Zuerst ersch. in : Die List der Gene : Strategeme eines neuen Menschen / hrsg. von Bernhard Kleeberg ... - Tübingen : Narr,
2001. - S. 21-72. - (Literatur und Anthropologie ; 11). - ISBN 3-8233-5710-7
Bern/;ard%Ieeberg / Tttmann Waiter
Der mehrdimensionale Mensch
Zum Verhaltnis von Biologie und kultureller Entwicklung1
Mit der Entschliisselung des menschlichen Genoms gewinnt die Idee der
"Biologie als Leitwissenschaft" erneut an Gewicht. Damit scheint auch eine
Konjunktur naturalistischer Wesensbestimmungen des Menschen einherzugehen. Vermehrt wird auf Genetik und Evolutionsbiologie verwiesen, die
allein den Zugang zum Verstandnis des Menschen und seiner Kultur eroffneten: Nur sie lieferten ein eindeutiges und fortschreitendes Wissen iiber
das If-as des Menschen und das f,f:7i'e seiner Entstehung - eine Ansicht! die
wir im folgenden als netlen Nattlrttiismtls bezeichnen. Aber ist dem Menschen ein VorversUindnis seiner Natur nicht immer schon und auf verschiedene Weisen gegeben? Gibt es nicht alternative Bestimmungen des
Menschen in anderen Wissensgebieten? Im Rahmen des Denkstils des neuen
Naturalismus werden diese Fragen verneint: Die Erforschung der conditt'o
IJtlmana obJiege allein der Biologie. Ein Grund dafiir mag in der seit dem
ausgehenden 19. Jahrhundert zum Topos gewordenen Unterstellung Jiegen,
daB es sich bei alien Gegnern einer rein evolutionstheoretischen Bestimmung des Menschen urn Kreationisten handeln miisse: AuBerhalb der
Alternative Evolution oder Schopfung erscheint keine Bestimmung des
Menschen denkbar. Diese Dichotomisierung geht vielfach mit dem Vorwurf seitens der Vertreter evolutionsbiologischer Position en einher, der
Mensch stelle sich zu Unrecht in das Zentrum der Natur. Angesichts des
Ganzen der Natur und ihrer Evolution sei er aber nur ein kleiner und unbedeutender Organism us.
DaB dieser Vorwurf freilich in erleen
- wer sollte sich sinnvoll mit Mensch und Natur auseinandersetzen, wenn
Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS)
URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-233703
Fur ausfiihrliche Kritik und Anregungen danken wir Ruth und Dieter Groh. Wolfgang
Enard. Wolfgang Friedlmeier. Amrei Onnasch sowie Ingrid Wurst. Unser besonderer
Dank fUr die vielen Muhen der Literaturbeschaffung geht an Silke Armbruster. Anna
Doyle und Franziska Zahn. Die AbsGhnitte Ibis 7 des vorliegenden Texts abzuglich der
AusfUhrungen zum psychosomatischen Zeichenmodell stammen von Bernhard Kleeberg
unter Mitarbeit von Tilmann Waiter. die Abschnitte 8 und 9 von Tilmann Waiter. Selbst·
verstandlich zeichnen beide Autoren ftir den gesamten Text verantwortlich.
22
nicht der Mensch selbst? - wird nicht erkannt.2 Kurioser Weise teilen Vertreter des neuen Naturalismus und schOpfungstheologischer Argumentationen allerdings einen Fortschrittsoptimismus, der sich auf Seiten der
NaturaIisten in Prognosen tiber das notwendige und unausweichliche Fortschreiten der neuzeitlichen Wissenschaften zu einer "Einheit des Wissens"
niederschlagt. Eine Auffassung, hinter der der Glaube an einen linearen
ProzeB naturwissenschaftlicher Wissensakkumulation steht.3 Dieser jetzt
wieder vehement vertretene Standpunkt bleibt nicht ohne Auswirkungen
auf das Menschenbild. Vor kurzem erregte der Edinburgher Biologe Austin
Smith Aufsehen, als sich herausstellte, daB sein 1993 erteiltes Patent zur
Herstellung transgener Tiere die Herstellung transgener Afenschen nicht
explizit ausschloB. Zu seiner Verteidigung betonte er: "Bis 1998 muBte niemand eigens darauf hingewiesen werden, daB mit Tieren keine Menschen
gemeint sind. "4 Es scheint, als ha be sich unbemerkt ein Wandel des Menschenbildes vollzogen.
Zum Problem der Dichotomisierung in Evolutionsgegner und -befiirworter, die beson·
ders die nordamerikanische Debatte pragt, vg!. Thomas Nagel. me Last Word, New
York/Oxford. 1997. 133. Hierzu vgl. auch Jeremy Rifkin, Das biotecbnologisc/;e Zeitaltcr.
Die Geschifie mit der Genetik, Miinchen 1998, 15: Skeptiker wiirden pauschal als "Maschinenstiirmer, Vitalisten, Angstmacher und Fundamentalisten" bezeichnet. Ein gutes
Beispiel fUr diese Art der Dichotomisierung liefert Daniel C. Dennet!, Darwins Dan·
gerofls Idea: Evolution and tbe meanings 0/Lift, New York 1995. dt.: Darwins g/ffohrlIches
Erhe. Die Evolfltton flndder Sinn des Lehens, Hamburg 1997, bes. 17-24. Seine Gegner be·
zichtigt Dennett, eine "postdarwinistische Konterrevolution" voranzutreiben (84). Vor
die Alte"rnative Kreationismus vs. Evolutionstheorie sieht man sich selbst in ansonsten
ausgewogenen und informativen Studien gestellt, wie etwa in Andreas Paul, Vim Affen
Imd;f;fenschen. VerhaltensblologiederFnmaten, Darmstadt 1998, VII.
Wohl der prominenteste Vertreter dieser Denkfigur ist Edward O. Wilson, Consilec~
The Unityo/f(nowledge, New York 1998 (dt.: D;eEinhettdes Wissens, Berlin 1998). Wilson
bezeichnet seine Position als "scientific holism" (85). Diese Idee flndet sich bereits in
seiner mittlerweile klassischen Schrift Socioblology. me new syntheJ'is, Cambridge (Mass.)
1975: "Sociology and the other social sciences, as well as the humanities, are the last
branches of biology waiting to be included in the Modern Synthesis. One of the functions
of sociobiology, then, is to reformulate the foundations of the social sciences in a way that
draws these subjects into the Modern Synthesis. Whether the social sciences can be truly
biologicized in this fashion remains to be seen" (4). Vg!. dazu den Beitrag von Tilmann
Waiter im vorliegenden Band. Eine vergleichbare Position in Ankniipfung besonders an
Richard Dawkins vertritt Dennett, Darwins gefihrlIches Erbe (Anm. 2). Ken Wilbur geht
,r..-/d&4g~(:.>j'"I
O£C f---eTSOOTlllng van wt?is!:eit "net W/sse?t, Frankfurt/M.
)l)!)13, noch elnen Schrltt weiter und visioniert ein neues Zeitalter, in dem Naturwissen·
in /W".:'Qwrfc,(~l
schaft und "tiefe Wissenschaft" (263) - die Erleuchtung aus dem Osten - vereint die
Grundlagen einer gliicklichen Menschheit bilden.
,,!ch bin der erste, der offen iiber unsere Vision spricht", Interview mit Austin Smith, in:
h't1nkforterAIlgememe Zetilmg Nr. 123, 27. 5. 2000, 43.
23
Ludwig Fleck hat es als den "charakteristischen Fehler" der Geisteswis·
senschaften bezeichnet. angesichts der Erkenntnisse der Naturwissenschaf.
ten in allzu grofiem Respekt zu versinken. 5 In diesem Sinne wollen wir die
jiingsten Erkenntnisfortschritte der Humangenetik als Chance und als
Anregung aufnehmen. aktueIle Ansatze in den Biowissenschaften zu disku·
tieren. soweit sie mit ihren Aussagen iiber das Wesen des Menschen und der
menschlichen Kultur fachiibergreifende Orientierungsanspriiche anmelden.
Wir wollen den Versuch unternehmen. einen Einblick in zentrale biologische Positionen innerhalb dieser Debatte zu vermitteln und mit Hilfe eines
wissenschaftstheoretischen. wissenschaftshistorischen und sprachphilosophischen Instrumentariums zur konstruktiv-kritischen Einschiitz,mg solcher Argumente zu gel an gen. Ausgehend von einer einleitenden Stellungnahme zur Diskussion urn Naturalismus od er Konstruktivismus werden
verschiedene lebenswissenschaftliche Positionen auf ihren Anspruch auf
Eindeutigkeit hin untersucht. Dabei zeigt sich. daB diese vom neuen Naturalismus viel beschworene Eindeutigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse lediglich ein Postulat darstellt. denn das empirische Datenmaterial
erlaubt eine Vielzahl von lnterpretationen und SchluBfo!gerungen iiber das
Verhaltnis der bio!ogischen Ausstattung des Menschen zu seinem
sozioku!turellen Handeln und seinem Selbstverstandnis. Und mehr noch:
Die Suggestion einer endlich erreichten neuen Eindeutigkeit erweist sich
bereits mit Blick auf den Forschungsstand innerbal6 der Biowissenschaften
selbst als starker konstruiert. als den neuen Naturalisten lieb sein mag. Tatsachlich haben sich auf methodischer Ebene und im Objektbereich !angst
pluralistische Ansatze durchgesetzt.
lm ersten Abschnitt nehmen wir zunachst eine erkenntnis· und wissenschaftstheoretische Positionsbestimmung vor. die urn die Problemkornplexe
Konstruktivismus/Naturalismus und sinnhafte/sinnferne Natur kreist.
Davon ausgehend werden evolutionare Einheitsvorstellungen und Eindeutigkeitsannahmen der Verhaltensgenetik zum Thema gemacht. urn diese
anschlieBend rnit mebrdimeasional verfahrenden Erklarungsansatzen der
eigenen Disziplinen zu konfrontieren. Den Naturalisierungstendenzen. wie
sie in der Zuriickfiihrung des Menschen. seiner Kultur und Geschichte auf
Lebenszusammenhange und Evolution nichtmenschlicher Lebewesen
auszurnachen sind. werden folglich nicht-reduktive ModelIe aus denjenigen
angewandten Lebenswissenschaften gegeniibergesteIlt. fUr die der eigenstandige Charakter des Menschen konstitutiv ist und die den diversen Fragestellungen nach dem Menschen jeweils eigene Methoden zuordnen. Die Vie!-
5
Ludwig Fleck. £ntsteh"ng ttnd£ntwtckbtng einer wissenschaJibchen 7dtSdChe: £tl?/ilhrtl7tg in
die Lehre vom Denkstt/;mdDmkkollektiv. Frankfurt/M. 1993. 54.
24
zahl unterschiedlicher Diskussionsstrange innerhalb der besprochenen Kontexte lieB es uns dabei angemessen erscheinen, inhaltliche Fortftihrungen zu
einzelnen Teilaspekten in einem weitraumigen FuBnotenapparat naher darzustellen.
1. Sinnhaft konstruierte Natur
Die Rolle des Hauptgegners des neuen Naturalismus hat der "postmoderne
Relativismus" iibernommen, wie er nach Ansicht einiger Naturwissenschaftler namentlich innerhalb der Kultur- und Geisteswissenschaften
vertreten wird. Der Unmut richtet sich in erster Linie gegen die Idee der
kultJlrelien Konstruktion der Wirklichkeit, die mit der Leugnung der
RealiUit der AuBenwelt verwechselt und in jeglicher Form abgelehnt wird. 6
Nun meint die Idee def kulturellen Konstruktion von Wirklichkeit in ihrer
urspriinglichen durch Peter Berger und Thomas Luckmann formulierten
Fassung zunachst nur, daB die menschliche Erfahrung der Welt durch
soziale Umfelder g..:pnigt wird, nicht aber, daB auBer sozialen Konstrukten
nichts existiert. 7 Oder wie Martin Seel es formuliert: "DaB wir die von uns
erzeugten Begriffe verwenden miissen, urn etwas in seinem Sosein zu
erkennen, bedeutet nicht, dieses Sein selbst sei ein Erzeugnis unserer Begriffe" - vielmehr greifen die beteiligten Begriffe nur, "wenn ihnen sachlich
etwas entgegenkommt."8 Selbstverstandlich gibt es keine umfassende Plastizitat der Realitat, Menschen konnen nicht beliebig iiber die Realitat verftigen, auch wenn ihr Realitatsbtldkulturell geformt ist. Mitgemeint ist hier
durchaus auch das Realitatsbild der Naturwissenschaften, denn diese sind als
menschliche Praxis zur Erkenntnis der Gegenstande der Realitat kulturell
konstruiert.
6
Stellvertretend fUr diese Kritik kann hier auf Wilson, Consllience (Anm. 3), 40-44, verwiesen werden, der von einem antiaufklarerischen .. postmodernen Solipsismus" spricht, der
die Geistes- und Sozialwlssenschaften prage.
Peter L. Berger/Thomas Luckmann, DIe geselhchttjiliche f(on5tTtlktIOn der WirklicMell,
Frankfurt/M. 1970; vgl. Ian Hacking, 7k Social ConstTtlction 0/ W1.Jatr. Cambridge
(Mass.)/London 1999, 24-26 (dt.: Wds ilei/lt sozktle f(onstrllktion/ ZII7' f(ol'9itnktllr einer
f(ampfookailel In den It''issensdttjien, Frankfurt/M. 1999); vg!. auch Ders., Elnjliilrllng in
dIe Pili/osopilie der NatllrztJissenscilajien, Stuttgart 1996. John R. Searie, DIe f(onstrllktion
der geselIJCilq/illi:ilen Wirkhc-Meu, Reinbek 1997, bezeichnet die soziale Welt als Produkt
kol1ektiver Praktiken, der die nicht -konstruierte, von den Naturwissenschaften thematisierte Wirklichkeit gegeniibersteht. Einen pragnanten Uberblick zur Frage des Konstruktivismus gibt Martin Seel, "Kapriolen des Konstruktivismus". in: Jlferkllr 55, (Januar 2001).
51-57. an dem wir unshier orientieren.
See!, f(apnolen des f(onstTtlktiv:smlls (Anm. 7), 54[,
25
Es ist fUr den vorliegenden Zusammenhang also von zentraler Bedeutung, die analytische Differenz zwischen der thoretisclxn und der
O-o/ektebene, zwischen 8egr£fund Gegenstandzu betonen, wie lan Hacking
angemahnt hat. 9 Die Gegenstande der Naturwissenschaften bestehen offenkundig unabhangig von kulturellen Praktiken und von ihrer Erkenntnis,
nicht aber ihre Beurteilung und Klassifikation. In diesem Sinne verwerfen
gemaBigt konstruktivistische Ansatze die Vorstellung einer objektiven
Realitat im Sinne einer direkt zuganglichen Au13enwelt. Auch naturalistische Gegenpositionen stehen demzufolge innerhalb eines universalen
anthropozentrischen Zirkels - ihre vielfach hypostasierte "objektive" Realitat ist eine eingeschrankte, sie ist kulturelI vermittelt und damit nocwendig
perspektivisch.lO
Dies bedeutet allerdings keineswegs, einem erkenntnistheoretischen
Relativismus das Wort zu reden. Auf Basis eines solchen tbeoretisc/;en Konstruktivismus ll geht man davon aus, daB die Erkenntnisse naturwissenschaftlicher Klassifikationen nicht auf ihre Untersuchungsgegenstande zuriickwirken. Vielmehr bleiben die Objekte unverandert und konnen sich
ihrerseits bestimmten ErkIarungsansatzen gegeniiber widerstandig verhal-
10
11
Hacking. Social Constrllction (Anm.7). 14. 21f. Mit ..Ideen" meint Hacking das Medium
(Begriffe. Theorien). durch das die Konstruktion erfolgt. Die Idee schafft Tatsachen. die
nur im Zusammenhang mit ihr existieren: vg!. See!. /{ajJnolen des /{onstTllktivismlls
(Anm. 7). 52. Peter Janich. "Kritik des Informationsbegriffes in der Genetik". in: ]beor)' in
8iosciences 118 (1999), 66-84, vermerkt kritisch. Objekt und Theorieebene wtirden in der
biologischen Theorie generell nicht ausreichend getrennt. Dies zeige si ch besonders bei
der Verwendung des Adjektivs "biologisch", das si ch eigentlich auf die wt.fJ'em,haji VOlll
Leben bezieht. miBverstandlich aber auch "Belebtes" bezeichnen soli. z.B. Prozesse in
"biologischen Systemen" oder .. biologische Informationen". Diese terminologische Ungenauigkeit zieht Fehler in der Theoriebildung nach sich, aus denen sich eine .. konsequente
Form des Naturalismus" ergebe (81).
Die Ansicht. daB eine einzelne Person tiber Wahrheit oder Falschheit einer Aussage ent·
scheiden k6nne. ist spatestens durch Wittgensteins Privatsprachenargument widerlegt
worden (Ludwig Wittgenstein ...Philosophische Untersuchungen". in: Ders .. Werk:tllsgabe
Bd. I. Frankfurt/M. 7. Auf1. 1990. 225-580. hier: I, §§ 243ff.. 360ff.). Gabe es allerdings
nur zwei Menschen auf dieser Welt. so ware selbstverstandlich deren gemeinsam
festgestellte Wahrheit die einzige fUr sie - in diesem Fall: die Menschheit handlungsrelevante. Dies galte auch. wenn wir ihre Einschiitzung aufgrund wissenschaftli·
cher Erkenntnisse vielleicht nicht teilen wtirden. Zur Begrtindung eines solchen "epistemischen Anthropozentrismus" vg!. ausftihrlich Ruth GrohiDieter Groh, .. Natur als Ma13·
stab - eine Kopfgeburt". in: Dies., Die Alllenzeelt der Innenwelt. ZII?' /{ultlllgeschichte der
Natll?' 2. Frankfurt/M. 1996. 83-146.
Vg!. Hacking, Social Constrltctton (Anm. 7). 31f. Hacking unterscheidet den theoretischen
vom interaktiven /{onstrllktivismus der Klassillkationen der Sozialwissenschaften. der auf
seinen Gegenstandsbereich zurtick wirkt.
26
ten.1Z Ober die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage iiber die Welt kann
aUerdings in letzter Instanz nur im Rahmen einer (Wissenschafts-)Praxis
entschieden werden. die sinnvolle Beurteilungskriterien fUr empirische
Daten bereitstellt und aufgrund historischer Umstande als soziale Praxis
kontingent entstanden iSt. 13 Was im Rahmen einer solchen Praxis fUr wabr
od er filscl; befunden wird. kann aufgrund von pragmatischen und handlungsrelevanten Oberlegungen entschieden werden. ohne daB ein direkter
Zugang zu einer objektiven Realitat vonnoten ware. Selbstverstandlich
muBten und miissen sich aber auch sozial konstruierte Weltzugange kultureIl. ja teilweise gar evolutionar bewahren.
Als paradigmatisch fUr die hier benannte Art der Kritik an einem .. postmodern en" Relativismus und Konstruktivismus konnen die Ausfiihrungen
von Alan Sokal und Jean Bricmont gelten. auf die sich Anhanger naturalistischer Positionen seit Sokals fulminanter wissenschaftlicher Parodie mit
dem Titel .. Die Grenzen iiberschreiten: Auf dem Weg zu einer transform ativen Hermeneutik der Quantengravitation" gerne berufen. 14 Selbst wenn
Bei der Oberwindung eines erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Dualismus setzt auch
die konstruk tive Wissenschaftstheorie an. indem sie wissenschaftliche Gegenstande als
Produkte einer teleologischen menschlichen Handlungspraxis versteht: vg!. mit ausfiihrlichen Literaturhinweisen Carl Friedrich Gethmann. "Wissenschaftstheorie. konstruktive". in: Jiirgen MittelstraB (Hg.). Enzyklopddie Fhi!osopbie Itnd Wissenscbafistbeone. Bd. 4.
Stuttgart/Weimar 1996. 746-758.
13 Hacking. Social Constrllctton (Anm. 7), 19-21. Hacking unterscheidet hier verschiedene
Grade des Konstruktivismus: historisch. ironisch, ref ormistisch/entlarvend, rebellisch.
revolutj.onar. Die schwachste Variante ist der oben gemeinte historische Konstruktivismus.
14 Vg!. Alan Sokal. "Transgressing the Boundaries - Toward a Transformative Hermeneutics
of Quantum Gravity". in: Soctal Text 46/47 (1996). 217-252; erneut in: Alan Sokal/Jean
Bricmont. Eleganter Unsmn. Wle dte Denker der Fbstmodeme cite Wissensch:rfien
mi/lbrallcben. Miinchen 1999. 262-309; vg!. zustimmend die Rezension von Richard
Dawkins. "Postmodernism disrobed", in: Nat/ITe 394 (9. 7. 1998). 141-143. Dawkins
spricht von "fashionable French ,intellectuals'" als "intellectual impostors with nothing to
say. but with strong ambitions to suceed in academic life" (141). Eine zuriickhaltende Zustimmung findet sich bei Steven Weinberg, "Sokals Experiment", in: fiferkllr I (Januar
1997).30-40. Die Hauptmotivation Sokals und Bricmonts liegt la ut eigener Aussage darin,
die angebliche Selbstlahmung linker Gesellschaftskritik aufzuheben. die sie in deren relati·
vistischem Wahrheitsbegriff begriindet sehen. Edward O. Wilson hingegen beklagt. ein
relativistischer Wahrheitsbegriff fiihre zur GleichsteIlung und Af1irmation unterschiedlicher politischer. moralischer und sexueller Praferenzen (Wilson. Com-dtmce (Anm. 3). 41).
- DaB die KrWk SokaIs und Bricmonts an der "postrnodemen Phraseologie" umgekehrt
auch auf so manchen naturwissenschaftlichen Text zutrifft. macht der Berliner Humangenetiker Joachim Klose deutlich: "Wo geht's lang zum Paradies? Gedanken iiber das
.Buch des Lebens'''. in: Ltieratll7'en 1 J (2000). 24-29. Klose ironisiert die Oberheblichkeit
und den simplifizierenden sprachlichen Duktus innerhalb popularer naturwissenschaftli·
cher Darstel\ungen zu Erkenntnissen der Genetik. Auch dabei werden - urn mit Sokal
12
27
man Sokals und Bricmonts Kritik an "postmoderner" Vereinnahmung naturwissenschaftlicher Theorien weitgehend fUr berechtigt halten mag. legitimieren sich ihre erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen SchluBfolgerungen doch nicht von selbst. Ihre Kritik an einem radikal subjektivistischen und konstruktivistischen Wahrheitsbegriff und Wirklichkeitszugang
ist zwar teilweise berechtigt, allerdings ist ein solcher weder kennzeichnend
flir den geistes- und kulturwissenschaftlichen Zugang zur Realitat. noch besteht die einzig denkbare Alternative hierzu in dem von den Autoren vertretenen szientistischen Realismus. 15
Ein von den Autoren selbst fur zentral erachtetes Beispiel solI im folgenden einige grundlegende MiBverstandnisse von Realitatsauffassungen
illustrieren. die in die Ablehnung jeglicher konstruktivistischer Positionen
munden. Als zentrales Argument gegen die Idee der kulturellen Konstruktion der Wirklichkeit fiihren Sokal und Bricmont die Hktive Geschichte
eines Mannes an. der aus einem Harsaal rennt und aus Leibeskraften
schreit. drinnen befande sich eine stampfende Elefantenherde. Sie folgern
daraus. daB die Ursache fur diese Behauptung vorwiegend davon abhange.
"ob in dem Raum tatsachlich eine stampfende Elefantenherde is! oder genauer. da wir zugegebenermaBen keinen direkten. unmittelbaren Zugang
zur auBeren Realitat haben. ob wir oder andere bei einem (vorsichtigen!)
BIick in den Raum eine stampfende Elefantenherde sehen od er haren (oder
die Zerstarung. die eine solche Herde gerade angerichtet haben kannte.
bevor sie den Raum verlieB}."16 Ergaben die eigenen Beobachtungen aber
keine Hinweise auf Elefanten. so lautete die "plausibelste Erklarung. daB
keine trampelnde Elefantenherde im Raum war" und daB der Mann sich
alles nur in Folge einer Psychose eingebildet habe. Anhand dieser "rationalen Einstellung im Alltag". die von der Erkenntnistheorie der Wissenschaft
und Bricmont zu reden - Begriffe ohne empirische od er theoretische Fundierung verwen·
det. wird die wissenschaftliche Terminologie. die im gegebenen Zusammenhang vollig ir·
relevant ist. lediglich zum Zweck der Einschiichterung der Leser .. miBbraucht". wird
.. Gleichgiiltigkeit" und .. Verachtung" gegeniiber .. Fakten" und wissenschaftlicher .. Logik"
bewiesen (so SokallBricmont. Eleganter Unsinn. 20-23). Zur .. evolutionaren Phraseologie"
siehe unten. Anm. 58.
15 Sokal und Bricmont setzen postmoderne Philosophie. radikalen Relativismus und jegliche
Form von Konstruktivismus in eins und verwenden den Ausdruck .. Relativismus" deshalb
..zur Bezeichnung jeder Theorie I... ]. die behauptet. die Wahrheit oder Falschheit einer
Aussage hange von einer Person oder gesellschaftlichen Gruppe ab." (69) Mit Vertretern
eines radikalen Subjektivismus haben sich Sokal und Bricmont freilich den denkbar leich·
testen Gegner zum Ziel gewahlt. Zum radikalen Konstruktivismus vg!. Ulf Dettmann.
Der radtkale KonstTllktivismlls. Tiibingen 1999. der auf den FehlschluB aus der Konstrukti·
villit des Erkennens auf die durchgehende Konstruiertheit des Erkannten hinweist; vg!.
weiterhin Seel. Kaprtolen (Anm. 7). 56.
16 SokallBricmont. Eleganter Unsinn (Anm. 14). lllf.
28
lediglich "erweitert" und "verfeinert" werden miisse, zeige sich die offenkundige UberlegenheH der von ihnen vertretenen realistischen Erkenntnistheorie.
Entgegen der Betonung des "Selbstverstandlichen" und "Offenkundigen"
enthalten die von Sokal und Bricmont dargelegten Uberlegungen allerdings
zwei schwerwiegende Irrtiimer: £rstens ist das Urteil iiber den Elefantenfliichtigen mcht grundsatzlich oder in erster Linie davon abhangig, ob sich
eine solche Herde tatsachlich im Horsaal befindet, sondern davon, wie hoch
wir die ?/ausibzlitdt eines solchen Vorkommnisses einschatzen. Lassen wir
Sokals und Bricmonts Geschichte an einem spezifischen Ort spielen, der
Universitiit Konstanz beispielsweise, wobei wir beiden eine Rolle im Spiel
zuteilen. Da rennt also jemand in beschriebener Manier aus dem Horsaal.
Sokal und Bricmont gehen nun dort hinein, urn festzustellen, ob tatsachlich
eine Elefantenhorde anwesend ist. Es bestiinde die Gefahr, daB sie selbst fUr
verriickt erklart wiirden: Denn sie wollen etwas empirisch iiberpriifen, was
selbstverstandlich nicht der Fall sein kann - auch wenn es vielleicht logisch
moglich ware. Bei einem im Berliner Zoo od er in der freien Wildbahn der
Serengeti gelegenen Horsaal ware der Fall freilich anders gelagert und wir
wiirden einen entsprechenden Zwischenfall aus guten Griinden durchaus
fUr moglich halten. Anhand ihres eigenen Beispiels laBt sich also zeigen, daB
eine gesellschaftliche Praxis, die bestimmte grundlegende Einschatzungen
von Situationen bereitstellt, ausschlaggebend fiir deren Beurteilung und
somit auch fUr die Beurteilung von ursachlichen Zusammenhangen ist.
Natiirlich konnen sich solche Vorannahmen iiber die Struktur der Realitat
als falsch erweisen, im Rahmen (kulturell oder historisch) unterschiedlicher
Situationen eine unterschiedliche VerlaBIichkeit aufweisen usf. - doch sind
sie Grundlage unseres Handelns.
Der zweite Denkfehler der Autoren liegt in dem Versuch, das Problem
des Zugangs zur "objektiven Realitat" mit Hilfe der Idee der "Passung"
unseres Erkenntnisapparates auf die Wirklichkeit zu losen. 17 Dieser Ansatz
der Evolutionaren Erkenntnistheorie seit Konrad Lorenz 18 krankt daran,
daB es fUr die Idee einer Passung unseres Erkenntnisapparats auf die auBere
Realitiit keinerlei unabhangige Kriterien gibt. Es erscheint deshalb kaum
sinnvoU, die Kriterien fUr objektiv wahre Aussagen weiterhin in einer vom
Menschen unabhangigen Realitat anzusiedeln. Etwas als "wahr" oder
17
18
SokallBricmont, Eleganter UnslJm (Anm. 14),73.
Konrad Lorenz, Die J?,icksette de> Spitgels, Versllch t'lner Naturgesch;chte mensc/;/iciJen
Erkennens. Miinchen 1973; vgl. auch Gerhard Vollmer. Evollltiondre Erkenntnistheone.
AngelJorene Er1:enntmSj·trttkturen im J(ontext von ili%gie, Psyc/;ologie, Linglllstik, Philasophie
theorie", in: InformatIon PhilosophteS (1984).4-23.
29
.,falsch" zu bezeichnen. macht vielmehr nur innerhalb menschlicher
Alltags- oder Wissenschaftspraxis Sinn. Dies IaBt sich gut an hand der VorstelIung von der Nattlr aLr Text verdeutlichen. die derzeit eine Renaissance
erlebt: Ideen der "Lesbarkeit der Welt" oder der Natur als dem "Buch der
Bucher" gewinnen wieder an Plausibilitat. der genetische Bauplan wird
direkt und nicht metaphorisch als Text verstanden. man spricht von der
.. Grammatik der Biologie". der .. Rechtschreibung des Lebens". dem Genom
als .. aufgeschlagenem Buch der Gattungsgeschichte". 19 Hans Blumenberg
hat ein solches "Lesen der Welt" als den Versuch beschrieben... Lesbarkeit
dorthin zu projizieren. wo es nichts Hinterlassenes. nichts Aufgegebenes
Regibt. "20 Gemeint ist damit. daB die sinn/eme Natur mittels anlogi~cher
deweisen aus dem Bereich menschlicher Kommunikation sinn6aJi aufgeladen wird. Peter janich hat deutlich gemacht. daB eine soIche Orientierung
am AlItagsverstandnis menschlicher Kommunikation in der Biologie sowohI aus heuristischen wie rhetorfschen Grunden erfoIgt. der ErkHirungswert entsprechender bildhafter Redeweisen jedoch offen bleiben muB.21
janich zeigt dies am BeispieI der Leitmetapher der Biowissenschaften. dem
Begriff der ..Information". der mit der Entdeckung der Doppelhelix durch
james Watson und Francis Crick den der .. Maschine" abgelost hatte. 22
Vg!. beispielhaft Matt Ridley. Alphahet des Lehens. DIe Geschichtedes menschlichen Genoms.
Munchen 2000. Fur Ridley ist die Vorstellung vom "Genom als Buch" laut eigener
Aussage "strenggenommen nicht einmal eine Metapher". sondern "buchstablich wahr"
(13). In diesem vermeintlichen "Buch" (gemeint ist das Genom) gebe es Kapitel. Absatze.
Werbeanzeigen. Worter und Buchstaben (vg!. 12f.).
20 Hans Blumenberg. DIe Leshar,eelt der welt. Frankfurt/M. 1986. 409. Dies verrate. so Blumenberg weiter. "nichts als Wehmut. es dort nicht finden zu konnen. und den Versuch.
ein Verhaltnis des AIs-ob dennoch herzustellen." Vg!. auch "Wer denkt die Welt? Ein
Streitgesprach zwischen dem Philosophen Lutz Wingert und dem Hirnforscher Wolf
Singer uber den freien Will en. das moderne Menschenbild und das gestOrte VerhiiltniS
zwischen Geistes- und Naturwissenschaften", in: DIE ZEI7Nr. 50 (7.12.2000), 43f.
21 Vg!. Janich, f(riti,e des InJbrmationshegnffis (Anm. 9). 71. Zur weiteren grundsatzlichen
begriffiichen und methodologischen Kritik der Informationsmetapher in der Biologie vg!.
das Literaturverzeichnis des Aufsatzes von Janich. Den sinnfernen Charakter der Natur
ubersieht Hans-Jorg Rheinberger. wenn er von prazise arbeitenden und effizienten Aqui.
valenten zu den Schreibanalogien Lesen (DNA-Sequenzierung). Schreiben (DNA-Synthese) und Kopieren (Polymerase-Kettenreaktion) spricht: Hans-Jorg Rheinberger. "Reprasentationen der molekularen Biologie", in: Nicola Lepp/Martin Roth (Hgg.), Der nelle
Hensch. Ohsessionen des Lt? /al;rhunderts (Katalog zur Ausstellung im Deutschen HygieneMuseum Dresden vom 22. 4. bis 8. 8.1999). Ostfildern 1999. 81-89.
22 Vg!. Lily E. Kay, JP170 [Prote the Boo,e ifLiftlA History ifthe Genetic Cafe. Stanford 2000.
Dabei waren Kay zufolge "the 1950s a watershed period during which a rupture in representations of life shifted from purely material and energetic to the informational. resulted
in a molecular vision of life supplemented by an informat\~.gsW1Dlb
3. Aufi. 1981;
wurde dieses Bild der verschlusselten militarischen Nachrichtenubermittlung entnomlS
r::
30
,.Information" besitzt in der Biologie. anders als im Alltag. kein wa/;rljalscf;.
Kriterium. Urn zu entscheiden, ob eine Maschine od er ein Gen .,falsch" informiert, ist aber eine semantische Kompetenz vonnoten. die nur der
Mensch besitzt.23 Eine so1che Kompetenz hat ihren Sitz in alltaglicher
sprachlicher Kommunikation. auf der die wissenschaftliche Praxis der Biologie aufsitzt. 24 Diese wiederum fungiert als Beurteilungsinstanz fur korrek-
23
24
men. seine besondere Stol3kraft erhielt es durch extensionale Kopplung mit dem Inf orma·
tionsbegriff der Informatik: Wenn namlich natiirlich gewachsene .. Informationen" im
Buch des Lebens und technisch bereitgestellte Mbglichkeiten der Informationsverarbei·
tung riick wirkend ineinander iibersetzbar sind. dann werden ganz neuartige und bisher
ungeahnte Mbglichkeiten des Eingriffs in die Natur den,Mar. Dieses Denkmodell ermbgIichte einen gewaltigen Erkenntnisfortschritt. etwa im Rahmen des Human·Genome·
Projekts. dessen Mitarbeiterin Kay war: ..The imagery of information written in the
genomic Book of Life. which awaits reading and editing. has proved to be scientifically
productive and culturally compelling." (236) Derartige bildhafte Analogien sind also
heuristisch sinnvoll. aber es bleiben "slippery scriptural analogies" (326) Die sachliche
Gletchsetzung von Belebtem und Unbelebten. von Mensch und Tier mul3 zu
schwerwiegenden Mil3verstandnissen fiihren. Vg!. auch das Interview mit Kay. "Wer
schrieb das Buch des Lebens?" (Die Wissenschaftshistorikerin Lily E. Kay iiber Hinter·
griinde der Genomforschung). in: Ltteratllren 11 (2000): Darwin und die Gene. 40-43. Zur
Geschichte des Begriffs des "Gens" in Verbindung mit denen des .. Codes" und der ..Infor·
mation" in der Biologie sowie zur wissenschaftlichen Effizienz von Metaphern vg!.
Evelyn Fox Keller. Das !.ehen nett Denhen. kfe/aphern der .8tOlogle tin 20. jahrhttndert,
Miinchen 1998, 36-40, 67-70. 96-99 (.. Code"); 107-116 (Information und Kybernetik).
121-136 (zur Verwendung und Verbreitung der Informationsmetapher in der Molekularund Entwicklungsbiologie). Zur mbglichen Verabschiedung des Genbegriffs vg!. neuerdings auch Dies.. '7l7e Centttry 0/ the Gene, Cambridge (Mass.)/London 2000. Vg!.
weiterhin Richard Doyle. On IJeyond Livtng: Rethorics 0/ Vitality and Fost Vitality In
kfdemlar IJiology. Palo Alto (Calif.) 1997.
Vgl.Janich. fi.?ittkdesln/ormationshegrtj1i(Anm. 9). 76.
Vgl.Friedrich Kambartel, .. Versuch iiber das Verstehen", in: Brian McGuinness u.a .. »Der
Liiwe spnchl." ttnd wir honnen tlm mcht verstehen. " Ein Symposion an der Universitiit
Frankfurt anlal3lich des hundertsten Geburtstages von Ludwig Wittgenstein.
Frankfurt/M. 1991. 121-137. Kambartel expliziert hier im Anschlul3 an Wittgensteins
Satz .. Wenn ein Lbwe sprechen kbnnte. wir kbnnten ihn nicht verstehen." fFhilosophische
Unle7sttchttngen (Anm. 10). hier: n. xi. 568) ein hermeneutisches gegeniiber einem (rein)
funktionalen Sprachverstandnis: "Es reicht nicht. dal3 jemand lediglich Sdtze ttmerer
Sprache spnch. wenn wir ihn verstehen wollen. Es mul3 uns am Ende eine gemeinsame
prahtische Einbettung dieser Satze gelingen. Wo dies nicht der Fall ist, bleibt uns der blol3e
Sprecher fremd. undurchsichtig wie der sprechende Lbwe der Bemerkung in
Wittgensteins Fhilosophschen Unters/lchtmgen." (124) Selbstverstandlich handelt es sich bei
dem .. Buch der Natur" um ein Buch "berdie Natur ...geschrieben von Biologen in einer
Sprache, die durch die Methoden und Begriffe ihrer Wissenschaft gepragt ist", betonen
Jost Herbig und Rainer Hohlfeld im Vorwort zu: Dies. (Hgg.). Dte Zl£Jeite ScLVpJitng. Get'st
find UngeistderIJIOlogtedes.i!? ja6r6ttndert.r. Miinchen/Wien 1990,9-16, hier 9. Weiter
heil3t es: .. Der experimentelle Dialog mit der Natur, den die moderne Wissenschaft
entdeckte. beruht weniger auf passiver Beobachtung als vielmehr auf praktischer
Tatigkeit." (IO); dazu vg!. auch Robert P. Crease. "Hermeneutics and the natural sciences:
31
te biologische Aussagen uber die Natur des Menschen. Als historisch gewachsene und in diesem Sinne sozial konstruierte Forschungspraxis unterliegen auch ihre Beurteilungsma13sUibe fUr empirische Daten der Gefahr
perspektivischer Verzerrung. Eine soIche Verzerrung liegt mit dem Behar·
ren auf einem rein evolutionaren Blickwinkel auf den Menschen vor, der
im folgenden diskutiert wird.
2. Konstruierte Einheitlichkeit: Evolution
AIs Folge des beklagten "postmodernen Relativismus" fur die Wissenschaften vom Menschen machen Naturalisten eine Inhomogenitat des
anthropologischen Diskurses aus, die durch einen neuen Gesamtentwurf
des Menschen uberwunden werden soIl. Da dem vereinheitlichenden Prinzip evolutionarer Erklarungen prinzipieIl nichts entzogen sei, eigne sich die
Evolution zum universalen und verbindlichen Paradigma allerWissenschaften.25 So zeichnen sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Reaktion auf die
kulturanthropologisch bewirkte Ausdifferenzierung der anthropologischen
Disziplinen im Zuge der kulturalistischen Wende seit den sechziger Jahren
erneut Entwurfe einer Gesamtanthropologie ab. Z6 Diese Entwurfe reichen
von der Wiederaufnahme traditioneIler Formeln des Menschen als Saugetier
od er als kompensierendem Mangelwesen bis hin zu aktualisierten Fassungen des "vorprogrammierten" Menschen oder des Menschen als "Uberlebensmaschine" fur seine GeneY Mit der Wesensbestimmung des Menschen
25
26
27
Introduction". in: Ders. (Hg.): Hemzeneutlcs and the Natura/Sciences, Dordrecht u.a. 1997,
1-12; Hacking, P/;i/osofJ/;teder NattnWissensc/;afien (Anm. 7). 10.
Auf solche umfassenden Erkliirungsanspruche in einem vergleichbaren Kontext haben
bereits kritisch hingewiesen: Gerd H. H6velmann, "Sprachkritische Bemerkungen zur
evolutioniiren Erkenntnistheorie". in: 2eitsciJri/i for ai/gememeine Wissensckfist/;eone 15
(1984). 92-121. und Gunther P61tner, Evo/utiontire Vernuo/t. Eine Auseinandersetztmg mtt
der Evo/utiontiren Erkenntmst/;eone. Stuttgart u.a. 1993.
In iihnlicher Weise hatte sich die Philosophische Anthropologie als Globaldisziplin in
Reaktion auf die Ausdifferenzierung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert zu etablieren
versucht. Zur Pluralisierung der Menschenbilder vg!. jungst Achim Barsch/Peter M. Hejl.
"Zur Verweltlichung und Pluralisierung des Menschenbildes im 19. Jahrhundert: Ein·
leitung". in: Dies. (Hgg.). Alensc/;enbtlde?: 2ur P/ura/islerung der f/orste//lmg von der
menscNic/;en Natur(/350-/9/4). Frankfurt/M. 2000, 7-90.
lrenaus Eibl· Eibesfeld. Der votprogrammterte Alenscb. Das Ererbte air /;esttinmendn- Faktor
in menscNic/;em Ver/;a/ten. Wien 1973; Edward 0. Wilson. "Biology and the Social
Sciences". in: Daeda/us (1977). 127-140; Ders.. On Human Natllre. Cambridge (Mass.)
1978. dt.: 8i%gie ah Sc/;icksaL Dte sozio/;i%gisc/;en Gmndlagen mensc/;/ic/;en Ver/;a/tens.
Frankfurt/M. u.a. 1980; Richard Dawkins. me Se!fis/; Gene. Oxford 1976 (dt.: Das
egoistisc/;e Gen. Berlin u.a. 1978): Ders .. 71::e Extended P/;eno!)1Je 71::e Gene as t/;e Umt o/Se-
32
als Maschine wird dabei die "Teilwirklichkeit der biologischen Maschinerie"28 mit dem ganzen Menschen gleichgesetzt. so daB auch die Utopien der
Robotik oder des reparablen Menschen an PlausibilWit gewinnen. 29 Gemeinsam ist soIchen eindimensionalen anthropologischen Entwurfen. daB
sie den konstruktiven und metaphorischen Charakter ihrer Menschenbilder
nicht erkennen oder ihn sogar explizit zuruckweisen: Sie treten als anthropologische Wesensbestimmungen in Erscheinung. die den Anspruch erheben. notwendige und hinreichende Bedingungen dessen zu sein. was der
leetion. Oxford 1982; DeI's .. ?be blind watcbmaker. Harlow 1986 (dt.: Der hlime
Uhrmacw. Ein nelles Flddop/lir den DalWlnismlls. Miinchen 1987); DeI's .. Rwer Ollt 0/
Eden. A Darwinian View o/Iifi. New York 1995; DeI's .. Unweavlng the Ralnhow. Sdence;
Detlmon andtheApperitefor Wonder. Boston/New York 1998. - Die Ansicht, daB sich die
Herangehensweise del' Soziobiologie seit Erscheinen von Wilsons Standardwerk Socio·
lJiology (Anm. 3) zunehmend in den Medien durchgesetzt habe und heute triumphiere.
vertritt die Wissenschaftssoziologin UlIica Segerstale. Dr:fenders o/the Trllth ?be 8attlefor
Sdence!n the SOClohlOlogy Dehate and 8eyone/, New York 2000; vg!. Alison Jolly, .. Battle·
field Sociobiology". in: Science 288 (23. 6. 2000), 2137. Segerstale unterschatzt in ihrem
Fazit, laut dem die Soziobiologie aUe Gegenargumente iiberdauert ha be. allerdings die Be·
deutung del' mittlerweile fast schon als "klassisch" zu bezeichnenden Einwande gegen den
soziobiologischen Panadaptionismus (vg!. Steven Jay Gould/Richard C. Lewontin...The
Spandrels of San Marco and the Panglossian Paradigm: A Critique of the Adaptationist
Programme". in: Elliott Sober (Hg.). Concept/ldllssues In Evollltionary 8iology. An Antho·
logy. Cambridge (Mass.)/London 1984. 252-270). Eine grundlegende Kritik del'
Soziobiologie findet si ch bei Philip Kitcher. Valllting Amhillon: SociolJiology and the Quest
/01' Hllman Nature. Cambridge (Mass.) 1985. DaB die Soziobiologie mittlerweile selbst
zum Opfer del' von ihren Protagonist en beklagten .. postmodernen ZerspIitterung" geworden ist, beweist das Beispiel von Wilsons Schiilerin Sarah Blaffer Hrdy. In ihrem Buch
Nt,/?7~
Natm: Die wei!;liche Seite der Evolllt!on. Berlin 2000. versucht sie eine soziobiologi·
sche Untermauerung gangiger }emlnistiscw Argumentationen. Sie selbst sieht sich damit
als Pionionierin eines neuerdings zeitgemaBen ..soziobiologischen Feminismus". Hrdy betrachtet ihre Position gegeniiber friiheren verhaltensbiologischen Ansichten iiber die
weibIiche Natur hierbei als ..frei von VorurteiIen" (563). Ahnlich argumentiert Helen
Fisher. Das starke CesclJlecht U;,e eLlS weiNicIJe Denken tite ZlIkulli verdndem wire/, Miinchen 2000. Fiir beide Autorinnen. die sich mit ihren Ver6ffentlichungen fiir explizit tages·
politische Ziele stark machen. sind lJiologiscbe und nicht kultureIle Faktoren im Hinblick
auf die geseUschaftlichc Gleichstellung del' Frau ausschlaggebend. - Gegen die soziobiologische Verkiirzung des Menschen wandte sich bereits kurz nach Erscheinen von Wilsons
SOClolJiology kritisch Marshall Sahlins. ?be Use and Ahllse 0/8iology. An Antm'opological
CniitJlle o/SoaolJiology. Ann Arbor. 5. Auf1. 1977; vg!. weiterhin Hansj6rg Hemminger,
Der fifensch - e!ne fifanonette der Evollltlon/ Eine /(rftik an der Sozlohiologie. Frankfurt/M.
1983; Hans-Walter Leonhard. "Diktat del' Gene? Eine Kritik del' Soziobiologie". in: G.
Fischer/M. W6lfingseder (Hgg.), 8iologismlls, RassismNs, Natlonalismll5- /(ecIJte /deologien
im Vormarscb, Wien 1995. 37-52.
28 Herbig/Hohlfeld. Dlezwe!teScbo/J}img(Anm. 24). Vorwort.14f.
29 Vg!. Rudolf Drux (Hg.). Der Frankenste!n·j(omplet.: /(lIltmgeschicbtltcheAspektede.r Traltlm
vom k,tnstltchen fifenschen. Frankfurt/M. 1999; vg!. dazu auch den Beitrag von Fabio
Crivellari im vorliegenden Band.
33
Mensch ist. 30 Es scheint, als geniige dazu ein thetischer Verweis auf rnutrnaBliche Einzelheiten der evolutionaren Vergangenheit bzw. auf die bloBe
Tatsache, d4/'der Mensch eine Gattungsgeschichte besitzt. Den Hinweis auf
die kulturelle Konstruktion atlc6 der korperlichen Seite des Menschen
ersetzt hier die Betonung der korperlichen Bedingtheit atlc6 kultureller
Konstruktionen.
3. Konstruierte Eindeutigkeit: Verhalten
Das gattungsgeschichtliche Erbe des Menschen, das sich in seiner g~notypi
schen Struktur niederschlagt, reicht nicht aus, urn den soziokulturellen
Spielraurn seines intentionalen Handelns hinreichend zu bestirnrnen. Die
weitreichenden analytischen und therapeutischen Versprechungen. die die
Verhaltensgenetik zwischen der Mitte der achtziger und der neunziger
Jahre hinsichtlich der genetischen Bedingtheit von InteIligenz, der Veranlagung zu Verbrechen 31 , hornosexueIlern Verhalten 3Z oder gar Ehescheidung 33
30
31
32
Der Biologe Steven Rose, Darwlns geflihrllche Erhen. Biologie jenseits der egoistiscben Gene,
Miinchen 2000 (orig. Li/i-l,neJ. BiiJlogy Beyond Dete7mlnISm, New York 1998), 363,
bezeichnet soiche engftihrenden Sichtweisen des Menschen als "ultradarwinistisch": Sie
gehen davon aus, daB man Lebensprozesse mathematisch linear beschreiben kbnne,
Morphologie und Physiologie lebender Organism en immer auf Anpassungen zuriickgingen und somit die Soziobiologie die Welt erschiipfend erkHiren kbnne. Demgegeniiber
betont Rose die Notwendigkeit eines methodischen Pluralismus bereits Innerhalh der
Biologie und ihren Teilfachem Physiologie, Ethologie, Entwicklungsbiologie, Evolutions·
theorie und Molekularbiologie. Gegen die Idee methodologischer Einheit innerhalb der
Natur.vissenschaften verwehrt sich auch Ernst Mayr, Das ist BiiJlogle. Die IPissenscba/i des
Lehens, Heidelberg 1998, 65. Zu Fragen des Reduktionismus, Adaptionismus/Exaptationismus und des evolutionaren Fortschritts vg!. neuerdings: jeremy C. Ahouse, "The
Tragedy of a ;Jnon Selection ism: Dennett and Gould on Adaptionism", in: BIO/ogy rind
Philosophy 13 (1998), 359-391.
VgL lames Q. Wilson/Richard ]. Herrnstein, Cnme rind hllman nrl!lIre 77:;e Drjini!ive
S!IIc/y 0/ the Callses 0/ Cnme, New York 1986; Gregory Bockl jamie Goode (Hgg.),
Gene!I!'S 0/ Cnmlnal and AntIsocial Behavlolll; Chichester 1996; Richard J. Herrnsteinl
Charles Murray, Tbe Bell ClI1ve' Intelligence and Class St1l1ctltre In AmerIcan lift, New
York 1994.
Die Hypothese einer genetischen Bedingtheit von Homosexualitat vertreten Simon
LeVay, "A Difference in Hypothalamic Structure between Heterosexual and Homosexual
Men", in: Science 253 (1991), 1034-1037; Ders., Tbe Sexual Bmn, Boston 1994; Robert
Poole. "Evidence for Homosexuality Gene", in: Safflce261 (1993), 291f.; Dean H. Hamer
u.a., "A Linkage between DNA Markers on the X Chromosome and Male Sexual Orientation", in: Samce 261 (1993), 321-327; Jim McKnight, St1aight Safflce.? Homosexlfality,
evollttlon and adapt/on, London/New York 1997. Demgegeniiber betont R.C. Kirk·
patrick, "The Evolution of Human Homosexual Behavior", in: Cmren! Anthropology
4113 (2000),385-413 (einschlieBlich Kommentaren und Replik des Autors), daB die gangi-
34
33
gen drei adaptionistischen Erklarungsansatze mittels (1) Verwandschaftsselektion und
parentaler Manipulation, (2) parentaler Manipulation und (3) Allianzf ormation bzw. rezi·
prokem Altruismus nicht nur aufgrund nicht ausreichender Daten, sondern auch ohne die
Einbeziehung 6kologischer und soziokultureller Faktoren keine befriedigenden Erklarun·
gen liefern k6nnten. Kirkpatricks Position liegt damit jenseits der Dichotomie von Essen·
tialismus und Konstruktivismus. Vg!. dazu weiterhin kritisch Volker Sommer, Widerdtf:
l-latHr/ HomosexHalitd't find EvolHtion, Miinchen 1990; Ders., "Natur - die Hure der
Mora!' 1st Homosexualitat widematiirlichT, in: Helmut Puff (Hg.) , LHst, Angst find
Prowkatton. Homosexllalttdt in der Gesel/schafi, G6ttingen/Ziirich 1993, 52-66; Bonnie B.
Spanier, ",Lessons' from ,Nature': Gender Ideology and Sexual Ambiguity in Biology",
in: Julia Epstein/Kristina Straub (Hgg.), 80dy G'larm. l77e Cllltlffal Politics 0/ Gender
Amhzglll/y, New York/London 1991, 329-350. - Die in den Kulturwissenschaften seit
Jahren nuanciert gefiihrte Debatte urn Essentialismus vs. Konstruktivismus beziiglich
homosexueller Identitat wird, soweit wir sehen k6nnen, in der Verhaltensforschung
bisher noch iiberhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Voreilige Schliisse von einem
falschlich fiir kulturell invariant erachteten Verhalten auf dessen genetische Grundlagen
k6nnten so freilich vermieden werden; vg!. grundlegend dazu Martin Dannecker, "Zur
Konstitution des Homosexuellen", in: Zeitschnji jiir Sexlla/forschtmg 2 (1989), 337-349;
Rolf Gindorf, "HomosexualWiten in der Geschichte der Sexualforschung", in: Ders.!
Erwin J. Haberle (Hgg.), Sexlldlitdten in Hnserer Geselhrhafi, 8eitrdge ZIIr GeschtChte,
l77eorie find Empine (Schriftenreihe Sozialwissenschaftliche Sexualforschung, Bd. 2),
Berlin/New York 1989, 9-32; Riidiger Lautmann (Hg.), Homosexllaltidt. HandhllCh Zftr
l77eone· IInd Forschfmgsgeschichte, Frankfurt/M.lNew York 1993; Riidiger Lautmann,
"Homosexualitat? Die Liebe zum eigenen Geschlecht in der modemen Konstruktion", in:
Puff (Hg.), LIIst, Angst IIndProvokation, 15-37; Edward Stein (Hg.), Forms 0/DeSIre. Sexllal
On'entatzon and the Social Constrtlctzonist ControveJ:SY, New York/London 1992. Jonathan
Ned Katz, "Die Erfindung der HeterosexuaIWit", in: Manfred Herzer (Hg.), 100 Jahre
SchwlIIenhewegHng. Dokllmentation einer f/oJtagsreihe In d er A kademze d er f(ilnste, Berlin
1998, 129-143, weist darauf hin, dail die Begrifflichkeit einer Homo-/Heterosexualitat·
Dicho)omie erst im jahr 1869 durch Karl-Maria Kertbeny eingefiihrt wurde, spatestens
aber seit Alfred Kinsey (1948) von Sexualwissenschaftlern in Zweifel gezogen wird, da empirisch fiieilende Ubergange bestehen. Kulturhistorische uild ethnographische Daten
bestatigen die kulturelle Variabilitat dessen, was iiblicherweise als "Homosexualitat" bezeichnet wird (1380.
Vg!. Thomas]. Bouchard jr.lP. Propping, "Twins: Nature's Twice-told Tale", in: Dies.
(Hgg.), Twzns as a Tool 0/8ehavloral GenetiCs, Chichester u.a. 1993, 1-15. Dail die Zwillingsforschung allein aufgrund ihres Untersuchungsgegenstands ein besonderes Gewicht
auf genetische Substrate von Verhalten legen muil, rechtfertigt schwerlich die Polemik,
mit der sich die Autoren gegen ;ede Form der Psychologie wenden, die Umwelteinfliisse
stark macht. Unter Verweis auf M. McGue/D.T. Lykken, "Genetic Influence on Risk of
Divorce", in: Psychological Safflce3 (1992),368-372, heiilt es: "Divorce is heritable!" (12)hier fragt man sich unwilIkiirlich, seit wieviel Millionen von jahren Primaten eigentlich
heiraten. Die Ignoranz der Autoren gegeniiber alternativen Erklarungen fiihrt dazu, die
Fehler konstruktivistischer Extrempositionen nur unter umgekehrtem Vorzeichen zu
wiederholen. In "Twin Studies of Behavior. New and Old Findings", in: Klaus Atzwanger
u.a. (Hgg.), New Aspects o/Htlma7l Ethology. New York/London 1997, 121-140, beklagt
sich Bouchard (127) iiber Fehlinterpretationen der "Medien" zu Herrnstein und Murrays
"The Bell Curve" (An m. 31) und bespricht zustimmend Studien zur Heritabilitat von
politischem Konservativismus, Radikalismus und Stufen der Religiositiit (132f.). Ahnlich
undilferenziert attackiert c.R. Brand Kritiker der Idee der Vererbbarkeit der generellen
35
formuliert hat, sind inzwischen samtlich widerlegt. Dennoch bewirkt das
Interesse der Offentlichkeit an den genetischen Grundlagen unseres Verhaltens immer wieder eine hOchst selektive Auswahl der kolportierten Forschungsergebnisse. So taucht ein genetischer Essentialismus trotz der zahlreichen Einwande allenthalben wieder auf. Es ist mittlerweile ein Stuck
moderner Folklore geworden, im Sinne der Formel it} all tbe genes allen
nur denkbaren Verhaltensweisen genetische Grundlagen zuzuweisen. 34
Offenbar aus marktstrategischen Grunden, doch sicherlich nicht ohne Einverstandnis der Verfasser suggerieren bereits die Titel vieler Publikationen
die. Moglichkeit einfacher und eindeutiger genetischer Erklarungen fUr
komplexe Verhaltensweisen und menschliche Eigenschaften:35 "A Natural
History of Rape", .. Biologie als Schicksal" , .. Crime and Human Nature.
The Definitive Study of the Causes of Crime", "Der dritte Schimpanse",
34
35
Intelligenz als empirisch uninformierte Traditionalisten: Die experimentelle Psychologie
and ere ihre Konzepte jedes halbe Jahrzehnt und hange einer "multidimensionalist ideolo·
gy" an: "Cognitive Abilities: Current Theoretical issues". in: Bouchard/Propping (Hgg.).
Twins as a Too/, 17-32. hier 21. Gegen Brand laBt sich die Position seines Kollegen H.
Gardner ins Feld fUhren (Framer of#ind· lhe lheory oJAfllltiple Intelligences. New York
1983). Gardner betont in seiner Theorie multi pier Intelligenzen die raumliche. musikali·
sche kinasthetische. interpersonale. intrapersonale. sowie die linguistische und logische
Intelligenz; dazu vg!. L.A. Baker u.a .. "Group Report: Intelligence and Its Inheritance - A
Diversity of Views". in: Bouchard/Propping (Hgg.). Twins as a Too/, 85-108. Vg!. kritisch:
Rose. Darwtns gefohrliche frhen (Anm. 30). 301-306; in wissenschaftshistorischer Perspek.
tive Steven Jay Gould. De;filsch vmnessene filensch. Frankfurt/M. 1988. 157-355.
Vgl. Dorothy Nelkin/Susan Lindee. 77;e DNA ;lfystlqlle lhe Gene as a Odtllrallam. New
York 1995. Nelkin und Lindee untersuchen diverse pop-kulturelle Quellen im Hinblick
auf ihre Verwendung des Genbegriffs: "There are selfish genes. pleasure· seeking genes. vio·
lence genes. celebrity genes. gay genes. couch-potato genes. depression genes. genes fur
genius. genes for saving. and even genes for sinning. These popular images convey a striking picture of the gene as powerful, deterministic. and central to an understanding of
both everyday behavior and the .secret of life· ... (2) Wie die Autorinnen zu zeigen versuchen. hat die DNA dabei den Charakter eines sakularen Aquivalents der christ lichen
Seele angenommen: sie ist unsterblich. unabhangig vom K6rper und fundamental fur die
ldentitat - da sie nicht in der Lage sei. zu Uiuschen. zeige sich in ihr das wahre Selbst.
Fur Volltitel und Kommentare verweisen wir auf die Anmerkungen: Thomhill/Palmer.
A Natllrai History 0/ Rape (Anm. 47); Wilson. 8tOlogte als Schtcksal (Anm. 27);
Wilson/Herrnstein. Cnmeand hllman natlffe(Anm. 31); Diamond. De;dntteSchimpanse
(Anm. 50); Eibl·Eibesfeld. De; v07programmterte filensc/; (Anm. 27); Cheney/Seyfarth.
How monkeys see the world(Anm. 46); Morris. lhe Naked Ape (Anm. 73); Hauser. Wdd
;I1.inds(Anm. 46). Nelkin und Lindee entgeht dieser zumeist von den Fachwissenschaftlern
selbst gewahlte Verkaufstrick. wenn sie eine wissenschaftsinterne und eine
wissenschaftsexterne Bedeutung des .. Gens" unterscheiden: ..The biological gene I... J has a
cultural meaning independent of its precise biological properties. Both a scientific concept
and a powerful social symbol, the gene has many powers." (DNA ,1iystiqlle (Anm. 34). 2)
Auf ahnliche Marktstrategien im Zusammenhang mit dem Begriff der .. Konstruktion" in
den Kulturwissenschaften hat Hacking. Social Constrllction (Anm. 7). 18. hingewiesen.
36
"Der vorprogrammierte Mensch" , "How Monkeys see the World", .. The
Naked Ape", .. Wild Minds. What Animals Really Think".
MU derartigen Formulierungen wird Erklarungen, die auf der Annahme
eindeutiger Verursachungszusammenhange basieren, zu Unrecht eine VorrangsteUung gegentiber multifaktoriellen Erklarungen eingeraumt. Selbst
die Untersuchungsergebnisse von Experimenten, bei denen Gene ausgeschaltet oder verdoppelt werden und sich die prognostizierten Verhaltensanderungen einstellen, konnen nicht ohne weiteres als Beweise ftir einen
direkten Zusammenhang zwischen Veranlagung und Verhalten gelten. 36
Festgestellt werden kann hier nur, daB Gene EinfluB auf ein bestimmtes
Verhaltensmuster haben - nicht aber, daB sie es verursacht haben. Einen Beleg fUr die Notwendigkeit zurtickhaltender SchluBfolgerungen lieferte
jtingst unbeabsichtigt ein Forscherteam, das Tests standardisieren wollte,
die den EinfluB von Genen auf Verhalten nachweisen sollen: Man fiihrte
Experimente an genetisch identischen Mausen durch, die in sorgsamst eingerichteten, moglichst identischen Umwelten aufwuchsen - nichtsdestotrotz zeigte derselbe Test von Labor zu Labor gravierende UnterschiedeY
Dementsprechend betont der Verhaltensbiologe Andreas Paul: .. Kein ernst
zu nehmender Biologe glaubt mehr an die Existenz von ,Killer-Genen',
,Untreue-Genen' und was an ahnlichem Unsinn noch durch die populare
Literatur geistert. Komplexe Verhaltensmechanismen werden mit Sicherheit nicht durch einzelne Gene gesteuert. Auch die Vorstellung eines einfachen Automatismus [... ] ist reichlich naiv. "38
36
37
38
Vg!. R,.obert M. Sapolsky. "Anekdotenhafte Belege. Der Wirbel urn den Zusammenhang
zwischen Genen und Verhalten", in: Neue Z,inckr Zeittmg Nr. 93 vom 19. 4. 2000, 79,
und in: lbe Sciences (Marz/ April 2000), 12·-15. Sapolsky schildert folgenden Fall: Einer
Reihe von Testmausen wurde eine zusatzliche Kopie eines Gens eingepflanzt, das fUr die
Produktion eines Proteins zustandig ist. welches wiederum als Teil eines Rezeptors fiir
einen Neurotransmitter fungiert, der als wichtig fiir Lernprozesse und Erinnerungsvermogen angesehen wird. In der Tat schnitten diese Mause bei den folgenden Versuchen
deutlich besser ab als ihre normalen Verwandten. Dennoch miisse man sich mit der
Feststellung eindeutiger Verursachungszusammenhange zuriickhalten. Sapolsky verweist
auf: T.V.P. Bliss, "Young receptors make smart mice", in: NatNre401 (2.9.1999),25-27;
Ya·Ping Tang u.a., "Genetic enhancement of learning and memory in mice", in: Natfl7~
401 (2. 9. 1999), 63-69.
Martin Enserink, "Fickle Mice Highlight Test Problems", in: Science 284 (4. 6. 1999).
J599-1600; John C. Crabbe u.a., "Genetics of Mouse Behavior: Interactions with Labora·
tory Environment", in: SCIence 284 (4. 6. 1999), 1670-1672. Enserink beschreibt als klassisches Dilemma der Verhaltensgenetik: "NO sooner has one group or researchers tied a
gene to a behavior when along comes the next study, proving that the link is spurious or
even that the gene in question has exactly the opposite effecl." (1599).
Paul. f/on Affen und Afensc/;en (Anm. 2), 61. Gegen die Rede von einem "Gen f'iir" wendet
sich auch Horace Freeland judson, "Talking about the Genome. Biologists must take
Responsibility for the Correct Use of Language", in: Mtllre 409 (15. 2. 2001), 769. Jiingst
37
4. Konstruierte Mehrdeutigkeit?
AIs Ergebnis der Untersuchungen zur genetischen Basis menschlichen Verhaltens tindet man mittlerweile nicht mehr Aufweise kausaler Determinationen, sondern lediglich Aufweise der statistischen Disposition, bestimmte
kognitive, emotionale und behaviorale Muster bevorzugt zu erlernen.
Dabei gilt grundsatzlich der Satz: "Genes make proteins, not behaviour."39
Lineare monogenetische (sogenannte "mendelsche") Beziehungen zwischen
einzelnen Genen und einzelnen Merkmalen bilden prinzipiell eine seItene
Ausnahme. Schon bei vielen chronischen Krankheiten,40 die naher unter-
39
40
haben ]onathan Michael Kaplan/Massimo Pigliucci. "Genes .for' Phenotypes: A Modern
History View". in: Biology and Philosophy 16 (2001). 189-213, einen Kriterienkatalog
aufgestellt. anhand dessen sich ein angemessener Gebrauch der Rede von einem "Gen fUr"
bestimmen lassen soli: Sie fordern Nachweise einer direkten kausalen Beziehung zwischen
Gen und phanotypischer Erscheinung sowie der Pravalenz eines Gens in einer Population
als Resultat der natiirlichen Selektion.
Patrick Bateson/Paul Martin. DeJlgn For a Lift. How Behavttwr Dpvelops. London 1999.
63. Bateson und Martin stellen fest, es gebe keine einfachen Korrespondenzen zwischen
Genen und individuellem Verhalten oder Personlichkeitsstrukturen: "The notion of genes
.for' behaviour undoubtedly corrupts understanding." - "A more honest translation of
the .gene for' terminology would be something like: .We have found a particular behavioural difference between individuals which is associated with a particular genetic difference. all other things being equal." (238) Auch das Konzept der "heritability ratio", das
als Mittelweg aus den jahrelangen Auseinandersetzungen iiber natllre oder nllrtllre erwuchs. halten sie fUr problematisch. da die HeritabiliUit keine fixe quantitative Gr6Be
darstellt. sondern von einer Vielzahl von Faktoren. wie etwa den Besonderheiten der untersuchten Populationsgruppe abhangt. Das Konzept der "heritability ratio" beruhe aber
auf der Annahme. daB Gen· und Umwelteinfliisse voneinander unabhangig seien und
nicht interagierten. Zudem sage die Heritabilitat nichts iiber die Wege. iiber die Gene und
Umwelt in den EntwicklungsprozeB eingreifen. So ist selbstverstandlich die Heritabilitat
der Eigenschaft "auf zwei Beinen gehen" gleich null und klar umweltabhangig: Ein
Mensch kann bei einem Un fall die Fahigkeit verlieren. aufrecht zu gehen. obwohl der
aufrechte Gang offensichtlich auf genetische Grundlagen zuriickzufiihren ist (vg!. 56-63).
Zur vernachlassigten Bedeutung von Proteinen vg!. Richard Lewontin. "The Dream of
the Human Genome". in: New York J?evtew o/Books. 28. 5. 1992.31-40.
Vg!. Stephen]ay Gould. "The Confusion over Evolution". in: New York J?evlew q/Books
(19. 11. 1992). 48; Richard Lewontin. Biology as Ideology, New York 1992. Es sind etwa
4000 monogene Krankheiten bekannt. wobei man jedoch davon ausgeht. daB Gene die
Krankheiten nicht direkt verursachen. sondern lediglich das Risiko modellieren. Dement·
sprechend sind Therapien von erblich bedingten Krankheiten schwierig: hierzu vg!.
Florian Holsboer. "StreB - Angst - Depression: Die neue Psychopharmakologie". in:
;lfaxPlanckForschung HV /99, 40-53; Alfred Gierer. Im J"piegel der Natur erkennen W;?'lIns
selhsI. JPissenschd)t IInd Ifkmchenbtld. Reinbek bei Hamburg 1998. betont. daB die biologisch angelegten Fahigkeiten des Menschen die kulturelle Entwicklung zwar bedingen,
sie aber nicht determinieren. Andreas Paul spricht van einem Wechselspiel van natllre
und ntlr/llre. und hebt hervor. daB genetische Dispositionen bestimmte Verhaltensweisen
lediglich wahrscheinlicher machen (Paul, Van Affen Itnd;lfenscben (Anm. 2), 40). Damit ist
38
sucht wurden, wie Schizophrenie, manische Depressionen, Diabetes od er
Asthma, werden vielmehr polygenetische Beziehungen als Ursachen zu
Grunde gelegt. Deutlich komplizierter verhaIt es sich mit der Untersuchung von Verhaltensdispositionen. Dies hangt nicht nur damit zusammen,
daB die Rede von "aggressivem", "eiferstichtigem", "liebevollem" und anderem Verhalten primar einem alltagsweltlichen Sinnzusammenhang entnommen ist, innerhalb dessen Bezeichnungen der jeweiligen Verhaltensweisen
eine weit verzweigte Semantik aufweisen: Die Bedeutungsnuancen des Begriffs der "Aggression", die sich in Aussagen, wie "ErlSie ist aggressiv ",
"Dieser Musiker spielt aggressiv" usf. zeigen, gehen in naturwissenschaftlichen Reduktionen der Semantik des Begriffs auf biochemische Zusammenhange verloren. Setzten wir aber eine gelungene begriffliche Bestimmung
einmaI voraus, so ergibt sich eine zusatzliche Schwierigkeit: Verhaltensmerkmale sind nie eindeutig an- od er abwesend. Eine genetische Determination von Verhaltensmustern kann daher ausgeschlossen werden. Statt dessen
muB mit einem hochkomplexen Wechselspiel einer VielzahI von Genen
und Umwelteinfltissen sowie deren Rtickkoppelungseffekten gerechnet
werdenY
Dabei lassen sich Iediglich statistische Korrelationen, nicht aber kausal
determinierte Beziehungen zwischen genetischer Ausstattung und MerkmaIsauspragung aufweisen. Anders gewendet: Es gilt zwar als wahrscheinlich, daB menschliches Verhalten durch genetische Grundlagen mitkeinfl~wird,
doch ist die Bedeutung genetischer Einfltisse auf das individuelle
Verhalten damit noch vollkommen offen.42 Dies liegt nicht zuletzt daran,
41
die biologische Ausstattung des Menschen als zentraler beschrankender Faktor handlungs·
relevant, indem sie den Handlungsspielraum einengt. sie determiniert Handlungen aber
nicht; vg!. Dieter Groh. "Pierre Bourdieus .allgemeine Wissenschaft der Okonomie praktischer Handlungen· ... in: Ders.. Antb10p%gi;cbe Dime?1Slonen der Gescb!cb!e, Frankfurt/M. 1992, 15-26 (vgL Anm. 71). - Zum genetischen Determinismus vgL Evelyn Fox
Keller, "Nature. nurture, and the Human Genome Project", in: Daniel]. Kevles/Leroy
Hood (Hgg.), lhe cate 0/ cat.... Cambridge (Mass.)/London 1992. 281-299; weiterhin
lens B. Asendorf. "Entwicklungsgenetik". in: Heidi Keller (Hg.). Lebbllcb En!wlck/llng!PSYCbO/Ogle. Bern u. a. 1998.97-118.
Vgl. etwa Wolf Singer, ..Ironische Ztige im Gesicht der Wissenschaft. Wissen fUr die
Zukunftsplanung steht nicht zur Verftigung", in: FmnijUr!er A//gemeine Zeit=g Nr. 232.
6. 10. 1999, 53.
42
Eine genetische Mikrodetermination von Verhalten muB zumindest in probabilistische
Determiniertheit aufgelost werden, urn der Verwechslung von Korrelation und KausaliUit
zu entgehen. Ganz abgesehen davon besteht bei der Untersuchunggenetischer Verhaltensdetermination en auch die ethische und experimenteUe Unmoglichkeit. entsprechende
Verfahren beim Menschen anzuwenden. DaB zwar Fruchtfliegen. nicht aber Menschen
fUr Laborexperimente gekreuzt werden konnen, liegt auf der Hand. Zur Frage des geneti·
schen Determinismus vgL Kaplan/Pigliucci, Gene! jc?r'Pbenorypes(Anm. 38); vg!. weiter-
39
daB man einen erwachsenen Organismus nicht ohne weiteres mit dessen
Erbmaterial gleichsetzen kann. weB sich dieses erst noch entwickeln muB.
Entwicklungen allerdings finden immer nur zwischen Organismus und
Umwelt. nicht aber zwischen Erbmaterial und Umwelt statt: 43 Sich entwickelnde Organismen sind als dynamische Systeme aufzufassen. deren
Entwicklung einem Wechselspiel multikausaler Einf1iisse unterliegt und die
eine aktive Rolle in ihrer eigenen Entwicklung spielen.44
43
44
hin Stephen Jay Gould, "Biologische Potentialitat contra biologischer Determinismus",
in: Herbig/Hohlf eld (Hgg.), DIe zweite ScMpJimg (Anm. 24), 132-142; Richard C. Lewon·
tin/Steven Rose/Leon J Kamin, DIe Cene sind es nicbt... giologie, Ideo/ogle Hmi mensclr
licbe Nattlr, Miinchen/Weinheim 1988; der Genetiker Jens Reich hat dazu festgestellt:
"Wegen der durchgehenden riickbeziiglichen Vernetzung ist es zudem bei biologischen
Phanomenen nicht mehr sinnvoll, Ursache und Wirkung zu trennen, Beweger und Bewegtes. Es ist nicht moglich :w entscheiden, ob die Umwelt den Organismus modelliert
oder der Organism us die Umwelt - wir haben ein Netz von Wechselwirkungen. bei dem
die Inf ormationsverarbeitung so sehr mit dem materiellen ProzeB verzahnt ist. daB eine
Trennung dieser Spharen nicht mehr gelingt." Uens Reich, "Erfindung und Entdeckung.
Wie weit will die Menschheit die technische Inbetriebnahme der Natur treiben?", in:
FrankjimerAllgemet!zeZetflmgNr.146, 27. 6. 2000,11).
In ihrem Erklarungsanspruch weit iiber unsere Argumentation hinaus geht die im Rahmen des Modells der sogenannten orgamsmiscben giologle vertretene Ansicht, morphologische Prozesse im Organismus seien unabhangig von ihrem Genotyp. So vertritt bei·
spielsweise Wolfgang Friedrich Gutmann, DIe Evoltltion by:iraHliscber /{onstJ'llktionen:
Organismcb~
wandlllng stat! aitciarwinitircber AnfJdSslmg (Senckenberg-Buch, Bd. 65),
Frankfurt/M. 1989. ausgehend von einer "neuen organismisch konstruktiven Erklarung
le bender Organism en" (10) die Auffassung, der Phanotyp determiniere den Genotyp: "Es
sind durchweg und fast total die internen biomechanischen Konstruktionsgefiige - Beziehungen [in LebewesenJ. die die Bahnen moglicher evolutiver Transformationen festlegen,
die Richtung bestimmen und die Sequenz komtruktiver Stadien determinieren." (9) Zur
"organimischen" Sichtweise innerhalb der Biologie vg!. Ders. (Hg.), DIe /{onstTllktton der
Organismen. I. /{obtiren2, Energie Ilnd simlll!ane /{aHsaltftit (Aufsatze und Reden der
Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft. Nr. 38), Frankfurt/M. 1992, besonders
Ders.!Michael Weingarten, "Grundlagen von Konstruktionsmorphologie und organismischer Evolutionstheorie", in: ebd., 51-68. Zu wissenschaftshistorischen Hintergriinden
der organismischen Biologie vg!. Hans-Dieter Mutschler, "Die Geschichtlichkeit der
Natur und die Ungeschichtlichkeit der Naturgesetze", in: Alexius J Bucher/Stefan Dieter
Peters (Hgg.), EvolHtion im Disktlrs. CrenzgeJ'jJrticbe zwiscben NatllJ"Zl/issenscbaft, Pbllosopbic
IInd lbeologle (Eichstatter Studien, Neue Folge, Bd. XXXIX), Regensburg 1998, 251-262;
Michael Weingarten, Organtsmen - Oo/ekte oder SlIo/ekte der EvolHtlon'? Pbilosopbisc6e
Stldien ZHm Paroa'lgmenwecbsel in der Evoltttionsbiologle (Wissenschaft im 20. Jahrhundert), Darmstadt 1993.
Diesen Vorgang bezeichnen Bateson/Martin, DesIgn For a L~re
(Anm. 39), 89, 238f., als
dewlofJmental cooking. Die Metapher des "Kochens" dient den Autoren zur Verdeutlichung der multikausalen und konditionalen Natur der Entwicklung: ob man Butter
oder Margarine benutzt, kann, vorausgesetzt alle anderen Zutaten und der Kochvorgang
bleiben gleich, einen Unterschied machen. Werden andere Zutaten oder Kochmethoden
benutzt, kann der Unterschied aber auch verschwinden. Auch kann ein Kuchen nicht
40
5. Die zwei Naturen: Der Mensch als Tier
Selbstverstandlich ist der Mensch atlc/; ein biologisches Wesen. Eigenschaf.
ten, die si ch im Laufe seiner Entwicklung als iiberlebens· und fort·
pflanzungsdienlich erwiesen haben, konnten si ch evolutionar verfestigen.
Inwieweit sich der Mensch durch Verweis auf diese Merkmale indes er·
sc/;q.ofindbestimmen und verstehen laBt, muB hinterfragt werden. Von der
biologischen Natur des Menschen muB analytisch eine zweite, seine kulturelle Natur, unterschieden werden. Diese kulturelle Natur des Menschen
zeichnet si ch gegeniiber seiner biologischen Natur durch ihren intentionafen und sinn/;ajien Charakter aus, d.h. sie ist maBgeblich durch verschiedenartige, immer wieder neue oder veranderte kulturelle Selbstentwiirfe bestimmt. Zudem entwickelt sie sich in einem viel engeren zeitlichen Rahmen
als die biologische Natur des Menschen, welche sie historisch iiberformt. 45
Dies bedeutet einerseits, daB bei weitem nicht allen menschlichen Charakteristika ein genetisches Substrat gegeniiberstehen muB, was zur Vorsicht gegeniiber allzu schnellen Verweisen auf die genetischen Grundlagen
dieser oder jener Eigenschaft gemahnt. Es bedeutet aber auch, daB der
Mensch durchaus in der Lage ist, bestimmte biologische Merkmale zu transzendieren oder gar zu negieren. Fortpflanzung beispielsweise steUt keinen
kulturellen Imperativ dar. Eine in diesem Sinne naturalistische Anthropologie, die den Menschen unter alleinigem Verweis auf biologisch universale
Verhaltensweisen zu erklaren versucht, greift also notwendig zu kurz. Hier
wird die partilettlar biologische Natur des Menschen zu dessen tlniversafer
Natur hypostasiert. Solche deterministisch enggefiihrten Formen der
Anthropblogie entbehren zudem auch wissenschaftlicher Grundlagen innerhalb der Biologie. Laut dem Verhaltensbiologen und Neurowissenschaftler Marc D. Hauser existieren beispielsweise biologisch universale mentale
Mechanismen zur Steuerung bestimmten Wahrnehmungs- oder Navigationsverhaltens. Diese mentalen Werkzeuge kbnnen zwar im Sin ne grundlegender Fahigkeiten und Dispositionen als angeboren gelten, nicht aber ihre
konkrete Ausformung, die von bkologischen Faktoren abhangt und durch
intentionale Handlungen variierbar iSt,46
45
46
ohne weiteres in seine Bestandteile und die Kochprozesse aufgel6st werden, womit
Bateson und Martin die Frage emergenter Phanomene ansprechen.
Michael Tomasello. me Cultllral Ongins q/ Htlman Cognition. Cambridge (Mass.)/
London 1999, 216, betont: "The fact that culture is a product of evolution does not mean
that each one of its specific features has its own dedicated genetic underpinnings; there has
no! been enough time for that."
Vg!. Marc D. Hauser, WIld tifind.J; /MJat Ammals Really mink, London 2000. 20ff. Hauser
spricht von "mental toolkits". die es in erster Linie erm6glichen, Objekte wiederzu-
41
Trotz dieser Einsichten scheint die Eindeutigkeit deterministischer Antworten immer noch einen groBen Reiz auszuiiben. So wird etwa im
Rahmen der Evolutionaren Psychologie sexuelle Gewalt neuerdings als ein
universales Phanomen bestimmt, das sich evolutionar verfestigen konnte denn Vergewaltigung bedeute schlieBlich Geschlechtsverkehr und damit:
Fortpflanzung. Manner werden dabei als aufgrund genetischer Veranlagung
promiske, aggressive und sexuell leicht erregbare Wesen aufgefa13t. 47 Mit
47
erkennen und deren Verhalten vorauszusagen. Anders als der anthropomorphe Tite!. der
wohl auch in diesem Fall aus marktstrategischen Grunden gewahlt wurde. vermuten laBt,
verneint Hauser in seiner Untersuchung alle zentralen Fragen, die darat;f abzielen.
Mensch und Tier kognitiv oder sozial auf eine Stufe zu stellen. Lediglich die basal en
Emotionen Angst und Arger HiBt Hauser auch fUr Tiere gel ten. Zu den biologischen Universalien - die allerdings wohl nicht fUr Mikroorganismen gelten sollen - zahlt Hauser ein
Verstandnis von Objektkontakt und Bewegung (30ft·.). die elementare Einschiitzung von
Zahlenverhaltnissen (44ff.). Navigationsfahigkeit (64ff.). Fremdwahrnehmung und -wiedererkennung (90ff.). die Existenz von Lernmechanismen (114ff.). das Zuruckhalten von
Informationen bzw. die Falschinformation (140ff.) und die Kommunikationsflihigkeit
(174ff.). Hausers insgesamt einleuchtende Darstellung weist hinsichtlich der Frage der
Kommunikation von Tieren allerdings Schwachen auf. die trotz einzelner Verweise auf
aktuelle Iinguistische Ansatze wohl einem abbildtheoretischen Sprachverstandnis geschuldet sind; dazu vg!. George Lakoff. Women, Fire andDangerous lbings: /f7Jat Categories Reveal abollt tbe #l11(/, Chicago/London 1987. Hauser beschaftigt sich in lbe EvolutIon o/Commlmicatton. Cambridge (Mass.)lLondon 1997. in Anknupfung an Tinbergen
mit der Evolution der Kommunikation. die er in ihrer ontogenetischen. funktionalen und
phylogenetischen Dimension behandelt. da nur eine in diesem Sinne komparative Perspektive eine Analyse ermogliche. Dorothy L Cheney/Robert M. Seyfarth. How monkeys
see the world /nsuie the mindo/another speCIes. Chicago/London 1990. nennen das Wiedererkennen von Verwandtschaft biologisch universal (12). Abstraktions- und GeneraIisierungsleistungen (17). Selbst- und Fremdreflexion (312) aber spezifisch menschlich. Bei
Tieren funktionierten Urteile liber die Gedanken anderer. die Attributierung mentaler
Zustande nicht (144. 306f.). weshalb ihnen Lernen nur durch Beobachtung moglich sei.
Vg!. Randy Thornhill/Craig T. Palmer. A Na/llral History q/Rape. 8iological8ases 0/
Sexual Ca>rClon. Cambridge (Mass.) 2000. Die Autoren dieser (auch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Implikationen) auBerst fragwurdigen Studie stellen ihren evolution istischen Ansatz zunachst als einzig denkbaren wissenschaftlichen Zugang dar: "The social
science theory of rape is based on empirically erroneous. even mythological. ideas about
human development. behavior. and psychology." (xiii) - "The choice between the social
science explanation's answers and the evolutionary informed answers provided in this
book is essentially a choice between ideology and knowledge." (189) Die "nicht-ideologische" Antwort der Autoren auf die Frage. warum Manner vergewaltigen (53-84). findet
si ch in der soziobiologisch zentralen "parental investment"·Theorie (52). Danach hat der
Vergewaltiger die hestmtigliche mannliche Paarungsstrategie verwirklicht, namlich "minimum parental investment" (190). Die Rechtssprechung habe sich in Zukunft auf diese
Erklarung einzustellen. Die Vorstellung, in der Tier- und Menschenwelt seien Mannchen
durchweg aggressiver als Weibchen - doppelt mannlich bedeute also doppelt aggressiv -,
nennt Heino F.L. Meyer-Bahlburg ein "schlichtes Denkmodell"; vg!. Beino F.L MeyerBahlburg. "Geschlechtsunterschiede und Aggression: Chromosomale und hormonale
Faktoren". in: N. BischoflH. Preuschoft (Hgg.). Gescblechtsunterschlea'e. Entstehllng find
42
einer solchen Sichtweise stehen Evolutionare Psychologen in der Tradition
der Ethologie seit Konrad Lorenz, dessen These von einem biologischen
Aggressionstrieb 48 immer wieder neu formuliert wird. So forderte jiingst
der Physiologe Jared Diamond, der Mensch solle aus seiner Stammesgeschichte lernen und Volkermord und Umweltzerstorung als den Kennzeich en der ltetWelt entsagen. Unter Diamonds pessimistischem Blick auf
Mensch und Natur 49 erwachsen anthropomorphe Negativkonstruktionen
des Natilrlichen. So ist die Rede von "Genozid bei Wolfen", "Vergewaltigung bei Enten", "biologischem Holocaust" an Vogeln, "Blitzkrieg" und
"Genozid" des Cro-Magnon-Menschen am Neandertaler.50
Entwiekltmg, Munchen 1980, 123-145. Auch die weniger spektaku1aren, von der Evolutionaren Psychologie aufgestellten biologischen "Universalien" sind problematisch, da sie unhinterfragt auf dem Konzept absoluter statt relativer evolutionarer Adaption (also der
Adaption an eine 10kaleUmwelt) basieren; vgl. hierzu kritisch Bateson/Martin, Destgn For
a L#(Anm. 39), 225.
48 Vg!. Konrad Lorenz, Dassogenannte8ose 2ttrNatll?gesehiebtederAggression, Wien 1963.
49 Es handelt sich hier urn die ungerechtfertigte Verabsolutierung etnerm6glichen Perspektive auf Mensch und Natur, in diesem Fall der pessimistischen. Mit dieser Denkfigur der
Umversalisiertmg des Fartwularen beschaftigen sich die Projekte "Zur Entstehung asthetischer Naturerfahrung" (Ruth Groh) und "Anthropologische Voraussetzungen wissenschaftlicher Diskurse" (Dieter Groh) des Konstanzer Sonderf orschungsbereichs 511 "Li·
teratur und Anthropologie", im Rahmen derer die vorliegende Untersuchung entstanden
ist. Zu perspektivischen positiven/optimistischen und negativen/pessimistischen Konstruktionen von Mensch und Natur vgl. demnachst Dieter Groh, ;/femeh find Natp7. 2flJ'
Tradition optlmistiseher pnd fJi?ssimistiseher Detltungen, Frankfurt/M. 2002. Zu positiver
und negativer Anthropologie vgL Ruth Groh, Arheit an der Heillosigkeit der Welt. 2ur politisch-theologisehen A1ytbologie findAnthmpologie Carl Sehmitts, Frankfurt/M. 1998, 206[
50 Vg!. J;red Diamond, Der dntte Seblmpanse Evolution und 2ukunji des ;/femehen,
Frankfurt/M. 1994; W6ife, Enten (219), V6gel (405; vg!. 397-423), Cro-Magnon·Mensch/
Neandertaler (455; vgL 424-434). DaJ3 Ethnozentrismus und Krieg die menschliche
Entwicklung tatsachlich von Anfang an begleiteten, darf angezweifelt werden. Neuere
palaoanthropologische Erkenntnisse widersprechen Diamonds Negativkonstruktion der
Natur; vg!. Richard Leakey/R. Lewin, Der UrsfJJ'ung des /l1ensehen, Frankfurt/M. 1993; lan
Tattersall, Ftlzzle frfensebwerd,mg. A,!/' den SjJllren der mmrebliehen Evoltllion,
Heidelberg/Berlin 1997; Ders., Neandertaler. Der Sireit pm /lnsere Ahnen, Basel 1999. Auch Irenaus Eibl-Eibesfeld, Die 8iologie des mensebliehen Verbaltens. Cmndn}l der
h'tlmanetbologie, Munchen, 3. Aufl. 1995, 142[" halt an der Lorenzschen These von einem
pathologischen Aggressionsverhalten rest: "lch meine, daB es si ch hier urn Pathologien
handelt. Paviane und Schimpansen eskalieren auch im naturlichen Habitat oft in ihrem
aggressiven Verhalten. I... ] Ich vermute, daB diese mangelnde Ausgeglichenheit und Patho·
logieanfalligkeit mit der raschen Hirnevolution bei diesen Prima ten zusammenhangt. Mit
der 7ellvermehrung hielt die fur die Steuerung sozialen Verhaltensnotwendige Feinstruk·
turierung m6glicherweise nicht ganz Schritt, SO daB die Absicherung kritischer SteUen des
Sozialverhaltens wie auch bei uns Menschen nicht immer ausreicht." Eibl-Eibesfelds
Thesen zum Zusammenhang von Aggression und Hirnevolution sind freilich reine Speku·
lation, wie Primatologen betonen; vg!. Paul, Von Agen find ;/fenseben (Anm. 2), 53-61;
Volker Sommer, Die Agen. Unsere wilde l/erwandtsebaji, Hamburg 1989.
43
Solche Argumentationen erweisen sich, vor alIem mit Blick auf unsere
nachsten evolutionaren Verwandten, ihrerseits als in hohem MaBe abhangig
von politisch-geselIschaftlichen Konjunkturen des Denkens iiber Mensch
und Natur: In den sechziger Jahren galt der Schimpanse als Modell des entstehenden Homo sapz"ens. Dessen Eigenschaften iibertrug man auf den Menschen, der so zu einem hochgradig aggressiven Wesen mit ausgepragtem
Jagdverhalten und bemerkenswerten Fahigkeiten bei der Werkzeugherstellung stilisiert wurde. Der konstruktive Charakter dieser Zuschreibung wurde spatestens dann iiberdeutlich, als man die Orientierung am Schimpansen
als paHioanthropologischem Modell durch die an dessen kleinem Bruder,
dem Bonobo oder Zwergschimpansen, ersetzte. Mit dem Bonobc, der seit
den spaten siebziger Jahren als bestes Beispiel fiir unsere Vorfahren gaIt,
riickten mit einem Mal namlich ganz andere "fundamentale" Charakterziige
in den Vordergrund. Nach der Devise make love not war verwandelte sich
der (Ur-}Mensch nun in ein besonders friedfertiges Wesen, dessen Sozialverhalten durch Gleichberechtigung und freiziigig praktizierte SexualWit
bestimmt sein solIte. Heute betonen Primatologen allerdings, weder der
Schimpanse noch der Bonobo seien als ausschliel3liches Modell des Urmenschen geeignet. 5J
Die Naturalisierung des Menschen erfolgt meistens auf der Grundlage
einer vorausgehenden Anthropomorphisierung der Tierwelt. Das Hineinlesen anthropologischer Kennzeichen in die Natur erleichtert die Naturalisierung des Menschen, denn auf diese Weise k6nnen menschliche Eigenschaften wiederum aus einer Natur herausgelesen werden, die iiber alle
Merkmale des Menschen und der menschlichen Kultur bereits verfiigt. Es
5J
Vg!. Frans B.M. de Waal/Frans Lanting, llonobo. lbeForgotten Ape. Berkeley u.a. 1997, 2,
vg!. 134: ..Thus, in postwar years, students of behavior, dismayed by the human capacity
for evil, were fascinated by the inborn nature of aggression. And during the revival of
free-market ideologies and the decline of communism in the 1970s and 1980s, NeoDarwinists elevated the pursuit of self-interest to nature's leading principle. Seen in this
light, the bonobo arrives at an interesting turning point in history." Zur Kulturgeschichte
der Assoziation von Prima ten und naturlichem Aggressionstrieb vg!. den Oberblick bei
Matt Cartmill. Tod im Horgengml{en. Das Verhtiltms des fl:fensc);en 21{ Natur Imd jagd.
Zurich 1993. Auch die Einschatzung der Geschlechterrollen von Primaten anderte sich in
den siebziger Jahren entscheidend. Weibchen wurden nicht mehr als passiv, sondern als
ausschlaggebend fUr die Struktur sozialer Systeme angesehen; vg!. Richard Wrangham,
.. On the Evolution of Ape Social Systems", in: Srxial Science Injimnat/I)n 18 (1979), 334368. Mittlerweile gilt die unterschiedliche Laut·Kommunikation als entscheidender Unterschied im Ethogramm zwischen Bonobo und Schimpanse (32): vg!. auch Ders., Peace·
making among Primates, Cambridge (Mass.) 1989; Ders., Good Natl{red: lbe Ongms 0/
Rig);t and Wrong in Humans and Other Animals, Cambridge (Mass.) 1996; vg!. weiterhin
Adrienne L. Zihlman u.a., .. Pygmy chimpanzee as a possible prototype for the common
ancestor of humans, chimpanzees, and gorillas", in: Natllre275 (1978), 744-746.
44
handelt sich also urn einen argurnentativen ZirkelschluB: Die Kulttlralisierung der NattlT errnoglicht die Natllralisierung der Kulttlr - eine altbekannte
Denkfigur. 52 Unproblernatisch ist in diesern Zusarnrnenhang zunachst nur
die Betonung der Gleichartigkeit von Mensch und Tier hinsichtlich ihres
ernotionalen und ihres Schrnerzausdrucksverhaltens. Denn in der Tat zeigt
si ch der rnenschliche Korper irn Ausdruck von Ernotionen und Schrnerz
jenseits seiner sozialen Konstruktionen. Dabei zeigt er sich allerdings nicht
einfach so, wie er "wirklich" ist, denn auch korperliches Ausdrucksverhalten rnuB stets interpretiert werden: 53 Der Mensch hat keinen unrnittelbaren
Zugang zu seiner natiirlichen Seite.
AIs problematisch rnuB andererseits die Zuschreibung von rnenschlichen
Charakteristika wie etwa "Sprachlichkeit", "Verniinftigkeit" oder ,.Identifikationsverrn6gen" an Tiere gel ten. 54 Diese spezifisch rnenschlichen MerkCheney/Seyfarth, How monkeys see the wodd(Anm. 46), 303, weisen zwar auf die Anthropomorphisierung als gute Methode zur Voraussage des Sozialverhaltens von Primaten hin,
Erklarungen seien diese anthropomorphen Beschreibungenjedoch nicht. Zu Aspekten der
Geschichte dieser Denkfigur im 19. Jahrhundert vg!. Bernhard Kleeberg, Anrhro;xiogieals
Zoologie. 8emerktlngen ZtI Emst Haeckefs Entw:llj'des Menscben, Konstanz 2000, Internet:
http://www.ub.konstanz.de/kops/volltexteI2000/563.
53 Diese Erkenntnis gewinnt mittlerweile auch in den Kulturwissenschaften deutlich an Gewicht; vg!. Caroline Bynum, "Warum das ganze Theater urn den Kiirper? Die Sicht einer
Mediavistin", in: Historische Anrhro;xiogie 4 (1996), 1-33; Barbara Duden, "Geschlecht,
Biologie, Kiirpergeschichte. Bemerkungen zur neueren Literatur in der Kiirpergeschichte", in: Fm21nistische St:dien 9 (1999), 105-122; Philipp Sarasin, "Mapping the Body.
Kiirpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und ,Erfahrung P, in: Histonsche
Antbo/dog:e 7 (1999), 437-451; Ders .. "Vom Realen red en? Fragmente einer Kiirperge·
schichte der Moderne", in: RISJ: ZeitsclmjiJilr Psycboanalyse 14, Heft 45 (19991II), 29-61;
Jakob Tanner, "Kiirpererfahrung, Schmerz und die Konstruktion des Kulturellen", In:
Htstonscbe Antbopologte 2 (1994),489-502; Ders.,. "Wie machen Menschen Erfahrungen?
Zur Historizitat und Semiotik des Kiirpers", in: Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte (Hg.), f(07per Macbt Cescbirbte Cescbirbte .1facbt f(07per. f(0pettescbirbte als
Sozialgescbichte. Bielefeld 1999, 16-34; Tilmann Waiter, "Medikalisierung, Kiirperlichkeit
und Emotionen: Prolegomena zu einer neuen Geschichte des Kiirpers", in: jOlfmal/ilr
Psycbologte 812 (2000), 23-39; Clemens Wischermann, "Geschichte des Kiirpers oder
Kiirper mit Geschichte?", in: Ders.lStefan Haas (Hgg.), f(oper mtt Cescbirbte Der
menscbficbe f(oper als Ort d er Selbst- Ifnd U7eltdellttlng (Studien zur Geschichte des Alltags,
Bd. 17), Stuttgart 2000, 9-31. - Entsprechend ausgerichtete Studien Iiegen inzwischen vor
mit Claudia Benthien, Im Letbe wobnen. Ltterariscbe Imagologle Ifnd biJtonscbe Anthropolo·
gle der Hallt (Kiirper, Zeichen, Kultur, Bd. 4), Berlin 1998; Elaine Scarry, Der f(07per
Schmerz. Die Cb#en der Verletz!icbkeit IInd me 5find:mg der f(lfltllr, Frankfurt/M. 1992.
Zur problemgeschichtlichen Dimension des Verhaltnisses von Natur· und Geisteswissen,chaften vg\. exemplarisch die Beitrage in: Otto Gerhard Oexle (Hg.l, Natlfrwissenscbaji,
52
:m
Ceistesw:ssenscbo/i, f(1I!/IIrwissenscbq/i: Einhe:t - Cegensatz - )iomplmzentarlidt.?(Giittinger
54
Gesprache zur Geschichtswissenschaft, Bd. 6), Giittingen 1998.
TomaseIlo, O,ltll1'alOrigins (Anm. 45), 13, hebt die Eigenschaft, sich mit anderen als
ebenfalls intentionalen Wesen identifizieren zu kiinnen, als zentralen Unterschied zwi-
45
male werden im Rahmen verhaltensbiologisch informierter Kulturtheorien
nicht als qualitative, sondern als rein gradueUe, d.h. quantitative Merkmale
miBverstanden. Auch sie gelten dann als biologische Universalien, die beim
Menschen in deutlicher, bei seinen evolutionar nachsten Verwandten in
rudimentarer Form auftreten. s5 So wird die au13ermenschliche Natur in
schen Mensch und anderen Primaten hervor. Auf diese Weise entstiinden neuartige kraftvolle Formen kulturellen Lernens und der Soziogenese. TomaseIIo geht nicbtdavon aus.
daB nichtmenschliche Primaten intentionale Handlungen ihrer Artgenossen sowie die
Kausalitat unbelebter Ob jekte und Ereignisse verstehen; vg!. 18f. und mit ausgiebigen
Beispielen Ders., "Cultural transmission in the tool use and communicatory signa ling of
chimpanzees?", in: S. Parker/K. Gibson (Hgg.), "Langtlage" and intellIgence in monkeys
ana' apes. Comparative developmental perspectives, Cambridge u.a. 1990, 274-311; Ders..
"The Question of Chimpanzee Culture", in: R.w. Wrangham u.a. (Hgg.), Cimpanzee
C"ittlTes, Cambridge (Mass.) 1994, 301-317. - Die Teilhabe eines Kindes an der koIIektiven menschlichen Kognition beginnt mit dem neunlen Lebensmonat: Erst dann kann es
andere als intentionale Wesen wie sich selbst verstehen (TomaseIIo, OllttlTal Ongim
(Anm. 45),8). Selbstverstandlich sind nichtmenschliche Primaten intentionale und kausale Wesen, verstehen die Welt aber eben nicht in diesem Sinne, auch wenn sie viele Abfolgen von Ereignis und Konsequenz und dynamische Abfolgen von Ereignissen verstehen.
Sie verstehen nicht das ..Warum". Dieses Verstandnis bringt adaptive Vorteile mit sich,
weil sich so die M6glichkeit zu kreativem, llexiblem und vorausschauendem Handeln
ergibt: Das Individuum kann Ereignisse vorhersagen und kontrollieren, ohne daB das
Antezedenz stattgefunden hat; vg!. ebd., 19-25; Christian Vogel. Anthropologiscbe fp,ren.
ZlIr Natllr des Uenscben, hg. von Volker Sommer, Stuttgart/Leipzig 2000, bes. 60r.: Was
die Frage kommunikativen Symbolgebrauchs betrill"t, miissen zudem sogenannte
"Versuchsleitereffekte" bei Laborversuchen mit Tieren beriicksichtigt werden - die Verwendung sprachlicher Symbole konnte bisher nur dort, nicht aber in freier Wildbahn eingehend beobachtet werden. Untersucht wurde also nicht der Symbolgebrauch im natiirlichen Habitat, sondem lediglich die kognitive SymboVdbtgkeit - und dies im Rahmen
einer von Menschen geschaffenen kiinstlichen Umwelt.
ss Daniel Dennett etwa nimmt bei Tieren einen "intentional stance" an und unterscheidet
"levels of intentionality" bis hin zum Menschen; vg!. Daniel Dennett, me Intentional
Stance, Cambridge (Mass.) 1987; vg!. kritisch Jennifer Hornsby, "Physics, Biology, and
Common-Sense Psychology", in: David Charles/Kathleen Lennon (Hgg.), Real,ction, Ex·
planatlOn, and Realism, Oxford 1992, 155-177, die Widerspriiche in Dennetts Ansatz
aufdeckt und die AusschlieBlichkeit der von ihm aufgemachten Alternative zwischen nihilistischen und evolutionsbiologischen Naturerklarungen bezweif ell. Dennetts graduelle
Abstufung von Intentionalitat iibernehmen Cheney ISeyfarth, How monkeys see tbe world
(Anm. 46), 39-144. Cheney und Seyfarth leiten ihre Monographie mit einer Kritik des
Anthropomorphismus, mit Thomas Nagel. "What is it like to be a bat?", in: Pbilosopblcal
Revie'fb 83 (1974), 435-450, und dem Wittgenstein-Zitat "Wenn ein L6we sprechen
k6nnte, wir k6nnten ihn nicht verstehen." ein. Dennoch sehen sie aber nur graduelle Unterschiede zwischen Mensch und Tier: "Nevertheless, we hope to convince you that Nagel
and Wittgenstein have been too pessimistic and have declared impossible what is merely
difficult - and fascinating."(2) Nagels und Wittgensteins Argumente sind allerdings eben
gTllndsdtzlicber Natur, d.h. sie verweisen auf Probleme. die die grundlegende paradigmatische Ebene der Forschungen betreffen und somit bei gleichbleibenden basalen Konzeptionen mwtirgendwann in der Zukunft gel6st werden k6nnen. Nagel bezieht sich in sei-
46
sinnhafte und damit kategorial problematische Zusammenhange gestelIt.
DaB der Mensch auf diesem Wege stillschweigend von einem Natur- und
Kulturwesen in ein reines Naturwesen verwandelt wird, wird meist gar
nicht mehr wahrgenommen. Vielmehr meint man, nur mit Bezug auf die
lliologie des Menschen sinnvoll von anthropologischen Universalien sprechen zu konnen. DaB etwa "Moralitat" oder "Fiktionsvermogen" den Menschen vor alIen kulturelIen Unterschieden charakterisieren und es sich bei
diesen Vermogen urn menschliche Dispositionen jenseits festgelegter genetischer Substrate handeln konnte, die sich in kulturelIen und historischen Zusammenhangen nur in unterschiedlicher Weise realisieren bzw. aktualisieren, wird gar nicht erst in Erwagung gezogen.
6. Die zwei Kulturen: Geschichte als Evolution
Die neuen naturalistischen Thesen zur Anthropologie berufen sich auf die
evolutionare Herausbildung aller Wesensmerkmale, auf die soziobiologisch
erfaBbaren und gentechnologisch decodierbaren Grundlagen der menschlichen Natur und Kultur. So behauptet die Evolutionare Psychologie, die
sich selbst als Vermittlerin zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften
versteht. menschliches Verhalten und Denken sei durch genetisch fixe
Strukturen gepragt, die sich im Evolutionsverlauf als uberlebensdienlich
erwiesen hatten. Mit der Aufstellung (sozio-}psychologischer Universalien
als Grundlage der menschlichen Kultur wird auf menschliche Verhaltensweisen und Fahigkeiten Bezug genommen, die gemaB eines reproduktiven
Imperativs zur Optimierung von Fortpflanzungschancen dienten. Sie seien
Ursache alIer menschlichen KulturauBerungen, da ehedem funktional iin
Kampf urns Dasein. 56 Freilich wird hier ubersehen, daB funktionale Mecha-
56
nem mittlerweile klassischen Aufsatz auf den essentiell suije/:tiven Charakter aller Erfahrung, den wissenschaftliche Beschreibungen nie einholen konnen, sondern immer beiseite
lassen: Die Erfahrung, eine Fledermaus zu sein, kann nicht geteilt werden, auch wenn
strukturelle und physikalische Beschreibungen dieser Erfahrung moglich sind. Uber subjektive menscbliche Erfahrungen konnen wir verniinftig reden, weil wir uns in andere
Menschen hineinversetzen konnen. Bei einer Fledermauserfahrung hingegen gilt: "In so
far as I can imagine this [... ]. it tells me only what it would be like for meto behave as a
bat behaves."(439) In diesem Sinne argumentiert auch Wittgenstein in seinem Lowen-Beispiel fUr eine gemeinsame - also geteilte - Lebensform und Redepraxis als Voraussetzung
fiir geJingende Kommunikation (siehe oben. Anm. 24); zu Nagel vg!. David
Charles/Kathleen Lennon, ..Introduction", in: Dies. (Hgg.), Reduction, Explanation, and
Realism, 1-18, hier I Of.
Die wichtigste Eigenschaft des Menschen ist laut der Evolutionaren Psychologie die Fahigkeit. Storenf riede des SoziaJgefUges zu entlarven: durch diese habe sich der Altruismus
entwickeln konnen; vg!. grundlegend Leda Cosmides, "The logic of social exchange: has
47
nismen und Verhaltensweisen sowohl neue Adaptationsm6glichkeiten er6ffnen wie auch Evolution behindern k6nnenY DaB beispielsweise selbst
die fUr die Evolutionare Psychologie basale experimentelle Begriindung eines speziellen kognitiven Moduls zum Erkennen von Betriigern auch obne
die Berufung auf evolutionare Funktionalitat plausibel erkIart werden kann,
ist mehrfach gezeigt word en. 58 Inwieweit schlieBlich allein mit dem sprach-
natural selection shaped how humans reason? Studies with the Wason selection task". in:
Cognition 31 (1989). 187-276; jerome H. Barkow/Leda Cosmides/john Tooby. 7l;e
A(ktpted;lfind: Evotl,tionary Prycbology and tbe Generation o/Cllltlffe. New York/Oxford
1992;Leda Cosmides/john Tooby...Beyond intuition and instinct blindness: toward an
evolutionary rigorous cognitive science". in: Cognition 50 (1994). 41-77; Dies.... From
function to structure: the role of evolutionary biology and computational theories in cognitive neuroscience". in: M.S. Gazzangia (Hg.). 7l;e Cogm'tive Netlrosciences. Cambridge
(Mass.) 1995. 1199-1210. Vorsichtiger und differenzierter argumentiert Henry Plot kin.
Evolution in ;lfind An Introduction to EvolutIonary Fsychology. London 1997. Plotkin
wendet sich gegen vereinfachende Darstellungen der Zusammenhange zwischen Genen
und Verhalten. etwa bei der VergewaItigung (109). und reflektiert deren wissenschaftshistorische Hintergrtinde in der ethologischen Aggressionstheorie (111f.). Eine popularwissenschaftliche Darstellung bietet Steven Pinker. Wti? MS Denken im Kop/ emsteh.
Mtinchen 1998; Christopher Badcock. PrychoMrwinismuJ. Die Synthese von Darwin und
Fretld, Mtinchen 1999. deutet das .. UnbewuBte" auf Grundlage von Richard Dawkins als
genetisches Program m im Dienste der Fortpflanzung. Geoffrey Miller. 7l;e ;lfating ;lfind
How Sexual Choice Shaped the Evo/t,tlon 0/Human Nattlre. London 2000. meint. die Zeit
sei reif fUr eine ambitionierte Theorie der menschlichen Natur. die die Idee des Menschen
als .. Fortpf1anzungsmaschine" starker als die Evolutionare Psychologie in den Vordergrund rtickt (3ff.) und die Geistes- und Sozialwissenschaften biologisch fundiert (427).
Jerome H. Barkow. "Universalien und evolutionare Psychologie". in: Peter M. Hejl (Hg.).
Universalien und Konstrttktlvismlls. Frankfurt/M. 2001. 126-138. avisierl die Grundlegung
einer nomothetischen soziokulturellen Anthropologie mittels der Evolutionaren Psychologie. Inwiefern allerdings bereits die Evolutionstheorie nicht nomothetisch. sondern idiographisch verrahrt. dazu siehe un ten.
57 Vg!. etwa Cheney/Seyfarth. How monkeys see the world(Anm. 46). 11-13.
58 Vg!. Jerry Fodor ••,why we are so good at detecting cheaters". in: CognitIon 75 (2000).2932. Die .. flagship results" der Evolutionaren Psychologie basieren auf einer Experimentalreihe (das sogenannte Wdson Selection task}. bei der getestet wird. ob die Versuchspersonen
bei Uberprtifung der Validitat des Satzes (1) "Wenn jemand unter 18 Jahren ist. trinkt
er /sie Coca Cola" besser abschneiden. als bei der des Satzes (2) .. Es wird verlangt. daB
unter 18 Jihrige Coca Cola trinken." Fodor weist nach. daB sich das bessere Abschneiden
der Versuchspersonen bei (2) bereits aus der logiscben Slruktur deontischer Konditionalsatze ergibt. Ahnlich wie Fodor kann auch Elisabeth A. L1oyd... Evolutionary Psychology: The Burdens of Proof'. in: 81ologyand Fhilosophy 14. 1999.211-233. zeigen. daB sich
die Evolulionare Psychologie in ihrer Entstehungsphase gegenuber der pragmatic reasomng theory nur mithilfe der Spekulationen tiber die evolutionare Vergangenheit naher zu
konturieren vermochte. Wie H. Looren de Jong/W,J. van der Stehen. "Biological
Thinking in Evolutionary Psychology: Rockbottom or Quicksand?". in: Fhilosophical
Prycbology 11 12. Oxford 1998, 183-206, darIegen. miBinlerpretiert die Evolutionare
Psychologie Methoden und Erklarungen der Evolutionsbiologie. So wird Thesen tiber Selektionsvorteile einzelner Anpassungen falschlich naturgesetzlicher Charakter zugeschrie-
48
lichen Zusatz "evoiutionar" ein Erkenntnisgewinn gegenuber konkurrierenden wissenschaftlichen Ansiitzen verbunden ist. rnuB offen bleiben - zurnal
sich evolutionstheoretische Erklarungen rnittels Begriffen wie "Anpassung".
"Selektion" und "Uberleben des Tuchtigsten" praktisch an alle Situationen
anschlieBen lassen. in denen es urn das Bestehen und Vergehen beliebiger
Erscheinungen geht. 59 Nur selten wird in diesern Zusarnrnenhang ausdruck-
59
ben; evolutionaren gegenuber bestehenden funktionalen Erklarungen in der Psychologie
zu Unrecht ein hoherer heuristischer od er gar Erklarungswert eingeraumt; der Zusatz
"evolutionar" habe alien falls rhetorische Funktion und sei Teil einer "evolutionary phraseology" (183, vgL 201). Wie Fodor und Lloyd argumentieren auch de long und van der
Stehen uberzeugend, daB die Evolutionare Psychologie mogliche alternative Erklarungen
unberucksichtigt laBt: Die Entscheidung fUr eine evolutionare Erklarung scheint nicht
aufgrund der Experimentalergebnisse gefallen zu sein. Demgegenuber betonen die
Autoren die Fruchtbarkeit eines explanatorischen Pluralism us. Ahnlich kritisierte schon
Michael Ruse, Phtlosopby o/8iology Tockl)l, New York 1988, bes. 66ff., die Soziobiologie
als Neubeschreibung sozialer Phanomene mit evolutionaren Termini. Mit der Evolutionaren Psychologie wird der soziobiologische Ansatz nur unter neuem Label wiederholt. - Lawrence Shapiro/William Epstein, "EvolutionalY Theory Meets Cognitive Psychology: A More Selective Perspective", in: AfindandLanguage 13/2 (1998), 171-194. werfen Cosmides und Tooby einen Methodenfehlervor: Sie identifizierten kognitive Prozesse
lalschlich mit den Aufgaben, zu dessen Losung sie taugten; dazu: L. Cosmidesl ]. Tooby,
"Evolutionizing the Cognitive Sciences: A Reply to Shapiro and Epstein", in: Afind and
Language 1312 (1998), 195-204. Das unrellektierte Zuruckfiihren a11er menschlicher
Eigenschaften auf evolutionare Anpassungen wird als "Panadaptionismus" bezeichnet.
Dessen ad hoc-Erklarungen - sogenannte jllst·so-stones - a11er denkbaren Phanomene wirken schnell belie big; vgL Gould/Lewontin, ne Spandrels 0/San Afarco (Anm. 27); S.H.
Orczak/E. Sober, "Optimality models and the test of adaptationism", in: American
Naturalist 143 (1994), 361-380. Dem Panadaptionismus gegenuber betonen Kritiker die
Rolle zllfalliger Variation und sogenannter "Exaptationen" als Eigenschaften, die in einem
bestimmten adaptiven Zusammenhang entwickelt wurden, nun aber in einem anderen Bereich, also indirekt, Wirkung zeigen. Als eine so1che Exaptation faBt beispielsweise der
Palaoanthropologe Ian Tattersall den menschlichen Stimmapparat: Schon seit einigen
hunderttausend Jahren voll entwickelt, wurde er zunachst wohl nicht zum vo11artikulierten Sprechen benutzt; vgL Ian Tattersall, "Once We Were Not Alone", in: Scientific
American 1 (2000), 38-44, hier 44. Einen Uberblick uber die vielfaltigen Einwande gegen
die Evolutionare Psychologie liefern die Beitrage in Hilary Rose/Steven Rose (Hgg.),
Alas, Poor Darwin:Arguments Against Evolutionary P.rychology, New York 2000.
VgL Friedrich Kambartel, "Zur grammatischen Unmoglichkeit einer evolutionstheoretischen Erklarung der human en Welt", in: Ders., Philosophie der humanen Welt, Frankfurt/M. 1989,61-78. Zur Analogie von naturlicher und kultureller Evolution kritisch vg!.
Nagel, neLast fPtJrd(Anm.-2), 131: Nagel spricht diesbezuglich von einem "darwinistischen Imperialismus"_ VgL Willy Hochkeppel. "Kulturevolution. Eine verfehlte Metapher", in: ZeitsclmJi for Philosophie 212 (1999), 36-45. Hochkeppel betont den rein
metaphorischen Charakter der Rede von der kulture11en "Evolution", was sich besonders
hinsichtlich der lrreversibilitat der naturlichen Evolution zeige, im Gegensatz zu der in
der kulturellen Evolution "ausgestorbene Arten" "wiederauferstehen" konnten. Weiterhin
hebt er die anti-evolutionare Entwicklung wissenschaftlicher Theorien im Sinne von
Thomas S. Kuhn und die spontane Entstehung von Ideen hervor. Bemerkenswert ist dabei
49
lich erwahnt. daB solche Aussagen zur Evolutionsgeschichte keinen empirisciJen, sondern stets nur /;ypotiJetisciJen Charakter haben. Experimentelllassen sie sich nicht bestatigen, weil mit keinem Experiment erdgeschichtlich
Vergangenes wiederholt werden kann. 60 Zudem werden hier zwei entscheidende Dimensionen v6llig ausgeblendet, die den Phanotyp entscheidend
mitbestimmen: die historische und die ontogenetische. Der Entwicklungspsychologe Michael Tomasello bemerkt dazu: 6!
In general, the basic problem with genetically based modularity approaches Ivertreten in der Soziobiologie und der Evolutionliren Psychologie, B.K.IT.W.J especially when they address uniquely human and socially constituted artifacts
and social practices - is that they attempt to skip from the first page of the story.
genetics, to the last page of the story, current human cognition. without going
through any of the intervening pages. These theorists are thus in many cases lea-
60
6J
Hochkeppels Argument. die kulturelIe Evolution gleiche der natilrlichen deshalb nicht.
weil sie keinen fortschrittlichen ProzeB des Komplexitatszuwachses darstelle. Hochkeppel
iibernimmt hier unbemerkt eine falsche Deutung der Evolution, wie sie gerade von seinen
Gegnern verwendet wird.
Vg!. Ernst Mayr, 177e Growth o/8iological1770Ilght. Diversity, Evolution, rmd Inhentance.
Cambridge (Mass.)/London 1982. 71-73; Ders" "Darwin's Influence m Modern
Thought". in: Sctentij1c Amencan. July 2000. 66-71. 71. In Dm 1St Btdogt'dAnm. 30). 65.
87. hebt Mayr die Ahnlichkeiten zwischen Evolutionsbiologie und Historiographie hinsichtlich ihres idiographischen Charakters hervor. Zur Unterscheidung zwischen funktionalen und evolutionsbiologischen Erklarungen vg!. klassisch Ders., "Cause and Effect in
Biology", in: Science 134 (1961). 1502. In wissenschaftshistorischer Perspektive vg!. Steven
Jay Gould. "Evolution and the triumph of homology, or why history matters". in:
Amencan Scientist 74 (1986). 60-69. Zum konstruktiven Charakter der Abstammungslehre vg!. Christine Hertler. "Typus und Entwicklung - Varianten und Invarianten in der
Evolution". in: Bucher/Peters (Hgg.). Evollltion Im DisklP's (Anm. 43). 47-60; janich.
Kntik des InJbrmatiomhegri,fis (Anm. 9). bes. 78-80. Janich betont, daB Experimente
semantische Kompetenzen des Versuchsleiters voraussetzen, der entscheiden muB, ob die
Versuchsanordnung "gelungen" ist und sinnvolIe Daten produziert werden (83).
TomaselIo. CllltllralOngins (Anm. 45). 204. vg!. 303-306: Die Evolutionare Psychologie
geht wie auch die Soziobiologie davon aus. daB es einzelne kognitive Module fur verschiedene Arten des Wissens iiber die Welt gibt - also etwa iiber Personen. Zahlen. Sprache etc.
DaB sich solche kognitiven Module aber innerhalb des nach evolutionaren MaBstiiben
relativ kurzen Zeitraums der Entstehung des Menschen entwickeln konnten. kann bezweifelt werden. Grundlegende Prozesse perzeptionelIer Kategorisierungen mogen zwar
in erster Linie evolutionare Grundlagen haben. beim Zustandekommen und der Erhal·
tung linguistischer Symbolisierung und sozialer Institutionen aber scheinen wohl eher
sozial-interaktive Prozesse eine RolIe gespielt zu haben. Das von der Soziobiologie vertre
tene Konzept einer Gen-Kultur·Koevolution muB zudem hinterfragt werden. da die gene·
tischen Veranderungen seit Existenz des Homo sapiens sapiens alIenf aIls bei 0.1 % liegen
und damit der Zeitraum viel zu kurz ist, als daB hierbei ein Wechselspiel hatte stattfinden
konnen. Alle entscheidenden kulturelIen Umschwunge sind also auf ein und derselben
genetischen Grundlage abgelaufen.
50
ving out of account formative elements in both historical and ontogenetic time
that intervene between the human genotype and phenotype.
Eine wichtige Grundidee "evolutionarer" KuIturentwicklungstheorien ist
die Auffassung, zwischen auBermenschlichen und menschlichen Kulturen
bestunde nur ein rudimentarer Unterschied, letztere seien eine direkte evolutionare Fortsetzung der ersteren, beide folgten deshalb denselben
Mechanismen. Neben den vielfach anzutreffenden anthropomorphen Erzahlungen von emsigen Bienen, rechnenden Vogeln und kunstsinnigen
Elefanten62 verweisen nichttriviale Ansatze zumeist auf die "Kultur" unserer
nachsten evolutionaren Verwandten Schimpansen und Bonobos. 63 Doch
bereits innerhalb dieses zunachst plausibeI anmutenden Vergleichsfeldes ist
eine Gleichsetzung der KuIturen aus vielerIei Grunden problematisch.
Schon mehrfach angesprochen wurde die unzulassige Dbertragung sinnhafter menschlicher Kulturzusammenhange auf die auBermenschliche
Natur. KuIturvergleiche zwischen Menschen und Affen basieren dementsprechend auf einem eingeschrankten, nur }itnlmonalen Kulturbegriff. UBt
man diesen grundsatzlichen Einwand beiseite, stoBt man bereits innerhalb
der Biowissenschaften auf weitere Probleme der Ermittlung von Dbereinstimmungen dieser zwei Kulturen. Unter "KuItur" wird in der Primatologie
populatJonsspezi/iSCDeS VerhaIten verstanden, vor all em Werkzeuggebrauch,
Jagdtechniken und Kommunikation uber Signallaute oder -gesten: 64
There exists so much variability in this regard that we now increasingly use the
term culture in primatology. The reason is that, as in human culture, the habits
and innovations of a group seem to be transmitted nongenetically to the next ge-
62
63
64
Vg!. etwa Diamond, Derdntte Scmmpansf' (Anm. 50), das Kapitel "Wie einzigartig ist der
Mensch?", 183-276. bes. 183-231.
Vg!. Andrew Whiten u.a., "Cultures in chimpanzees", in: Natlffe399 (17. 6.1999).682685. Die Autoren konnten nach jahrelangen Feldstudien 39 verschiedene Verhaltensmuster von Schimpansen unterscheiden, die nicht-genetisch weitergegeben wurden; vg!.
auch Andrew Whiten/Christophe Boesch, "The Cultures of Chimpanzees". in: Scientific
Amencan (112001), 48-55; ausflihrlich de WaallLanting, BonobO (Anm. SI). Zum Verhalten der Primaten vg!. Paul, Von Affen undHenschen (Anm. 2). Zur Frage des BewuBtseins
bei Primaten vg!. Cheney/Seyfarth. How monkeys see the world (Anm. 46); weiterhin
Hauser. IPtld Hinds (Anm. 46). Der Palaontologe Steven Mithen, ]be Prehistory q/ the
A1ind A search/or the ongins q/art, religion and science, London 1996, geht davon aus. daB
die kulturelle Revolution vor 60000-30000 jahren Folge eines "major change in the nature
of the mind" gewesen sei (15).
de Waal/Lanting, Bonoho (Anm. 51). 42; vg!. W.C. McGrew, Chimpanzee Hatcndl
Culture, Cambridge 1992: Wrangham u.a. (Hgg.), Cimpanzee CultllJ'es (Anm. 54);
Tomasello, CulturalOngl7lS (Anm. 45), 26-28; vg!. auch Luigi Luca Cavalli-Sforza, Gene,
VdlJ:er umf Sprachen. D,e bi%glsehen Gntndlagen unserer Zivllisation. Miinchen/Wien
1999, der "Kultur" definiert als "die Gesamtheit dessen. was man von den anderen lemt,
im Gegensatz zu dem, was man fur sich allein, in der Isolierunglernt." (186).
51
neration. 1...1 Flexible behavioral traits transmitted through learning can be regarded as traditions; a set of group-spec ilk traditions can be regarded as a culture.
Damit liegt das Schwergewicht des Kulturbegriffs der Primatologie zunachst auf der Art der Informationsu6ettragung und nicht auf den Informationslnhalten. 65 Aber bereits hinsichtlich der Frage nach den Mechanismen
kuItureIIer Transmission laBt sich die Gleichartigkeit menschlicher und
nicht-menschlicher Prozesse sozialer Kognition und sozialen Lernens mit
guten Griinden bezweifeln. 66 DaB dzesergrundlegende Unterschied ein genetisches Fundament hat, bedeutet aIIerdings nicht, daB auch die weiteren den
Menschen auszeichnenden Eigenschaften genetisch riickgebunden sind.
Denn obwohl kuItureIIe Transmission einen normalen biologischen Vorgang darsteIlt, konnen doch die zugrundeliegenden behavioralen und kognitiven Mechanismen sehr unterschiedlich ausfaHen. Die Annahme eines
spezieII menschlichen Modus kuItureIIer Transmission ist somit eine auch
biologisch plausible Hypothese. 67 Hingegen miiBten genetische Mutationen
als Grundlage der komplexen Formen des Werkzeuggebrauchs, der symbolischen Kommunikation und sozialen Organisation zunachst iiberhaupt auftreten, sich dann - trotz ihres moglicherweise anfangs nur geringfiigig vorteilhafteren Charakters - in einer menschlichen Population ausbreiten und
schlieBlich evolutionar stabilisieren. Im Verlauf dieses Prozesses diirften
zudem keine zufalligen Einwirkungen von auBen den od er die Trager der
Mutationen an der Fortpflanzung hindern. DaB in dem gemessen an
evoltltiondren ZeitmaBstaben sehr kurzen, ht'storischen Zeitraum von hOch-
65
Vgl. Paul, Von Affen undAfemcben (Anm. 2). 229.
66
Etwa durch das sogenannte envIronmental sbaping. vgJ. Tomasello. O,ltural Ortgins
(An m. 45). 29-37; das envIronmental sbaplng wird bei Schimpansen durch sogenanntes
emulation ledmlng erganzt. ein Lernverhalten. das si ch auf die Umweltveranderungen
konzentriert, nicht aber am Verhalten od er an Verhaltensstrategien der Artgenossen orientiert wie das imitative Lernen bei Kindem. Auch gestisches Signalisieren kann mittels
eines nicht-menschlicheh Lernmechanismus. der sogenannten ontogenetic ritllalization er·
klart werden. Ergebnis einer reziproken sozialen Interaktion sein. die zu einem kom·
munikativen Signal [uhrt, oh ne daB hier Verhalten imitiert wurde. Gegenbeispiele aus der
Literatur beziehen sich bezeichnenderweise fast durchgangig auf Schimpansen. die in Kontakt zum Menschen fern ihrer naturlichen Habitat aufwachsen. Tomasello schlieBt. daB
imitatives Lernen durch bestimmte soziale Interaktionen wahrend der Ontogenese beein·
fluBt od er gar ermoglicht sein konnte (34f.); vg\. auch Tomasello u.a ....The Ontogeny of
Chimpanzee gestural Signals: A Comparison across groups and generations". in: Evoltmon
q/Commlmication I (1997). 223-253.
V gl. Tomasello. Cultural Ortglns (Anm. 45). 4f. Tomasello unterscheidet drei grundlegende Typen menschlichen kulturellen Lernens: imitatives. instruiertes und kollaboratives Lernen. ermoglicht durch die Fahigkeit. sich in andere hineinzuversetzen. sie als
ebenfalls intentionale Wesen wahrzunehmen.
67
52
stens sechs Millionen, vielleicht aber nur 250000 Jahren 68 seit Entstehung
des Mensehen aber eine so rasehe und kumulative Kulturentwicklung stattfinden konnte, spricht eher fUr die PlausibilWit einer nicht-genetischen ErkIarung. Denkbar ware demnach ein evolutionares Szenario, nach dem der
Menseh eine neue Form sozialer Kognition entwickelte, die neue Formen
kulturellen Lernens ermogliehte, die zu neuen Prozessen der Soziogenese
und einer kumulativen kultureIlen Evolution fUhrten. Grundlage konnte
eine einzige biologische Adaption sein: 69
The cultural processes that this one adaptation unleashed did not then create new
cognitive skills out of nothing, but rather took existing individually based cognitive skills I... J and transformed them into new, culturally based cognitive skills
with a social-collective dimension. These transformations took place not in evolutionary time but in historical time, where much can happen in several thousand years.
Einen differenzierten Ansatz einer /itnktionalistiscl;en Kulturtheorie jenseits
soziobiologischer Vereinf aehung Hef ert auch die duat'inheritance theory von
Robert Boyd und Peter J. Richerson. Sie steIlt den Versuch dar, die einheitliehe Grundlage einer Untersuchung des Menschen als biologischem und
kultureIlem Wesen zu schaffen. Dies solI geschehen, indem die Mechanismen kultureIler und genetischer Transmission wechselseitig verschrankt
und in Analogie zur biologischen Unterscheidung von Genotyp und Phanotyp menschliches Verhalten und menschliehe Kultur unterschieden werden. Die kultureIle Transmission wird dabei im Sinne einer ..lamarckistise hen" Weitergabe kulturell erworbener Eigensehaften bestimmt. 70 So soIlen
Entwicklungen im Rahmen dieses iibergreifenden Ansatzes
auch his~ore
68
69
70
Vg!. Tomasello. Cultured Origins (Anm. 45), 204. Zur Frage der Wahrscheinlichkeit der
evolutionaren Stabilisierung einer genetischen Mutation vgl. den Beitrag von Wolfgang
Enard in diesem Band.
Tomasello. Cultural Oniim (Anm. 45). 7.
Robert Boyd/Peter j. Richerson, Cttlture and E volurionary I'roc~s.
Chicago 1988. Kulturelle Transmission wird durch Mechanismen des "indirect bias" und der "runaway
dynamics" gesteuert (vgl. 63). Unter Ankniipfung an Konzepte der Foraging lbeory (vgl.
David W. StephenslJohn R. Krebs, Foraging lbeory, Princeton 1986) vertreten die Autoren eine jimktzonale Deu:ung kultureller Prozesse einschlieBlich der Entwicklung komplexer Symbolsysteme sowie einen engen KulturbegrilT: "Kultur" wird als "the
information affecting phenotype acquired by individuals by imitation or teaching" gefaBt
(283. vgl. 33£.): vgl. William H Durham, CQC'v(7t1"'On, Genes, Ottcrm;; and Human
Diversif)', Stanford 1991; William H. Durham u.a .. "Models and Forces of Cultural Evolution", in: Peter Weingart u.a. (Hgg.), Human - 8y Nature. 8etween 81010gy and tk Social
Sc'lmm; Mahwah (N.j.)/London 1997,327-353. Zu den "lamarckistischen" Mechanismen
Grandeut: lbe Spread 0/ExC/?llence
kultureller Evolution vgl.: Stephen Jay Could, L~res
.from Plato to DaJ71Jin, London 1996,217-230.
53
in ihrer funktionalen Dimension zu deuten sein.71 Diese Position ist auch
fUr andere Untersuchungskontexte. etwa die Entwicklungspsychologie. anschluBfahig. Tomasello bemerkt. zentral sei:72
[... 1 the social-cultural work that must be done by individuals and groups of
individuals, in both historical and ontogenetic time. to create uniquely human
cognitive skills and products. [...1 Any serious inquiry into human cognition.
therefore. must include some account of these historical and ontogenetic processes, which are enabled but not in any way determined by human beings' biological adaptation for a special form of social cognition_
Die zentralen analytischen Unterscheidungen biologischer und kultureller
Entwicklungsdimensionen, die die funktionalistische Kulturtheorie von
Boyd und Richerson auszeichnen. lassen die unzulassige Vermengung darwinistischer und lamarckistischer Evolutionstheorie, wie sie vor allem
soziobiologische und eine Reihe kulturwissenschaftlicher Konzepte der
"Kulturevolution" kennzeichnet. deutlich werden. Auch innerhalb der Kulturwissenschaften selbst IaBt sich namlich teilweise der Trend beobachten,
historische Entwicklungen und kulturelle Prozesse in Analogie zur naturlichen Evolution zu erkUiren. urn dadurch die eigenen Untersuchungen
durch Verweis auf "harte" Methoden wissenschaftlich abzusichern. 73 Aus71 Die Frage der funktionalen Dimensionen kultureller Entwicklung wurde in der Soziolo-
72
73
gie und Historiographie im Zusammenhang mit dem Problem der Vermittiung subjektiver und ob jektiver Strukturen angegangen: vgL bes_ Pierre Bourdieu, EntwlI1:! elner
7lJeone 'der Praxis auf der etlmologirchen Grundlage der kabylischen Geseltkhaji, Frankfurt/M. 1976: Groh, Bourdieu (Anm. 40), 19f.: Durch die auf der systemintegrativen
Ebene angesiedelten "strukturellen Dominanten" wird ein Spielraum bzw. Korridor .Jestgelegt dafiir, [· .. 1welche Deutungsmuster, welches Verhalten, welche Handlungen fauf der
sozialintegrativen Ebene, B.K.lT.W.J uberhaupt moglichsind."
Tomasello, Cultural OrigIns (Anm. 45). Ilf. Auf diese Weise konne man nicht nur die
universalen Charakteristika menschlicher Kognition erklaren, sondern gleichzeitig auch
die partikularen Eigenschaften einzelner Kulturen. Tomasello bezieht sich auf die dual
inheritance theory, die erwachsene Phanotypen vieler Spezies als abhangig von- biologi.'
schem und kulturellem Erbe ansieht.
Klassische Anleihen nahmen die Kulturwissenschaften jedoch zunachst bei der Ethologie,
vor allem bei Konrad Lorenz. So geht laut Desmond Morris, 7lJe Naked Ape, New York
1967, die Erfindung Gottes auf das fur Affen ubliche Bediirfnis zuriick, sich ihrem Leittier
bedingungslos zu unterwerfen, was die Gruppe nach auBen und innen eine und so ihren
Fortbestand garantiere. Ahnliche Gedanken vertritt seit langerem WaIter Burkert. fIomo
Necam Intf!lJJTetatlonen altgnechischer Gp/erriten und .#ythen, Berlin, 2. Aufl. 1997.
Burkert bezieht sich auf Karl Meuli und Konrad Lorenz, mit letzterem entwirft er eine
"auf Aggression aufbauende Kulturtheorie", im Rahmen derer die Hominisierung durch
Gewaltakte erfolgte: "Der Mensch wurde zum Menschen durch das Jagertum, durch den
Akt des Totens" (30). Mit der Bestimmung des Menschen als "hunting ape" (24) steht
Burkert in der Tradition negativer Anthropologie seit Raymond Dart, "The Predatory
Transition from Ape to Man", in: InternatIonal Anthropologicaland Ltnglllstic RevIew 1
54
schlaggebend im Rahmen dieser Konzepte ist die Annahme, da/3 auch der
ProzeB der Kulturentwicklung iiber Variation, Weitergabe und Selektion
diskreter Einheiten funktioniere. AIs eine soIche Selektionseinheit erIebt
derzeit Richard Dawkins BegriffsschOpfung "Mem" vermehrte Aufmerksamkeit.74 Dieser und ahnIiche Ansatze gelangen jedoch in der RegeI nicht
(1953), 201-218; Ders.lDennis Craig, Adventures witb tbe Afissing Link, New York 1959
(Wir folgen hier einem Vortrag von Ruth Groh zur Anthropologie der Aggression bei
Walter Burkert am 13. 02, 1999 an der Universitiit Konstanz). Burkert kniipft in seinen
Schriften auBerdem an Konzepte der Koevolution nach Edward O. Wilson und Charles
Lumsden (vg!. Anm. 74) an: vg!. Waiter Burkert, "Anthropologie des religi6sen Opfers.
Die Sakralisierung der Gewalt (1984)", in: H. R6ssner (Hg.), Der ganze Afenscb. Aspekte
einer ;JJClgmatiscben Antbropologie. Miinchen 1986, 205-227; Ders" ,VeJgeltlmg' zwiscben
Etbologie lint! £tbik. J?ej1exe lint! J?ej1exionen in Texten unci /lfytbologien des Aitertllms.
Miinchen 1994; Ders" f(IIltedes Altertllms. 8tdogiscbe GTllndlagenderJ?eligion, Miinchen
1998. - Die kompensationstheoretische Variante einer "Kulturevolution" vertritt Rudolf
Hernegger. Antbropologie zwtscben Soziobiologie IInd f(II/tlllWtssenscbaji. Die Afenscb
Uf?Tdlmg als Prozrjl der Selbstbestimmllng IInd der Selbst/xji-eimzg von der Determimsmen der
Gene IInd Umwelt, Bonn 1989. - Der Historiker August Nitzschke spricht sich in
74
"Naturwissenschaftliche Erkliirungen innerhalb der Kulturgeschichte", in: Wolfgang
Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hgg.): f(IIltllrgescbicbte bellte (Geschichte und
Gesellschaft. Sonderheft 16), G6ttingen 1996, 316-333, ebenfalls fUr die Biologie als
Stichwortgeberin kiinftiger sozialhistorischer Untersuchungen aus; vg!. jiingst auch J6rg
Wettlaufer, "The ,jus primae noctis' as a male power display: A review of historic Sources
with evolutionary interpretation", in: Evollltlon and Hllman 8ebavtor 2112 (2000), 111123: Wettlaufer spricht sich fUr eine "Evolutioniire Geschichtswissenschaft" aus. Vg!.
weiterhin kritisch Josef Heilmeier u.a. (Hgg.), GenIdeologien. 8tologie IInd 8iologismlls in
den SozMlwisencb~'.I,
Hamburg/Berlin 1991 sowie den Beitrag von Christian Strube im
vorliegenden Band.
Vg!. Dawkins, me Se!/isb Gene (Anm. 27); Richard Brodie, Virus 0./ rh Afind- me New
Saence 0./ rhe Jifeme, Seattle/WA 1996; Daniel Dennett, COnfctollSlless Explained, Boston
(Mass.) 1991; Ders., DdTWtnsDangerollsldM(Anm. 3). Susan Blackmore, meAfacbt~
ne, Oxford/New York 1999, hat Dawkins Theorie im Sinne eines "universellen Darwinismus" weiter ausgebaut: Die Theorie des Mems sei die einzige M6glichkeit, die darwinsche
Evolutionstheorie beizubehalten und doch nichtfunktionale kulturelle Phiinomene zu
erkliiren. Geisteswissenschaftliche Forschungen zur menschlichen Kultur und Kulturentwicklung werden innerhalb ihres Konzepts dagegen v6llig ignoriert, vielmehr wird die
Geburt der neuen "Wissenschaft der Memetik" vollmundig mit der kopernikanischen
Wende verglichen (35) und postuliert. daB egoistische Meme, bei denen es si ch urn Geschichten, Gewohnheiten od er Erfindungen, urn technisches K6nnen oder Wege, etwas zu
tun, urn Ideen. Informationseinheiten, Anweisungen, Verhalten, urn vireniihnliche Repli·
katoren od er Erfindungen handelt (vg!. u.a. 29. 60, 67), miteinander in einem Konkurrenzkampf stehen, Da sie sich replizieren, variieren und einer Selektion unterliegen, finde
hier eine Evolution statt und der Mensch sei entsprechend eine "Replikationsmaschine"
seiner Meme (45). Eine kurze Diskussion von Blackmores Ideen nndet sich im Scientific
American, 10 (2000), 53-61: Dies" "The Power of Memes", 53-61; Lee Alan Dugatkin,
"Animals Imitate, Too", 55, argumentiert. daB Meme nicht notwendig nUr fUr den
Menschen kennzeichnend seien. Henry Plotkin, "People Do More Than Imitate", 60, kritisiert den Begriff der ..Imitation", der Blackmores Konzept zugrundeliegt. als zu vage und
ss
tiber bloB analogische Formulierungen hinaus, deren Status allerdings nicht
gesehen od er gar angezweifelt wird. Methodische Schiirfe und quasinaturwissenschaftliche Objektivitiit der Untersuchungsergebnisse wird hier
durch die sprachliche Form lediglich suggeriert.
Die bemtihten Analogien zwischen kultureller und nattirlicher Evolution stiften sogar eher Verwirrung, weil Bedingungen (wie Mutation, HereditM. Uberproduktion an Nachkommen. knappe Ressourcen). Mechanismen (wie die nattirliche und die sexuelle Selektion) sowie die zeitliche
Dimension der nattirlichen Evolution in der tibertragenen Rede von der
"kulturellen Evolution" entweder willktirlich ausgeblendet oder in v611ig
sachfremden Kontexten verwendet werden.1 5 In der Rede von der "Evolu-
75
ihren Gesamtansatz als vereinfachend. Robert Boyd/Peter ].Richerson. "Meme Theory
Oversimplifies How Culture Changes". 58L. betonen, daB si ch kultureller Wandel nicht
ausschlieBlich mittels der naturlichen Selektion erklaren lieBe. Gegen die Gen-Mem·
Analogie wenden sie ein, daB Meme nicht intakt von Person zu Person weitergegeben.
sondern systematisch transformiert werden. daB spontane Mutation bei Genen relativ
selten ist, und daB eine Reihe nicht·selektiver Prozesse ldeen modifizieren konnten. Ahnlich betont Cavalli·Sforza in Gene, 10fker und Sprachen (Anm. 64). 189f., den
Unterschied zwischen biologischer und kultureller Mutation: kulturelle Mutation ist
meist gewollt und zielgerichtet. Eine Analogie zwischen kulturellen Neuerungen und
Viren find et si ch indes auch bei ihm (195). Kritisch zur "Memetik" vg!. weiterhin Steven
Jay Gould, "Start the Week - Debatte mit S. Blackmore, S. Fry. O. Sacks" (BBC Radio 4,
11. 11. 1996). - Der BegrifT des "Mems" erinnert an das "Kulturgen", von dem Charles J.
Lumsden und Edward O. Wilson sprechen: "The relation between biological and cultural
evolution", in: Journal ~I"Social
and .Biological Structures 8 (1985), 343-359. "Kulturgen"
meint dabei "die basale Einheit der Kultur" (347), ein homogenes Set von Artefakten,
Verhaltensweisen und mentalen Konstrukten, das den Gedachtniseinheiten im Gehirn
(344f.) entspricht und so die kulturelle Evolution erklare. lm Gegensatz zu den Theorien
des "M ems" legen Lumsden und Wilson jedoch mchr Gcwicht auf die genetische
Fundierung der Kulturgene. Dynamische Eigensehaften kultureller Transmission werden
hier zugunsten eines linearen und mathematisierbaren Prozesses verworfen: vg!. Charles J.
Lumsden/Edward O. Wilson, "Translation of epigenetic rules of individual behavior into
ethnographic patterns", in: Proceedings o/the National Academy ~I"Sciens
~I"tbe
United
States 0/America 77(1980), 4382-4386; vg!. aueh Dies .. Genes, fi1ina', and Culture 7k Co·
evo/;Itionary Pnxess, Cambridge (Mass.)/London 1981; vg!. kritisch dazu: Boyd/Richer.
son, Cttiture and E vO/;ltlOnary Pnxess (Anm. 70), 163 ff.
Adolf Heschl. Geschaftsfiihrer des Konrad Lorenz Institus fUr Evolutions- und Kognitionsforschung. vertritt neuerdings in Das Iluelllgente Genom. Oher die EntstehlUlg dw
menscblichen Geistes durcb Aftltation und Sele!:tion, Heidelberg u.a. 1998. eine besonders
radikale Position: Unter Bezug auf Desmond Morris halt er den Mensehen als "nackten
Affen" fur IJinreicbendbestimmt. Jede andere Meinung sei bloB ein "weltanschauliches
Tabu" (12). Menschliche Kognition und jedes Wissen sei jedoeh nicht nur ein fl--ai{{kt der
Evolution, sondern hier gelte: "AUes Wissen des Individuums steekt im Genom!" (15)
Diese Position durfte auch unter Biologen kaum Zustimmung erfahren; dementsprechend
gel ten Heschl Autoren wie Eibl-Eibesfeldt, Monod, Eysenenck. Wilson und Dawkins als
in ihren Erklarungsanspruchen zu zuruckhaltend; "wohlmeinende Kompromisse", wie sie
von Boyd/Richerson und Cavalli·Sforza formuliert wurden, lehnt er ganzlich ab (15).
56
tion" der Kultur werden uberdies biologisch widerspruchliche Ansatze aus
darwinistischen und lamarckistischen Entwicklungstheorien argumentativ
so vermengt, dal3 bisweilen implizit oder explizit sogar die seit der "grol3en
Synthese" der Evolutionstheorie verabschiedete teleologische Dynamik der
Lamarckschen Vererbung erworbener Eigenschaften innerhalb der nat'trlichen Evolution wieder fUr wirksam erklart wird. 76 Diese Deutungen verlassen folglich auch den wissenschaftlich gesicherttm Bereich der Biologie;
derartige Erklarungen erscheinen ihrerseits in wissenschafts· und kulturhistorischer Hinsicht erklarungsbedurftig.77
Aus den genannten Grunden scheint es deshalb vernunftig, UmweItveranderungen durch Organismen nicht als "KuItur" zu bezeichnen, vor alIem
deswegen, weil "KuItur" begrifflich an humane RationalWit, Selbstbewul3tsein und Intentionalitat zuruckgebunden iSt. 78 Urn den vieWiltigen durch
die Rede von einer "kulturelIen Evolution" heraufbeschworenen MiBverstandnissen zu entgehen, fordert Christian Vogel, den Terminus "KulturEvolution" moglichst zu "vermeiden und besser von ,KuIturgeschichte' und
,Kulturentwicklung'" zu sprechen. Die Begriindung des Biologen Vogel
deckt sich mit den von KuIturwissenschaftlern seit Jahren erhobenen Einwanden: 79
Menschliche Cescbicbte enthiilt damit zwar auch Nologiscbe Geschichte, wie zum
Beispiel den Ablauf der im Biogramm programmierten individualontologischen
Lebensstadien, unterschiedliche Fortpflanzungsraten, bev61kerungsbiologische
Prozesse und so weiter. sie ist jedoch charakteristischerweise ,Kulturgeschichte'.
Kultur ist auBerlich gekennzeichnet durch die Herstellung und intensive Verwendung von artifiziellen Werkzeugen (materielle Kultur, Technologie), durch
symbelische Sprachen, durch Traditionen, durch soziale lnstitutionen, Sitten,
Normen. Regeln, Gebote, Verbote, Tabus, durch Moral, Religionen, Kulte und
durch das umfassende Bediirfnis, Wesen, Herkunft. Zweck und Ziel aller im
Erlebniskreis des Menschen wesentlichen Dinge, einschlieBlich seiner selbst, zu
16
11
78
79
Vgl. Marcel Weber. Die A rchiteklllr der Synthese: Entstehtmg Hnd Philosophie der modemen
Evo/',tionstheorie. Berlin/New York 1998. Zu Teleologie und Fortschrittsdenken in der
Evolutionstheorie vg!. Could. Li/es Grandettr (Anm. 70); vg!. auch Michael Ruse. der in
Taking Darwin SenoHsly: A Natl(ralistic Approach to Philosophy. Oxford 1986. spezieU der
Soziobiologie einen progressionistischen Zug attestiert; vg!. neuerdings Ders.. Alonad to
Alan. me Concept q/Progress in Evo/"tionary Biology. Cambridge 1997. Ruse wundert sich
hier angesichts von Dawkins radikaler Ablehnung des Christentums iiber dessen teleo·
logische. fortschrittsoptimistische Interpretation der Evolution (Wasser. Erde. Luft. Kultur); vg!. Richard Dawkins. Climhing Alo/mt Improbable. New York 1996.
Kulturelle Entstehungs· und Rezeptionsprozesse evolutionstheoretisch fundierter Kultur.
theorien miissen also kritisch nachgezeichnet werden. denn sie universalisieren unzuIassig
nur pamklllargiiltige evolutioniire Erkliirungen; vg!. oben. Anm. 49.
Janich. j(niikdes In/mmationshegriffi(Anm. 9). 82.
Vogel. Anthropologisches'pHren (Anm. 54). 72L
57
deuten und zu erklaren, dariiber zu reflektieren. Obwohl menschliche C'escbicht·
!icbkeit nur durch die biologische Evolution moglich wurde, sind die Inhalte und
der Lauf menschlicher Geschichte natiirlich nicht durch die biologische Evolution determiniert, eine Anmerkung, die trivia! ist !Hervorheb. B.K.lT.W.J. vor
Biologen aber doch manchmal angebracht scheint. Der oft verwendete Ausdruck
,Kultur-Evolution' tauscht nur zu leicht vor, es konnten alle wesentlichen GesetzmaBigkeiten und Mechanismen der organismischen Evolution einfach auf die
Kulturgeschichte iibertragen werden. Das trifft keineswegs zu.
7. Die zwei Systeme: Emergenz
Kulturelle Leistungen verk6rpern in einer jimktionalen evolutionaren Perspektive erweiterte kognitive Fahigkeiten des Menschen, seine Umwelt zu
bewaltigen und damit fUr sein Uberleben zu sorgen. Im Rahmen neonaturalistischer Position en wird dabei neben einem ontologisc/;en Reduktionismus
auch ein tpistemologisc/;er oder gar ein metbodologisc/;er Reduktionismus
vert re ten. Weitgehend unproblematisch ist der ontologische Reduktionismus, der davon ausgeht, daB diesel ben elementaren Substrate und Wechselwirkungen Grundlage von organischen und anorganischen Prozessen sind.
Der epistemologische Reduktionismus behauptet demgegeniiber die M6glichkeit der Redefinition kultureller Begriffe mittels biologischer sowie die
grundsatzliche Ableitbarkeit kultureller Strukturen aus biologischen - eine
Annahme, mit der die Autonomie der Kulturwissenschaften bestritten
wird. Dariiber hinaus wird teilweise auch ein methodologischer Reduktionismus vertreten, wenn verlangt wird, kulturwissenschaftliche Forschungen
solI ten si ch auf der biologisch-evolutionaren Ebene bewegen und durch
soziobiologische Methoden ersetzt werden. Die Soziobiologie beispielsweise
erklart soziales Verhalten und kulturelle Zusammenhange grunc/.;dtzlicb
durch Verweis auf die Evolution des Menschen, ein epistemologischer Reduktionismus ist also das basale Axiom ihres gesamten Ansatzes. Damit
wird aber auch die fachwissenschaftlich vorgegebene eingeschrankte Erkenntnisabsicht, d.h. die Fokussierung auf ein bestimmtes Erkenntnisobjekt, aufgegeben.BO Wie Giinther P6ltner herausgestellt hat, kennt die leBO
Zum Problem von Reduktion und Emergenz vg!. die Arbeiten von Paul Hoyningen·
Huene (Anm. 82). Im vorliegenden Zusammenhang folgen wir: Ders., "NHs Bohrs Argument fUr die Nichtreduzierbarkeit der Biologie auf Physik". in: PhlloJOI)hkl MLlllralis 29,
1992, 229-267, bes. 239. Die Unterscheidung der drei Arten von Reduktionismus geht
zuruck auf Francisco J. Ayala, ..Introduction", in: Ders.lTheodosius Dobzhansky (Hgg.),
St/dzes in the Philosophy ojilzology. Redllctlon and Related Problems, London/Basingstoke
1974, VII-XVI. Kritiseh zum soziobiologisehen Reduktionismus im Kontext metaphysi.
seher Einheitskonzepte vg!. grundlegend Joseph Wayne Smith, ReduC/tonismandCultllrai
58
bensweltliche Erfahrung keine methodische Reduktion. Sie hat es somit wenn auch prareflexiv - mit Gesamtphanomenen zu tun. Demgegenuber
kann eine Fachwissenschaft ihr Ausgangsphanomen prinzipiell nicht
einholen, denn sie muB es im Zeichen ihrer eingeschrankten Erkenntnisabsicht methodisch reduzieren. Eine solche eingeschrankte Erkenntnisabsicht
liegt beispieIsweise in der Frage nach der biologischn Seite des Menschen.
Mit der Zielrichtung dieser Frage wird die spezifische Gegenstandlichkeit
des Untersuchungsobjekts bereits vorabfestgelegt.
Somit entspricht der abstrakt-partiellen Fragehinsicht der Fachwissenschaft notwendig ein thematisch reduzierter Gegenstand, das Ausgangsphanomen wird im Lichte einer seiner Dimensionen betrachtet, die anderen
Dimensionen aber ausgeblendet. Die Iebensweltliche Erfahrung ermbglicht
also die Fachwissenschaft deren methodisch-reduzierter Gegenstand allerdings "nicht den BeurteilungsmaBstab fUr die eigene ElmO'glic6ung' bilden
kann. 81 Eine Verstandigung iiber das, was beispielsweise als "aggressives",
"liebevolles" oder anderes Verhalten bezeichnet werden kann, basiert
immer auf intersubjektiven Konventionen im Rahmen symbolischer menschlicher Kommunikation. Sinn und Bedeutung von entsprechenden
Verhaltensattributen sind dementsprechend niemals auf Dispositionen einzelner Sprecher zuriickfiihrbar.
In Absetzung von Positionen, die ihr solchermaBen reduziertes Erkenntnisobjekt fiir das Gesamtphanomen ausgeben, partikulare Eigenschaften
also universalisieren, sei hi er auf das Prinzip der Emer,genz verwiesen.82 Auf
Being. A Phtlosophical Cntiqlle ()/ Sociobiological Recltlctionism and Physicalist Scientijic
Unijitatlonism. The Hague u.a. 1984; Michael Ruse. "Sociobiology and Reductionism". in:
Paul Hoyningen·Huene/Franz M. Wuketits (Hgg.). Redllctlonism and Systems 7beory i'2
tk Lift Saences. Some Prohlems and Penpectives. Dordrecht u.a. 1989. 45-84. Vg!.
weiterhin Plot kin. Evollltlon tn A1ind(Anm. 56}. 88-94: Plotkin verteidigt die Soziobio-
logie gegen den Vorwurf des Reduktionismus, urn dann festzustellen. daB die
genzentrierte Sichtweise der Soziobiologie einem "metaphysischen Reduktionismus"
gleichkame. es sich also urn eine empirisch nicht test bare Glaubensfrage handle (94).
81 P6ltner. Evollltiondre VC77ZIItg;'l(Anm. 25).199.
82 Vg!. A. Beckermann u.a. (Hgg.). Emergence or Redllctton/ Essays on the Prospects qfNonre·
dllcttVe Pbysicdism. Berlin/New York 1992; Charles/Lennon (Hgg.). Redllction, Ex;lanatIOn, andRealism (Anm. 55); David Charles (Hg.). RedtICttomsm andAntiredllcttonism.
Oxford 1994; Paul Hoyningen-Huene, "Zum Problem des Reduktionismus in der Biologie". in: Phtlosophitt Notltralis 22, 1985,271-286; Ders .. "Epistemological Reductionism in
Biology: lntuitions, Explications, and Objects", in: Ders.lWuketits (Hgg.), Redttctiomsm
ami ~stem
7beory In the Lift Saences (Anm. 80). 29-44; Ders .. "Theorie antireduktionj·
stischer Argumente: FaIlstudie Bohr", in: Delltsche Zeitschrijijiir Philosophie 3912 (1991),
194-204; Ders .. "Zankapfel Reduktionismus", in: ,f/erkllr47, 399-409. Rolf Sattler. fliopN
losop,ry AnalytIc and Holirtlt: Per.rpectives, Berlin u.a. 1986; Kari R. Popper, "Scientific
Reduction and the Essential Incompleteness of All Science", in: Ayala/Dobzhansky
(Hgg.), Stllcltes In the PhIlosophy ()/fllology (Anm. 80). 259-284. Popper argumentiert. daB
59
der Basis des Axioms "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" geht
man davon aus, daB charakteristische Eigenschaften eines Systems komplexer Ordnung nicht durch den Rekurs auf dessen Einzelkomponenten oder
deren Wechselwirkungen, sondern immer nur durch die Bezugnahme auf
das gesamte System verstandlich und erkIarbar sind. 83 lm Gegensatz zu den
Eigenschaften der Komponenten bezeichnet man diese Systemeigenschaften
dann als "emergent". Phanomene wie Lebendigkeit, soziales Zusammenle·
ben, BewuBtsein und SelbstbewuBtsein lassen sich dementsprechend als
unvorhersehbare, unableitbare und neuartige Eigenschaften le bender Organismen fassen, die m'cbt kausal auf Eigenschaften niederer Komplexitat
zuriickgefiihrt werden konnen. 84 Vielmehr kann man im Sinne eines ent-
83
84
Reduktionen von Biologie auf Chemie und van Chemie auf Physik scheitern mussen.
Bereits auf der Ebene der chemischen Vorgange musse "eine vol!standig neue Idee"
eingebracht werden, die der Physik fremd sei - namlich die der Evolution, der Histori·
zitat des Universums (267). Vg!. weiterhin Franz M. Wuketits, .. Organisms, Vital Forces,
and Machines: Classical Controversies and the Contemporary Discussion ,Reductionism
vs. Holism''', in: Ders./Hoyningen·Huene (Hgg.), Recltlctionism and Systems meoryin the
Ltft Sciences, 3-28. - Zur Ideen- und BegrifTsgeschichte vg!. Achim Stephan, Emergenz.
vim der Unvorhersagharkeit Z/ff Selhstorganisation (Theorie & Analyse, Bd. 2), Dres·
den/Munchen 1999. Zur Emergenz-Problematik in psychologischer und sozialwissen·
schaftlicher Sichtweise vgl. Jeffrey C. Alexander u.a. (Hgg.), me Aftero·Uacro·Ltnk.
Berkeley u.a. 1987, darin bes. Bernhard Giesen, "Beyond Reductionism: Four Models Re·
lating Micro and Macro Levels", 337-355, und Hans Haferkamp, "Complexity and
Behavior Structure, Planned Associations amd Creation of Structure", 177-192; vg!. wei·
terhin Mario Bunge, "Reduktionismus und Integration, Systeme und Niveaus, Monismus
und Dualismus", in: Ernst Poppel (Hg.), Gehim /l7Jd Ilewu/ltsetn, Weinheim u. a 1989,87104; Norbert Elsner/Gerd Luer (Hgg.), Dm Gehim /md seln Getst, Gottingen 2000; Claus
Buddeberg, "Soziale Systeme und ihre Regelung", in: Ders.lJiirg Willi (Hgg.): Psychoso·
zlizleUeiizin. Berlin u.a. 2. Aufl 1998.73-99.
Vertreter einer reduktionistischen Position muBten also .. die Dispositionen zum emergenten Verhalten innerhalb des Ganzen auch IInabhdngig von clt'eser Integration" nachweisen;
vg!. Hoyningen·Huene, "Emergenz versus Reduktion", in: G. Meggle/U. Wessels (Hgg.),
Analyomen I, ProceedIngs ifthe 1st Coo/'erence pPerrpectives in Analytical PhtlosfJy~
Ber·
Iin/New York 1994, 324-332. 327. Hoyningen·Huene spricht von der Moglichkeit, die
Disposition einiger Tiere, ihre sozialen Verhaltensweisen bei Prasenz eines Artgenossen
deutlich zu and ern. durch Zuchtung von Tieren oh ne das entsprechende Gen auszuschal·
ten. Hier mussen allerdings sowohl die Umweltbedingungen als auch die Tatsache beach·
tet werden. daB bei Ausschaltung eines Gens (z.B. bei "Knock·Out-Miiusen") dessen
Funktionen von anderen Genen ubernommen werden konnen; vg I. lames N. Ihle. "The
Challenges of Translating Knockout Phenotypes into Gene Function", in: Cell102 (21. 7.
2000),131-134.
Vg!. Hoyningen-Huene. Emergenz verslls Redllktion (Amn. 83).325. DaB daruber hinaus
die Kenntnis niedrigerstufiger Teile fUr das VersUindnis eines hOherstufigen Ganzen auch
einfach irrelevant sein kann. lieBe sich unproblematisch am fingierten Beispiel einer "evo·
lutionaren Literaturtheorie" zeigen. Die Grunde fUr die Nicht -Ableitbarkeit konnen kon·
tingenter od er prinzipieller Natur sein. vgl. Martin Carrier/ Jurgen MittelstraB. Gets!, Ge·
him, Verhalten. Das Lei6SeeleProblem IInd du; PhilosofJhieder Prychologie, Berlin 1989. 128.
60
wickltmgsbiologischen Holismus davon ausgehen. daB belebte emergente
Systeme eine Makrodetermination. d.h. ihrerseits einen kausalen EinfluB
auf ihre Komponenten ausiiben. 85 Eine Reduktion auf diese Komponenten
hieBe umgekehrt, das emergente System analytisch unterkomplex zu fassen.
Humanes BewuBtsein. IntentionaIWit und Kultur lassen sich so aIs emergente Systeme begreifen (auf den Ebenen des Individuums bzw. des Sozialverbandes). die sich gegen reduktionistische Erkliirungen sperren und daher
eigenstiindige Erkliirungen erforderlich machen. die ihrer erhOhten Komplexitiit gerecht werden. 86 Daher ist nicht damit zu rechnen. daB sich soziobiologische Erkliirungen humaner Kultur aIs tragfahig erweisen werden.
Auch Formen der KuItur und Sozialitiit nichtmenschlicher Prima ten stehen
die emergenten sozialen und kuItureIIen Systeme des Menschen aIs auf diese
mch reduzierbar gegeniiber.
Entsprechendes ist besonders deutlich im Rahmen des psychosomatischen Zeichenmodells von Thure von Uexkiill und Wolfgang Wesiack betont worden. 87 Hier werden vier Regelkreise mit jeweils spezifischen Zei-
85
86
87
Zum Konzept eines "entwicklungsbiologischen Holismus" vg!. Christian Kummer.
"Macht die Molekularbiologie eine Ganzheitstheorie des Organism us iiberfliissig?". in:
Bucher/Peters (Hgg.). Evolution im Disklffs (Anm. 43). 155-167. 163. Kummer argumentiert im Rahmen seines organismischen Modells dafiir. Lebenserscheinungen als emergente
Phanomene zu begreifen. Das Ganze des Organismus iiberforme die Komponenten. so
"daB der Organismus nicht Resultat seiner zellularen Grundeinheiten ist. sondern selber
die Grundeinheit darstellt. welche die zellularen Phanotypen bestimmt." (163) In diesem
Zusammenhang spricht man auch von "downward causation"; vg!. Jaegwon Kim.
".Downward Causation' in Emergentism and Nonreductive Physicalism'·. in: Beckermann'u.a. (Hgg.). Emergence or Reductiom'(Anm. 82).119-138; Paul Hoyningen-Huene.
"Zur Emergenz. Mikro· und Makrodetermination". in: Weima Liibbe (Hg.). /(al(salittit
und Zurecbnllng. Berlin 1994. 165-198. 175-179. Zur Emergenz zwischen physikalischen.
chemischen und biologischen Systemen vg!. die Einfiihrung von Jost Herbig und Rainer
Hohlfeld. in: Dies. (Hgg.). Die zwette So(.opfimg (Anm. 24). 17-31. bes. 24-26. Mayr. Das
ist 8iologle (Anm. 30). bemerkt. daB emergente Phanomene innerhalb der Biologie nicht
durch Gesetzeswissen faBbar seien und stellt die Organisation von Organismen iiber ihre
Zusammensetzung (15ff .. 40). Den eigenstandigen Charakter biologischer gegeniiber no·
mologischen Erklarungen betont auch Mutschler. Cescbichtllcbkell der Natllr(Anm. 43).
Vg!. Peter Koslowski. Evollltion und Cesellscbqfi Eine AuseiwJIldersetzlmg mll der Soziobio·
logle (Waiter Eucken Institut Vortrage. Bd. 98). Tiibingen 2. Aufl. 1989. bes. 78f£.; vg!.
dazu auch den Beitrag von Tilmann Waiter im vorliegenden Band.
Vg!. Thure von Uexkiill/Wolfgang Wesiack. "Wissenschaftstheorie und Psychosomati·
sche Medizin. ein bio-psycho·soziales Modell". in: Thure von Uexktill. Frycbosomatiscbe
;lfaiizllz HeraMgege,6en von Ro!lAdl/?7' /lA.• Miinchen u.a. 3. A ufl. 1986. 1 -30. hier 17f.;
ausYUhrHcher Dies., 7iJeorie der Humanmedizin. Cmndlagen tirztllcben Denkens und
Hande/m. Miinchen u.a. 3. Aufl. 1998. Zum kulturell iiberformten Charakter der menschlichen "Natur" aus der Sicht psychosomatischer Medizin vg!. Norbert Schmacke (Hg.).
Cesttndbeit undDemokratie. Von der UfOjJle der sozlalen ;lfa:z'tzln (Hans-Ulrich Deppe zum
60. Geburtstag). Frankfurt/M. 1999; darin bes. Jochen Jordan. "Psychosomatik: Leitdiszi·
61
chensystemen zueinander in Beziehung gesetzt: die chemischen und elektrochemischen Kreislaufe des endokrinen und des limbischen Systems, die
innerpsychischen Vorgange, die sozialen Umgangsformen und die kuIturelIen Deutungsmuster, also Physis. Psyche. soziales Zusammenleben und
symbolisch vermitteIte Kultur. Der Mensch gilt im Rahmen dieses ModelIs
als ein No-pS)!cho-sozialesWesen. doch ist hier eine eigenstandige KtlltUJtheorie 88 unumganglich. weil der Mensch durch seine Befahigung zu selbstbewuBtem symbolischem Handeln die physikalischen. vegetativen und ani malischen Seinsebenen transzendiert Epistemische Analysen setzen diesem
ModeII zufolge einen methodischen Pluralism us voraus. der diesen eigenstandigen und unabhangigen Bereichen entspricht.
Eine solche naturwissenschaftliche Position beansprucht nicht. biologische Letztbegrtindungen ftir kulturelle Erscheinungen zu formulieren_ Sie
ist zudem in heuristischer Hinsicht ftir Kulturwissenschaftler von Interesse,
weil sie geeignet ist, den Blick auf andernfaIIs nur wenig beachtete Zusammenhange zu scharfen. AufschluBreich sind beispielsweise jtingere Forschungsergebnisse der Entwicklungspsychologie:89 Von Entwicklungspsychologen wurde festgesteIlt, daB die veranderte extrauterine Urn welt in den
ersten Lebenswochen betrachtliche Anpassungsleistungen erforderlich
macht. 90 Vi tale Adaptionsprozesse mtissen vom Neugeborenen auch im
plin eineremanzipatorischen Medizin?", 93-211; vg!. weiterhin Christoph Klotter, "Gesundheit - Krankheit - Natur", in: rorschendej(omplemen!ti77l1edtztn 4,1997,34-43; Gerd
Overbeck u.a., "Neuere Entwicklungen in der psychosomatischen Medizin", in: Psychothe.
rapellt 1. 1999, 1-12.
88 Vg!. von Uexkiill/Wesiack, lbeonederHllmanmedtzin(Anm. 87), V.
89 Wir danken WOlfgang Friedlmeier fUr seine detaillierten Hinweise, die dem folgenden
Text teilweise zugrunde liegen.
90 Zu entwicklungspsychologischen und klinischen Aspekten der friihen Kindheit vg!. Doris
Bischof-Kohler, "Zusammenhange zwischen kognitiver, motivationaler und emotionaler
Entwicklung in der friihen Kindheit und im Vorschulalter", in: Keller (Hg.), LelJrbllch
Entwlck!ungsp.sychologle (Anm. 40), 319-376; T. Berry Brazelton/Bertrand G. Cramer, Die
;rlibe .8lndllng. Die erste .8t'ZJebllng zwt'schen dem .8al7y Nnd semen Eltem. Stuttgart 1991;
Barbara Buddeberg-Fischer/Claus Buddeberg, "Entwicklungspsychologie". in: Buddeberg/Willi (Hgg.). Psyd;Josozl"le;/fedtzln (Anm. 82), 101-216; Martin Domes, Derkompe
tente Sdllgling. Die prdverbde Entwick/tOlg des ;/femcben, Frankfurt/M. 1993; Ders., Die
;rt/be f(indi7elt. Entwick!ung;psycbologle der mten LebenSjalJre (Geist und Psyche). Frank·
furt/M. 3. Aufl. 1999; Lutz H. Eckensberger/Heidi Keller, "Menschenbilder und Entwicklungskonzepte", in: Keller (Hg.), LelJrbllchEntwicklung;psyc!:Jologie(Anm. 40),11-56;
Peter LaFreniere, EmotiOtkl! Devlopm~nt.
A .8iosock;! Fer.rpecti-v'£', Belmont (Calif.) 2000.
101-130; Hilarion G. Petzold (Hg.), rnibe Scbtidigungen - sp.-ite rolgen. Psycbotberaple find
.8al7y/orschllng. .Bd 1: Die HemllsjOrderltng der Ldngsscl.mittjorschllng (Innovative Psychotherapie und Humanwissenschaften, Bd. 55), Paderbom 2. Aufl. 1997; L. Alan Sroufe, Emo·
tional Development. lbe Organt'ution 0/ Emotional Lift In tbe Early Years, Cambridge
1996; Daniel N. Stem, Die Lebense?fobmng des Sdllglings, Stuttgart 2. Aufl. 1992; Donald
62
Hinblick auf basale Korpervorgange wie die Funktionen des limbischen
Systems - Atmung, Verdauung, Biorhythmen, Steuerung der Korpertemperatur, Immunabwehr - vollzogen werden, denn andernfalls wurde das Kind
bald sterben. Urn dieses fruhe "Lernen" (hier verstanden im Sinne der behavioristischen Lerntheorie) zu ermoglichen, ist eine enge soziale Bindung zur
Mutter oder zu einer entsprechenden mutterlichen Bezugsperson vonnoten.
Auch physiologische Prozesse im Korper werden demzufolge durch Sozialisationsprozesse mitbestimmt.
8. Dimensionen der Zeit: Ontogenese
Mit der fur die Entwicklungspsychologie konstitutiven Untersuchung der
Ontogenese ruckt eine zeitliche Dimension menschlichen Lebens in den
Vordergrund, die bisher noch nicht zur Sprache kam. Zunachst gilt es festzuhalten, daB die primiTe menschliche Zeiterfahrung die der alltaglichen
Lebenswelt ist. Auch jemand, der den Zeitaum der Existenz des Menschen
angesichts evolutionarer zeitlicher Dimensionen fUr unbedeutend erklart,
kann hinter diese Zeiterfahrung nicht zuruck. Er oder sie lebt und handelt
in jeweiligen fur ihn oder sie hOchst relevanten alltagsweltlichen Lebenszusammenhangen, in denen die evolutionare Zeit keine unmittelbare Rolle
spielt. Daruber hinaus fUhrt diese Person ihr Leben in einem bestimmten
historisch-kulturellen Raum, der ebenfalls unhintergehbar und fUr ihr
Selbstverstandnis und ihre Handlungen von Bedeutung ist. Die Indivualentwicklung schlieBlich bildet eine vierte irreduzible anthropologische Dimension der Zeit, innerhalb derer sich ein Mensch im Wechselspiel zwischen genetisch vorgegebenen Rahmenbedingungen und Umwelt entwikkelt.
In der ontogenetischen Entwicklung aller hOheren Saugetiere sind Anlage und Umwelt, nature und nurture untrennbar miteinander verwoben. 91
Beim Menschen kommen jedoch kulturelle Umweltfaktoren als weitere
EinfluBgroBen hinzu und mussen bei der wissenschaftlichen Analyse Be-
91
W. Winnicott. llabys Ilnd ilJre #titter (Konzepte der Humanwissenschaften). Stuttgart
1990; Philip G. Zimbardo/Richard j. Gerrig. F5)lclJ%gie. llearbeitetllndheratlsgegeben von
SiegJi-ied HopjJe-Grq/llnd Irma Enge/, Berlin u.a. 7. Auf1. 1999, 449-518.
Unwillkiirliche Lernvorgange sind auch im Tierexperiment gut nachvollziehbar: vg!.
Hans Miiller-Braunschweig. .DIe Wl'ri?rlnl{ der ;r"hen Erfilmmg. Oaf ersce LebenSJab IInd
seine Bedell/ling jilr die jJ5)lclJiscIJe Entwick/llng. Ergelmisse IInd Prob/eme (Konzepte der
Humanwissenschaften), Stuttgart 1975,114-116. - Umgekehrt weisen Verhaltensbiologen
darauf hin, daB die iiblichen normierten Aufzucht- und Haltungsbedingungen von Versuchstieren so unphysiologisch sind, daB sie notwendigerweise normabweichendes
Verhalten produzieren. Eine L6sung dieses methodischen Dilemmas ist nicht abzusehen.
63
rucksichtigung finden. In der Phase pnrnarer Sozialisation biologischer
Funktionen ist die Mutter bewuBt oder unbewuBt als "Agentin der Gesellschaft" wirksarn, denn ihr Verhalten wird durch kulturelle Rahrnenbedingungen 92 entscheidend gepragt. Deswegen ist eine Herrneneutik kultureller
Zeichen und Syrnbolsysterne, wie sie durch die Sozial- und Kulturwissenschaften zur VerfUgung gestellt wird, fUr eine kulturell differenzierende
Psychologie und psychosozial fundierte Medizin unabdingbar.
Wissenschaftspraktisch ist dieser Einsicht entsprechend in den letzten
Jahren unter Psychologen das BewuBtsein gewachsen, daB sich raurnzeitlich
spezifische Verhaltnisse nicht einfach auf alle Menschen ubertragen lassen,
sondern daB sich ernotionale. kognitive und behaviorale Eigenschaft~
nur
irn Hinblick auf historische. soziale und kulturelle Urnweltbedingungen
exakt bestirnrnen lassen. 93
92
93
Vg!. John Bowlby. Trennllng. Psyd7ische Schdden als Fo/ge der Trennllng von Allltler IInd
Ktttd(Geist und Psyche). Munchen 1976.414-421: LaFreniere. Emotional Development
(Anm. 90). 231-239: Mary Anne Trause u.a ....Das Mutterverhalten bei Saugetieren". in:
Marshall H. Klaus/ John H. Kennell. Allltter·Kind-Blndltng. Ube?' cite Fo/gen einer.lnihen
Trennttng. Munchen 1987. 35-62; von Uexkull/Wesiack. lbeone der IIlImanmedizin
(Anm. 87). 327f. - Von der Sache her ahnlich argumentiert das soziologische .. Habitus"·
Konzept Bourdieus in lbeorie der Pmxis (Anm. 71). - Die Soziobiologin Hrdy stellt
neuerdings fest: .. Fur Lebewesen wie Prima ten ist die Mutter die Umwelt - zumindest ist
sie wahrend der am meisten gefahrdeten Phase im Leben eines jeden lndividuums der
wichtigste Bezugspunkt." (Hrdy. Allltter Natltr (Anm. 27). 95). Damit bekraftigt sie interessanterweise ausgerechnet die von Kulturwissenschaftlerinnen seit Jahrzehnten bekraf·
tigte These, .. Mutterliebe" sei eine .. gesellschaftliche Konstruktion" (ebd., 357).
Zur prinzipiellen Notwendigkeit des Kulturvergleichs innerhalb der Psychologie vg!.
John W. Berry u.a. (Hgg.), lIandhook q,tCross·Cultural Psychology; lid 1: lbeol)' and Ale·
thod; 8d 2: BaSIC Proceises and IIlIman Development; Bd J: Soci;1 Behavlor and Apphca·
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Association /Or Cross· Cultural Psychology kid in Adra, japan. Amsterdam 1992; Waiter J.
Lonner/Roy S. Malpass (Hgg.). Psychology a7Jd Culture. Boston u.a. 1994; Giuseppe
Mantovani. Ex,doring Borden-. Under.rtandtng Clllture and Psychology. London/Phila·
delphia 2000; David Matsumoto. Culture and Psyc/:;ology, Albany u.a. 1996; Christian
VogellLutz Eckensberger. "Arten und Kulturen - Der vergleichende Ansatz", in: Klaus
Immelmann u.a. (Hgg.). Psychobtologie. Crttna'lagen des Verhaltens. Stuttgart u.a. 1988.
563-606. - Zu der innerhalb der Psychologie vorherrschenden Tendenz. die europaischen
und amerikanischen Verhaltnisse unreflektiert auch auf Menschen anderer Kontinente zu
ubertragen. vg!. kritisch Dennis Howitt/ J. Owusu-Bempah. lbe Racism 0/Psychology.
Ttme/Ora Change. New York u.a. 1994; Graham Richards. "Race~
Racism andPsychology.
Toward; a Rfj1eJClve lIistol)'. London/New York 1997. - Zu kulturellen Aspekten der
Entwicklungspsychologie und der Sozialisation vg!. Gisela Trommsdorff (Hg.).
Soziahsation Im Ktdlllrvel(!leicb (Der Mensch als soziales und personales Wesen. Bd. 10)
Stuttgart 1989: Dies. (Hg.). Kindheit IInd jllgend in verschiedenen Klllturen. Entwlcklung
find Sozialisation pt kllltllrvergleichender Stcbt, Weinheim/Munchen 1995. Zu
kulturspezifischen Selbstkonzepten vgl. Anthony j. Marsella u.a. (Hgg.). Cultllre and Sell
64
Die emotionale Entwicklung, die starken kuItureIIen Einflussen unterliegt, bleibt auch biologisch darsteIlbar. In der Humanpsychologie dienen
dabei peripher-physiologische Reaktionsmuster als deflnierendes Kriterium
zur Unterscheidung von Emotionen 94 und zu ihrer analytischen Abgrenzung von Gedanken, Werturteilen, Motiven und Intentionen. Auf angeborene Dispositionen scheinen beispieIsweise ethologische Studien zur Universalitiit menschlicher Gesichtsausdrucke bei Sauglingen hinzudeuten. 95
Menschliche Emotionen Iassen sich zwar individueII psychisch regulieren
und kontroIlieren, k6nnen aber noch bei Erwachsenen zuweiIen unkontroIlierbar auftreten. Sie lassen sich also weniger beeinflussen als andere
psychische Vorgange (z. B. die Kognition). Damit verweisen sie aufvegetative Prozesse, die jenseits individueII oder kultureII konstruierter Bedeutungs-
Asian alld IPesrem Ft/7:r/ectJVes (Social Science Paperbacks, Bd. 280). New York/London
1985; Jonathan Tudge u.a. (Hgg.). Comparisons in lillman Development. Unierstanding
Ttme and Context (Cambridge Studies in Social and Emotional Development). Cambridge
94
95
1997, Zur Emotionalitat im Kulturvergleich vg!. Hazel Rose Markus/Shinobu Kitayama.
"The Cultural Shaping of Emotion: A Conceptual Framework", in: Dies, (Hgg.). Emotion
and Odtllre Empincal Stlldies 0/ A1tltlldllnplence, Washington 1994, 339-351. Zum
menschlichen Verhalten in kulturvergleichender Sichtweise.vgL MarshaU H. Segall u,a.
(Hgg.). lillman Bebavior in GlobalFfflfJecttveA n Introdllction to Cross-Odtllral Fsycbology
(Pergamon General Psychology Series. Bd, 160), New York u.a, 1990,
Zur Neuro- und Psychophysiologie der Emotionen vgL John T. Cacioppo, u.a .. "The Psychophysiology of Emotion", in: Michael LewislJeanette M. Haviland (Hgg,). Handbook 0/
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Emotion and Affective Style". in: Lewis/Haviland (Hgg,). Handbook 0/Emotions. 143154; N~than
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Attacbment and Development (Texts in Developmental Psychology). London 2000, 183·197; Alfons 0. Hamm, "Zur Psychophysiologie von Emotionen", in: Hilarion G, Petzold
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LaFreniere. Emotional Development (Anm. 90). 45-72; Jonathan Polan. H.lMyron A.
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Cassidy/Shaver (Hgg.), Handbook ~/' Attacbment, 162-180; Klaus Schneider/Klaus R.
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Zum mutmaBlich angeborenen Gesichtsausdrucksverhalten bei Sauglingen vgL Linda A,
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(Anm. 94). 199-218: Bryan Kolb/lan Q. Whishaw. Nelll'OpS)'cbologle. 2, Aufl. Heidelberg
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65
systeme wirksam bleiben. So scheint die Disposition zur Entwicklung
bestimmter Temperamente und Charaktere teilweise angeboren zu sein. Sie
bildet gegeniiber kulturellen Bedeutungszuschreibungen ein Gegengewicht.
das sich im subjektiven emotional en Erleben zeitlebens widerspiegelt. 96
Grundsatzlich geht man inzwischen beziiglich der emotionalen Entwicklung davon aus. daB fUr die friihkindliche Entwicklung nicht. wie von
Sigmund Freud angenommen. "sexuelle" Triebregungen wesentlich sind und auch im Sinne der behavioristischen Lerntheorie lassen sich diese Vorgange entwicklungspsychologisch nicht sinnvoll darstellen _.97 sondern soziale Bediirfnisse nach emotional er Bindung. Sicherheit und Zuwendung in
Form einer angemessenen Versorgung. Fiir diesen Kontext gilt die von
John Bowlby und Mary Ainsworth formulierte Bindungstheoni!l8 als grund-
96
97
98
Zum mutmaBlichen EinfiuB der Gene auf die Personlichkeit vgl. Brazelton/Crarner, Die
pltbe iJlnaHng (Anm. 90), 95-103; Claus Buddeberg/Kurt Laedebach, "Psychophysiolo·
gie", in: Buddeberg/WilIi (Hgg.). Ps)'cbosoziale filttt'lzin (Anm. 82),301-360. hier 301-314;
Buddeberg·Fischer/Buddeberg, EntwukllmgrpS}'Cbologie (Anm. 90). 128-131; Kolb/Whi·
shaw. Ne:/ropsycbologie (Anm. 95), 352-369; LaFreniere. Emotional Development
(Anm.90), 193r.; Brain E. Vaughn/Kelly K Bost. "Attachment and Temperament: Redundant. Independent. or Interacting Influences on Interpersonal Adaption and Personality
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Zur Kritik des traditionellen psychoanalytischen Verstandnisses der fruhkindlichen Entwick lung vgJ. Mary D. Salter Ainsworth, "Object Relations, Dependency, and Attachment: A Theoretical Review of the Infant-Mother Realtionsship", in: Cbild Development
40 (1969), 969-1025, hier 971-982, Gunther Bittner, ;I1etapbem des Unbewl6"Jten. E:ne
kntiscbe Emfolmmg In d,e Psychoanalyse, Stuttgart u.a. 1998, 117; John Bowlby, iJmdtmg.
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Trenntmg (Anm. 92). 349-353; Ders.. Eltembindtmg und Persdnlic!;keitsentwick/tmg.
T6erapeutiscbe ASf'ekte der iJ,ndungstbeone. Heidelberg 1995. 64-68; Dornes, D,e /17ibe
/(indheN (Anm. 90), 43-47; J,D. Lichtenberg. Ps)'cboanalyse Imd SdllglmgsjOrscbung. Heidelberg u.a. 1991; Gunter Schmidt. "Jenseits des Triebprinzips. Oberlegungen zur sexuellen
Motivation", in: Horst Scarbath/Bernard Tewes (Hgg.). Sexllalemebtmg und Persdnlicb·
keitsentfoltllng. Munchen u.a. 1982. 27-39; Stern. Die LebensC?jdlmmg des Sdllglmgs (Anm.
90). 198--230. - Zur Ablehnung der behavioristischen Lerntheorie fUr diesen Zusammenhang vg!. Ainsworth. Object Relatio~
Dependency, and Attacbment, 982-997; Bowlby.
iJlndllng. 251; Gottfried Spangler. "Fruhkindliche Bindungserfahrungen und Emotionsregulation", in: Friedlmeier/Holodynskji (Hgg.), Emotionale Entwlcklung (Anm. 95). 177.
ZUf Bindungstheofie vg!. Ainsworth. Object Relations, Dependenq, and Atlttcbment
(Anm. 97); Bowlby. iJ;nmmg (Anm. 97); Ders.. Trennung (Anm. 92); Ders., Verllls!, Trailer
IInd DepressIon (Geist und Psyche), Frankfurt/M. 1983; Ders., Eltemblndung Imd Pcnon·
lit'Meitsentwlddtmg (Anm. 97); Karl Heinz Brisch, iJ,ndtmgsstOrungen. Von der iJlndungs·
tbeone zllr J7Jerapte, Stuttgart 1999, 29-73; Cassidy/Shaver (Hgg.). Handbook ofAttacb.
ment (Anm. 94); Dornes. D,ePltbe K;ndbe:j(Anm. 90), 213-243; Manfred Endres (Hg.),
iJtndtmgstheone In der Ps),cbot6erapie. Munchen/Basel 2000; Gabriele Glogert·Tippelt
(Hg.). iJtndllng im Erwacbsenenalter. Em Handbucbjiir Forscbllng IIndPraxis. Bern/Gottingen. 2001; Goldberg, Attachment and Development (Anm. 94); Eiaine Hatfield/Richard
Rapson, "Love and Attachment Processes". in: Lewis/Haviland (Hgg.). Handbook 0!Emo-
66
legend. Sie bezieht sich auf tiefenpsychologische. ethologische. motivationale. kognitive. sozialpsychologische und klinische Aspekte der emotional en
Entwicklung des Menschen. 99 Entwicklungspsychologen steUt sich dabei die
zunachst noch unbeantwortbare Frage. ob ein angeborenes Spektrum an
humanen Grundemotionen mU spezifischen physiologischen Reaktionsund Ausdrucksmustern existiert. oder ob sich differenzierte Emotionen aus
einer ersten globalen Differenzierung zwischen .angenehm' vs.. unangenehm' lebensgeschichtlich erst entwickeln. Fur plausibel werden die primare Unterscheidung von positiven Emotionen (Freude) und zwei negativen Formen. namlich Angst (verbunden mit Fluchtreaktionen) und Zorn
(verbunden mit aggressivem Verhalten) gehalten, wie sie sich auch bei den
Interaktionsmustern sozial lebender Tiere aufweisen lassen. lOO Dieses
tions (Anm. 94), 595-604; Klaus/Kennell. ftllllter·j(ind-Bindtmg (Anm. 92); LaFreniere,
Emotional Development (Anm. 90), 142-163; Mary Main, "Epilogue. Attachment Theory:
Eighteen Points with Suggestions for Future Studies",in: Cassidy/Shaver (Hgg.), Hand600k of Attac6ment (Anm. 94), 845-887; Rainer Rehberger, Verlassen6eitrpanik Itnd
Trennltngsangst. Bindtmgst6eone fmd l'S)'c60analytisc6e Praxis 6ei Angstnettrosen (Leben
lernen Bd. 128), Stuttgart 1999, 31-51; Spangler/Zimmermann (Hgg.), DIe 8indflngst6eorie
(Anm. 94); Stern, Die Le6ense;folmmg des Sdltglings (Anm. 90), 164-172, 262-299; Sroufe,
Emorzonal Development(Anm. 90), 172-191; Louis W.C Tavecchio/Marinus H. van IJzen·
doom (Hgg.), Attac6ment In Soc!al Networks. Contnlmtions to t6e 8owl/;y-Alnswort6
Attachment Tbeory (Advances in Psychology, Bd. 44), Amsterdam u.a. 1987. - Innerhalb
99
lOO
der jiingeren Bindungsf orschung scheinen sich zwei gegenliiufige Tendenzen abzuzeich·
nen: einerseits ein biologisierender Ansatz in Anlehnung an die Soziobiologie und die
Evolutionare Psychologie (vg!. dazu Jay Belsky, "Attachment Theory in Modem Evolu·
tion'!!y Perspective", in: Cassidy/Shaver (Hgg.). Hand600k ofAttac6ment (Anm. 94), 115140; Main, Attac6ment Tbeory (Anm. 98), 850-853; Jeffrey A. Simpson, "Modem Evolutionary Theory and Patterns of Attachment", in: Cassidy/Shaver (Hgg.), Handbook qr
Attachment. Tbeory (Anm. 94), 141-161) und andererseits die zunehmende Betonung
kulturrelativer Momente; dazu s.U., Anm. 106.
Vg!. Bowlby,Eltem6Ina:mgltndPersonItCMeltsentwlck'tmg(Anm. 97), 42.
Zur mutmaBlichen Dbereinstimmung der funktionalen Grundziige emotionaler Entwicklung bei Mensch und Tier in ethologischer Perspektive vgl. Ainsworth, Ol:iect RelatIOns,
Dependency, and Attac6ment (An m. 97), 997-1003; Bowlby. 8indltng (Anm. 97), 47-167,
174-199; Ders., Trennflng (Anm. 92). 81-126, 159-189; Ders., "Ethological light on
psychoanalytic problems", in: Patrick Bateson (Hg.), Tbe development and IntegratIon of
khavlor. Essays In 60noflr ofJ?obertHtnde, New York u.a. 1991,301-313; Marinus H. van
IJzendoorn/Louis W.e. Tavecchio, "The Development of Attachment Theory as a Laka·
tosian Research Program: Philosophical and Methodological Aspects", in: Dies. (Hgg.),
Attachment In Social Networks (Anm. 98). 3-31. hier 10-12; LaFreniere, EmotIonal DelJe·
/qPmen/ (An m. 90). 26-44: Main. ANacbmenr n,"'OQ' (Anm. 98), 851-856; Stephen j,
Suomi, "Attachment in Rhesus Monkeys", in: Cassidy/Shaver (Hgg.), Hand600k qr
Attac6ment (Anm. 94), 181-197; Dietmar Todt, "Verhaltensbiologische Aspekte der Ent·
wicklung sozialer Bindungen auf vormenschlicher Stufe", in: Spangler/Zimmermann
(Hgg.), DIe 81ndtmgstheone (An m. 94), 86-108; von Uexkiill/Wesiack, Tbeorie der
Htlmanmea:zln (Anm. 87), 286-293.
67
womoglich angeborene Emotionssystem wird dann aber im Zuge psychosozialer Entwicklungsprozesse, die teilweise auch bei Tieren, teilweise aber
nur beim Menschen auftreten, Iebensgeschichtlich ausgepragt. Diese Einwirkungen des spateren Lebens diirfen gegeniiber biologisch-konstitutioneIIen nicht unterschatzt werden_ Od er wie John Bowlby festgesteIIt hat:
"Was immer genetische Beeinflussung und physische Traumata zu Personlichkeitsveranderungen beitragen, der Beitrag, den die familiare Umwelt
Ieistet, ist mit Sicherheit ein wesentlicher."lOl Die emotionale Entwicklung,
also das lebensgeschichtliche "Etablieren, Organisieren und Regulieren"102
von Gefiihlen, erscheint, psychologisch betrachtet. aIs ein "offenes
System". 103
Menschliche Individuen entwickeln si ch daher in einem "vorgegebenen
Spannungsfeld von sozialer Gemeinschaft und voIIwertig personalisierten
Individuen, von tradierten Oberlieferungsstromungen und modifizierten
Innovationen".104 Mit Blick auf den Unterschied zwischen Mensch und Tier
ist damit - im Sinne der oben dargesteIIten systemischen "Regelkreise" - die
Ebene der humanspezifischen. intentional betriebenen und symbolsprachlich vermitteIten Emotionssteuerung benannt, angesichts derer
bereits ausschlieBlich funktional verfahrende Erklarungsansatze problematisch erscheinen miissen. KultureIIe Bedeutungskonstruktionen iiberformen
die bei Tieren vorhandenen Entwicklungsprozesse und fiihren beim Menschen zu nicht vergleichbaren Dimensionen der Individuierung und zu
ausgepragt £tllturspezi/isciJen Verhaltensweisen.105 Anders aIs Prima ten le ben
101 Bowlby. Trmnung(Anm. 92). 253.
102
103
104
105
lngrid E_ Josephs. "Emotionale Entwick!ung im Spannungsfeld zwischen personlicher
und kollektiver Kultur". in: Friedlmeier/Holodynskji (Hgg.). Emotionde EntwickltltZg
(Anm. 95). 259-274. hier 266; vgL auch Bowlby. 8zndung (Anm_ 97). 142-155; LaFreniere.
Emotional Development (Anm. 90). 264-268; Hartmut C. Traue. EmotIon und Gesundheit.
Dieps)CbobiologtScbe Regulation durcb Hemmungm. Heidelberg/Berlin 1998.
Friedlmeier/Holodynskji. EmOl'zonde Entwickllmg fmd Per.rpektivm ibrer EJjOrscblmg
(Anm. 95). 13; zur Gefuhlssteuerung in der Kindheit vg!. Bowlby. 8zndtltZg (Anm. 97).
107-167; Ders_. Trmmmg (Anm. 92). 190-210; Domes. Der kompetmte Sauglzng
(Anm. 90). 132-163: LaFreniere. Emotzonal Devdopmmt(Anm. 90). 101-130. 191-220.
VogeJ. Ant/:;rop7logzscbeJJ'IIrm (Anm. 54).66.
Zur Notwendigkeit. kulturelle Einf1usse auf die emotionale Entwicklung des Menschen
zu beriicksichtigen. vg!. in funktionaler Perspektive: Bowlby. 8indtltZg (Anm. 97). 273f.;
Ders .. Trmmmg (Anm_ 92). 241-244; Friedlmeier/Holodynskji. Emotionale EntwiciJllng
und Penpelmven ibrer E;JOl"scbung. (Anm. 95). 11-13; Josephs. Emotionale En/wicklllng im
SpannungsftldzwlJ'Cbm persdnlic/;er IInd kollektzver /(i,ltltr (Anm. 102); LaFreniere. Emotzonal Developmmt (Anm. 90). 221-239; Hermann Lang. "Zur Pathologie der Angst und der
Angstverarbeitung". in: Ders.lHermann Faller (Hgg.). Das Pbdnomen Angst Patbologie,
Gmese und lberap1e. Frankfurt/M. 1996. 122-145; von Uexkull/Wesiack. lbeone der
Hllmanmedizzn (Anm. 87). 280f.. 310-328; Dieter Ulich. "Kinder. Jugendliche. GefiihJ.
68
und entwickeln si ch Menschen in einer sozial und symbolisch-kulturell
gestalteten Umwelt, und ihre sozialen Verhaltensformen und Institutionen
zeichnen si ch durch ein nicht vergleichbares MaB an Komplexitiit aus.
Im Kulturvergleich stellen Entwicklungspsychologen deshalb fest, daB
die Verteilung genannter Personlichkeitsmuster statistisch relevanten Unterschieden unterliegt, die nur durch spezifische kulturelle Einfliisse sinnvoll erkUirbar sind. 106 Zwar scheint Bindung als emotion ales BedtifolS phylogenetisch "fundiert" zu sein, die spezifische Qualitiit der Bindung ist aber
"ein umweltvariables Merkmal, da sie durch die speziflschen Erfahrungen
Umwelt - Sozialisation und Entwicklung von Emotionen", in: Petzold (Hg.), fPtederent·
deckflng de C¥ibb- (Anm. 94), 119- 135; Vogel, AntbropologtKbe .5,i:wren (Anm. 54), 59-71.
106
Die Tatsache, daB die Gblicherweise unterschiedenen Bindungstypen "sicher gebunden",
"unsicher vermeidend gebunden" und "ambivalent gebunden" innerhalb verschiedener
Kulturen unterschiedlich haufig anzutreffen sind, wird oft herausgestrichen: vgl. Mary D.
Salter Ainsworth, "Attachment Theory and Its Utility in Cross-Cultural Research", in:
Philip H. Leiderman u.a. (Hgg), O,ltll7'e and Infonry. Variations in t/:;e Human Experience,
New York 1977,49-67; Bowlby, Trennrtng (Anm. 92), 258f.; van IJzendoorn/Tavecchio,
me Development 0/Attacbment 77:Jeory as a Labltosian R e,earcb Program (Anm. 100); Marinus H. van IJzendoornl Abraham Sagi, "Cross·Cultural Patterns of Attachment", in:
Cassidy/Shaver (Hgg.), Handbook 0/ Attacbment (Anm. 94), 713-734; Rosanne Kermoian/P. Herbert Leiderman, "Infant Attachment to Mother and Child Caretaker in an
East African Community", in: InternationalJoumalo/llebavioral Development 9 (1986),
455-469; Klaus/Kennell, fifutter·Kind.lJind/tng (Anm. 92), 63-143; Hans-Joachim
Kornadt/Brigitte Husarek, "FrGhe Mutter-Kind-Beziehungen im Kulturvergleich", in:
Trommsdorff (Hg.), Soztdisation im KultuTVe?gletcb (Anm. 93), 65-96; Main, Attacbment
meo?]' (Anm. 98), 879-881; Markus/Kitayama. 77:Je Cult/val Sbaptng 0/ Emotion
(AnrU. 93): Kazuo Miyake u.a., "Infant Temperament, Mother's Mode ofInteraction, and
Attachment in Japan: An Interim Report", in: Inge Bretherton/Everett Waters (Hgg.),
GrowIng POInts 0/ Attacbment. 77:Jeory and Researcb (Monographs of the Society for
Research in Child Development) SO (1985), 276-297; Abraham Sagi/Kathleen S. Lewko·
wicz, "A Cross-Cultural evaluation of Attachment Research", in: Tavecchio/van IJzen·
doorn (Hgg.), Attacbment tn Social Networks (Anm. 98), 427-459; Richard A. Shewder,
"The Cultural Psychology of the Emotions", in: Lewis/Haviland (Hgg.), Handbook 0/
Emotions (Anm. 94), 417-431; Sita van Vliet-Visser/Marinus H. van Ijzendoorn,
"Attachment and the Birth of a Sibling: An Ethnographic Approach", in: Tavecchio/van
Ijzendoom (Hgg.), Attachment tn Sock!1 Net'works (Anm. 98), 267-301. - Auf Grundlage
ihrer eigenen kulturvergleichenden Studie zu den Verhaltnissen in den USA und in Japan
stelIten Rothbaum u,a. jGngst die radikale These zur Diskussion, wonach die Bindungs·
theorie in ihrer Gesamtheit "laden with Western values and meaning" sei (Fred Rothbaum
u.a., "Attachment and Culture. Security in the United States and Japan", in: American
I'lJchologt.rt SS (2000), 1093-11 04, hier 1092). Gefragt wird von den Autoren, ob der tmi·
wrsdistisc/:;e Anspruch der Bindungstheorie, der von ihrer Orientierung an der Ethologie
herrGhrt, nicht insgesamt verfehlt sei. Ihre Gegenthese ist, daB weitere kulturver·
gleichende Untersuchungen beweisen k6nnten, daB der empirisch meBbare "attachment
process is tied to the cultural context in which it is embedded" (ebd., 1102). Als universal
seien dann lediglich die solchen Mustern zugrundeliegenden (vermutlich biologisch fun·
dierten) "abstract principles" anzusehen, die das Bindungs6echifoismit sich brachten.
69
mit Bezugspersonen beeinfluBt wird."1D7 Mithin haben die fruhen unwillkurlichen Lernvorgange bleibende Folgen hinsichtlich des Empfindens und
Verhaltens von Erwachsenen. die ihre kindlichen Erfahrungen spater unbewuBt an die eigenen Kinder weitergeben.1 08 Die statistische Verteilung solcher elterlicher Verhaltensformen - die als meBbare Merkmale kulturell
diversifizierter Pers6nlichkeitsentwicklung dienen k6nnen - weisen dabei
signifikante kulturelle Unterschiede auf. Die fruhen Bindungserfahrungen
haben also. klinisch betrachtet. lebenslange individuell und ebenso kollektiv
bedeutsame Folgen. 109 denn einzelne klinische Phanomene. die durch negative fruhkindliche Erfahrungen erklart werden k6nnen. scheinen fUr bestimmte Kulturen typischer zu sein als fUr andere, da der Umgang mit
Emotionen wie Angst, Aggression und sexuellem Begehren spezifischen Regelungen und Beschrankungen unterworfen ist llO
107
JOB
109
110
Spangler. FTlthkindlkbe llmdltngsafolmmgen (Anm_ 97). 184; vgl. Bowlby. lllndung (Anm.
97). 200-215; Domes. Die fTlthe Ktndbeit (Anm. 90). 183-197; Keller/Eckensberger.
fi1enschenbilder tmd Entwickltmgskonzepte (Anm. 90). 72-74; LaFreniere. EmotionalDeve·
lopment (Anm. 90). 200-204; Vogel. Antbropologisc/:;e Spuren (Anm. 54). 54-58.
Zur unbewuBten Weitergabe eigener kindlicher Erfahrungen durch elterliches Verhalten
vg!. Bowlby. ll,ndllng (Anm. 97). 225-228; Ders.. Eltembine!lIng IInd Persdnlichkeitsent·
wic,Nllng (Anm. 97). 26-28; Ariane Garlichs/Marianne Leuzinger-Bohleber. Ic/entitdt tine!
lllndllng. DIe Entwickltmg von 8ezlebllngen m hmilie, Scbtde IInd CesellsdJ1ft (Erziehung
im Wandel. Bd. 2). Weinheim/Miinchen 1999; Frits A. Goossens. "Maternal Employment
and Day-Care: Effects on Attachment". in: Tavecchio/van IJzendoorn (Hgg.). Attacbment
InSxkdNctworks(Anm 98).135-183.
Dies ist ein besonders innerhalb der klinischen Literatur iiberaus haufig festgestellter Sachverhalt; vg!. beispielsweise David Boadella. "StreB und Charakterstruktur". in: Dagmar
Hoffmann-Axthelm (Hg.), Der /(rirper In der PryclJotiJerapte (Kbrper und Seele. Bd. 2).
Oldenburg 1991. 36-89; Bowlby. lllndllng (Anm. 97). 317f.; Ders .. Elternblndtmg IInd
Personltcbkeitsentwkkltmg (Anm. 97). 77-95; Brisch. lltndtmgsstomngen (Anm. 98), 75-91;
Dornes. DIe fTltbe /(mdbeit (Anm. 90). 213-243; Elisabeth Fremmer-Bombik/Klaus E.
Grossmann. "Uber die lebenslange Bedeutung friiher Bindungserfahrungen". in: Petzold
(Hg.). FTllbe Scbddzgllngen - SJldte Folgen (Anm. 90). 83-110; Markus Hochgerner/Elisabeth Wildberger (Hgg.). FTlt/:;e Scbddigllngen,rpdte Stomngen. lleitrdge ails der Skbt acbt
psycbotiJerapelltischerfi1ctboden (Psychotherapeutische Theorien und Praxis. Bd. 1). Wien 2.
Aufl. 1998; Keller/Eckensberger. fi1enscbenbllder IInd Entwlckltmgskonzepte (Anm. 90). 75;
Ruth Ladendorf, "Der Beitrag der Bindungstheorie zu MiBbrauch und MiBhandlung". in:
Hertha Richter-Appelt (Hg.), VC?jiibnmg - Trallma - ft/iflbral/cI? (J8%-1965j/ (Edition
Psychosozial). GieBen 1997. 161-171. hier 167-169; Main. Attachment 7i.Ieory (Anm. 98).
861-864; MiiJler-Braunschweig. Die Wtrkllng der fTllben EJjdiJrllng (Anm. 91); Franz
Petermann/Kay Niebank u.a. (Hgg.). i?iSIA!en In der}ilihklndlichen Ent?t!icklllng. Entwlck
hmgspsychopatbo/ogle der ersten LebenSjaiJre. Gbttingen u.a. 2000; Rehberger. VerlassenheitspantA! IInd Trennllngsangst (Anm. 98): Morton Shane u.a .. Intimate AttachmentJ. Toward a
Nett! Se!I"Prycbolog)'. New York/London 1997; Stern. DIe l(!/:;enseJjahmng des Sdilgllngs
(Anm. 90). 339.
Die klinische Literatur verfahrt indes bislang kaum kulturvergleichend. Im ICD·IO finden
sich allerdings Hinweise. manche psychische Erkrankungen (Schizophrenie. Phobien)
70
9. Kulturelle Aspekte der medizinischen Praxis
AbschlieBend sei darauf hingewiesen, daB auch in der praktischen Medizin
kulturellen Einfliissen in den letzten Jahren ein hoherer Stellenwert eingeraumt worden ist. Angesichts der sozialen Gegebenheiten in multikulturellen Gesellschaften wurde beispielsweise die Notwendigkeit betont, den
manifesten Verstandigungsschwierigkeiten im Arzt-Patient-Verhaltnis zu
begegnen, die dann auftreten, wenn diese verschiedenen KuIturkreisen entstammen.lI1 Unter solchen Gesichtspunkten werden die gesellschaftlichen
Folgen der "Medikalisierung", l12 also des Wandlungsprozesses in der Moderne, in Folge dessen die naturwissenschaftliche Medizin ein Beinahe-Monopol bei der Deutung von Gesundheit und Krankheit und bei der arztlichen
Versorgung erworben hat, inzwischen durchaus ambivalent bewertet. DaB
die akademische Heilkunde in weiten Bereichen die Behandlung isolierter
korperIicher Symptome anstrebt und dadurch erkrankte Menschen als Sub·
III
112
traten epidemiologisch mit kulturspezifischer Haufigkeit auf (vg!. ICD-JO: Intemationale
/(lamfikation psycblscber StO'rHTtgen. ICDJO /(apitel v/l3. /(Iiniscb-diagnostiscbe Leitlinien.
Ubersetzt lInd berausgege!Jen von H Dilling u.a., Bern u.a. 2. Aufl. 1993, 104, 158).
Vg!. Giovanni Berlinguer, .. Globalization and Global Health", in: Schmacke (Hg.), Gesundbeit una'Demokratie (Anm. 87), 127-133; Buddeberg/Willi (Hgg.). Psycbosozia/e Ne£
Zln (Anm. 82); Emanuela Leyer. fiftgration, /(ulturkoo/likt und /(rankbeit. Zur PraxIs del'
tranfkulturellen Psycbotberapie (Beitrage zur psychologischen Forschung. Bd. 24), Opladen
1991; Colin Samson. Healtb studies: A Critical and Cross·Cultural Reader. Oxford 1999;
Birgit SiiBdorf. .. Kulturspezifische Betrachtungen zu subjektivem Krankheitserleben". in:
Rolf Verres u.a. (Hgg.), HetdeJkrger I.esebucb NaiizinisciJe Psycb%gie. G6ttingen 1999.
119-1}7; Thomas Alexander (Hg.). Psycbologie und multikttltttrelle Gese!lscbafi Problem·
analysen IInd ProblemlO'sllngen, G6ttingen/Stuttgart 1994.
Zur Medikalisierung aus medizinsoziologischer und -historischer Sicht vg!. Jost Bauch.
Gesllndlmi ab sozialer Cafe Vim der Ve?geseJ/scbajiJmg des Gesllndbetiswesens zllr Na:ltkaft:
sierJmg der Geselbcbaji (Gesundheitsforschung). Weinheim/Miinchen 1996; Barbara Duden. Der Frallmleibab Wen/licber Or!. Vom N!Ilbrallcb des JJegr# Leben. Hamburg/ Zii·
rich 1991; Michel Foucault. Die Geburt der /(Iinik. Eine ArcbaO/ogie des arztlicben Blicks.
Frankfurt/M. 1996; ivan IIIich. DieNemesisderNedizin. Dle/(ritikderNa:ltkalisierJmgdes
Lebens. Miinchen 4. Aufl. 1995; Alfons Labisch. Homo HygieniclIJ. GesundheIt IIndNedizln
tn der Neuzetf, Frankfurt/M. 1992; Francisca Loetz .... Medikalisierung' in Frankreich.
GroBbritannien und Deutschland. 1750-1850: Ansatze. Ergebnisse und Perspektiven der
Forschung". in: Wolfgang Eckart/Robert Jiitte (Hgg.). Das ellropdiscbe Gestmdhetissystem:
Gemeinsamkeiten find Unterscbiaie tn bistoriscber Per.rpektive. Stuttgart 1994. 123-161;
J()hn O'Neill. Dtejiln//(0'l'er. Nedikalisterte Geselbcbaji IInd Ve?gesell!cbajiJmg des Let!::!?s
(Ubergange. Bd. 22). Miinchen 1990; Roy Porter. Die /(unst des Het/eny. Eine mediztniscbe
CercAi:-.&?c de,- Jhn.f'c66e,c VOI'I der /fnaiW btJ bellfe, HeidelbergfBerlin 2000, 686-708;
Wolf gang Schluchter... Legitimationsprobleme der Medizin.... in: Ders .• Rationaitsmlls der
/I/eltanscballung. Stlldten ZII Nax Weber. Frankfurt/M. 1980. 185-207; Gunter Schmidt.
.. Gesundheit aIs Moral. Praventive Medizin und VerhaltenskontrolIe". in: Air Trojahn/
Brigitte Stumm (Hgg.), Gesllndbeli flrdem statt kontrol/teren. tine Absage an den ;lllIster·
menscben. Frankfurt/M. 1992. 266-276.
71
jekte1J3 weitgehend aus den Augen verIoren hat, wird heute nicht nur von
vielen betroffenen Patienten so empfunden. Dies erkIart auch die seit den
siebziger Jahren verstarkte Konjunktur "aiternativer" Heilmethoden l14 und
des .. Psychomarktes". Auch die bereits erwahnte Gegenbewegung professioneller Mediziner unter dem Schlagwort "Psychosomatik" formierte sich unter den Vorzeichen dieser Unzufriedenheit. 115
Fazit
"Auch vie le, die mit hartnackigen anthropologischen Konstanten rechnen
[... ], werden die weite Sphare des it/ormativen kaum als eine Reproduktion
natiirlicher Vorgaben ansehen wollen. Zwar gibt es genugend Naturalisten,
die das kulturelle Geschehen auf evolutionare Anpassungsleistungen zu-
113
114
115
Vg!. hierzu Elmar Brahler. "Korpererieben - ein vernachlassigter Aspekt der Medizin", in:
Ders. (Hg.). f(o?pererleben. Bn sHbjektiver AHsdrllCk von f(otper Hnd Saole lJeitrdge zIIrPS)"
cbosomatiscben ;/Iedizin. GieBen 2. Aufl. 1995, 3-18, hier 10-13: Klaus Darner, "Pradika·
tive Medizin. Die Utopie der leidensfreien Gesellschaft", in: Schmacke (Hg.), Gesllndheit
Hnd Demokmtie (Anm. 87), 21-30, bes. 28: von Uexkull/Wesiack, Theone der HHman·
mettiztn(Anm. 87),147-202.
Vg!. dazu exemplarisch Andre Thurneysen (Hg.), Der I.etb - Setne lJedelltHngjiirttie beltttge
;/Iettizt?t (KomplemenUire Medizin im interdisziplinaren Diskurs, Bd. 4), Bern u.a. 2000.
Selbst Facharzte auBern zunehmend ihr Unbehagen uber die zunehmende Ausweitung
medizinisch·apparativer Techniken: vg!. Hans-Georg Guse/Norbert Schmacke, "Der
vermiBte Wandel. Brief an die nachfolgende Medizinergeneration", in: Schmacke (Hg.),
Gesllna'hett Hnd Demokratte (Anm. 81), 341-360, hi er 354; Volkmar Sigusch, "Meta·
morphosen von Leben und Tod. Ausblick auf eine Theorie der H ylomatie", in: f'.ryche 5 I,
Heft 9/10 (1991); Ders., "Wissenschaft. Krankheit, Gesellschaft Bemerkungen zur Logik
der modernen Medizin", in: Schmacke (Hg.), Gestmtt'beit IInd Demokratte (Anm. 81), 3148, hier 43-45; von Uexkull/Wesiack, Theone der Htlmanmedtzin (Anm. 81), 452f. Vg!.
weiterhin Troy Duster, Backdoor to EHgenics, New York/London 1990; Rifkin, Das
6totechnologische Zeitalter (Anm. 2), 15f. - Weltweit ist die Medikalisierung dennoch im
Fortschreiten begriffen, was ebenfalls nicht ohne Sorge beobachtet wird. Erklartes Ziel
der Weltgesundheitorganisation ist die Globalisierung klinisch-diagnostischer Leitlinien
(ICD-lO) und bestimmter sozialer Lebensformen im Sinne gesundheitlicher "Lebensqualitiit". Damit werde. so die Kritiker, der normalisierte und im Hinblick auf kommerzielle
Bedurfnisse hin optimierte Mensch zum gesundheitspolitisch bevorzugten Ziel: Als Pro·
dukt der herrschenden Verhaltnisse funktioniere der menschliche Korper inzwischen wie
ein ansozialisierter "kleiner Staat" (O'Neill, Diejiin/f(o?per (Anm. 112), 133; vg!. Dorner,
f'rdttikatwe ;/Iedizin (Anm. 113), 22: Schmidt, Gesllna'heit alJ ;/lord (Anm. J12), 272;
Sigusch, Wissenschafl, f(1'tInkJe~
GesellJch1/i, 40; Jakob Tanner. ",Weisheit des Korpers'
und soziale Homaostose. Physiologie und das Konzept der Selbstregulation", in: Philipp
Sarasinl Jakob Tanner (Hgg.), f'hysiologte Hnd l?tdHstn'elle Gesell.IChafl Stllttien ZHr Verwis·
senscb#liI:htmg des f(o?perJ im /.9. Hnd 20. /abrbHndert, Frankfurt/M. 1998, 129-169, hi er
13lf.). Die Einheitlichkeit des medizinisierten Menschen ware demzufolge keineswegs die
Voraussetzung, sondern die soziale ro,geeiner naturwissenschaftlich betriebenen Medizin.
72
riickfiihren mochten. aber den alltaglichen Verstand haben sie bis dato
nicht auf ihrer Seite." ll6 - Auch wenn diese Diagnose von Martin Seel mancherorts noch fur zu optimistisch gehalten werden mag. so hoffen wir
doch. mit unseren Ausfiihrungen deutlich gemacht zu ha ben. daB nicht nur
der alltagliche oder der kulturwissenschaftliche Verstand, sondern sogar der
lebenswissenschaftliche Verstand einer soIchen Reduktion zu recht nicht
folgt. Anthropologische £Zn.beziskonzq7teerweisen sich bereits inner.balbder
Biologie selbst als unzulanglich. Die Vorstellung eines eindeutigen und hinreichenden biologischen Wissens des Menschen iiber den Menschen und
ebenso der fachiibergreifende Orientierungsanspruch naturalistischer biologischer Positionen fUr die Kulturwissenschaften kann mit guten Griinden
zuriickgewiesen werden.
Angesichts des Umstands. daB der Mensch wohl das komplexeste Untersuchungsobjekt des Menschen ist, lost sich das Eindeutigkeitsversprechen
des neuen Naturalismus in Unterkomplexitat auf. Jeder Methodenmonismus muB an diesem Untersuchungsobjekt scheitern. und er tut dies bereits
im Angesicht der Biowissenschaften selbst. Diese gehen multidimensionalen
Zusammenhangen in ihrem Gegenstandsbereich auf Grundlage eines methodischen Pluralismus nach. Die geisteswissenschaftliche Angst. im Kampf
der Wissenschaftskulturen die eigene Fortpflanzungsfiihigkeit einzubiiBen.
ist unbegriindet. Genuin geistes- und kulturwissenschaftliche Ansatze sind
weiterhin unumganglich. urn dabei mitzuhelfen. die Sphare des Intentionalen. der kulturellen Handlungen und Selbstverstandnisse des Menschen zu
erforschen. Zu diesen selbst gehort wiederum der neue Naturalismus als
eine kulturelle Sinnkonstruktion in Abhangigkeit von kontingenten historischenJRahmenbedingungen. Auf eine hermeneutische Analyse gerade
solcher Konstruktionen des Menschen und der Natur wird man auch in Zukunft nicht verzichten konnen. oh ne and ern falls Gefahr zu laufen. eine entscheidende erkenntnisfordernde Perspektive einzubiiBen.
Die Zeit fUr eindeutige Antworten und Losungen komplexer Zusammenhange des menschlichen Lebens ist nicht nur noc.b nicht gekommen. sie
wird nie kommen. Ein Mangel an Sinnsonderangeboten naturalistischer
Provenienz wird dabei wohl nicht zu befiirchten sein. wer aber mit den
neuen Naturalisten auf den jiingsten Tag der Eindeutigkeit wartet. wartet
vergebens.
116
See!. J(apnden des J(onJtmktlvismus (Anm. 7). 51.