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Gene im Netz

2010

Gegenworte, 21. Heft Frühjahr 2009 Simone Rödder G e n e i m N et z In jeder Körperzelle sind unsere Gene seit einigen Millionen Jahren in ein komplexes Netzwerk eingebunden. Anders als zahllose Generationen von Homo sapiens vor uns gehören Sie und ich aber zu den ersten Menschen, die ihre Erbinformation auch im Netz moderner Informationstechnologie wiederfinden können. Noch sind es hauptsächlich Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten, die im Internet als Konsumenten, Forschungsobjekte und Wissensproduzenten kaufen, partizipieren, debattieren und die eigene Genomsequenz mit aller Öffentlichkeit teilen. Doch grundsätzlich kann heute jeder die persönlichen genetischen Daten für Forschungszwecke zur Verfügung stellen und die Angebote des Marktes konsumieren, der jedem das Recht auf das Wissen um das eigene Erbgut verspricht. Das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit hat damit eine neue Dimension bekommen – mit dem Internet als einer Schnittstelle, die anders als die traditionellen Massenmedien nicht von professionellem Kommunikationspersonal betreut wird. Was können wir an dieser Schnittstelle derzeit über unsere Gene erfahren, was damit anfangen? Die Veröffentlichung genetischer Information im Internet ermöglicht einen direkten öffentlichen Zugriff auf molekularbiologisches Wissen. Anders als bei herkömmlichen wissenschaftlichen Publikationen sind also nicht nur die Ergebnisse und Schlussfolgerungen des Prozesses der Wissensproduktion zugänglich, sondern die Datengrundlage selbst, die Sequenzinformation. Das Prinzip, Gensequenzen unmittelbar nach ihrer Herstellung in webbasierten Datenbanken zu veröffentlichen, hat sich in der Molekularbiologie als Standard etabliert, seitdem 1997 die Forscher im öffentlich geförderten Humangenomprojekt beschlossen, alle neu gewonnenen Sequenzdaten innerhalb von 24 Stunden online zugänglich zu machen. Die Seiten der Institutionen, denen die Datenspeicherung obliegt (EBI-ENSEMBL, www. ensembl.org und NCBI, www.ncbi.nlm.nih.gov), mögen dem neugierigen Internetsurfer allerdings reichlich unwirtlich erscheinen. Über die technische Zugänglichkeit hinaus bedarf es eines gewissen molekularbiologischen Interesses und auch Verständnisses, um etwa einen BLAST (Basic Local Alignment Search Tool) – den Vergleich einer eigenen DNA- oder Proteinsequenz mit Referenzsequenzen in der Datenbank – vorzunehmen und dabei vielleicht auf ein Gen zu stoßen. Einladender als die kostenfreien Werkzeuge der Wissenschaft sind die Seiten, auf denen diagnostische Tests einzelner Gene sowie seit Neuestem das Durchforsten des gesamten Erbmaterials zum Kauf angeboten werden. Anders als die wissenschaftlichen Datenbanken enthüllen diese Angebote die persönliche Sequenzvariante des entsprechenden Nutzers. Wer einige Hundert Euro und einige Speicheltropfen investiert, kann derzeit bei mehreren Unternehmen Abgleiche der eigenen vier Buchstaben mit den in den jeweiligen Datenbanken vorhandenen As, Cs, Ts und Gs erwerben. Je nach Größe der Datenbank des Anbieters werden für einen solchen Genomscan zwischen einer halben und einer Million sogenannter SNPs (Single Nucleotide Polymorphisms) geprüft. SNPs sind Marker im Erbgut für die Suche nach mit bestimmten körperlichen und geistigen Eigenschaften assoziierten Genen. Insbesondere sind SNPs für Krankheitsveranlagungen verantwortlich. Unternehmen wie die US-amerikanischen Firmen 23andMe (www.23andme.com/), Navigenics (www.navigenics.com/) und deCODEme aus Island (www.decodeme.com/) testen das Erbgut auf SNP-Varianten, die mit unterschiedlichen Krebsarten, Herzinfarkt, Asthma, Diabetes, Fettleibigkeit und der Intelligenz assoziiert werden. Darüber hinaus können die Kunden Informationen über ihre Vorfahren und für eine genomgerechte Ernährung erwerben. Fans sozialer Netzwerke schließlich können sogenannte Recreational Phenotypes – also etwa persönliche Varianten der Konsistenz Zwischenrufe 64 65 des Ohrwachses oder der Neigung zu Sommersprossen – zur genetisch-sozialen Vernetzung nutzen. Eine der jüngsten Entwicklungen im Netz ist die Open-Source-Software Promethease, die die Testergebnisse kommerzieller Anbieter vergleicht (www.snpedia. com/index.php?title=Promethease). Promethease kombiniert die Daten einzelner Tests oder Scans und analysiert sie in der Zusammenschau. Anhand von Informationen, die aus verschiedenen Datenbanken und der wissenschaftlichen Literatur zusammengestellt werden, ergänzt die Software die Testergebnisse um Interpretationen der Bedeutung individueller SNPs. Auf der Berichtsseite (www.snpedia.com/files/promethease/outputs/) des Projekts sind bisher die persönlichen Daten von einem Dutzend Personen abrufbar, darunter dem Entdecker der DNA-Struktur, James D. Watson, und dem US-amerikanischen Schriftsteller David E. Duncan, der als ›Experimental Man‹ (www.experimentalman.com/) regelmäßig über seine neuesten Testergebnisse bloggt. Duncans Promethease-Bericht enthüllt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit helle Haut hat und von europäischen Vorfahren abstammt. Watson kann seinem Bericht entnehmen, dass er über ein stark erhöhtes Risiko für Diabetes Typ II verfügt sowie über einen »somewhat higher IQ«. Von dem streitlustigen Genomforscher sind seit 2007 nicht nur die individuellen Varianten vieler SNPs bekannt, sondern jeder einzelne der sechs Milliarden Buchstaben seines Genoms. Watson und sein Kollege und Kontrahent Craig J. Venter sind die ersten beiden Menschen, deren persönliches Erbgut Buchstabe für Buchstabe sequenziert wurde. Doch auch diese endgültige Transparenz der Sequenzinformation wird alsbald allgemein zugänglich sein: Ab Juni 2009 bietet die kalifornische Firma Complete Genomics (www.completegenomics.com/) die Sequenzierung eines menschlichen Genoms für 5000 US-Dollar an. Wen der Gedanke befremden sollte, sich selbst als Forschungsobjekt in der Weböffentlichkeit zu präsentieren, der kann als Wissensproduzent an der Internetpräsenz der Gene mitwirken. Das GeneWiki (http://en.wikipedia.org/wiki/Portal:Gene_Wiki) bedient sich des Wikipedia-Prinzips gemeinschaftlicher Wissensakkumulation, um die Zugänglichkeit zu Informationen über das Genom für wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Öffentlichkeiten zu erhöhen. Auf der Basis eines sogenannten ›Stub‹-Artikels, den die Initiatoren des Projekts für jedes menschliche Gen erstellen wollen, können geneigte Internetöffentlichkeiten das Profil dieses Gens vervollständigen. So sollen Artikel entstehen, die zur Position und Funktion des Gens Auskunft geben und selbst untereinander hochgradig verlinkt sind – ein Genpool, an dem Studierende, Lehrende, klinische Genetiker, Journalisten und Wissenschaftler mitarbeiten sollen. Auch das Personal Genome Project (PGP, www. personalgenomes.org/) spricht die Öffentlichkeit als Teilnehmer an. Im Unterschied zum Wiki-Ansatz sind in diesem Fall jedoch nicht nur Wissens-, sondern auch Sequenzbausteine gefragt. Im Labor und an den runden Tischen, an denen die Teilnehmer ihre Ergebnisse diskutieren, greifen Forschung, Zugang zu persönlichen Genomdaten und Geschäftsidee ineinander. Während das PGP in den kommenden Jahren 100 000 »informed participants from the general public« auf freiwilliger Basis zu rekrutieren sucht (die Informiertheit wird in Form von Quizfragen getestet), werden Genomscans von einem Start-up-Unternehmen des Projektleiters und Harvardwissenschaftlers George Church vermarktet. Im Unterschied zu den anderen kommerziellen Anbietern sind die Scans der Firma Knome (www.knome.com/home/) allerdings nicht online verfügbar, sondern setzen eine Konsultation mit einem firmenzugehörigen Berater voraus. Wie das PGP verfolgt auch das öffentlich finanzierte internationale 1000 Genomes Project (www. 1000genomes.org/page.php) das Ziel, eine möglichst große Zahl individueller Genome zu sequenzieren und die Sequenzdaten zusammen mit klinischen, körperlichen und geistigen Charakteristika der entsprechenden Person im Netz zugänglich zu machen. Diese Projekte machen das wissenschaftliche Potenzial der Übung deutlich: Mithilfe von Gentests und Genomscans kann menschliche genetische Variation auf der Ebene von ganzen Populationen untersucht werden, und man vermag aus Unterschieden und Gemeinsamkeiten auf den Zusammenhang von genetischer Konstitution und Gesundheitszustand sowie auf historische Entwicklungen und natürliche Selektionsprozesse zu schließen. Auf diese Fragen der Forscher kann eine Liste von Wahrscheinlichkeiten und relativen Risiken, die mit der Anwesenheit eines bestimmten SNPs einhergehen, eine Antwort geben. Woran ich sterben und ob ich vorher Krebs bekommen werde, sagt mir mein Genomscan mit Sicherheit dagegen nicht. Journalisten, die das eigene Erbgut von mehreren Unternehmen haben scannen lassen, berichten, dass die Ergebnisse Gegenworte, 21. Heft Frühjahr 2009 nicht nur wenig aufschlussreich sind, sondern sich in hohem Maße widersprechen. Auf ein Individuum bezogen sind prädiktive Tests derzeit bestenfalls als moderne Orakel anzusehen, und auch welchen Wert das Wissen um die eigenen Genomdaten zukünftig für den Einzelnen haben wird, ist unter den Forschern umstritten. Ein Blick in die Augen des Gegenübers wird auch im 21. Jahrhundert deren Farbe schneller und zuverlässiger verraten als die Suche nach der entsprechenden Information im Erbgut dieses Menschen. Auch die Information, gesunde Ernährung, viel Bewegung und wenig Stress seien dem persönlichen Genomprofil angemessene Verhaltensweisen zur Krankheitsvermeidung, scheint mit ein paar Hundert Euro ein wenig überteuert. Und mehr als Information gibt es für den gekauften Gentest nicht; alle Firmen weisen potenzielle Kunden in ihren Geschäftsbedingungen deutlich darauf hin, dass sie weder medizinische Diagnosen noch Behandlungen anbieten. Der Service ist, wie es bei 23andme heißt, »for research and educational use only«. Die Kunden zahlen für einen Datenberg und die Teilnahme an einem Forschungsprojekt. Aktuell liefern die Gene im Netz eher Fragen als Antworten: Wer nimmt die Dienste in Anspruch, wie groß sind das Informationsbedürfnis und der Markt? Erste Studien weisen darauf hin, dass viele Internetnutzer im Stil sozialer Netzwerke bereitwillig auch ihre genetischen Informationen öffentlich machen. Doch wem nützen die Informationen und wem schaden sie? Welche Risiken und Nebenwirkungen birgt die Öffentlichkeit genomischer Informationen in öffentlichen Datenbanken, welche die Speicherung in den Datenbanken kommerzieller Anbieter? Soll hier politisch eingegriffen werden oder beobachten wir hier, wie es der Markt propagiert, einen Demokratisierungsprozess, eine Stärkung des Einzelnen und individueller Entscheidungen? Kann reguliert werden, bevor man mehr darüber weiß, wie Konsumenten und Studienteilnehmer mit den Informationen umgehen? Lässt sich webbasiert gehandeltes wissenschaftliches Wissen überhaupt regulieren? Auf einem der ersten Treffen der Wissenschaftler zur individuellen Genomforschung wurde jüngst als Ziel eine Wissensplattform in den Blick genommen, die für jeden einzelnen der über drei Milliarden Bausteine des menschlichen Erbguts alle über die entsprechende Stelle vorhandenen Informationen bündelt. Die Komplexität der Erbinformation hat seit der Publikation der ersten menschlichen Genomsequenz 2001 die Forscher selbst überrascht und ihre Vorstellung davon, was ein Gen eigentlich ist, über den Haufen geworfen. Ebenso wenig wie die Gene in den Körperzellen dem Ein-Gen-einStück-Protein-Paradigma der Molekularbiologie entsprechen, fügen sich die Gene im Netz etablierten Konzepten genetischer Diagnostik und genetischer Beratung, die persönliche Gespräche vor und nach einem Gentest vorsehen. Im letzteren Fall müssen nicht nur Begriffe diskutiert und neu sortiert werden, sondern insbesondere Umgangsformen und Werthaltungen. Während sich die Bioinformatiker den Problemen der technischen Informationsverarbeitung stellen, wird beispielsweise in Großbritannien mit der gesellschaftlichen Informationsverarbeitung begonnen. Die Human Genetics Commission, welche die britische Regierung in Fragen der gesellschaftlichen Implikationen von Humangenetik und Biomedizin berät, arbeitet derzeit an einem Prinzipienkatalog zum Umgang mit persönlichen Genomdaten, der an nationale politisch-rechtliche Rahmenbedingungen angepasst und umgesetzt werden kann. Wie Sie sich an der öffentlichen Konsultation der Kommission beteiligen können? Im Internet, www.hgc.gov.uk/Client/ Content.asp?ContentId=816. Der Artikel entstand während eines Gastaufenthalts der Autorin am ESRC Genomics Policy and Research Forum der Universität Edinburgh. Das Forum gehört zu einem vom britischen Economic and Social Research Council geförderten Netzwerk, in dem sich über 100 Sozialwissenschaftler mit den ethischen, sozialen und rechtlichen Implikationen aktueller Genomforschung beschäftigen ( www.genomicsnetwork. ac.uk/ – letzter Zugriff hier wie bei allen anderen zitierten Webadressen 1. 4. 2009). Literatur D. E. Duncan: Experimental Man: What One Man’s Body Reveals about His Future, Your Health, and Our Toxic World. Wiley & Sons 2009 N. Fleming: Rival genetic tests leave buyers confused. Firms that offer to predict your risk of disease give worryingly varied results, in: The Sunday Times vom 7. 9. 2008. Als Online-Dokument: www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/science/ article4692891.ece Human Genetics Commission: More Genes Direct. A report on developments in the availability, marketing and regulation of genetic tests supplied directly to the public. HGC 2007. Als Online-Dokument: www.hgc.gov.uk/client/ document.asp?DocId=139&CAtegoryId=10 B. Prainsack u. a.: Misdirected precaution, in: Nature 456 (6), 2008, S. 34–35 A. I. Su u. a.: A Gene Wiki for Community Annotation of Gene Function, in: PLOS Biology 6 (7), 2008, S. 1398–1402