, wie Primatologen betonen; vg!. Paul, Von Agen find ;/fenseben (Anm. 2), 53-61; Volker Sommer, Die Agen. Unsere wilde l/erwandtsebaji, Hamburg 1989. 43 Solche Argumentationen erweisen sich, vor alIem mit Blick auf unsere nachsten evolutionaren Verwandten, ihrerseits als in hohem MaBe abhangig von politisch-geselIschaftlichen Konjunkturen des Denkens iiber Mensch und Natur: In den sechziger Jahren galt der Schimpanse als Modell des entstehenden Homo sapz"ens. Dessen Eigenschaften iibertrug man auf den Menschen, der so zu einem hochgradig aggressiven Wesen mit ausgepragtem Jagdverhalten und bemerkenswerten Fahigkeiten bei der Werkzeugherstellung stilisiert wurde. Der konstruktive Charakter dieser Zuschreibung wurde spatestens dann iiberdeutlich, als man die Orientierung am Schimpansen als paHioanthropologischem Modell durch die an dessen kleinem Bruder, dem Bonobo oder Zwergschimpansen, ersetzte. Mit dem Bonobc, der seit den spaten siebziger Jahren als bestes Beispiel fiir unsere Vorfahren gaIt, riickten mit einem Mal namlich ganz andere "fundamentale" Charakterziige in den Vordergrund. Nach der Devise make love not war verwandelte sich der (Ur-}Mensch nun in ein besonders friedfertiges Wesen, dessen Sozialverhalten durch Gleichberechtigung und freiziigig praktizierte SexualWit bestimmt sein solIte. Heute betonen Primatologen allerdings, weder der Schimpanse noch der Bonobo seien als ausschliel3liches Modell des Urmenschen geeignet. 5J Die Naturalisierung des Menschen erfolgt meistens auf der Grundlage einer vorausgehenden Anthropomorphisierung der Tierwelt. Das Hineinlesen anthropologischer Kennzeichen in die Natur erleichtert die Naturalisierung des Menschen, denn auf diese Weise k6nnen menschliche Eigenschaften wiederum aus einer Natur herausgelesen werden, die iiber alle Merkmale des Menschen und der menschlichen Kultur bereits verfiigt. Es 5J Vg!. Frans B.M. de Waal/Frans Lanting, llonobo. lbeForgotten Ape. Berkeley u.a. 1997, 2, vg!. 134: ..Thus, in postwar years, students of behavior, dismayed by the human capacity for evil, were fascinated by the inborn nature of aggression. And during the revival of free-market ideologies and the decline of communism in the 1970s and 1980s, NeoDarwinists elevated the pursuit of self-interest to nature's leading principle. Seen in this light, the bonobo arrives at an interesting turning point in history." Zur Kulturgeschichte der Assoziation von Prima ten und naturlichem Aggressionstrieb vg!. den Oberblick bei Matt Cartmill. Tod im Horgengml{en. Das Verhtiltms des fl:fensc);en 21{ Natur Imd jagd. Zurich 1993. Auch die Einschatzung der Geschlechterrollen von Primaten anderte sich in den siebziger Jahren entscheidend. Weibchen wurden nicht mehr als passiv, sondern als ausschlaggebend fUr die Struktur sozialer Systeme angesehen; vg!. Richard Wrangham, .. On the Evolution of Ape Social Systems", in: Srxial Science Injimnat/I)n 18 (1979), 334368. Mittlerweile gilt die unterschiedliche Laut·Kommunikation als entscheidender Unterschied im Ethogramm zwischen Bonobo und Schimpanse (32): vg!. auch Ders., Peace· making among Primates, Cambridge (Mass.) 1989; Ders., Good Natl{red: lbe Ongms 0/ Rig);t and Wrong in Humans and Other Animals, Cambridge (Mass.) 1996; vg!. weiterhin Adrienne L. Zihlman u.a., .. Pygmy chimpanzee as a possible prototype for the common ancestor of humans, chimpanzees, and gorillas", in: Natllre275 (1978), 744-746. 44 handelt sich also urn einen argurnentativen ZirkelschluB: Die Kulttlralisierung der NattlT errnoglicht die Natllralisierung der Kulttlr - eine altbekannte Denkfigur. 52 Unproblernatisch ist in diesern Zusarnrnenhang zunachst nur die Betonung der Gleichartigkeit von Mensch und Tier hinsichtlich ihres ernotionalen und ihres Schrnerzausdrucksverhaltens. Denn in der Tat zeigt si ch der rnenschliche Korper irn Ausdruck von Ernotionen und Schrnerz jenseits seiner sozialen Konstruktionen. Dabei zeigt er sich allerdings nicht einfach so, wie er "wirklich" ist, denn auch korperliches Ausdrucksverhalten rnuB stets interpretiert werden: 53 Der Mensch hat keinen unrnittelbaren Zugang zu seiner natiirlichen Seite. AIs problematisch rnuB andererseits die Zuschreibung von rnenschlichen Charakteristika wie etwa "Sprachlichkeit", "Verniinftigkeit" oder ,.Identifikationsverrn6gen" an Tiere gel ten. 54 Diese spezifisch rnenschlichen MerkCheney/Seyfarth, How monkeys see the wodd(Anm. 46), 303, weisen zwar auf die Anthropomorphisierung als gute Methode zur Voraussage des Sozialverhaltens von Primaten hin, Erklarungen seien diese anthropomorphen Beschreibungenjedoch nicht. Zu Aspekten der Geschichte dieser Denkfigur im 19. Jahrhundert vg!. Bernhard Kleeberg, Anrhro;xiogieals Zoologie. 8emerktlngen ZtI Emst Haeckefs Entw:llj'des Menscben, Konstanz 2000, Internet: http://www.ub.konstanz.de/kops/volltexteI2000/563. 53 Diese Erkenntnis gewinnt mittlerweile auch in den Kulturwissenschaften deutlich an Gewicht; vg!. Caroline Bynum, "Warum das ganze Theater urn den Kiirper? Die Sicht einer Mediavistin", in: Historische Anrhro;xiogie 4 (1996), 1-33; Barbara Duden, "Geschlecht, Biologie, Kiirpergeschichte. Bemerkungen zur neueren Literatur in der Kiirpergeschichte", in: Fm21nistische St:dien 9 (1999), 105-122; Philipp Sarasin, "Mapping the Body. Kiirpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und ,Erfahrung P, in: Histonsche Antbo/dog:e 7 (1999), 437-451; Ders .. "Vom Realen red en? Fragmente einer Kiirperge· schichte der Moderne", in: RISJ: ZeitsclmjiJilr Psycboanalyse 14, Heft 45 (19991II), 29-61; Jakob Tanner, "Kiirpererfahrung, Schmerz und die Konstruktion des Kulturellen", In: Htstonscbe Antbopologte 2 (1994),489-502; Ders.,. "Wie machen Menschen Erfahrungen? Zur Historizitat und Semiotik des Kiirpers", in: Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte (Hg.), f(07per Macbt Cescbirbte Cescbirbte .1facbt f(07per. f(0pettescbirbte als Sozialgescbichte. Bielefeld 1999, 16-34; Tilmann Waiter, "Medikalisierung, Kiirperlichkeit und Emotionen: Prolegomena zu einer neuen Geschichte des Kiirpers", in: jOlfmal/ilr Psycbologte 812 (2000), 23-39; Clemens Wischermann, "Geschichte des Kiirpers oder Kiirper mit Geschichte?", in: Ders.lStefan Haas (Hgg.), f(oper mtt Cescbirbte Der menscbficbe f(oper als Ort d er Selbst- Ifnd U7eltdellttlng (Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 17), Stuttgart 2000, 9-31. - Entsprechend ausgerichtete Studien Iiegen inzwischen vor mit Claudia Benthien, Im Letbe wobnen. Ltterariscbe Imagologle Ifnd biJtonscbe Anthropolo· gle der Hallt (Kiirper, Zeichen, Kultur, Bd. 4), Berlin 1998; Elaine Scarry, Der f(07per Schmerz. Die Cb#en der Verletz!icbkeit IInd me 5find:mg der f(lfltllr, Frankfurt/M. 1992. Zur problemgeschichtlichen Dimension des Verhaltnisses von Natur· und Geisteswissen,chaften vg\. exemplarisch die Beitrage in: Otto Gerhard Oexle (Hg.l, Natlfrwissenscbaji, 52 :m Ceistesw:ssenscbo/i, f(1I!/IIrwissenscbq/i: Einhe:t - Cegensatz - )iomplmzentarlidt.?(Giittinger 54 Gesprache zur Geschichtswissenschaft, Bd. 6), Giittingen 1998. TomaseIlo, O,ltll1'alOrigins (Anm. 45), 13, hebt die Eigenschaft, sich mit anderen als ebenfalls intentionalen Wesen identifizieren zu kiinnen, als zentralen Unterschied zwi- 45 male werden im Rahmen verhaltensbiologisch informierter Kulturtheorien nicht als qualitative, sondern als rein gradueUe, d.h. quantitative Merkmale miBverstanden. Auch sie gelten dann als biologische Universalien, die beim Menschen in deutlicher, bei seinen evolutionar nachsten Verwandten in rudimentarer Form auftreten. s5 So wird die au13ermenschliche Natur in schen Mensch und anderen Primaten hervor. Auf diese Weise entstiinden neuartige kraftvolle Formen kulturellen Lernens und der Soziogenese. TomaseIIo geht nicbtdavon aus. daB nichtmenschliche Primaten intentionale Handlungen ihrer Artgenossen sowie die Kausalitat unbelebter Ob jekte und Ereignisse verstehen; vg!. 18f. und mit ausgiebigen Beispielen Ders., "Cultural transmission in the tool use and communicatory signa ling of chimpanzees?", in: S. Parker/K. Gibson (Hgg.), "Langtlage" and intellIgence in monkeys ana' apes. Comparative developmental perspectives, Cambridge u.a. 1990, 274-311; Ders.. "The Question of Chimpanzee Culture", in: R.w. Wrangham u.a. (Hgg.), Cimpanzee C"ittlTes, Cambridge (Mass.) 1994, 301-317. - Die Teilhabe eines Kindes an der koIIektiven menschlichen Kognition beginnt mit dem neunlen Lebensmonat: Erst dann kann es andere als intentionale Wesen wie sich selbst verstehen (TomaseIIo, OllttlTal Ongim (Anm. 45),8). Selbstverstandlich sind nichtmenschliche Primaten intentionale und kausale Wesen, verstehen die Welt aber eben nicht in diesem Sinne, auch wenn sie viele Abfolgen von Ereignis und Konsequenz und dynamische Abfolgen von Ereignissen verstehen. Sie verstehen nicht das ..Warum". Dieses Verstandnis bringt adaptive Vorteile mit sich, weil sich so die M6glichkeit zu kreativem, llexiblem und vorausschauendem Handeln ergibt: Das Individuum kann Ereignisse vorhersagen und kontrollieren, ohne daB das Antezedenz stattgefunden hat; vg!. ebd., 19-25; Christian Vogel. Anthropologiscbe fp,ren. ZlIr Natllr des Uenscben, hg. von Volker Sommer, Stuttgart/Leipzig 2000, bes. 60r.: Was die Frage kommunikativen Symbolgebrauchs betrill"t, miissen zudem sogenannte "Versuchsleitereffekte" bei Laborversuchen mit Tieren beriicksichtigt werden - die Verwendung sprachlicher Symbole konnte bisher nur dort, nicht aber in freier Wildbahn eingehend beobachtet werden. Untersucht wurde also nicht der Symbolgebrauch im natiirlichen Habitat, sondem lediglich die kognitive SymboVdbtgkeit - und dies im Rahmen einer von Menschen geschaffenen kiinstlichen Umwelt. ss Daniel Dennett etwa nimmt bei Tieren einen "intentional stance" an und unterscheidet "levels of intentionality" bis hin zum Menschen; vg!. Daniel Dennett, me Intentional Stance, Cambridge (Mass.) 1987; vg!. kritisch Jennifer Hornsby, "Physics, Biology, and Common-Sense Psychology", in: David Charles/Kathleen Lennon (Hgg.), Real,ction, Ex· planatlOn, and Realism, Oxford 1992, 155-177, die Widerspriiche in Dennetts Ansatz aufdeckt und die AusschlieBlichkeit der von ihm aufgemachten Alternative zwischen nihilistischen und evolutionsbiologischen Naturerklarungen bezweif ell. Dennetts graduelle Abstufung von Intentionalitat iibernehmen Cheney ISeyfarth, How monkeys see tbe world (Anm. 46), 39-144. Cheney und Seyfarth leiten ihre Monographie mit einer Kritik des Anthropomorphismus, mit Thomas Nagel. "What is it like to be a bat?", in: Pbilosopblcal Revie'fb 83 (1974), 435-450, und dem Wittgenstein-Zitat "Wenn ein L6we sprechen k6nnte, wir k6nnten ihn nicht verstehen." ein. Dennoch sehen sie aber nur graduelle Unterschiede zwischen Mensch und Tier: "Nevertheless, we hope to convince you that Nagel and Wittgenstein have been too pessimistic and have declared impossible what is merely difficult - and fascinating."(2) Nagels und Wittgensteins Argumente sind allerdings eben gTllndsdtzlicber Natur, d.h. sie verweisen auf Probleme. die die grundlegende paradigmatische Ebene der Forschungen betreffen und somit bei gleichbleibenden basalen Konzeptionen mwtirgendwann in der Zukunft gel6st werden k6nnen. Nagel bezieht sich in sei- 46 sinnhafte und damit kategorial problematische Zusammenhange gestelIt. DaB der Mensch auf diesem Wege stillschweigend von einem Natur- und Kulturwesen in ein reines Naturwesen verwandelt wird, wird meist gar nicht mehr wahrgenommen. Vielmehr meint man, nur mit Bezug auf die lliologie des Menschen sinnvoll von anthropologischen Universalien sprechen zu konnen. DaB etwa "Moralitat" oder "Fiktionsvermogen" den Menschen vor alIen kulturelIen Unterschieden charakterisieren und es sich bei diesen Vermogen urn menschliche Dispositionen jenseits festgelegter genetischer Substrate handeln konnte, die sich in kulturelIen und historischen Zusammenhangen nur in unterschiedlicher Weise realisieren bzw. aktualisieren, wird gar nicht erst in Erwagung gezogen. 6. Die zwei Kulturen: Geschichte als Evolution Die neuen naturalistischen Thesen zur Anthropologie berufen sich auf die evolutionare Herausbildung aller Wesensmerkmale, auf die soziobiologisch erfaBbaren und gentechnologisch decodierbaren Grundlagen der menschlichen Natur und Kultur. So behauptet die Evolutionare Psychologie, die sich selbst als Vermittlerin zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften versteht. menschliches Verhalten und Denken sei durch genetisch fixe Strukturen gepragt, die sich im Evolutionsverlauf als uberlebensdienlich erwiesen hatten. Mit der Aufstellung (sozio-}psychologischer Universalien als Grundlage der menschlichen Kultur wird auf menschliche Verhaltensweisen und Fahigkeiten Bezug genommen, die gemaB eines reproduktiven Imperativs zur Optimierung von Fortpflanzungschancen dienten. Sie seien Ursache alIer menschlichen KulturauBerungen, da ehedem funktional iin Kampf urns Dasein. 56 Freilich wird hier ubersehen, daB funktionale Mecha- 56 nem mittlerweile klassischen Aufsatz auf den essentiell suije/:tiven Charakter aller Erfahrung, den wissenschaftliche Beschreibungen nie einholen konnen, sondern immer beiseite lassen: Die Erfahrung, eine Fledermaus zu sein, kann nicht geteilt werden, auch wenn strukturelle und physikalische Beschreibungen dieser Erfahrung moglich sind. Uber subjektive menscbliche Erfahrungen konnen wir verniinftig reden, weil wir uns in andere Menschen hineinversetzen konnen. Bei einer Fledermauserfahrung hingegen gilt: "In so far as I can imagine this [... ]. it tells me only what it would be like for meto behave as a bat behaves."(439) In diesem Sinne argumentiert auch Wittgenstein in seinem Lowen-Beispiel fUr eine gemeinsame - also geteilte - Lebensform und Redepraxis als Voraussetzung fiir geJingende Kommunikation (siehe oben. Anm. 24); zu Nagel vg!. David Charles/Kathleen Lennon, ..Introduction", in: Dies. (Hgg.), Reduction, Explanation, and Realism, 1-18, hier I Of. Die wichtigste Eigenschaft des Menschen ist laut der Evolutionaren Psychologie die Fahigkeit. Storenf riede des SoziaJgefUges zu entlarven: durch diese habe sich der Altruismus entwickeln konnen; vg!. grundlegend Leda Cosmides, "The logic of social exchange: has 47 nismen und Verhaltensweisen sowohl neue Adaptationsm6glichkeiten er6ffnen wie auch Evolution behindern k6nnenY DaB beispielsweise selbst die fUr die Evolutionare Psychologie basale experimentelle Begriindung eines speziellen kognitiven Moduls zum Erkennen von Betriigern auch obne die Berufung auf evolutionare Funktionalitat plausibel erkIart werden kann, ist mehrfach gezeigt word en. 58 Inwieweit schlieBlich allein mit dem sprach- natural selection shaped how humans reason? Studies with the Wason selection task". in: Cognition 31 (1989). 187-276; jerome H. Barkow/Leda Cosmides/john Tooby. 7l;e A(ktpted;lfind: Evotl,tionary Prycbology and tbe Generation o/Cllltlffe. New York/Oxford 1992;Leda Cosmides/john Tooby...Beyond intuition and instinct blindness: toward an evolutionary rigorous cognitive science". in: Cognition 50 (1994). 41-77; Dies.... From function to structure: the role of evolutionary biology and computational theories in cognitive neuroscience". in: M.S. Gazzangia (Hg.). 7l;e Cogm'tive Netlrosciences. Cambridge (Mass.) 1995. 1199-1210. Vorsichtiger und differenzierter argumentiert Henry Plot kin. Evolution in ;lfind An Introduction to EvolutIonary Fsychology. London 1997. Plotkin wendet sich gegen vereinfachende Darstellungen der Zusammenhange zwischen Genen und Verhalten. etwa bei der VergewaItigung (109). und reflektiert deren wissenschaftshistorische Hintergrtinde in der ethologischen Aggressionstheorie (111f.). Eine popularwissenschaftliche Darstellung bietet Steven Pinker. Wti? MS Denken im Kop/ emsteh. Mtinchen 1998; Christopher Badcock. PrychoMrwinismuJ. Die Synthese von Darwin und Fretld, Mtinchen 1999. deutet das .. UnbewuBte" auf Grundlage von Richard Dawkins als genetisches Program m im Dienste der Fortpflanzung. Geoffrey Miller. 7l;e ;lfating ;lfind How Sexual Choice Shaped the Evo/t,tlon 0/Human Nattlre. London 2000. meint. die Zeit sei reif fUr eine ambitionierte Theorie der menschlichen Natur. die die Idee des Menschen als .. Fortpf1anzungsmaschine" starker als die Evolutionare Psychologie in den Vordergrund rtickt (3ff.) und die Geistes- und Sozialwissenschaften biologisch fundiert (427). Jerome H. Barkow. "Universalien und evolutionare Psychologie". in: Peter M. Hejl (Hg.). Universalien und Konstrttktlvismlls. Frankfurt/M. 2001. 126-138. avisierl die Grundlegung einer nomothetischen soziokulturellen Anthropologie mittels der Evolutionaren Psychologie. Inwiefern allerdings bereits die Evolutionstheorie nicht nomothetisch. sondern idiographisch verrahrt. dazu siehe un ten. 57 Vg!. etwa Cheney/Seyfarth. How monkeys see the world(Anm. 46). 11-13. 58 Vg!. Jerry Fodor ••,why we are so good at detecting cheaters". in: CognitIon 75 (2000).2932. Die .. flagship results" der Evolutionaren Psychologie basieren auf einer Experimentalreihe (das sogenannte Wdson Selection task}. bei der getestet wird. ob die Versuchspersonen bei Uberprtifung der Validitat des Satzes (1) "Wenn jemand unter 18 Jahren ist. trinkt er /sie Coca Cola" besser abschneiden. als bei der des Satzes (2) .. Es wird verlangt. daB unter 18 Jihrige Coca Cola trinken." Fodor weist nach. daB sich das bessere Abschneiden der Versuchspersonen bei (2) bereits aus der logiscben Slruktur deontischer Konditionalsatze ergibt. Ahnlich wie Fodor kann auch Elisabeth A. L1oyd... Evolutionary Psychology: The Burdens of Proof'. in: 81ologyand Fhilosophy 14. 1999.211-233. zeigen. daB sich die Evolulionare Psychologie in ihrer Entstehungsphase gegenuber der pragmatic reasomng theory nur mithilfe der Spekulationen tiber die evolutionare Vergangenheit naher zu konturieren vermochte. Wie H. Looren de Jong/W,J. van der Stehen. "Biological Thinking in Evolutionary Psychology: Rockbottom or Quicksand?". in: Fhilosophical Prycbology 11 12. Oxford 1998, 183-206, darIegen. miBinlerpretiert die Evolutionare Psychologie Methoden und Erklarungen der Evolutionsbiologie. So wird Thesen tiber Selektionsvorteile einzelner Anpassungen falschlich naturgesetzlicher Charakter zugeschrie- 48 lichen Zusatz "evoiutionar" ein Erkenntnisgewinn gegenuber konkurrierenden wissenschaftlichen Ansiitzen verbunden ist. rnuB offen bleiben - zurnal sich evolutionstheoretische Erklarungen rnittels Begriffen wie "Anpassung". "Selektion" und "Uberleben des Tuchtigsten" praktisch an alle Situationen anschlieBen lassen. in denen es urn das Bestehen und Vergehen beliebiger Erscheinungen geht. 59 Nur selten wird in diesern Zusarnrnenhang ausdruck- 59 ben; evolutionaren gegenuber bestehenden funktionalen Erklarungen in der Psychologie zu Unrecht ein hoherer heuristischer od er gar Erklarungswert eingeraumt; der Zusatz "evolutionar" habe alien falls rhetorische Funktion und sei Teil einer "evolutionary phraseology" (183, vgL 201). Wie Fodor und Lloyd argumentieren auch de long und van der Stehen uberzeugend, daB die Evolutionare Psychologie mogliche alternative Erklarungen unberucksichtigt laBt: Die Entscheidung fUr eine evolutionare Erklarung scheint nicht aufgrund der Experimentalergebnisse gefallen zu sein. Demgegenuber betonen die Autoren die Fruchtbarkeit eines explanatorischen Pluralism us. Ahnlich kritisierte schon Michael Ruse, Phtlosopby o/8iology Tockl)l, New York 1988, bes. 66ff., die Soziobiologie als Neubeschreibung sozialer Phanomene mit evolutionaren Termini. Mit der Evolutionaren Psychologie wird der soziobiologische Ansatz nur unter neuem Label wiederholt. - Lawrence Shapiro/William Epstein, "EvolutionalY Theory Meets Cognitive Psychology: A More Selective Perspective", in: AfindandLanguage 13/2 (1998), 171-194. werfen Cosmides und Tooby einen Methodenfehlervor: Sie identifizierten kognitive Prozesse lalschlich mit den Aufgaben, zu dessen Losung sie taugten; dazu: L. Cosmidesl ]. Tooby, "Evolutionizing the Cognitive Sciences: A Reply to Shapiro and Epstein", in: Afind and Language 1312 (1998), 195-204. Das unrellektierte Zuruckfiihren a11er menschlicher Eigenschaften auf evolutionare Anpassungen wird als "Panadaptionismus" bezeichnet. Dessen ad hoc-Erklarungen - sogenannte jllst·so-stones - a11er denkbaren Phanomene wirken schnell belie big; vgL Gould/Lewontin, ne Spandrels 0/San Afarco (Anm. 27); S.H. Orczak/E. Sober, "Optimality models and the test of adaptationism", in: American Naturalist 143 (1994), 361-380. Dem Panadaptionismus gegenuber betonen Kritiker die Rolle zllfalliger Variation und sogenannter "Exaptationen" als Eigenschaften, die in einem bestimmten adaptiven Zusammenhang entwickelt wurden, nun aber in einem anderen Bereich, also indirekt, Wirkung zeigen. Als eine so1che Exaptation faBt beispielsweise der Palaoanthropologe Ian Tattersall den menschlichen Stimmapparat: Schon seit einigen hunderttausend Jahren voll entwickelt, wurde er zunachst wohl nicht zum vo11artikulierten Sprechen benutzt; vgL Ian Tattersall, "Once We Were Not Alone", in: Scientific American 1 (2000), 38-44, hier 44. Einen Uberblick uber die vielfaltigen Einwande gegen die Evolutionare Psychologie liefern die Beitrage in Hilary Rose/Steven Rose (Hgg.), Alas, Poor Darwin:Arguments Against Evolutionary P.rychology, New York 2000. VgL Friedrich Kambartel, "Zur grammatischen Unmoglichkeit einer evolutionstheoretischen Erklarung der human en Welt", in: Ders., Philosophie der humanen Welt, Frankfurt/M. 1989,61-78. Zur Analogie von naturlicher und kultureller Evolution kritisch vg!. Nagel, neLast fPtJrd(Anm.-2), 131: Nagel spricht diesbezuglich von einem "darwinistischen Imperialismus"_ VgL Willy Hochkeppel. "Kulturevolution. Eine verfehlte Metapher", in: ZeitsclmJi for Philosophie 212 (1999), 36-45. Hochkeppel betont den rein metaphorischen Charakter der Rede von der kulture11en "Evolution", was sich besonders hinsichtlich der lrreversibilitat der naturlichen Evolution zeige, im Gegensatz zu der in der kulturellen Evolution "ausgestorbene Arten" "wiederauferstehen" konnten. Weiterhin hebt er die anti-evolutionare Entwicklung wissenschaftlicher Theorien im Sinne von Thomas S. Kuhn und die spontane Entstehung von Ideen hervor. Bemerkenswert ist dabei 49 lich erwahnt. daB solche Aussagen zur Evolutionsgeschichte keinen empirisciJen, sondern stets nur /;ypotiJetisciJen Charakter haben. Experimentelllassen sie sich nicht bestatigen, weil mit keinem Experiment erdgeschichtlich Vergangenes wiederholt werden kann. 60 Zudem werden hier zwei entscheidende Dimensionen v6llig ausgeblendet, die den Phanotyp entscheidend mitbestimmen: die historische und die ontogenetische. Der Entwicklungspsychologe Michael Tomasello bemerkt dazu: 6! In general, the basic problem with genetically based modularity approaches Ivertreten in der Soziobiologie und der Evolutionliren Psychologie, B.K.IT.W.J especially when they address uniquely human and socially constituted artifacts and social practices - is that they attempt to skip from the first page of the story. genetics, to the last page of the story, current human cognition. without going through any of the intervening pages. These theorists are thus in many cases lea- 60 6J Hochkeppels Argument. die kulturelIe Evolution gleiche der natilrlichen deshalb nicht. weil sie keinen fortschrittlichen ProzeB des Komplexitatszuwachses darstelle. Hochkeppel iibernimmt hier unbemerkt eine falsche Deutung der Evolution, wie sie gerade von seinen Gegnern verwendet wird. Vg!. Ernst Mayr, 177e Growth o/8iological1770Ilght. Diversity, Evolution, rmd Inhentance. Cambridge (Mass.)/London 1982. 71-73; Ders" "Darwin's Influence m Modern Thought". in: Sctentij1c Amencan. July 2000. 66-71. 71. In Dm 1St Btdogt'dAnm. 30). 65. 87. hebt Mayr die Ahnlichkeiten zwischen Evolutionsbiologie und Historiographie hinsichtlich ihres idiographischen Charakters hervor. Zur Unterscheidung zwischen funktionalen und evolutionsbiologischen Erklarungen vg!. klassisch Ders., "Cause and Effect in Biology", in: Science 134 (1961). 1502. In wissenschaftshistorischer Perspektive vg!. Steven Jay Gould. "Evolution and the triumph of homology, or why history matters". in: Amencan Scientist 74 (1986). 60-69. Zum konstruktiven Charakter der Abstammungslehre vg!. Christine Hertler. "Typus und Entwicklung - Varianten und Invarianten in der Evolution". in: Bucher/Peters (Hgg.). Evollltion Im DisklP's (Anm. 43). 47-60; janich. Kntik des InJbrmatiomhegri,fis (Anm. 9). bes. 78-80. Janich betont, daB Experimente semantische Kompetenzen des Versuchsleiters voraussetzen, der entscheiden muB, ob die Versuchsanordnung "gelungen" ist und sinnvolIe Daten produziert werden (83). TomaselIo. CllltllralOngins (Anm. 45). 204. vg!. 303-306: Die Evolutionare Psychologie geht wie auch die Soziobiologie davon aus. daB es einzelne kognitive Module fur verschiedene Arten des Wissens iiber die Welt gibt - also etwa iiber Personen. Zahlen. Sprache etc. DaB sich solche kognitiven Module aber innerhalb des nach evolutionaren MaBstiiben relativ kurzen Zeitraums der Entstehung des Menschen entwickeln konnten. kann bezweifelt werden. Grundlegende Prozesse perzeptionelIer Kategorisierungen mogen zwar in erster Linie evolutionare Grundlagen haben. beim Zustandekommen und der Erhal· tung linguistischer Symbolisierung und sozialer Institutionen aber scheinen wohl eher sozial-interaktive Prozesse eine RolIe gespielt zu haben. Das von der Soziobiologie vertre tene Konzept einer Gen-Kultur·Koevolution muB zudem hinterfragt werden. da die gene· tischen Veranderungen seit Existenz des Homo sapiens sapiens alIenf aIls bei 0.1 % liegen und damit der Zeitraum viel zu kurz ist, als daB hierbei ein Wechselspiel hatte stattfinden konnen. Alle entscheidenden kulturelIen Umschwunge sind also auf ein und derselben genetischen Grundlage abgelaufen. 50 ving out of account formative elements in both historical and ontogenetic time that intervene between the human genotype and phenotype. Eine wichtige Grundidee "evolutionarer" KuIturentwicklungstheorien ist die Auffassung, zwischen auBermenschlichen und menschlichen Kulturen bestunde nur ein rudimentarer Unterschied, letztere seien eine direkte evolutionare Fortsetzung der ersteren, beide folgten deshalb denselben Mechanismen. Neben den vielfach anzutreffenden anthropomorphen Erzahlungen von emsigen Bienen, rechnenden Vogeln und kunstsinnigen Elefanten62 verweisen nichttriviale Ansatze zumeist auf die "Kultur" unserer nachsten evolutionaren Verwandten Schimpansen und Bonobos. 63 Doch bereits innerhalb dieses zunachst plausibeI anmutenden Vergleichsfeldes ist eine Gleichsetzung der KuIturen aus vielerIei Grunden problematisch. Schon mehrfach angesprochen wurde die unzulassige Dbertragung sinnhafter menschlicher Kulturzusammenhange auf die auBermenschliche Natur. KuIturvergleiche zwischen Menschen und Affen basieren dementsprechend auf einem eingeschrankten, nur }itnlmonalen Kulturbegriff. UBt man diesen grundsatzlichen Einwand beiseite, stoBt man bereits innerhalb der Biowissenschaften auf weitere Probleme der Ermittlung von Dbereinstimmungen dieser zwei Kulturen. Unter "KuItur" wird in der Primatologie populatJonsspezi/iSCDeS VerhaIten verstanden, vor all em Werkzeuggebrauch, Jagdtechniken und Kommunikation uber Signallaute oder -gesten: 64 There exists so much variability in this regard that we now increasingly use the term culture in primatology. The reason is that, as in human culture, the habits and innovations of a group seem to be transmitted nongenetically to the next ge- 62 63 64 Vg!. etwa Diamond, Derdntte Scmmpansf' (Anm. 50), das Kapitel "Wie einzigartig ist der Mensch?", 183-276. bes. 183-231. Vg!. Andrew Whiten u.a., "Cultures in chimpanzees", in: Natlffe399 (17. 6.1999).682685. Die Autoren konnten nach jahrelangen Feldstudien 39 verschiedene Verhaltensmuster von Schimpansen unterscheiden, die nicht-genetisch weitergegeben wurden; vg!. auch Andrew Whiten/Christophe Boesch, "The Cultures of Chimpanzees". in: Scientific Amencan (112001), 48-55; ausflihrlich de WaallLanting, BonobO (Anm. SI). Zum Verhalten der Primaten vg!. Paul, Von Affen undHenschen (Anm. 2). Zur Frage des BewuBtseins bei Primaten vg!. Cheney/Seyfarth. How monkeys see the world (Anm. 46); weiterhin Hauser. IPtld Hinds (Anm. 46). Der Palaontologe Steven Mithen, ]be Prehistory q/ the A1ind A search/or the ongins q/art, religion and science, London 1996, geht davon aus. daB die kulturelle Revolution vor 60000-30000 jahren Folge eines "major change in the nature of the mind" gewesen sei (15). de Waal/Lanting, Bonoho (Anm. 51). 42; vg!. W.C. McGrew, Chimpanzee Hatcndl Culture, Cambridge 1992: Wrangham u.a. (Hgg.), Cimpanzee CultllJ'es (Anm. 54); Tomasello, CulturalOngl7lS (Anm. 45), 26-28; vg!. auch Luigi Luca Cavalli-Sforza, Gene, VdlJ:er umf Sprachen. D,e bi%glsehen Gntndlagen unserer Zivllisation. Miinchen/Wien 1999, der "Kultur" definiert als "die Gesamtheit dessen. was man von den anderen lemt, im Gegensatz zu dem, was man fur sich allein, in der Isolierunglernt." (186). 51 neration. 1...1 Flexible behavioral traits transmitted through learning can be regarded as traditions; a set of group-spec ilk traditions can be regarded as a culture. Damit liegt das Schwergewicht des Kulturbegriffs der Primatologie zunachst auf der Art der Informationsu6ettragung und nicht auf den Informationslnhalten. 65 Aber bereits hinsichtlich der Frage nach den Mechanismen kuItureIIer Transmission laBt sich die Gleichartigkeit menschlicher und nicht-menschlicher Prozesse sozialer Kognition und sozialen Lernens mit guten Griinden bezweifeln. 66 DaB dzesergrundlegende Unterschied ein genetisches Fundament hat, bedeutet aIIerdings nicht, daB auch die weiteren den Menschen auszeichnenden Eigenschaften genetisch riickgebunden sind. Denn obwohl kuItureIIe Transmission einen normalen biologischen Vorgang darsteIlt, konnen doch die zugrundeliegenden behavioralen und kognitiven Mechanismen sehr unterschiedlich ausfaHen. Die Annahme eines spezieII menschlichen Modus kuItureIIer Transmission ist somit eine auch biologisch plausible Hypothese. 67 Hingegen miiBten genetische Mutationen als Grundlage der komplexen Formen des Werkzeuggebrauchs, der symbolischen Kommunikation und sozialen Organisation zunachst iiberhaupt auftreten, sich dann - trotz ihres moglicherweise anfangs nur geringfiigig vorteilhafteren Charakters - in einer menschlichen Population ausbreiten und schlieBlich evolutionar stabilisieren. Im Verlauf dieses Prozesses diirften zudem keine zufalligen Einwirkungen von auBen den od er die Trager der Mutationen an der Fortpflanzung hindern. DaB in dem gemessen an evoltltiondren ZeitmaBstaben sehr kurzen, ht'storischen Zeitraum von hOch- 65 Vgl. Paul, Von Affen undAfemcben (Anm. 2). 229. 66 Etwa durch das sogenannte envIronmental sbaping. vgJ. Tomasello. O,ltural Ortgins (An m. 45). 29-37; das envIronmental sbaplng wird bei Schimpansen durch sogenanntes emulation ledmlng erganzt. ein Lernverhalten. das si ch auf die Umweltveranderungen konzentriert, nicht aber am Verhalten od er an Verhaltensstrategien der Artgenossen orientiert wie das imitative Lernen bei Kindem. Auch gestisches Signalisieren kann mittels eines nicht-menschlicheh Lernmechanismus. der sogenannten ontogenetic ritllalization er· klart werden. Ergebnis einer reziproken sozialen Interaktion sein. die zu einem kom· munikativen Signal [uhrt, oh ne daB hier Verhalten imitiert wurde. Gegenbeispiele aus der Literatur beziehen sich bezeichnenderweise fast durchgangig auf Schimpansen. die in Kontakt zum Menschen fern ihrer naturlichen Habitat aufwachsen. Tomasello schlieBt. daB imitatives Lernen durch bestimmte soziale Interaktionen wahrend der Ontogenese beein· fluBt od er gar ermoglicht sein konnte (34f.); vg\. auch Tomasello u.a ....The Ontogeny of Chimpanzee gestural Signals: A Comparison across groups and generations". in: Evoltmon q/Commlmication I (1997). 223-253. V gl. Tomasello. Cultural Ortglns (Anm. 45). 4f. Tomasello unterscheidet drei grundlegende Typen menschlichen kulturellen Lernens: imitatives. instruiertes und kollaboratives Lernen. ermoglicht durch die Fahigkeit. sich in andere hineinzuversetzen. sie als ebenfalls intentionale Wesen wahrzunehmen. 67 52 stens sechs Millionen, vielleicht aber nur 250000 Jahren 68 seit Entstehung des Mensehen aber eine so rasehe und kumulative Kulturentwicklung stattfinden konnte, spricht eher fUr die PlausibilWit einer nicht-genetischen ErkIarung. Denkbar ware demnach ein evolutionares Szenario, nach dem der Menseh eine neue Form sozialer Kognition entwickelte, die neue Formen kulturellen Lernens ermogliehte, die zu neuen Prozessen der Soziogenese und einer kumulativen kultureIlen Evolution fUhrten. Grundlage konnte eine einzige biologische Adaption sein: 69 The cultural processes that this one adaptation unleashed did not then create new cognitive skills out of nothing, but rather took existing individually based cognitive skills I... J and transformed them into new, culturally based cognitive skills with a social-collective dimension. These transformations took place not in evolutionary time but in historical time, where much can happen in several thousand years. Einen differenzierten Ansatz einer /itnktionalistiscl;en Kulturtheorie jenseits soziobiologischer Vereinf aehung Hef ert auch die duat'inheritance theory von Robert Boyd und Peter J. Richerson. Sie steIlt den Versuch dar, die einheitliehe Grundlage einer Untersuchung des Menschen als biologischem und kultureIlem Wesen zu schaffen. Dies solI geschehen, indem die Mechanismen kultureIler und genetischer Transmission wechselseitig verschrankt und in Analogie zur biologischen Unterscheidung von Genotyp und Phanotyp menschliches Verhalten und menschliehe Kultur unterschieden werden. Die kultureIle Transmission wird dabei im Sinne einer ..lamarckistise hen" Weitergabe kulturell erworbener Eigensehaften bestimmt. 70 So soIlen Entwicklungen im Rahmen dieses iibergreifenden Ansatzes auch his~ore 68 69 70 Vg!. Tomasello. Cultured Origins (Anm. 45), 204. Zur Frage der Wahrscheinlichkeit der evolutionaren Stabilisierung einer genetischen Mutation vgl. den Beitrag von Wolfgang Enard in diesem Band. Tomasello. Cultural Oniim (Anm. 45). 7. Robert Boyd/Peter j. Richerson, Cttlture and E volurionary I'roc~s. Chicago 1988. Kulturelle Transmission wird durch Mechanismen des "indirect bias" und der "runaway dynamics" gesteuert (vgl. 63). Unter Ankniipfung an Konzepte der Foraging lbeory (vgl. David W. StephenslJohn R. Krebs, Foraging lbeory, Princeton 1986) vertreten die Autoren eine jimktzonale Deu:ung kultureller Prozesse einschlieBlich der Entwicklung komplexer Symbolsysteme sowie einen engen KulturbegrilT: "Kultur" wird als "the information affecting phenotype acquired by individuals by imitation or teaching" gefaBt (283. vgl. 33£.): vgl. William H Durham, CQC'v(7t1"'On, Genes, Ottcrm;; and Human Diversif)', Stanford 1991; William H. Durham u.a .. "Models and Forces of Cultural Evolution", in: Peter Weingart u.a. (Hgg.), Human - 8y Nature. 8etween 81010gy and tk Social Sc'lmm; Mahwah (N.j.)/London 1997,327-353. Zu den "lamarckistischen" Mechanismen Grandeut: lbe Spread 0/ExC/?llence kultureller Evolution vgl.: Stephen Jay Could, L~res .from Plato to DaJ71Jin, London 1996,217-230. 53 in ihrer funktionalen Dimension zu deuten sein.71 Diese Position ist auch fUr andere Untersuchungskontexte. etwa die Entwicklungspsychologie. anschluBfahig. Tomasello bemerkt. zentral sei:72 [... 1 the social-cultural work that must be done by individuals and groups of individuals, in both historical and ontogenetic time. to create uniquely human cognitive skills and products. [...1 Any serious inquiry into human cognition. therefore. must include some account of these historical and ontogenetic processes, which are enabled but not in any way determined by human beings' biological adaptation for a special form of social cognition_ Die zentralen analytischen Unterscheidungen biologischer und kultureller Entwicklungsdimensionen, die die funktionalistische Kulturtheorie von Boyd und Richerson auszeichnen. lassen die unzulassige Vermengung darwinistischer und lamarckistischer Evolutionstheorie, wie sie vor allem soziobiologische und eine Reihe kulturwissenschaftlicher Konzepte der "Kulturevolution" kennzeichnet. deutlich werden. Auch innerhalb der Kulturwissenschaften selbst IaBt sich namlich teilweise der Trend beobachten, historische Entwicklungen und kulturelle Prozesse in Analogie zur naturlichen Evolution zu erkUiren. urn dadurch die eigenen Untersuchungen durch Verweis auf "harte" Methoden wissenschaftlich abzusichern. 73 Aus71 Die Frage der funktionalen Dimensionen kultureller Entwicklung wurde in der Soziolo- 72 73 gie und Historiographie im Zusammenhang mit dem Problem der Vermittiung subjektiver und ob jektiver Strukturen angegangen: vgL bes_ Pierre Bourdieu, EntwlI1:! elner 7lJeone 'der Praxis auf der etlmologirchen Grundlage der kabylischen Geseltkhaji, Frankfurt/M. 1976: Groh, Bourdieu (Anm. 40), 19f.: Durch die auf der systemintegrativen Ebene angesiedelten "strukturellen Dominanten" wird ein Spielraum bzw. Korridor .Jestgelegt dafiir, [· .. 1welche Deutungsmuster, welches Verhalten, welche Handlungen fauf der sozialintegrativen Ebene, B.K.lT.W.J uberhaupt moglichsind." Tomasello, Cultural OrigIns (Anm. 45). Ilf. Auf diese Weise konne man nicht nur die universalen Charakteristika menschlicher Kognition erklaren, sondern gleichzeitig auch die partikularen Eigenschaften einzelner Kulturen. Tomasello bezieht sich auf die dual inheritance theory, die erwachsene Phanotypen vieler Spezies als abhangig von- biologi.' schem und kulturellem Erbe ansieht. Klassische Anleihen nahmen die Kulturwissenschaften jedoch zunachst bei der Ethologie, vor allem bei Konrad Lorenz. So geht laut Desmond Morris, 7lJe Naked Ape, New York 1967, die Erfindung Gottes auf das fur Affen ubliche Bediirfnis zuriick, sich ihrem Leittier bedingungslos zu unterwerfen, was die Gruppe nach auBen und innen eine und so ihren Fortbestand garantiere. Ahnliche Gedanken vertritt seit langerem WaIter Burkert. fIomo Necam Intf!lJJTetatlonen altgnechischer Gp/erriten und .#ythen, Berlin, 2. Aufl. 1997. Burkert bezieht sich auf Karl Meuli und Konrad Lorenz, mit letzterem entwirft er eine "auf Aggression aufbauende Kulturtheorie", im Rahmen derer die Hominisierung durch Gewaltakte erfolgte: "Der Mensch wurde zum Menschen durch das Jagertum, durch den Akt des Totens" (30). Mit der Bestimmung des Menschen als "hunting ape" (24) steht Burkert in der Tradition negativer Anthropologie seit Raymond Dart, "The Predatory Transition from Ape to Man", in: InternatIonal Anthropologicaland Ltnglllstic RevIew 1 54 schlaggebend im Rahmen dieser Konzepte ist die Annahme, da/3 auch der ProzeB der Kulturentwicklung iiber Variation, Weitergabe und Selektion diskreter Einheiten funktioniere. AIs eine soIche Selektionseinheit erIebt derzeit Richard Dawkins BegriffsschOpfung "Mem" vermehrte Aufmerksamkeit.74 Dieser und ahnIiche Ansatze gelangen jedoch in der RegeI nicht (1953), 201-218; Ders.lDennis Craig, Adventures witb tbe Afissing Link, New York 1959 (Wir folgen hier einem Vortrag von Ruth Groh zur Anthropologie der Aggression bei Walter Burkert am 13. 02, 1999 an der Universitiit Konstanz). Burkert kniipft in seinen Schriften auBerdem an Konzepte der Koevolution nach Edward O. Wilson und Charles Lumsden (vg!. Anm. 74) an: vg!. Waiter Burkert, "Anthropologie des religi6sen Opfers. Die Sakralisierung der Gewalt (1984)", in: H. R6ssner (Hg.), Der ganze Afenscb. Aspekte einer ;JJClgmatiscben Antbropologie. Miinchen 1986, 205-227; Ders" ,VeJgeltlmg' zwiscben Etbologie lint! £tbik. J?ej1exe lint! J?ej1exionen in Texten unci /lfytbologien des Aitertllms. Miinchen 1994; Ders" f(IIltedes Altertllms. 8tdogiscbe GTllndlagenderJ?eligion, Miinchen 1998. - Die kompensationstheoretische Variante einer "Kulturevolution" vertritt Rudolf Hernegger. Antbropologie zwtscben Soziobiologie IInd f(II/tlllWtssenscbaji. Die Afenscb Uf?Tdlmg als Prozrjl der Selbstbestimmllng IInd der Selbst/xji-eimzg von der Determimsmen der Gene IInd Umwelt, Bonn 1989. - Der Historiker August Nitzschke spricht sich in 74 "Naturwissenschaftliche Erkliirungen innerhalb der Kulturgeschichte", in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hgg.): f(IIltllrgescbicbte bellte (Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 16), G6ttingen 1996, 316-333, ebenfalls fUr die Biologie als Stichwortgeberin kiinftiger sozialhistorischer Untersuchungen aus; vg!. jiingst auch J6rg Wettlaufer, "The ,jus primae noctis' as a male power display: A review of historic Sources with evolutionary interpretation", in: Evollltlon and Hllman 8ebavtor 2112 (2000), 111123: Wettlaufer spricht sich fUr eine "Evolutioniire Geschichtswissenschaft" aus. Vg!. weiterhin kritisch Josef Heilmeier u.a. (Hgg.), GenIdeologien. 8tologie IInd 8iologismlls in den SozMlwisencb~'.I, Hamburg/Berlin 1991 sowie den Beitrag von Christian Strube im vorliegenden Band. Vg!. Dawkins, me Se!/isb Gene (Anm. 27); Richard Brodie, Virus 0./ rh Afind- me New Saence 0./ rhe Jifeme, Seattle/WA 1996; Daniel Dennett, COnfctollSlless Explained, Boston (Mass.) 1991; Ders., DdTWtnsDangerollsldM(Anm. 3). Susan Blackmore, meAfacbt~ ne, Oxford/New York 1999, hat Dawkins Theorie im Sinne eines "universellen Darwinismus" weiter ausgebaut: Die Theorie des Mems sei die einzige M6glichkeit, die darwinsche Evolutionstheorie beizubehalten und doch nichtfunktionale kulturelle Phiinomene zu erkliiren. Geisteswissenschaftliche Forschungen zur menschlichen Kultur und Kulturentwicklung werden innerhalb ihres Konzepts dagegen v6llig ignoriert, vielmehr wird die Geburt der neuen "Wissenschaft der Memetik" vollmundig mit der kopernikanischen Wende verglichen (35) und postuliert. daB egoistische Meme, bei denen es si ch urn Geschichten, Gewohnheiten od er Erfindungen, urn technisches K6nnen oder Wege, etwas zu tun, urn Ideen. Informationseinheiten, Anweisungen, Verhalten, urn vireniihnliche Repli· katoren od er Erfindungen handelt (vg!. u.a. 29. 60, 67), miteinander in einem Konkurrenzkampf stehen, Da sie sich replizieren, variieren und einer Selektion unterliegen, finde hier eine Evolution statt und der Mensch sei entsprechend eine "Replikationsmaschine" seiner Meme (45). Eine kurze Diskussion von Blackmores Ideen nndet sich im Scientific American, 10 (2000), 53-61: Dies" "The Power of Memes", 53-61; Lee Alan Dugatkin, "Animals Imitate, Too", 55, argumentiert. daB Meme nicht notwendig nUr fUr den Menschen kennzeichnend seien. Henry Plotkin, "People Do More Than Imitate", 60, kritisiert den Begriff der ..Imitation", der Blackmores Konzept zugrundeliegt. als zu vage und ss tiber bloB analogische Formulierungen hinaus, deren Status allerdings nicht gesehen od er gar angezweifelt wird. Methodische Schiirfe und quasinaturwissenschaftliche Objektivitiit der Untersuchungsergebnisse wird hier durch die sprachliche Form lediglich suggeriert. Die bemtihten Analogien zwischen kultureller und nattirlicher Evolution stiften sogar eher Verwirrung, weil Bedingungen (wie Mutation, HereditM. Uberproduktion an Nachkommen. knappe Ressourcen). Mechanismen (wie die nattirliche und die sexuelle Selektion) sowie die zeitliche Dimension der nattirlichen Evolution in der tibertragenen Rede von der "kulturellen Evolution" entweder willktirlich ausgeblendet oder in v611ig sachfremden Kontexten verwendet werden.1 5 In der Rede von der "Evolu- 75 ihren Gesamtansatz als vereinfachend. Robert Boyd/Peter ].Richerson. "Meme Theory Oversimplifies How Culture Changes". 58L. betonen, daB si ch kultureller Wandel nicht ausschlieBlich mittels der naturlichen Selektion erklaren lieBe. Gegen die Gen-Mem· Analogie wenden sie ein, daB Meme nicht intakt von Person zu Person weitergegeben. sondern systematisch transformiert werden. daB spontane Mutation bei Genen relativ selten ist, und daB eine Reihe nicht·selektiver Prozesse ldeen modifizieren konnten. Ahnlich betont Cavalli·Sforza in Gene, 10fker und Sprachen (Anm. 64). 189f., den Unterschied zwischen biologischer und kultureller Mutation: kulturelle Mutation ist meist gewollt und zielgerichtet. Eine Analogie zwischen kulturellen Neuerungen und Viren find et si ch indes auch bei ihm (195). Kritisch zur "Memetik" vg!. weiterhin Steven Jay Gould, "Start the Week - Debatte mit S. Blackmore, S. Fry. O. Sacks" (BBC Radio 4, 11. 11. 1996). - Der BegrifT des "Mems" erinnert an das "Kulturgen", von dem Charles J. Lumsden und Edward O. Wilson sprechen: "The relation between biological and cultural evolution", in: Journal ~I"Social and .Biological Structures 8 (1985), 343-359. "Kulturgen" meint dabei "die basale Einheit der Kultur" (347), ein homogenes Set von Artefakten, Verhaltensweisen und mentalen Konstrukten, das den Gedachtniseinheiten im Gehirn (344f.) entspricht und so die kulturelle Evolution erklare. lm Gegensatz zu den Theorien des "M ems" legen Lumsden und Wilson jedoch mchr Gcwicht auf die genetische Fundierung der Kulturgene. Dynamische Eigensehaften kultureller Transmission werden hier zugunsten eines linearen und mathematisierbaren Prozesses verworfen: vg!. Charles J. Lumsden/Edward O. Wilson, "Translation of epigenetic rules of individual behavior into ethnographic patterns", in: Proceedings o/the National Academy ~I"Sciens ~I"tbe United States 0/America 77(1980), 4382-4386; vg!. aueh Dies .. Genes, fi1ina', and Culture 7k Co· evo/;Itionary Pnxess, Cambridge (Mass.)/London 1981; vg!. kritisch dazu: Boyd/Richer. son, Cttiture and E vO/;ltlOnary Pnxess (Anm. 70), 163 ff. Adolf Heschl. Geschaftsfiihrer des Konrad Lorenz Institus fUr Evolutions- und Kognitionsforschung. vertritt neuerdings in Das Iluelllgente Genom. Oher die EntstehlUlg dw menscblichen Geistes durcb Aftltation und Sele!:tion, Heidelberg u.a. 1998. eine besonders radikale Position: Unter Bezug auf Desmond Morris halt er den Mensehen als "nackten Affen" fur IJinreicbendbestimmt. Jede andere Meinung sei bloB ein "weltanschauliches Tabu" (12). Menschliche Kognition und jedes Wissen sei jedoeh nicht nur ein fl--ai{{kt der Evolution, sondern hier gelte: "AUes Wissen des Individuums steekt im Genom!" (15) Diese Position durfte auch unter Biologen kaum Zustimmung erfahren; dementsprechend gel ten Heschl Autoren wie Eibl-Eibesfeldt, Monod, Eysenenck. Wilson und Dawkins als in ihren Erklarungsanspruchen zu zuruckhaltend; "wohlmeinende Kompromisse", wie sie von Boyd/Richerson und Cavalli·Sforza formuliert wurden, lehnt er ganzlich ab (15). 56 tion" der Kultur werden uberdies biologisch widerspruchliche Ansatze aus darwinistischen und lamarckistischen Entwicklungstheorien argumentativ so vermengt, dal3 bisweilen implizit oder explizit sogar die seit der "grol3en Synthese" der Evolutionstheorie verabschiedete teleologische Dynamik der Lamarckschen Vererbung erworbener Eigenschaften innerhalb der nat'trlichen Evolution wieder fUr wirksam erklart wird. 76 Diese Deutungen verlassen folglich auch den wissenschaftlich gesicherttm Bereich der Biologie; derartige Erklarungen erscheinen ihrerseits in wissenschafts· und kulturhistorischer Hinsicht erklarungsbedurftig.77 Aus den genannten Grunden scheint es deshalb vernunftig, UmweItveranderungen durch Organismen nicht als "KuItur" zu bezeichnen, vor alIem deswegen, weil "KuItur" begrifflich an humane RationalWit, Selbstbewul3tsein und Intentionalitat zuruckgebunden iSt. 78 Urn den vieWiltigen durch die Rede von einer "kulturelIen Evolution" heraufbeschworenen MiBverstandnissen zu entgehen, fordert Christian Vogel, den Terminus "KulturEvolution" moglichst zu "vermeiden und besser von ,KuIturgeschichte' und ,Kulturentwicklung'" zu sprechen. Die Begriindung des Biologen Vogel deckt sich mit den von KuIturwissenschaftlern seit Jahren erhobenen Einwanden: 79 Menschliche Cescbicbte enthiilt damit zwar auch Nologiscbe Geschichte, wie zum Beispiel den Ablauf der im Biogramm programmierten individualontologischen Lebensstadien, unterschiedliche Fortpflanzungsraten, bev61kerungsbiologische Prozesse und so weiter. sie ist jedoch charakteristischerweise ,Kulturgeschichte'. Kultur ist auBerlich gekennzeichnet durch die Herstellung und intensive Verwendung von artifiziellen Werkzeugen (materielle Kultur, Technologie), durch symbelische Sprachen, durch Traditionen, durch soziale lnstitutionen, Sitten, Normen. Regeln, Gebote, Verbote, Tabus, durch Moral, Religionen, Kulte und durch das umfassende Bediirfnis, Wesen, Herkunft. Zweck und Ziel aller im Erlebniskreis des Menschen wesentlichen Dinge, einschlieBlich seiner selbst, zu 16 11 78 79 Vgl. Marcel Weber. Die A rchiteklllr der Synthese: Entstehtmg Hnd Philosophie der modemen Evo/',tionstheorie. Berlin/New York 1998. Zu Teleologie und Fortschrittsdenken in der Evolutionstheorie vg!. Could. Li/es Grandettr (Anm. 70); vg!. auch Michael Ruse. der in Taking Darwin SenoHsly: A Natl(ralistic Approach to Philosophy. Oxford 1986. spezieU der Soziobiologie einen progressionistischen Zug attestiert; vg!. neuerdings Ders.. Alonad to Alan. me Concept q/Progress in Evo/"tionary Biology. Cambridge 1997. Ruse wundert sich hier angesichts von Dawkins radikaler Ablehnung des Christentums iiber dessen teleo· logische. fortschrittsoptimistische Interpretation der Evolution (Wasser. Erde. Luft. Kultur); vg!. Richard Dawkins. Climhing Alo/mt Improbable. New York 1996. Kulturelle Entstehungs· und Rezeptionsprozesse evolutionstheoretisch fundierter Kultur. theorien miissen also kritisch nachgezeichnet werden. denn sie universalisieren unzuIassig nur pamklllargiiltige evolutioniire Erkliirungen; vg!. oben. Anm. 49. Janich. j(niikdes In/mmationshegriffi(Anm. 9). 82. Vogel. Anthropologisches'pHren (Anm. 54). 72L 57 deuten und zu erklaren, dariiber zu reflektieren. Obwohl menschliche C'escbicht· !icbkeit nur durch die biologische Evolution moglich wurde, sind die Inhalte und der Lauf menschlicher Geschichte natiirlich nicht durch die biologische Evolution determiniert, eine Anmerkung, die trivia! ist !Hervorheb. B.K.lT.W.J. vor Biologen aber doch manchmal angebracht scheint. Der oft verwendete Ausdruck ,Kultur-Evolution' tauscht nur zu leicht vor, es konnten alle wesentlichen GesetzmaBigkeiten und Mechanismen der organismischen Evolution einfach auf die Kulturgeschichte iibertragen werden. Das trifft keineswegs zu. 7. Die zwei Systeme: Emergenz Kulturelle Leistungen verk6rpern in einer jimktionalen evolutionaren Perspektive erweiterte kognitive Fahigkeiten des Menschen, seine Umwelt zu bewaltigen und damit fUr sein Uberleben zu sorgen. Im Rahmen neonaturalistischer Position en wird dabei neben einem ontologisc/;en Reduktionismus auch ein tpistemologisc/;er oder gar ein metbodologisc/;er Reduktionismus vert re ten. Weitgehend unproblematisch ist der ontologische Reduktionismus, der davon ausgeht, daB diesel ben elementaren Substrate und Wechselwirkungen Grundlage von organischen und anorganischen Prozessen sind. Der epistemologische Reduktionismus behauptet demgegeniiber die M6glichkeit der Redefinition kultureller Begriffe mittels biologischer sowie die grundsatzliche Ableitbarkeit kultureller Strukturen aus biologischen - eine Annahme, mit der die Autonomie der Kulturwissenschaften bestritten wird. Dariiber hinaus wird teilweise auch ein methodologischer Reduktionismus vertreten, wenn verlangt wird, kulturwissenschaftliche Forschungen solI ten si ch auf der biologisch-evolutionaren Ebene bewegen und durch soziobiologische Methoden ersetzt werden. Die Soziobiologie beispielsweise erklart soziales Verhalten und kulturelle Zusammenhange grunc/.;dtzlicb durch Verweis auf die Evolution des Menschen, ein epistemologischer Reduktionismus ist also das basale Axiom ihres gesamten Ansatzes. Damit wird aber auch die fachwissenschaftlich vorgegebene eingeschrankte Erkenntnisabsicht, d.h. die Fokussierung auf ein bestimmtes Erkenntnisobjekt, aufgegeben.BO Wie Giinther P6ltner herausgestellt hat, kennt die leBO Zum Problem von Reduktion und Emergenz vg!. die Arbeiten von Paul Hoyningen· Huene (Anm. 82). Im vorliegenden Zusammenhang folgen wir: Ders., "NHs Bohrs Argument fUr die Nichtreduzierbarkeit der Biologie auf Physik". in: PhlloJOI)hkl MLlllralis 29, 1992, 229-267, bes. 239. Die Unterscheidung der drei Arten von Reduktionismus geht zuruck auf Francisco J. Ayala, ..Introduction", in: Ders.lTheodosius Dobzhansky (Hgg.), St/dzes in the Philosophy ojilzology. Redllctlon and Related Problems, London/Basingstoke 1974, VII-XVI. Kritiseh zum soziobiologisehen Reduktionismus im Kontext metaphysi. seher Einheitskonzepte vg!. grundlegend Joseph Wayne Smith, ReduC/tonismandCultllrai 58 bensweltliche Erfahrung keine methodische Reduktion. Sie hat es somit wenn auch prareflexiv - mit Gesamtphanomenen zu tun. Demgegenuber kann eine Fachwissenschaft ihr Ausgangsphanomen prinzipiell nicht einholen, denn sie muB es im Zeichen ihrer eingeschrankten Erkenntnisabsicht methodisch reduzieren. Eine solche eingeschrankte Erkenntnisabsicht liegt beispieIsweise in der Frage nach der biologischn Seite des Menschen. Mit der Zielrichtung dieser Frage wird die spezifische Gegenstandlichkeit des Untersuchungsobjekts bereits vorabfestgelegt. Somit entspricht der abstrakt-partiellen Fragehinsicht der Fachwissenschaft notwendig ein thematisch reduzierter Gegenstand, das Ausgangsphanomen wird im Lichte einer seiner Dimensionen betrachtet, die anderen Dimensionen aber ausgeblendet. Die Iebensweltliche Erfahrung ermbglicht also die Fachwissenschaft deren methodisch-reduzierter Gegenstand allerdings "nicht den BeurteilungsmaBstab fUr die eigene ElmO'glic6ung' bilden kann. 81 Eine Verstandigung iiber das, was beispielsweise als "aggressives", "liebevolles" oder anderes Verhalten bezeichnet werden kann, basiert immer auf intersubjektiven Konventionen im Rahmen symbolischer menschlicher Kommunikation. Sinn und Bedeutung von entsprechenden Verhaltensattributen sind dementsprechend niemals auf Dispositionen einzelner Sprecher zuriickfiihrbar. In Absetzung von Positionen, die ihr solchermaBen reduziertes Erkenntnisobjekt fiir das Gesamtphanomen ausgeben, partikulare Eigenschaften also universalisieren, sei hi er auf das Prinzip der Emer,genz verwiesen.82 Auf Being. A Phtlosophical Cntiqlle ()/ Sociobiological Recltlctionism and Physicalist Scientijic Unijitatlonism. The Hague u.a. 1984; Michael Ruse. "Sociobiology and Reductionism". in: Paul Hoyningen·Huene/Franz M. Wuketits (Hgg.). Redllctlonism and Systems 7beory i'2 tk Lift Saences. Some Prohlems and Penpectives. Dordrecht u.a. 1989. 45-84. Vg!. weiterhin Plot kin. Evollltlon tn A1ind(Anm. 56}. 88-94: Plotkin verteidigt die Soziobio- logie gegen den Vorwurf des Reduktionismus, urn dann festzustellen. daB die genzentrierte Sichtweise der Soziobiologie einem "metaphysischen Reduktionismus" gleichkame. es sich also urn eine empirisch nicht test bare Glaubensfrage handle (94). 81 P6ltner. Evollltiondre VC77ZIItg;'l(Anm. 25).199. 82 Vg!. A. Beckermann u.a. (Hgg.). Emergence or Redllctton/ Essays on the Prospects qfNonre· dllcttVe Pbysicdism. Berlin/New York 1992; Charles/Lennon (Hgg.). Redllction, Ex;lanatIOn, andRealism (Anm. 55); David Charles (Hg.). RedtICttomsm andAntiredllcttonism. Oxford 1994; Paul Hoyningen-Huene, "Zum Problem des Reduktionismus in der Biologie". in: Phtlosophitt Notltralis 22, 1985,271-286; Ders .. "Epistemological Reductionism in Biology: lntuitions, Explications, and Objects", in: Ders.lWuketits (Hgg.), Redttctiomsm ami ~stem 7beory In the Lift Saences (Anm. 80). 29-44; Ders .. "Theorie antireduktionj· stischer Argumente: FaIlstudie Bohr", in: Delltsche Zeitschrijijiir Philosophie 3912 (1991), 194-204; Ders .. "Zankapfel Reduktionismus", in: ,f/erkllr47, 399-409. Rolf Sattler. fliopN losop,ry AnalytIc and Holirtlt: Per.rpectives, Berlin u.a. 1986; Kari R. Popper, "Scientific Reduction and the Essential Incompleteness of All Science", in: Ayala/Dobzhansky (Hgg.), Stllcltes In the PhIlosophy ()/fllology (Anm. 80). 259-284. Popper argumentiert. daB 59 der Basis des Axioms "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" geht man davon aus, daB charakteristische Eigenschaften eines Systems komplexer Ordnung nicht durch den Rekurs auf dessen Einzelkomponenten oder deren Wechselwirkungen, sondern immer nur durch die Bezugnahme auf das gesamte System verstandlich und erkIarbar sind. 83 lm Gegensatz zu den Eigenschaften der Komponenten bezeichnet man diese Systemeigenschaften dann als "emergent". Phanomene wie Lebendigkeit, soziales Zusammenle· ben, BewuBtsein und SelbstbewuBtsein lassen sich dementsprechend als unvorhersehbare, unableitbare und neuartige Eigenschaften le bender Organismen fassen, die m'cbt kausal auf Eigenschaften niederer Komplexitat zuriickgefiihrt werden konnen. 84 Vielmehr kann man im Sinne eines ent- 83 84 Reduktionen von Biologie auf Chemie und van Chemie auf Physik scheitern mussen. Bereits auf der Ebene der chemischen Vorgange musse "eine vol!standig neue Idee" eingebracht werden, die der Physik fremd sei - namlich die der Evolution, der Histori· zitat des Universums (267). Vg!. weiterhin Franz M. Wuketits, .. Organisms, Vital Forces, and Machines: Classical Controversies and the Contemporary Discussion ,Reductionism vs. Holism''', in: Ders./Hoyningen·Huene (Hgg.), Recltlctionism and Systems meoryin the Ltft Sciences, 3-28. - Zur Ideen- und BegrifTsgeschichte vg!. Achim Stephan, Emergenz. vim der Unvorhersagharkeit Z/ff Selhstorganisation (Theorie & Analyse, Bd. 2), Dres· den/Munchen 1999. Zur Emergenz-Problematik in psychologischer und sozialwissen· schaftlicher Sichtweise vgl. Jeffrey C. Alexander u.a. (Hgg.), me Aftero·Uacro·Ltnk. Berkeley u.a. 1987, darin bes. Bernhard Giesen, "Beyond Reductionism: Four Models Re· lating Micro and Macro Levels", 337-355, und Hans Haferkamp, "Complexity and Behavior Structure, Planned Associations amd Creation of Structure", 177-192; vg!. wei· terhin Mario Bunge, "Reduktionismus und Integration, Systeme und Niveaus, Monismus und Dualismus", in: Ernst Poppel (Hg.), Gehim /l7Jd Ilewu/ltsetn, Weinheim u. a 1989,87104; Norbert Elsner/Gerd Luer (Hgg.), Dm Gehim /md seln Getst, Gottingen 2000; Claus Buddeberg, "Soziale Systeme und ihre Regelung", in: Ders.lJiirg Willi (Hgg.): Psychoso· zlizleUeiizin. Berlin u.a. 2. Aufl 1998.73-99. Vertreter einer reduktionistischen Position muBten also .. die Dispositionen zum emergenten Verhalten innerhalb des Ganzen auch IInabhdngig von clt'eser Integration" nachweisen; vg!. Hoyningen·Huene, "Emergenz versus Reduktion", in: G. Meggle/U. Wessels (Hgg.), Analyomen I, ProceedIngs ifthe 1st Coo/'erence pPerrpectives in Analytical PhtlosfJy~ Ber· Iin/New York 1994, 324-332. 327. Hoyningen·Huene spricht von der Moglichkeit, die Disposition einiger Tiere, ihre sozialen Verhaltensweisen bei Prasenz eines Artgenossen deutlich zu and ern. durch Zuchtung von Tieren oh ne das entsprechende Gen auszuschal· ten. Hier mussen allerdings sowohl die Umweltbedingungen als auch die Tatsache beach· tet werden. daB bei Ausschaltung eines Gens (z.B. bei "Knock·Out-Miiusen") dessen Funktionen von anderen Genen ubernommen werden konnen; vg I. lames N. Ihle. "The Challenges of Translating Knockout Phenotypes into Gene Function", in: Cell102 (21. 7. 2000),131-134. Vg!. Hoyningen-Huene. Emergenz verslls Redllktion (Amn. 83).325. DaB daruber hinaus die Kenntnis niedrigerstufiger Teile fUr das VersUindnis eines hOherstufigen Ganzen auch einfach irrelevant sein kann. lieBe sich unproblematisch am fingierten Beispiel einer "evo· lutionaren Literaturtheorie" zeigen. Die Grunde fUr die Nicht -Ableitbarkeit konnen kon· tingenter od er prinzipieller Natur sein. vgl. Martin Carrier/ Jurgen MittelstraB. Gets!, Ge· him, Verhalten. Das Lei6SeeleProblem IInd du; PhilosofJhieder Prychologie, Berlin 1989. 128. 60 wickltmgsbiologischen Holismus davon ausgehen. daB belebte emergente Systeme eine Makrodetermination. d.h. ihrerseits einen kausalen EinfluB auf ihre Komponenten ausiiben. 85 Eine Reduktion auf diese Komponenten hieBe umgekehrt, das emergente System analytisch unterkomplex zu fassen. Humanes BewuBtsein. IntentionaIWit und Kultur lassen sich so aIs emergente Systeme begreifen (auf den Ebenen des Individuums bzw. des Sozialverbandes). die sich gegen reduktionistische Erkliirungen sperren und daher eigenstiindige Erkliirungen erforderlich machen. die ihrer erhOhten Komplexitiit gerecht werden. 86 Daher ist nicht damit zu rechnen. daB sich soziobiologische Erkliirungen humaner Kultur aIs tragfahig erweisen werden. Auch Formen der KuItur und Sozialitiit nichtmenschlicher Prima ten stehen die emergenten sozialen und kuItureIIen Systeme des Menschen aIs auf diese mch reduzierbar gegeniiber. Entsprechendes ist besonders deutlich im Rahmen des psychosomatischen Zeichenmodells von Thure von Uexkiill und Wolfgang Wesiack betont worden. 87 Hier werden vier Regelkreise mit jeweils spezifischen Zei- 85 86 87 Zum Konzept eines "entwicklungsbiologischen Holismus" vg!. Christian Kummer. "Macht die Molekularbiologie eine Ganzheitstheorie des Organism us iiberfliissig?". in: Bucher/Peters (Hgg.). Evolution im Disklffs (Anm. 43). 155-167. 163. Kummer argumentiert im Rahmen seines organismischen Modells dafiir. Lebenserscheinungen als emergente Phanomene zu begreifen. Das Ganze des Organismus iiberforme die Komponenten. so "daB der Organismus nicht Resultat seiner zellularen Grundeinheiten ist. sondern selber die Grundeinheit darstellt. welche die zellularen Phanotypen bestimmt." (163) In diesem Zusammenhang spricht man auch von "downward causation"; vg!. Jaegwon Kim. ".Downward Causation' in Emergentism and Nonreductive Physicalism'·. in: Beckermann'u.a. (Hgg.). Emergence or Reductiom'(Anm. 82).119-138; Paul Hoyningen-Huene. "Zur Emergenz. Mikro· und Makrodetermination". in: Weima Liibbe (Hg.). /(al(salittit und Zurecbnllng. Berlin 1994. 165-198. 175-179. Zur Emergenz zwischen physikalischen. chemischen und biologischen Systemen vg!. die Einfiihrung von Jost Herbig und Rainer Hohlfeld. in: Dies. (Hgg.). Die zwette So(.opfimg (Anm. 24). 17-31. bes. 24-26. Mayr. Das ist 8iologle (Anm. 30). bemerkt. daB emergente Phanomene innerhalb der Biologie nicht durch Gesetzeswissen faBbar seien und stellt die Organisation von Organismen iiber ihre Zusammensetzung (15ff .. 40). Den eigenstandigen Charakter biologischer gegeniiber no· mologischen Erklarungen betont auch Mutschler. Cescbichtllcbkell der Natllr(Anm. 43). Vg!. Peter Koslowski. Evollltion und Cesellscbqfi Eine AuseiwJIldersetzlmg mll der Soziobio· logle (Waiter Eucken Institut Vortrage. Bd. 98). Tiibingen 2. Aufl. 1989. bes. 78f£.; vg!. dazu auch den Beitrag von Tilmann Waiter im vorliegenden Band. Vg!. Thure von Uexkiill/Wolfgang Wesiack. "Wissenschaftstheorie und Psychosomati· sche Medizin. ein bio-psycho·soziales Modell". in: Thure von Uexktill. Frycbosomatiscbe ;lfaiizllz HeraMgege,6en von Ro!lAdl/?7' /lA.• Miinchen u.a. 3. A ufl. 1986. 1 -30. hier 17f.; ausYUhrHcher Dies., 7iJeorie der Humanmedizin. Cmndlagen tirztllcben Denkens und Hande/m. Miinchen u.a. 3. Aufl. 1998. Zum kulturell iiberformten Charakter der menschlichen "Natur" aus der Sicht psychosomatischer Medizin vg!. Norbert Schmacke (Hg.). Cesttndbeit undDemokratie. Von der UfOjJle der sozlalen ;lfa:z'tzln (Hans-Ulrich Deppe zum 60. Geburtstag). Frankfurt/M. 1999; darin bes. Jochen Jordan. "Psychosomatik: Leitdiszi· 61 chensystemen zueinander in Beziehung gesetzt: die chemischen und elektrochemischen Kreislaufe des endokrinen und des limbischen Systems, die innerpsychischen Vorgange, die sozialen Umgangsformen und die kuIturelIen Deutungsmuster, also Physis. Psyche. soziales Zusammenleben und symbolisch vermitteIte Kultur. Der Mensch gilt im Rahmen dieses ModelIs als ein No-pS)!cho-sozialesWesen. doch ist hier eine eigenstandige KtlltUJtheorie 88 unumganglich. weil der Mensch durch seine Befahigung zu selbstbewuBtem symbolischem Handeln die physikalischen. vegetativen und ani malischen Seinsebenen transzendiert Epistemische Analysen setzen diesem ModeII zufolge einen methodischen Pluralism us voraus. der diesen eigenstandigen und unabhangigen Bereichen entspricht. Eine solche naturwissenschaftliche Position beansprucht nicht. biologische Letztbegrtindungen ftir kulturelle Erscheinungen zu formulieren_ Sie ist zudem in heuristischer Hinsicht ftir Kulturwissenschaftler von Interesse, weil sie geeignet ist, den Blick auf andernfaIIs nur wenig beachtete Zusammenhange zu scharfen. AufschluBreich sind beispielsweise jtingere Forschungsergebnisse der Entwicklungspsychologie:89 Von Entwicklungspsychologen wurde festgesteIlt, daB die veranderte extrauterine Urn welt in den ersten Lebenswochen betrachtliche Anpassungsleistungen erforderlich macht. 90 Vi tale Adaptionsprozesse mtissen vom Neugeborenen auch im plin eineremanzipatorischen Medizin?", 93-211; vg!. weiterhin Christoph Klotter, "Gesundheit - Krankheit - Natur", in: rorschendej(omplemen!ti77l1edtztn 4,1997,34-43; Gerd Overbeck u.a., "Neuere Entwicklungen in der psychosomatischen Medizin", in: Psychothe. rapellt 1. 1999, 1-12. 88 Vg!. von Uexkiill/Wesiack, lbeonederHllmanmedtzin(Anm. 87), V. 89 Wir danken WOlfgang Friedlmeier fUr seine detaillierten Hinweise, die dem folgenden Text teilweise zugrunde liegen. 90 Zu entwicklungspsychologischen und klinischen Aspekten der friihen Kindheit vg!. Doris Bischof-Kohler, "Zusammenhange zwischen kognitiver, motivationaler und emotionaler Entwicklung in der friihen Kindheit und im Vorschulalter", in: Keller (Hg.), LelJrbllch Entwlck!ungsp.sychologle (Anm. 40), 319-376; T. Berry Brazelton/Bertrand G. Cramer, Die ;rlibe .8lndllng. Die erste .8t'ZJebllng zwt'schen dem .8al7y Nnd semen Eltem. Stuttgart 1991; Barbara Buddeberg-Fischer/Claus Buddeberg, "Entwicklungspsychologie". in: Buddeberg/Willi (Hgg.). Psyd;Josozl"le;/fedtzln (Anm. 82), 101-216; Martin Domes, Derkompe tente Sdllgling. Die prdverbde Entwick/tOlg des ;/femcben, Frankfurt/M. 1993; Ders., Die ;rt/be f(indi7elt. Entwick!ung;psycbologle der mten LebenSjalJre (Geist und Psyche). Frank· furt/M. 3. Aufl. 1999; Lutz H. Eckensberger/Heidi Keller, "Menschenbilder und Entwicklungskonzepte", in: Keller (Hg.), LelJrbllchEntwicklung;psyc!:Jologie(Anm. 40),11-56; Peter LaFreniere, EmotiOtkl! Devlopm~nt. A .8iosock;! Fer.rpecti-v'£', Belmont (Calif.) 2000. 101-130; Hilarion G. Petzold (Hg.), rnibe Scbtidigungen - sp.-ite rolgen. Psycbotberaple find .8al7y/orschllng. .Bd 1: Die HemllsjOrderltng der Ldngsscl.mittjorschllng (Innovative Psychotherapie und Humanwissenschaften, Bd. 55), Paderbom 2. Aufl. 1997; L. Alan Sroufe, Emo· tional Development. lbe Organt'ution 0/ Emotional Lift In tbe Early Years, Cambridge 1996; Daniel N. Stem, Die Lebense?fobmng des Sdllglings, Stuttgart 2. Aufl. 1992; Donald 62 Hinblick auf basale Korpervorgange wie die Funktionen des limbischen Systems - Atmung, Verdauung, Biorhythmen, Steuerung der Korpertemperatur, Immunabwehr - vollzogen werden, denn andernfalls wurde das Kind bald sterben. Urn dieses fruhe "Lernen" (hier verstanden im Sinne der behavioristischen Lerntheorie) zu ermoglichen, ist eine enge soziale Bindung zur Mutter oder zu einer entsprechenden mutterlichen Bezugsperson vonnoten. Auch physiologische Prozesse im Korper werden demzufolge durch Sozialisationsprozesse mitbestimmt. 8. Dimensionen der Zeit: Ontogenese Mit der fur die Entwicklungspsychologie konstitutiven Untersuchung der Ontogenese ruckt eine zeitliche Dimension menschlichen Lebens in den Vordergrund, die bisher noch nicht zur Sprache kam. Zunachst gilt es festzuhalten, daB die primiTe menschliche Zeiterfahrung die der alltaglichen Lebenswelt ist. Auch jemand, der den Zeitaum der Existenz des Menschen angesichts evolutionarer zeitlicher Dimensionen fUr unbedeutend erklart, kann hinter diese Zeiterfahrung nicht zuruck. Er oder sie lebt und handelt in jeweiligen fur ihn oder sie hOchst relevanten alltagsweltlichen Lebenszusammenhangen, in denen die evolutionare Zeit keine unmittelbare Rolle spielt. Daruber hinaus fUhrt diese Person ihr Leben in einem bestimmten historisch-kulturellen Raum, der ebenfalls unhintergehbar und fUr ihr Selbstverstandnis und ihre Handlungen von Bedeutung ist. Die Indivualentwicklung schlieBlich bildet eine vierte irreduzible anthropologische Dimension der Zeit, innerhalb derer sich ein Mensch im Wechselspiel zwischen genetisch vorgegebenen Rahmenbedingungen und Umwelt entwikkelt. In der ontogenetischen Entwicklung aller hOheren Saugetiere sind Anlage und Umwelt, nature und nurture untrennbar miteinander verwoben. 91 Beim Menschen kommen jedoch kulturelle Umweltfaktoren als weitere EinfluBgroBen hinzu und mussen bei der wissenschaftlichen Analyse Be- 91 W. Winnicott. llabys Ilnd ilJre #titter (Konzepte der Humanwissenschaften). Stuttgart 1990; Philip G. Zimbardo/Richard j. Gerrig. F5)lclJ%gie. llearbeitetllndheratlsgegeben von SiegJi-ied HopjJe-Grq/llnd Irma Enge/, Berlin u.a. 7. Auf1. 1999, 449-518. Unwillkiirliche Lernvorgange sind auch im Tierexperiment gut nachvollziehbar: vg!. Hans Miiller-Braunschweig. .DIe Wl'ri?rlnl{ der ;r"hen Erfilmmg. Oaf ersce LebenSJab IInd seine Bedell/ling jilr die jJ5)lclJiscIJe Entwick/llng. Ergelmisse IInd Prob/eme (Konzepte der Humanwissenschaften), Stuttgart 1975,114-116. - Umgekehrt weisen Verhaltensbiologen darauf hin, daB die iiblichen normierten Aufzucht- und Haltungsbedingungen von Versuchstieren so unphysiologisch sind, daB sie notwendigerweise normabweichendes Verhalten produzieren. Eine L6sung dieses methodischen Dilemmas ist nicht abzusehen. 63 rucksichtigung finden. In der Phase pnrnarer Sozialisation biologischer Funktionen ist die Mutter bewuBt oder unbewuBt als "Agentin der Gesellschaft" wirksarn, denn ihr Verhalten wird durch kulturelle Rahrnenbedingungen 92 entscheidend gepragt. Deswegen ist eine Herrneneutik kultureller Zeichen und Syrnbolsysterne, wie sie durch die Sozial- und Kulturwissenschaften zur VerfUgung gestellt wird, fUr eine kulturell differenzierende Psychologie und psychosozial fundierte Medizin unabdingbar. Wissenschaftspraktisch ist dieser Einsicht entsprechend in den letzten Jahren unter Psychologen das BewuBtsein gewachsen, daB sich raurnzeitlich spezifische Verhaltnisse nicht einfach auf alle Menschen ubertragen lassen, sondern daB sich ernotionale. kognitive und behaviorale Eigenschaft~ nur irn Hinblick auf historische. soziale und kulturelle Urnweltbedingungen exakt bestirnrnen lassen. 93 92 93 Vg!. John Bowlby. Trennllng. Psyd7ische Schdden als Fo/ge der Trennllng von Allltler IInd Ktttd(Geist und Psyche). Munchen 1976.414-421: LaFreniere. Emotional Development (Anm. 90). 231-239: Mary Anne Trause u.a ....Das Mutterverhalten bei Saugetieren". in: Marshall H. Klaus/ John H. Kennell. Allltter·Kind-Blndltng. Ube?' cite Fo/gen einer.lnihen Trennttng. Munchen 1987. 35-62; von Uexkull/Wesiack. lbeone der IIlImanmedizin (Anm. 87). 327f. - Von der Sache her ahnlich argumentiert das soziologische .. Habitus"· Konzept Bourdieus in lbeorie der Pmxis (Anm. 71). - Die Soziobiologin Hrdy stellt neuerdings fest: .. Fur Lebewesen wie Prima ten ist die Mutter die Umwelt - zumindest ist sie wahrend der am meisten gefahrdeten Phase im Leben eines jeden lndividuums der wichtigste Bezugspunkt." (Hrdy. Allltter Natltr (Anm. 27). 95). Damit bekraftigt sie interessanterweise ausgerechnet die von Kulturwissenschaftlerinnen seit Jahrzehnten bekraf· tigte These, .. Mutterliebe" sei eine .. gesellschaftliche Konstruktion" (ebd., 357). Zur prinzipiellen Notwendigkeit des Kulturvergleichs innerhalb der Psychologie vg!. John W. Berry u.a. (Hgg.), lIandhook q,tCross·Cultural Psychology; lid 1: lbeol)' and Ale· thod; 8d 2: BaSIC Proceises and IIlIman Development; Bd J: Soci;1 Behavlor and Apphca· /Jons. Boston u.a. 2. Aufl. 1997; Saburo Iwakaki u.a. (Hgg.).lnnomtlonsin Cr,ss-C!tllllml Psychology. Selected Papers ;rom the Tenth International Coiference 0/ the International Association /Or Cross· Cultural Psychology kid in Adra, japan. Amsterdam 1992; Waiter J. Lonner/Roy S. Malpass (Hgg.). Psychology a7Jd Culture. Boston u.a. 1994; Giuseppe Mantovani. Ex,doring Borden-. Under.rtandtng Clllture and Psychology. London/Phila· delphia 2000; David Matsumoto. Culture and Psyc/:;ology, Albany u.a. 1996; Christian VogellLutz Eckensberger. "Arten und Kulturen - Der vergleichende Ansatz", in: Klaus Immelmann u.a. (Hgg.). Psychobtologie. Crttna'lagen des Verhaltens. Stuttgart u.a. 1988. 563-606. - Zu der innerhalb der Psychologie vorherrschenden Tendenz. die europaischen und amerikanischen Verhaltnisse unreflektiert auch auf Menschen anderer Kontinente zu ubertragen. vg!. kritisch Dennis Howitt/ J. Owusu-Bempah. lbe Racism 0/Psychology. Ttme/Ora Change. New York u.a. 1994; Graham Richards. "Race~ Racism andPsychology. Toward; a Rfj1eJClve lIistol)'. London/New York 1997. - Zu kulturellen Aspekten der Entwicklungspsychologie und der Sozialisation vg!. Gisela Trommsdorff (Hg.). Soziahsation Im Ktdlllrvel(!leicb (Der Mensch als soziales und personales Wesen. Bd. 10) Stuttgart 1989: Dies. (Hg.). Kindheit IInd jllgend in verschiedenen Klllturen. Entwlcklung find Sozialisation pt kllltllrvergleichender Stcbt, Weinheim/Munchen 1995. Zu kulturspezifischen Selbstkonzepten vgl. Anthony j. Marsella u.a. (Hgg.). Cultllre and Sell 64 Die emotionale Entwicklung, die starken kuItureIIen Einflussen unterliegt, bleibt auch biologisch darsteIlbar. In der Humanpsychologie dienen dabei peripher-physiologische Reaktionsmuster als deflnierendes Kriterium zur Unterscheidung von Emotionen 94 und zu ihrer analytischen Abgrenzung von Gedanken, Werturteilen, Motiven und Intentionen. Auf angeborene Dispositionen scheinen beispieIsweise ethologische Studien zur Universalitiit menschlicher Gesichtsausdrucke bei Sauglingen hinzudeuten. 95 Menschliche Emotionen Iassen sich zwar individueII psychisch regulieren und kontroIlieren, k6nnen aber noch bei Erwachsenen zuweiIen unkontroIlierbar auftreten. Sie lassen sich also weniger beeinflussen als andere psychische Vorgange (z. B. die Kognition). Damit verweisen sie aufvegetative Prozesse, die jenseits individueII oder kultureII konstruierter Bedeutungs- Asian alld IPesrem Ft/7:r/ectJVes (Social Science Paperbacks, Bd. 280). New York/London 1985; Jonathan Tudge u.a. (Hgg.). Comparisons in lillman Development. Unierstanding Ttme and Context (Cambridge Studies in Social and Emotional Development). Cambridge 94 95 1997, Zur Emotionalitat im Kulturvergleich vg!. Hazel Rose Markus/Shinobu Kitayama. "The Cultural Shaping of Emotion: A Conceptual Framework", in: Dies, (Hgg.). Emotion and Odtllre Empincal Stlldies 0/ A1tltlldllnplence, Washington 1994, 339-351. Zum menschlichen Verhalten in kulturvergleichender Sichtweise.vgL MarshaU H. Segall u,a. (Hgg.). lillman Bebavior in GlobalFfflfJecttveA n Introdllction to Cross-Odtllral Fsycbology (Pergamon General Psychology Series. Bd, 160), New York u.a, 1990, Zur Neuro- und Psychophysiologie der Emotionen vgL John T. Cacioppo, u.a .. "The Psychophysiology of Emotion", in: Michael LewislJeanette M. Haviland (Hgg,). Handbook 0/ Emotions, New York 1993, 119-142; Richard J Davidson, "The Neurophysiology of Emotion and Affective Style". in: Lewis/Haviland (Hgg,). Handbook 0/Emotions. 143154; N~than A. Fox/Judith A, Card. "Psychophysiological Measures in the Study of Attachment". in: Jude Cassidy/Philipp R. Shaver (Hgg,). Handbook ofAttacbment, 77.Jeory, i?esearcb, and Clinical Applications, New York/London 1999. 226-245: Susan Goldberg, Attacbment and Development (Texts in Developmental Psychology). London 2000, 183·197; Alfons 0. Hamm, "Zur Psychophysiologie von Emotionen", in: Hilarion G, Petzold (Hg,). Die Wl'ederentd«klmg des Grjiib/s, Emotionen in der Fsycbotberapte IInd der menscbk cben Entwick/llng (Vergleichende Psychotherapie, Bd, 11), Pad er born 1995. 83-118: LaFreniere. Emotional Development (Anm. 90). 45-72; Jonathan Polan. H.lMyron A. Hofer. "Psychobiological Origins of Infant Attachment and Separation Responses". in: Cassidy/Shaver (Hgg.), Handbook ~/' Attacbment, 162-180; Klaus Schneider/Klaus R. Scherer, "Motivation und Emotion", in: Immelmann u,a, (Hgg,), Fsycbobtologte (Anm. 93). 257-288: Gottfried Spangler/Michael Schieche. "Psychobiologie der Bindung", in: Gottfried Spangler/Peter Zimmermann (Hgg.). Dte l1indtlngstbeone. Gmndlagen, Forscblmg Ilnd Anwendtmg, Stuttgart 1995, 297 -310. Zum mutmaBlich angeborenen Gesichtsausdrucksverhalten bei Sauglingen vgL Linda A, Camras u.a., .. Facial Expression". in: Lewis/Haviland (Hgg,). Handbook ~/' Emotions (Anm. 94). 199-218: Bryan Kolb/lan Q. Whishaw. Nelll'OpS)'cbologle. 2, Aufl. Heidelberg 1996. 364f.; LaFreniere. Emotio17.71 Development (Anm. 90). 22-26. vg!. Wolfgang Friedlmeier/Manfred Holodynskji ... Emotionale Entwicklung und Perspektiven ihrer Erforschung", in: Dies. (Hgg.), Emotl!:male Entwld!lllng. hlnktlon, i?eg:t/attOn IIndsoztOkllltllreilerf(ontextvonEmottonen. Heidelberg/Berlin 1999. 1-26. hier 7. 65 systeme wirksam bleiben. So scheint die Disposition zur Entwicklung bestimmter Temperamente und Charaktere teilweise angeboren zu sein. Sie bildet gegeniiber kulturellen Bedeutungszuschreibungen ein Gegengewicht. das sich im subjektiven emotional en Erleben zeitlebens widerspiegelt. 96 Grundsatzlich geht man inzwischen beziiglich der emotionalen Entwicklung davon aus. daB fUr die friihkindliche Entwicklung nicht. wie von Sigmund Freud angenommen. "sexuelle" Triebregungen wesentlich sind und auch im Sinne der behavioristischen Lerntheorie lassen sich diese Vorgange entwicklungspsychologisch nicht sinnvoll darstellen _.97 sondern soziale Bediirfnisse nach emotional er Bindung. Sicherheit und Zuwendung in Form einer angemessenen Versorgung. Fiir diesen Kontext gilt die von John Bowlby und Mary Ainsworth formulierte Bindungstheoni!l8 als grund- 96 97 98 Zum mutmaBlichen EinfiuB der Gene auf die Personlichkeit vgl. Brazelton/Crarner, Die pltbe iJlnaHng (Anm. 90), 95-103; Claus Buddeberg/Kurt Laedebach, "Psychophysiolo· gie", in: Buddeberg/WilIi (Hgg.). Ps)'cbosoziale filttt'lzin (Anm. 82),301-360. hier 301-314; Buddeberg·Fischer/Buddeberg, EntwukllmgrpS}'Cbologie (Anm. 90). 128-131; Kolb/Whi· shaw. Ne:/ropsycbologie (Anm. 95), 352-369; LaFreniere. Emotional Development (Anm.90), 193r.; Brain E. Vaughn/Kelly K Bost. "Attachment and Temperament: Redundant. Independent. or Interacting Influences on Interpersonal Adaption and Personality Development?", in: Cassidy/Shaver (Hgg.), Handbook o/Attacbment (Anm. 94), 198-225. Zur Kritik des traditionellen psychoanalytischen Verstandnisses der fruhkindlichen Entwick lung vgJ. Mary D. Salter Ainsworth, "Object Relations, Dependency, and Attachment: A Theoretical Review of the Infant-Mother Realtionsship", in: Cbild Development 40 (1969), 969-1025, hier 971-982, Gunther Bittner, ;I1etapbem des Unbewl6"Jten. E:ne kntiscbe Emfolmmg In d,e Psychoanalyse, Stuttgart u.a. 1998, 117; John Bowlby, iJmdtmg. E,ne Analyse der filutter-f(ind-&ziebtmg (Geist und Psyche). Munchen 1975, 9-45; Ders., Trenntmg (Anm. 92). 349-353; Ders.. Eltembindtmg und Persdnlic!;keitsentwick/tmg. T6erapeutiscbe ASf'ekte der iJ,ndungstbeone. Heidelberg 1995. 64-68; Dornes, D,e /17ibe /(indheN (Anm. 90), 43-47; J,D. Lichtenberg. Ps)'cboanalyse Imd SdllglmgsjOrscbung. Heidelberg u.a. 1991; Gunter Schmidt. "Jenseits des Triebprinzips. Oberlegungen zur sexuellen Motivation", in: Horst Scarbath/Bernard Tewes (Hgg.). Sexllalemebtmg und Persdnlicb· keitsentfoltllng. Munchen u.a. 1982. 27-39; Stern. Die LebensC?jdlmmg des Sdllglmgs (Anm. 90). 198--230. - Zur Ablehnung der behavioristischen Lerntheorie fUr diesen Zusammenhang vg!. Ainsworth. Object Relatio~ Dependency, and Attacbment, 982-997; Bowlby. iJlndllng. 251; Gottfried Spangler. "Fruhkindliche Bindungserfahrungen und Emotionsregulation", in: Friedlmeier/Holodynskji (Hgg.), Emotionale Entwlcklung (Anm. 95). 177. ZUf Bindungstheofie vg!. Ainsworth. Object Relations, Dependenq, and Atlttcbment (Anm. 97); Bowlby. iJ;nmmg (Anm. 97); Ders.. Trennung (Anm. 92); Ders., Verllls!, Trailer IInd DepressIon (Geist und Psyche), Frankfurt/M. 1983; Ders., Eltemblndung Imd Pcnon· lit'Meitsentwlddtmg (Anm. 97); Karl Heinz Brisch, iJ,ndtmgsstOrungen. Von der iJlndungs· tbeone zllr J7Jerapte, Stuttgart 1999, 29-73; Cassidy/Shaver (Hgg.). Handbook ofAttacb. ment (Anm. 94); Dornes. D,ePltbe K;ndbe:j(Anm. 90), 213-243; Manfred Endres (Hg.), iJtndtmgstheone In der Ps),cbot6erapie. Munchen/Basel 2000; Gabriele Glogert·Tippelt (Hg.). iJtndllng im Erwacbsenenalter. Em Handbucbjiir Forscbllng IIndPraxis. Bern/Gottingen. 2001; Goldberg, Attachment and Development (Anm. 94); Eiaine Hatfield/Richard Rapson, "Love and Attachment Processes". in: Lewis/Haviland (Hgg.). Handbook 0!Emo- 66 legend. Sie bezieht sich auf tiefenpsychologische. ethologische. motivationale. kognitive. sozialpsychologische und klinische Aspekte der emotional en Entwicklung des Menschen. 99 Entwicklungspsychologen steUt sich dabei die zunachst noch unbeantwortbare Frage. ob ein angeborenes Spektrum an humanen Grundemotionen mU spezifischen physiologischen Reaktionsund Ausdrucksmustern existiert. oder ob sich differenzierte Emotionen aus einer ersten globalen Differenzierung zwischen .angenehm' vs.. unangenehm' lebensgeschichtlich erst entwickeln. Fur plausibel werden die primare Unterscheidung von positiven Emotionen (Freude) und zwei negativen Formen. namlich Angst (verbunden mit Fluchtreaktionen) und Zorn (verbunden mit aggressivem Verhalten) gehalten, wie sie sich auch bei den Interaktionsmustern sozial lebender Tiere aufweisen lassen. lOO Dieses tions (Anm. 94), 595-604; Klaus/Kennell. ftllllter·j(ind-Bindtmg (Anm. 92); LaFreniere, Emotional Development (Anm. 90), 142-163; Mary Main, "Epilogue. Attachment Theory: Eighteen Points with Suggestions for Future Studies",in: Cassidy/Shaver (Hgg.), Hand600k of Attac6ment (Anm. 94), 845-887; Rainer Rehberger, Verlassen6eitrpanik Itnd Trennltngsangst. Bindtmgst6eone fmd l'S)'c60analytisc6e Praxis 6ei Angstnettrosen (Leben lernen Bd. 128), Stuttgart 1999, 31-51; Spangler/Zimmermann (Hgg.), DIe 8indflngst6eorie (Anm. 94); Stern, Die Le6ense;folmmg des Sdltglings (Anm. 90), 164-172, 262-299; Sroufe, Emorzonal Development(Anm. 90), 172-191; Louis W.C Tavecchio/Marinus H. van IJzen· doom (Hgg.), Attac6ment In Soc!al Networks. Contnlmtions to t6e 8owl/;y-Alnswort6 Attachment Tbeory (Advances in Psychology, Bd. 44), Amsterdam u.a. 1987. - Innerhalb 99 lOO der jiingeren Bindungsf orschung scheinen sich zwei gegenliiufige Tendenzen abzuzeich· nen: einerseits ein biologisierender Ansatz in Anlehnung an die Soziobiologie und die Evolutionare Psychologie (vg!. dazu Jay Belsky, "Attachment Theory in Modem Evolu· tion'!!y Perspective", in: Cassidy/Shaver (Hgg.). Hand600k ofAttac6ment (Anm. 94), 115140; Main, Attac6ment Tbeory (Anm. 98), 850-853; Jeffrey A. Simpson, "Modem Evolutionary Theory and Patterns of Attachment", in: Cassidy/Shaver (Hgg.), Handbook qr Attachment. Tbeory (Anm. 94), 141-161) und andererseits die zunehmende Betonung kulturrelativer Momente; dazu s.U., Anm. 106. Vg!. Bowlby,Eltem6Ina:mgltndPersonItCMeltsentwlck'tmg(Anm. 97), 42. Zur mutmaBlichen Dbereinstimmung der funktionalen Grundziige emotionaler Entwicklung bei Mensch und Tier in ethologischer Perspektive vgl. Ainsworth, Ol:iect RelatIOns, Dependency, and Attac6ment (An m. 97), 997-1003; Bowlby. 8indltng (Anm. 97), 47-167, 174-199; Ders., Trennflng (Anm. 92). 81-126, 159-189; Ders., "Ethological light on psychoanalytic problems", in: Patrick Bateson (Hg.), Tbe development and IntegratIon of khavlor. Essays In 60noflr ofJ?obertHtnde, New York u.a. 1991,301-313; Marinus H. van IJzendoorn/Louis W.e. Tavecchio, "The Development of Attachment Theory as a Laka· tosian Research Program: Philosophical and Methodological Aspects", in: Dies. (Hgg.), Attachment In Social Networks (Anm. 98). 3-31. hier 10-12; LaFreniere, EmotIonal DelJe· /qPmen/ (An m. 90). 26-44: Main. ANacbmenr n,"'OQ' (Anm. 98), 851-856; Stephen j, Suomi, "Attachment in Rhesus Monkeys", in: Cassidy/Shaver (Hgg.), Hand600k qr Attac6ment (Anm. 94), 181-197; Dietmar Todt, "Verhaltensbiologische Aspekte der Ent· wicklung sozialer Bindungen auf vormenschlicher Stufe", in: Spangler/Zimmermann (Hgg.), DIe 81ndtmgstheone (An m. 94), 86-108; von Uexkiill/Wesiack, Tbeorie der Htlmanmea:zln (Anm. 87), 286-293. 67 womoglich angeborene Emotionssystem wird dann aber im Zuge psychosozialer Entwicklungsprozesse, die teilweise auch bei Tieren, teilweise aber nur beim Menschen auftreten, Iebensgeschichtlich ausgepragt. Diese Einwirkungen des spateren Lebens diirfen gegeniiber biologisch-konstitutioneIIen nicht unterschatzt werden_ Od er wie John Bowlby festgesteIIt hat: "Was immer genetische Beeinflussung und physische Traumata zu Personlichkeitsveranderungen beitragen, der Beitrag, den die familiare Umwelt Ieistet, ist mit Sicherheit ein wesentlicher."lOl Die emotionale Entwicklung, also das lebensgeschichtliche "Etablieren, Organisieren und Regulieren"102 von Gefiihlen, erscheint, psychologisch betrachtet. aIs ein "offenes System". 103 Menschliche Individuen entwickeln si ch daher in einem "vorgegebenen Spannungsfeld von sozialer Gemeinschaft und voIIwertig personalisierten Individuen, von tradierten Oberlieferungsstromungen und modifizierten Innovationen".104 Mit Blick auf den Unterschied zwischen Mensch und Tier ist damit - im Sinne der oben dargesteIIten systemischen "Regelkreise" - die Ebene der humanspezifischen. intentional betriebenen und symbolsprachlich vermitteIten Emotionssteuerung benannt, angesichts derer bereits ausschlieBlich funktional verfahrende Erklarungsansatze problematisch erscheinen miissen. KultureIIe Bedeutungskonstruktionen iiberformen die bei Tieren vorhandenen Entwicklungsprozesse und fiihren beim Menschen zu nicht vergleichbaren Dimensionen der Individuierung und zu ausgepragt £tllturspezi/isciJen Verhaltensweisen.105 Anders aIs Prima ten le ben 101 Bowlby. Trmnung(Anm. 92). 253. 102 103 104 105 lngrid E_ Josephs. "Emotionale Entwick!ung im Spannungsfeld zwischen personlicher und kollektiver Kultur". in: Friedlmeier/Holodynskji (Hgg.). Emotionde EntwickltltZg (Anm. 95). 259-274. hier 266; vgL auch Bowlby. 8zndung (Anm_ 97). 142-155; LaFreniere. Emotional Development (Anm. 90). 264-268; Hartmut C. Traue. EmotIon und Gesundheit. Dieps)CbobiologtScbe Regulation durcb Hemmungm. Heidelberg/Berlin 1998. Friedlmeier/Holodynskji. EmOl'zonde Entwickllmg fmd Per.rpektivm ibrer EJjOrscblmg (Anm. 95). 13; zur Gefuhlssteuerung in der Kindheit vg!. Bowlby. 8zndtltZg (Anm. 97). 107-167; Ders_. Trmmmg (Anm. 92). 190-210; Domes. Der kompetmte Sauglzng (Anm. 90). 132-163: LaFreniere. Emotzonal Devdopmmt(Anm. 90). 101-130. 191-220. VogeJ. Ant/:;rop7logzscbeJJ'IIrm (Anm. 54).66. Zur Notwendigkeit. kulturelle Einf1usse auf die emotionale Entwicklung des Menschen zu beriicksichtigen. vg!. in funktionaler Perspektive: Bowlby. 8indtltZg (Anm. 97). 273f.; Ders .. Trmmmg (Anm_ 92). 241-244; Friedlmeier/Holodynskji. Emotionale EntwiciJllng und Penpelmven ibrer E;JOl"scbung. (Anm. 95). 11-13; Josephs. Emotionale En/wicklllng im SpannungsftldzwlJ'Cbm persdnlic/;er IInd kollektzver /(i,ltltr (Anm. 102); LaFreniere. Emotzonal Developmmt (Anm. 90). 221-239; Hermann Lang. "Zur Pathologie der Angst und der Angstverarbeitung". in: Ders.lHermann Faller (Hgg.). Das Pbdnomen Angst Patbologie, Gmese und lberap1e. Frankfurt/M. 1996. 122-145; von Uexkull/Wesiack. lbeone der Hllmanmedizzn (Anm. 87). 280f.. 310-328; Dieter Ulich. "Kinder. Jugendliche. GefiihJ. 68 und entwickeln si ch Menschen in einer sozial und symbolisch-kulturell gestalteten Umwelt, und ihre sozialen Verhaltensformen und Institutionen zeichnen si ch durch ein nicht vergleichbares MaB an Komplexitiit aus. Im Kulturvergleich stellen Entwicklungspsychologen deshalb fest, daB die Verteilung genannter Personlichkeitsmuster statistisch relevanten Unterschieden unterliegt, die nur durch spezifische kulturelle Einfliisse sinnvoll erkUirbar sind. 106 Zwar scheint Bindung als emotion ales BedtifolS phylogenetisch "fundiert" zu sein, die spezifische Qualitiit der Bindung ist aber "ein umweltvariables Merkmal, da sie durch die speziflschen Erfahrungen Umwelt - Sozialisation und Entwicklung von Emotionen", in: Petzold (Hg.), fPtederent· deckflng de C¥ibb- (Anm. 94), 119- 135; Vogel, AntbropologtKbe .5,i:wren (Anm. 54), 59-71. 106 Die Tatsache, daB die Gblicherweise unterschiedenen Bindungstypen "sicher gebunden", "unsicher vermeidend gebunden" und "ambivalent gebunden" innerhalb verschiedener Kulturen unterschiedlich haufig anzutreffen sind, wird oft herausgestrichen: vgl. Mary D. Salter Ainsworth, "Attachment Theory and Its Utility in Cross-Cultural Research", in: Philip H. Leiderman u.a. (Hgg), O,ltll7'e and Infonry. Variations in t/:;e Human Experience, New York 1977,49-67; Bowlby, Trennrtng (Anm. 92), 258f.; van IJzendoorn/Tavecchio, me Development 0/Attacbment 77:Jeory as a Labltosian R e,earcb Program (Anm. 100); Marinus H. van IJzendoornl Abraham Sagi, "Cross·Cultural Patterns of Attachment", in: Cassidy/Shaver (Hgg.), Handbook 0/ Attacbment (Anm. 94), 713-734; Rosanne Kermoian/P. Herbert Leiderman, "Infant Attachment to Mother and Child Caretaker in an East African Community", in: InternationalJoumalo/llebavioral Development 9 (1986), 455-469; Klaus/Kennell, fifutter·Kind.lJind/tng (Anm. 92), 63-143; Hans-Joachim Kornadt/Brigitte Husarek, "FrGhe Mutter-Kind-Beziehungen im Kulturvergleich", in: Trommsdorff (Hg.), Soztdisation im KultuTVe?gletcb (Anm. 93), 65-96; Main, Attacbment meo?]' (Anm. 98), 879-881; Markus/Kitayama. 77:Je Cult/val Sbaptng 0/ Emotion (AnrU. 93): Kazuo Miyake u.a., "Infant Temperament, Mother's Mode ofInteraction, and Attachment in Japan: An Interim Report", in: Inge Bretherton/Everett Waters (Hgg.), GrowIng POInts 0/ Attacbment. 77:Jeory and Researcb (Monographs of the Society for Research in Child Development) SO (1985), 276-297; Abraham Sagi/Kathleen S. Lewko· wicz, "A Cross-Cultural evaluation of Attachment Research", in: Tavecchio/van IJzen· doorn (Hgg.), Attacbment tn Social Networks (Anm. 98), 427-459; Richard A. Shewder, "The Cultural Psychology of the Emotions", in: Lewis/Haviland (Hgg.), Handbook 0/ Emotions (Anm. 94), 417-431; Sita van Vliet-Visser/Marinus H. van Ijzendoorn, "Attachment and the Birth of a Sibling: An Ethnographic Approach", in: Tavecchio/van Ijzendoom (Hgg.), Attachment tn Sock!1 Net'works (Anm. 98), 267-301. - Auf Grundlage ihrer eigenen kulturvergleichenden Studie zu den Verhaltnissen in den USA und in Japan stelIten Rothbaum u,a. jGngst die radikale These zur Diskussion, wonach die Bindungs· theorie in ihrer Gesamtheit "laden with Western values and meaning" sei (Fred Rothbaum u.a., "Attachment and Culture. Security in the United States and Japan", in: American I'lJchologt.rt SS (2000), 1093-11 04, hier 1092). Gefragt wird von den Autoren, ob der tmi· wrsdistisc/:;e Anspruch der Bindungstheorie, der von ihrer Orientierung an der Ethologie herrGhrt, nicht insgesamt verfehlt sei. Ihre Gegenthese ist, daB weitere kulturver· gleichende Untersuchungen beweisen k6nnten, daB der empirisch meBbare "attachment process is tied to the cultural context in which it is embedded" (ebd., 1102). Als universal seien dann lediglich die solchen Mustern zugrundeliegenden (vermutlich biologisch fun· dierten) "abstract principles" anzusehen, die das Bindungs6echifoismit sich brachten. 69 mit Bezugspersonen beeinfluBt wird."1D7 Mithin haben die fruhen unwillkurlichen Lernvorgange bleibende Folgen hinsichtlich des Empfindens und Verhaltens von Erwachsenen. die ihre kindlichen Erfahrungen spater unbewuBt an die eigenen Kinder weitergeben.1 08 Die statistische Verteilung solcher elterlicher Verhaltensformen - die als meBbare Merkmale kulturell diversifizierter Pers6nlichkeitsentwicklung dienen k6nnen - weisen dabei signifikante kulturelle Unterschiede auf. Die fruhen Bindungserfahrungen haben also. klinisch betrachtet. lebenslange individuell und ebenso kollektiv bedeutsame Folgen. 109 denn einzelne klinische Phanomene. die durch negative fruhkindliche Erfahrungen erklart werden k6nnen. scheinen fUr bestimmte Kulturen typischer zu sein als fUr andere, da der Umgang mit Emotionen wie Angst, Aggression und sexuellem Begehren spezifischen Regelungen und Beschrankungen unterworfen ist llO 107 JOB 109 110 Spangler. FTlthkindlkbe llmdltngsafolmmgen (Anm_ 97). 184; vgl. Bowlby. lllndung (Anm. 97). 200-215; Domes. Die fTlthe Ktndbeit (Anm. 90). 183-197; Keller/Eckensberger. fi1enschenbilder tmd Entwickltmgskonzepte (Anm. 90). 72-74; LaFreniere. EmotionalDeve· lopment (Anm. 90). 200-204; Vogel. Antbropologisc/:;e Spuren (Anm. 54). 54-58. Zur unbewuBten Weitergabe eigener kindlicher Erfahrungen durch elterliches Verhalten vg!. Bowlby. ll,ndllng (Anm. 97). 225-228; Ders.. Eltembine!lIng IInd Persdnlichkeitsent· wic,Nllng (Anm. 97). 26-28; Ariane Garlichs/Marianne Leuzinger-Bohleber. Ic/entitdt tine! lllndllng. DIe Entwickltmg von 8ezlebllngen m hmilie, Scbtde IInd CesellsdJ1ft (Erziehung im Wandel. Bd. 2). Weinheim/Miinchen 1999; Frits A. Goossens. "Maternal Employment and Day-Care: Effects on Attachment". in: Tavecchio/van IJzendoorn (Hgg.). Attacbment InSxkdNctworks(Anm 98).135-183. Dies ist ein besonders innerhalb der klinischen Literatur iiberaus haufig festgestellter Sachverhalt; vg!. beispielsweise David Boadella. "StreB und Charakterstruktur". in: Dagmar Hoffmann-Axthelm (Hg.), Der /(rirper In der PryclJotiJerapte (Kbrper und Seele. Bd. 2). Oldenburg 1991. 36-89; Bowlby. lllndllng (Anm. 97). 317f.; Ders .. Elternblndtmg IInd Personltcbkeitsentwkkltmg (Anm. 97). 77-95; Brisch. lltndtmgsstomngen (Anm. 98), 75-91; Dornes. DIe fTltbe /(mdbeit (Anm. 90). 213-243; Elisabeth Fremmer-Bombik/Klaus E. Grossmann. "Uber die lebenslange Bedeutung friiher Bindungserfahrungen". in: Petzold (Hg.). FTllbe Scbddzgllngen - SJldte Folgen (Anm. 90). 83-110; Markus Hochgerner/Elisabeth Wildberger (Hgg.). FTlt/:;e Scbddigllngen,rpdte Stomngen. lleitrdge ails der Skbt acbt psycbotiJerapelltischerfi1ctboden (Psychotherapeutische Theorien und Praxis. Bd. 1). Wien 2. Aufl. 1998; Keller/Eckensberger. fi1enscbenbllder IInd Entwlckltmgskonzepte (Anm. 90). 75; Ruth Ladendorf, "Der Beitrag der Bindungstheorie zu MiBbrauch und MiBhandlung". in: Hertha Richter-Appelt (Hg.), VC?jiibnmg - Trallma - ft/iflbral/cI? (J8%-1965j/ (Edition Psychosozial). GieBen 1997. 161-171. hier 167-169; Main. Attachment 7i.Ieory (Anm. 98). 861-864; MiiJler-Braunschweig. Die Wtrkllng der fTllben EJjdiJrllng (Anm. 91); Franz Petermann/Kay Niebank u.a. (Hgg.). i?iSIA!en In der}ilihklndlichen Ent?t!icklllng. Entwlck hmgspsychopatbo/ogle der ersten LebenSjaiJre. Gbttingen u.a. 2000; Rehberger. VerlassenheitspantA! IInd Trennllngsangst (Anm. 98): Morton Shane u.a .. Intimate AttachmentJ. Toward a Nett! Se!I"Prycbolog)'. New York/London 1997; Stern. DIe l(!/:;enseJjahmng des Sdilgllngs (Anm. 90). 339. Die klinische Literatur verfahrt indes bislang kaum kulturvergleichend. Im ICD·IO finden sich allerdings Hinweise. manche psychische Erkrankungen (Schizophrenie. Phobien) 70 9. Kulturelle Aspekte der medizinischen Praxis AbschlieBend sei darauf hingewiesen, daB auch in der praktischen Medizin kulturellen Einfliissen in den letzten Jahren ein hoherer Stellenwert eingeraumt worden ist. Angesichts der sozialen Gegebenheiten in multikulturellen Gesellschaften wurde beispielsweise die Notwendigkeit betont, den manifesten Verstandigungsschwierigkeiten im Arzt-Patient-Verhaltnis zu begegnen, die dann auftreten, wenn diese verschiedenen KuIturkreisen entstammen.lI1 Unter solchen Gesichtspunkten werden die gesellschaftlichen Folgen der "Medikalisierung", l12 also des Wandlungsprozesses in der Moderne, in Folge dessen die naturwissenschaftliche Medizin ein Beinahe-Monopol bei der Deutung von Gesundheit und Krankheit und bei der arztlichen Versorgung erworben hat, inzwischen durchaus ambivalent bewertet. DaB die akademische Heilkunde in weiten Bereichen die Behandlung isolierter korperIicher Symptome anstrebt und dadurch erkrankte Menschen als Sub· III 112 traten epidemiologisch mit kulturspezifischer Haufigkeit auf (vg!. ICD-JO: Intemationale /(lamfikation psycblscber StO'rHTtgen. ICDJO /(apitel v/l3. /(Iiniscb-diagnostiscbe Leitlinien. Ubersetzt lInd berausgege!Jen von H Dilling u.a., Bern u.a. 2. Aufl. 1993, 104, 158). Vg!. Giovanni Berlinguer, .. Globalization and Global Health", in: Schmacke (Hg.), Gesundbeit una'Demokratie (Anm. 87), 127-133; Buddeberg/Willi (Hgg.). Psycbosozia/e Ne£ Zln (Anm. 82); Emanuela Leyer. fiftgration, /(ulturkoo/likt und /(rankbeit. Zur PraxIs del' tranfkulturellen Psycbotberapie (Beitrage zur psychologischen Forschung. Bd. 24), Opladen 1991; Colin Samson. Healtb studies: A Critical and Cross·Cultural Reader. Oxford 1999; Birgit SiiBdorf. .. Kulturspezifische Betrachtungen zu subjektivem Krankheitserleben". in: Rolf Verres u.a. (Hgg.), HetdeJkrger I.esebucb NaiizinisciJe Psycb%gie. G6ttingen 1999. 119-1}7; Thomas Alexander (Hg.). Psycbologie und multikttltttrelle Gese!lscbafi Problem· analysen IInd ProblemlO'sllngen, G6ttingen/Stuttgart 1994. Zur Medikalisierung aus medizinsoziologischer und -historischer Sicht vg!. Jost Bauch. Gesllndlmi ab sozialer Cafe Vim der Ve?geseJ/scbajiJmg des Gesllndbetiswesens zllr Na:ltkaft: sierJmg der Geselbcbaji (Gesundheitsforschung). Weinheim/Miinchen 1996; Barbara Duden. Der Frallmleibab Wen/licber Or!. Vom N!Ilbrallcb des JJegr# Leben. Hamburg/ Zii· rich 1991; Michel Foucault. Die Geburt der /(Iinik. Eine ArcbaO/ogie des arztlicben Blicks. Frankfurt/M. 1996; ivan IIIich. DieNemesisderNedizin. Dle/(ritikderNa:ltkalisierJmgdes Lebens. Miinchen 4. Aufl. 1995; Alfons Labisch. Homo HygieniclIJ. GesundheIt IIndNedizln tn der Neuzetf, Frankfurt/M. 1992; Francisca Loetz .... Medikalisierung' in Frankreich. GroBbritannien und Deutschland. 1750-1850: Ansatze. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung". in: Wolfgang Eckart/Robert Jiitte (Hgg.). Das ellropdiscbe Gestmdhetissystem: Gemeinsamkeiten find Unterscbiaie tn bistoriscber Per.rpektive. Stuttgart 1994. 123-161; J()hn O'Neill. Dtejiln//(0'l'er. Nedikalisterte Geselbcbaji IInd Ve?gesell!cbajiJmg des Let!::!?s (Ubergange. Bd. 22). Miinchen 1990; Roy Porter. Die /(unst des Het/eny. Eine mediztniscbe CercAi:-.&?c de,- Jhn.f'c66e,c VOI'I der /fnaiW btJ bellfe, HeidelbergfBerlin 2000, 686-708; Wolf gang Schluchter... Legitimationsprobleme der Medizin.... in: Ders .• Rationaitsmlls der /I/eltanscballung. Stlldten ZII Nax Weber. Frankfurt/M. 1980. 185-207; Gunter Schmidt. .. Gesundheit aIs Moral. Praventive Medizin und VerhaltenskontrolIe". in: Air Trojahn/ Brigitte Stumm (Hgg.), Gesllndbeli flrdem statt kontrol/teren. tine Absage an den ;lllIster· menscben. Frankfurt/M. 1992. 266-276. 71 jekte1J3 weitgehend aus den Augen verIoren hat, wird heute nicht nur von vielen betroffenen Patienten so empfunden. Dies erkIart auch die seit den siebziger Jahren verstarkte Konjunktur "aiternativer" Heilmethoden l14 und des .. Psychomarktes". Auch die bereits erwahnte Gegenbewegung professioneller Mediziner unter dem Schlagwort "Psychosomatik" formierte sich unter den Vorzeichen dieser Unzufriedenheit. 115 Fazit "Auch vie le, die mit hartnackigen anthropologischen Konstanten rechnen [... ], werden die weite Sphare des it/ormativen kaum als eine Reproduktion natiirlicher Vorgaben ansehen wollen. Zwar gibt es genugend Naturalisten, die das kulturelle Geschehen auf evolutionare Anpassungsleistungen zu- 113 114 115 Vg!. hierzu Elmar Brahler. "Korpererieben - ein vernachlassigter Aspekt der Medizin", in: Ders. (Hg.). f(o?pererleben. Bn sHbjektiver AHsdrllCk von f(otper Hnd Saole lJeitrdge zIIrPS)" cbosomatiscben ;/Iedizin. GieBen 2. Aufl. 1995, 3-18, hier 10-13: Klaus Darner, "Pradika· tive Medizin. Die Utopie der leidensfreien Gesellschaft", in: Schmacke (Hg.), Gesllndheit Hnd Demokmtie (Anm. 87), 21-30, bes. 28: von Uexkull/Wesiack, Theone der HHman· mettiztn(Anm. 87),147-202. Vg!. dazu exemplarisch Andre Thurneysen (Hg.), Der I.etb - Setne lJedelltHngjiirttie beltttge ;/Iettizt?t (KomplemenUire Medizin im interdisziplinaren Diskurs, Bd. 4), Bern u.a. 2000. Selbst Facharzte auBern zunehmend ihr Unbehagen uber die zunehmende Ausweitung medizinisch·apparativer Techniken: vg!. Hans-Georg Guse/Norbert Schmacke, "Der vermiBte Wandel. Brief an die nachfolgende Medizinergeneration", in: Schmacke (Hg.), Gesllna'hett Hnd Demokratte (Anm. 81), 341-360, hi er 354; Volkmar Sigusch, "Meta· morphosen von Leben und Tod. Ausblick auf eine Theorie der H ylomatie", in: f'.ryche 5 I, Heft 9/10 (1991); Ders., "Wissenschaft. Krankheit, Gesellschaft Bemerkungen zur Logik der modernen Medizin", in: Schmacke (Hg.), Gestmtt'beit IInd Demokratte (Anm. 81), 3148, hier 43-45; von Uexkull/Wesiack, Theone der Htlmanmedtzin (Anm. 81), 452f. Vg!. weiterhin Troy Duster, Backdoor to EHgenics, New York/London 1990; Rifkin, Das 6totechnologische Zeitalter (Anm. 2), 15f. - Weltweit ist die Medikalisierung dennoch im Fortschreiten begriffen, was ebenfalls nicht ohne Sorge beobachtet wird. Erklartes Ziel der Weltgesundheitorganisation ist die Globalisierung klinisch-diagnostischer Leitlinien (ICD-lO) und bestimmter sozialer Lebensformen im Sinne gesundheitlicher "Lebensqualitiit". Damit werde. so die Kritiker, der normalisierte und im Hinblick auf kommerzielle Bedurfnisse hin optimierte Mensch zum gesundheitspolitisch bevorzugten Ziel: Als Pro· dukt der herrschenden Verhaltnisse funktioniere der menschliche Korper inzwischen wie ein ansozialisierter "kleiner Staat" (O'Neill, Diejiin/f(o?per (Anm. 112), 133; vg!. Dorner, f'rdttikatwe ;/Iedizin (Anm. 113), 22: Schmidt, Gesllna'heit alJ ;/lord (Anm. J12), 272; Sigusch, Wissenschafl, f(1'tInkJe~ GesellJch1/i, 40; Jakob Tanner. ",Weisheit des Korpers' und soziale Homaostose. Physiologie und das Konzept der Selbstregulation", in: Philipp Sarasinl Jakob Tanner (Hgg.), f'hysiologte Hnd l?tdHstn'elle Gesell.IChafl Stllttien ZHr Verwis· senscb#liI:htmg des f(o?perJ im /.9. Hnd 20. /abrbHndert, Frankfurt/M. 1998, 129-169, hi er 13lf.). Die Einheitlichkeit des medizinisierten Menschen ware demzufolge keineswegs die Voraussetzung, sondern die soziale ro,geeiner naturwissenschaftlich betriebenen Medizin. 72 riickfiihren mochten. aber den alltaglichen Verstand haben sie bis dato nicht auf ihrer Seite." ll6 - Auch wenn diese Diagnose von Martin Seel mancherorts noch fur zu optimistisch gehalten werden mag. so hoffen wir doch. mit unseren Ausfiihrungen deutlich gemacht zu ha ben. daB nicht nur der alltagliche oder der kulturwissenschaftliche Verstand, sondern sogar der lebenswissenschaftliche Verstand einer soIchen Reduktion zu recht nicht folgt. Anthropologische £Zn.beziskonzq7teerweisen sich bereits inner.balbder Biologie selbst als unzulanglich. Die Vorstellung eines eindeutigen und hinreichenden biologischen Wissens des Menschen iiber den Menschen und ebenso der fachiibergreifende Orientierungsanspruch naturalistischer biologischer Positionen fUr die Kulturwissenschaften kann mit guten Griinden zuriickgewiesen werden. Angesichts des Umstands. daB der Mensch wohl das komplexeste Untersuchungsobjekt des Menschen ist, lost sich das Eindeutigkeitsversprechen des neuen Naturalismus in Unterkomplexitat auf. Jeder Methodenmonismus muB an diesem Untersuchungsobjekt scheitern. und er tut dies bereits im Angesicht der Biowissenschaften selbst. Diese gehen multidimensionalen Zusammenhangen in ihrem Gegenstandsbereich auf Grundlage eines methodischen Pluralismus nach. Die geisteswissenschaftliche Angst. im Kampf der Wissenschaftskulturen die eigene Fortpflanzungsfiihigkeit einzubiiBen. ist unbegriindet. Genuin geistes- und kulturwissenschaftliche Ansatze sind weiterhin unumganglich. urn dabei mitzuhelfen. die Sphare des Intentionalen. der kulturellen Handlungen und Selbstverstandnisse des Menschen zu erforschen. Zu diesen selbst gehort wiederum der neue Naturalismus als eine kulturelle Sinnkonstruktion in Abhangigkeit von kontingenten historischenJRahmenbedingungen. Auf eine hermeneutische Analyse gerade solcher Konstruktionen des Menschen und der Natur wird man auch in Zukunft nicht verzichten konnen. oh ne and ern falls Gefahr zu laufen. eine entscheidende erkenntnisfordernde Perspektive einzubiiBen. Die Zeit fUr eindeutige Antworten und Losungen komplexer Zusammenhange des menschlichen Lebens ist nicht nur noc.b nicht gekommen. sie wird nie kommen. Ein Mangel an Sinnsonderangeboten naturalistischer Provenienz wird dabei wohl nicht zu befiirchten sein. wer aber mit den neuen Naturalisten auf den jiingsten Tag der Eindeutigkeit wartet. wartet vergebens. 116 See!. J(apnden des J(onJtmktlvismus (Anm. 7). 51.