Gegenworte, 21. Heft Frühjahr 2009
Simone Rödder
G e n e i m N et z
In jeder Körperzelle sind unsere Gene seit einigen Millionen Jahren in ein komplexes Netzwerk eingebunden.
Anders als zahllose Generationen von Homo sapiens vor
uns gehören Sie und ich aber zu den ersten Menschen,
die ihre Erbinformation auch im Netz moderner Informationstechnologie wiederfinden können. Noch sind es
hauptsächlich Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten, die im Internet als Konsumenten, Forschungsobjekte und Wissensproduzenten kaufen, partizipieren,
debattieren und die eigene Genomsequenz mit aller
Öffentlichkeit teilen. Doch grundsätzlich kann heute
jeder die persönlichen genetischen Daten für Forschungszwecke zur Verfügung stellen und die Angebote des
Marktes konsumieren, der jedem das Recht auf das
Wissen um das eigene Erbgut verspricht. Das Verhältnis
von Wissenschaft und Öffentlichkeit hat damit eine
neue Dimension bekommen – mit dem Internet als einer
Schnittstelle, die anders als die traditionellen Massenmedien nicht von professionellem Kommunikationspersonal betreut wird. Was können wir an dieser Schnittstelle derzeit über unsere Gene erfahren, was damit
anfangen?
Die Veröffentlichung genetischer Information im
Internet ermöglicht einen direkten öffentlichen Zugriff
auf molekularbiologisches Wissen. Anders als bei herkömmlichen wissenschaftlichen Publikationen sind also
nicht nur die Ergebnisse und Schlussfolgerungen des
Prozesses der Wissensproduktion zugänglich, sondern die
Datengrundlage selbst, die Sequenzinformation. Das
Prinzip, Gensequenzen unmittelbar nach ihrer Herstellung in webbasierten Datenbanken zu veröffentlichen,
hat sich in der Molekularbiologie als Standard etabliert,
seitdem 1997 die Forscher im öffentlich geförderten
Humangenomprojekt beschlossen, alle neu gewonnenen
Sequenzdaten innerhalb von 24 Stunden online zugänglich zu machen. Die Seiten der Institutionen, denen die
Datenspeicherung obliegt (EBI-ENSEMBL, www.
ensembl.org und NCBI, www.ncbi.nlm.nih.gov), mögen
dem neugierigen Internetsurfer allerdings reichlich unwirtlich erscheinen. Über die technische Zugänglichkeit
hinaus bedarf es eines gewissen molekularbiologischen
Interesses und auch Verständnisses, um etwa einen
BLAST (Basic Local Alignment Search Tool) – den
Vergleich einer eigenen DNA- oder Proteinsequenz mit
Referenzsequenzen in der Datenbank – vorzunehmen
und dabei vielleicht auf ein Gen zu stoßen.
Einladender als die kostenfreien Werkzeuge der Wissenschaft sind die Seiten, auf denen diagnostische Tests
einzelner Gene sowie seit Neuestem das Durchforsten
des gesamten Erbmaterials zum Kauf angeboten werden.
Anders als die wissenschaftlichen Datenbanken enthüllen
diese Angebote die persönliche Sequenzvariante des entsprechenden Nutzers. Wer einige Hundert Euro und einige Speicheltropfen investiert, kann derzeit bei mehreren Unternehmen Abgleiche der eigenen vier Buchstaben
mit den in den jeweiligen Datenbanken vorhandenen As,
Cs, Ts und Gs erwerben. Je nach Größe der Datenbank
des Anbieters werden für einen solchen Genomscan zwischen einer halben und einer Million sogenannter SNPs
(Single Nucleotide Polymorphisms) geprüft. SNPs sind
Marker im Erbgut für die Suche nach mit bestimmten
körperlichen und geistigen Eigenschaften assoziierten
Genen. Insbesondere sind SNPs für Krankheitsveranlagungen verantwortlich. Unternehmen wie die US-amerikanischen Firmen 23andMe (www.23andme.com/),
Navigenics (www.navigenics.com/) und deCODEme
aus Island (www.decodeme.com/) testen das Erbgut auf
SNP-Varianten, die mit unterschiedlichen Krebsarten,
Herzinfarkt, Asthma, Diabetes, Fettleibigkeit und der
Intelligenz assoziiert werden. Darüber hinaus können die
Kunden Informationen über ihre Vorfahren und für eine
genomgerechte Ernährung erwerben. Fans sozialer Netzwerke schließlich können sogenannte Recreational Phenotypes – also etwa persönliche Varianten der Konsistenz
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des Ohrwachses oder der Neigung zu Sommersprossen –
zur genetisch-sozialen Vernetzung nutzen.
Eine der jüngsten Entwicklungen im Netz ist die
Open-Source-Software Promethease, die die Testergebnisse kommerzieller Anbieter vergleicht (www.snpedia.
com/index.php?title=Promethease). Promethease kombiniert die Daten einzelner Tests oder Scans und analysiert
sie in der Zusammenschau. Anhand von Informationen,
die aus verschiedenen Datenbanken und der wissenschaftlichen Literatur zusammengestellt werden, ergänzt
die Software die Testergebnisse um Interpretationen der
Bedeutung individueller SNPs. Auf der Berichtsseite
(www.snpedia.com/files/promethease/outputs/) des Projekts sind bisher die persönlichen Daten von einem Dutzend Personen abrufbar, darunter dem Entdecker der
DNA-Struktur, James D. Watson, und dem US-amerikanischen Schriftsteller David E. Duncan, der als ›Experimental Man‹ (www.experimentalman.com/) regelmäßig
über seine neuesten Testergebnisse bloggt. Duncans
Promethease-Bericht enthüllt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit helle Haut hat und von europäischen Vorfahren abstammt. Watson kann seinem Bericht entnehmen, dass er über ein stark erhöhtes Risiko für Diabetes
Typ II verfügt sowie über einen »somewhat higher IQ«.
Von dem streitlustigen Genomforscher sind seit 2007
nicht nur die individuellen Varianten vieler SNPs bekannt, sondern jeder einzelne der sechs Milliarden
Buchstaben seines Genoms. Watson und sein Kollege
und Kontrahent Craig J. Venter sind die ersten beiden
Menschen, deren persönliches Erbgut Buchstabe für
Buchstabe sequenziert wurde. Doch auch diese endgültige Transparenz der Sequenzinformation wird
alsbald allgemein zugänglich sein: Ab Juni 2009 bietet
die kalifornische Firma Complete Genomics
(www.completegenomics.com/) die Sequenzierung eines
menschlichen Genoms für 5000 US-Dollar an.
Wen der Gedanke befremden sollte, sich selbst als
Forschungsobjekt in der Weböffentlichkeit zu präsentieren, der kann als Wissensproduzent an der Internetpräsenz der Gene mitwirken. Das GeneWiki
(http://en.wikipedia.org/wiki/Portal:Gene_Wiki) bedient sich des Wikipedia-Prinzips gemeinschaftlicher
Wissensakkumulation, um die Zugänglichkeit zu Informationen über das Genom für wissenschaftliche und
außerwissenschaftliche Öffentlichkeiten zu erhöhen. Auf
der Basis eines sogenannten ›Stub‹-Artikels, den die Initiatoren des Projekts für jedes menschliche Gen erstellen
wollen, können geneigte Internetöffentlichkeiten das
Profil dieses Gens vervollständigen. So sollen Artikel
entstehen, die zur Position und Funktion des Gens Auskunft geben und selbst untereinander hochgradig verlinkt
sind – ein Genpool, an dem Studierende, Lehrende, klinische Genetiker, Journalisten und Wissenschaftler mitarbeiten sollen.
Auch das Personal Genome Project (PGP, www.
personalgenomes.org/) spricht die Öffentlichkeit als Teilnehmer an. Im Unterschied zum Wiki-Ansatz sind in
diesem Fall jedoch nicht nur Wissens-, sondern auch
Sequenzbausteine gefragt. Im Labor und an den runden
Tischen, an denen die Teilnehmer ihre Ergebnisse diskutieren, greifen Forschung, Zugang zu persönlichen Genomdaten und Geschäftsidee ineinander. Während das
PGP in den kommenden Jahren 100 000 »informed participants from the general public« auf freiwilliger Basis zu
rekrutieren sucht (die Informiertheit wird in Form von
Quizfragen getestet), werden Genomscans von einem
Start-up-Unternehmen des Projektleiters und Harvardwissenschaftlers George Church vermarktet. Im Unterschied zu den anderen kommerziellen Anbietern sind die
Scans der Firma Knome (www.knome.com/home/) allerdings nicht online verfügbar, sondern setzen eine Konsultation mit einem firmenzugehörigen Berater voraus.
Wie das PGP verfolgt auch das öffentlich finanzierte internationale 1000 Genomes Project (www.
1000genomes.org/page.php) das Ziel, eine möglichst
große Zahl individueller Genome zu sequenzieren und
die Sequenzdaten zusammen mit klinischen, körperlichen
und geistigen Charakteristika der entsprechenden Person
im Netz zugänglich zu machen. Diese Projekte machen
das wissenschaftliche Potenzial der Übung deutlich: Mithilfe von Gentests und Genomscans kann menschliche
genetische Variation auf der Ebene von ganzen Populationen untersucht werden, und man vermag aus Unterschieden und Gemeinsamkeiten auf den Zusammenhang
von genetischer Konstitution und Gesundheitszustand
sowie auf historische Entwicklungen und natürliche Selektionsprozesse zu schließen. Auf diese Fragen der Forscher kann eine Liste von Wahrscheinlichkeiten und relativen Risiken, die mit der Anwesenheit eines bestimmten
SNPs einhergehen, eine Antwort geben. Woran ich sterben und ob ich vorher Krebs bekommen werde, sagt mir
mein Genomscan mit Sicherheit dagegen nicht. Journalisten, die das eigene Erbgut von mehreren Unternehmen
haben scannen lassen, berichten, dass die Ergebnisse
Gegenworte, 21. Heft Frühjahr 2009
nicht nur wenig aufschlussreich sind, sondern sich in hohem Maße widersprechen. Auf ein Individuum bezogen
sind prädiktive Tests derzeit bestenfalls als moderne Orakel anzusehen, und auch welchen Wert das Wissen um
die eigenen Genomdaten zukünftig für den Einzelnen
haben wird, ist unter den Forschern umstritten. Ein Blick
in die Augen des Gegenübers wird auch im 21. Jahrhundert deren Farbe schneller und zuverlässiger verraten als
die Suche nach der entsprechenden Information im Erbgut dieses Menschen. Auch die Information, gesunde Ernährung, viel Bewegung und wenig Stress seien dem persönlichen Genomprofil angemessene Verhaltensweisen
zur Krankheitsvermeidung, scheint mit ein paar Hundert
Euro ein wenig überteuert. Und mehr als Information
gibt es für den gekauften Gentest nicht; alle Firmen weisen potenzielle Kunden in ihren Geschäftsbedingungen
deutlich darauf hin, dass sie weder medizinische Diagnosen noch Behandlungen anbieten. Der Service ist, wie es
bei 23andme heißt, »for research and educational use
only«. Die Kunden zahlen für einen Datenberg und die
Teilnahme an einem Forschungsprojekt.
Aktuell liefern die Gene im Netz eher Fragen als Antworten: Wer nimmt die Dienste in Anspruch, wie groß
sind das Informationsbedürfnis und der Markt? Erste
Studien weisen darauf hin, dass viele Internetnutzer im
Stil sozialer Netzwerke bereitwillig auch ihre genetischen
Informationen öffentlich machen. Doch wem nützen die
Informationen und wem schaden sie? Welche Risiken
und Nebenwirkungen birgt die Öffentlichkeit genomischer Informationen in öffentlichen Datenbanken, welche die Speicherung in den Datenbanken kommerzieller
Anbieter? Soll hier politisch eingegriffen werden oder
beobachten wir hier, wie es der Markt propagiert, einen
Demokratisierungsprozess, eine Stärkung des Einzelnen
und individueller Entscheidungen? Kann reguliert werden, bevor man mehr darüber weiß, wie Konsumenten
und Studienteilnehmer mit den Informationen umgehen?
Lässt sich webbasiert gehandeltes wissenschaftliches
Wissen überhaupt regulieren?
Auf einem der ersten Treffen der Wissenschaftler zur
individuellen Genomforschung wurde jüngst als Ziel
eine Wissensplattform in den Blick genommen, die für
jeden einzelnen der über drei Milliarden Bausteine des
menschlichen Erbguts alle über die entsprechende Stelle
vorhandenen Informationen bündelt. Die Komplexität
der Erbinformation hat seit der Publikation der ersten
menschlichen Genomsequenz 2001 die Forscher selbst
überrascht und ihre Vorstellung davon, was ein Gen eigentlich ist, über den Haufen geworfen. Ebenso wenig
wie die Gene in den Körperzellen dem Ein-Gen-einStück-Protein-Paradigma der Molekularbiologie entsprechen, fügen sich die Gene im Netz etablierten Konzepten
genetischer Diagnostik und genetischer Beratung, die
persönliche Gespräche vor und nach einem Gentest vorsehen. Im letzteren Fall müssen nicht nur Begriffe diskutiert und neu sortiert werden, sondern insbesondere Umgangsformen und Werthaltungen. Während sich die
Bioinformatiker den Problemen der technischen Informationsverarbeitung stellen, wird beispielsweise in Großbritannien mit der gesellschaftlichen Informationsverarbeitung begonnen. Die Human Genetics Commission,
welche die britische Regierung in Fragen der gesellschaftlichen Implikationen von Humangenetik und Biomedizin berät, arbeitet derzeit an einem Prinzipienkatalog zum Umgang mit persönlichen Genomdaten, der
an nationale politisch-rechtliche Rahmenbedingungen
angepasst und umgesetzt werden kann. Wie Sie sich an
der öffentlichen Konsultation der Kommission beteiligen können? Im Internet, www.hgc.gov.uk/Client/
Content.asp?ContentId=816.
Der Artikel entstand während eines Gastaufenthalts der Autorin am ESRC Genomics
Policy and Research Forum der Universität Edinburgh. Das Forum gehört zu einem
vom britischen Economic and Social Research Council geförderten Netzwerk, in dem
sich über 100 Sozialwissenschaftler mit den ethischen, sozialen und rechtlichen Implikationen aktueller Genomforschung beschäftigen ( www.genomicsnetwork. ac.uk/
– letzter Zugriff hier wie bei allen anderen zitierten Webadressen 1. 4. 2009).
Literatur
D. E. Duncan: Experimental Man: What One Man’s Body Reveals about
His Future, Your Health, and Our Toxic World. Wiley & Sons 2009
N. Fleming: Rival genetic tests leave buyers confused. Firms that offer
to predict your risk of disease give worryingly varied results, in: The
Sunday Times vom 7. 9. 2008. Als Online-Dokument:
www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/science/
article4692891.ece
Human Genetics Commission: More Genes Direct. A report on
developments in the availability, marketing and regulation of genetic tests
supplied directly to the public. HGC 2007. Als Online-Dokument:
www.hgc.gov.uk/client/
document.asp?DocId=139&CAtegoryId=10
B. Prainsack u. a.: Misdirected precaution, in: Nature 456 (6), 2008,
S. 34–35
A. I. Su u. a.: A Gene Wiki for Community Annotation of Gene
Function, in: PLOS Biology 6 (7), 2008, S. 1398–1402