21
Andreas Losch 1
Überlieferung und Kompositionsstruktur von Ich und Du.
Ein Neuansatz der Interpretation
Diese Stationen sollte man sich in ihrem genauen Wortlaut gut einprägen, soviel sei bereits
verraten. Auf dem Datierungsblatt steht zudem
Folgendes zu lesen, was die ursprünglichere, weil
ausführlichere Fassung des oben Zusammengefassten darstellt, so meine These:
»Dieses Buch stellt den Anfang eines Weges dar,
den ich weiter zu gehn und weiter zu führen versuchen will. Der erste Entwurf des ganzen Itinerars stammt aus dem Mai 1916; diese Niederschrift des Anfangs habe ich erst im Mai 1922 beendet. Möge die Ahnung eines Auftrags, die mir
in dieser Zeit, nicht immer aber immer wieder
beistand, bei mir bleiben.« 4
Dazu zunächst dreierlei:
1 Es heißt im ersten Satz der ausführlichen Fassung: »…versuchen will«. Die tatsächlich ja nur
»versuchsweise« angedachten Wegstationen des
Werkes (nicht: des Buches Ich und Du) sind in verschiedenen handschriftlichen Fassungen erhalten 5, sie spiegeln sozusagen Varianten des Itinerars des angedachten Gesamtwerkes, von dem Ich
und Du nur der Anfang sein sollte.
2 Deutungsbedürftig ist der Beginn des Satzes
nach dem Semikolon. Man könnte meinen, er bezöge sich auf den Vordersatz, also den Entwurf
des ganzen Itinerars. Der wird jedoch kaum bis
1922 gedauert haben und dann erst beendet worden sein. Vielmehr meint Buber m.E. mit »diese
Niederschrift« wohl etwas, dass er vorliegen hatte,
zu dem das Blatt ursprünglich gehörte. Also die
erste Fassung von Ich und Du. Die später gedruckte Kurzfassung verrät uns ja, dass diese Niederschrift 1919 begonnen wurde, und dann eben
1922 beendet worden ist.
3 Der wirkliche Auftrag, wie Buber es nennt,
erreicht diesen dann ja mit der Anfrage der Verdeutschung, die er nur zusammen mit Franz Rosenzweig durchführen wollte. Dies legt nahe,
dass einer der oben im eingangs zitierten Gedicht
genannten Freunde bereits Rosenzweig war; er
ist vermutlich eher gegen Ende von Ich und Du
zu finden, weil die beiden sich spät kennenlernten 6 – was immer denn das ursprüngliche Ende
darstellt. Die Begegnungen mit nahen Freunden,
so eine weitere zentrale These für diesen Aufsatz,
bestimmen also die Kompositionsstruktur von Ich
und Du. Man möchte Bubers Gedicht aufnehmen
und sagen: Erkennt sie, schließt den Kreis, es ist
die Stunde.
1
5
Den Freunden, die in diesen sieben Jahren
Mir nahe blieben, nahe kamen, nahe waren
Reich ich dies Buch, reich ich mich hin
zum Bunde:
Erkennt euch, schliesst den Kreis,
es ist die Stunde. 2
Das Martin Buber Archiv in Jerusalem ist ein
reicher Schatz, den auch die bald abgeschlossene
Werkausgabe nicht ganz vollständig heben konnte. Es ist ein einfaches Blatt in diesem Archiv (im
folgenden »Datierungsblatt« genannt), auf dem
sich die handschriftliche Vorlage für denjenigen
Eintrag Bubers zur Entstehungsgeschichte von
Ich und Du befindet, der sich gedruckt allein am
Ende der Erstauflage des Buches wiederfindet:
»Entwurf des Werks, dessen Anfang
dieses Buch ist: Frühling 1916;
erste Niederschrift dieses Buchs: Herbst 1919;
endgültige Fassung: Frühling 1922.« 3
2
3
4
Dr. Andreas Losch ist Wissenschaftlicher Assistent
an der Theologischen Fakultät, Universität Bern.
Buber, Martin: »Mappe 9b zu: ›Ich und Du‹«,
Arc. Ms. Var. 350, 2, 9b.
Buber, Martin (1923): Ich und Du, Leipzig, S. 139.
Buber: »Mappe 9b zu: ›Ich und Du‹«.
6
Horwitz, Rivka (1978): Buber’s way to I and Thou, Phronesis 7,
Heidelberg, S. 210; S. 269 – 270.
Losch, Andreas (2015): Ich, Du und ER.
Franz Rosenzweigs Einfluss auf die Abfassung von ›Ich und Du‹;
was allerdings an vielen Stellen durch die vorliegende Darstellung zu korrigieren ist.
ZfBeg 1/2| 2018
22
Andreas Losch: Überlieferung und Kompositionsstruktur von Ich und Du. Ein Neuansatz der Interpretation
1
Grobstruktur des Gesamtwerks
Zunächst soll es jedoch um den Überlieferungsrahmen des Ganzen gehen. Rivka Horwitz, der
wir, so muss man festhalten, so viele wertvolle
Einsichten in die Entstehungsgeschichte von Ich
und Du verdanken, hat leider auch Wesentliches
übersehen. Sie interpretiert die Aussagen Bubers
dahingehend, »that he had formulated a plan for
the book in 1916« 7, »and in the fall of 1919 he
had written a first rough draft (unbeholfene Niederschrift) of I and Thou.« 8 Ihr zufolge wurde
diese Niederschrift jedoch niemals entdeckt. 9
Sie liegt hier leider nun (oder eher: glücklicherweise) in zweifacher Hinsicht falsch. Richtig
ist zunächst die Tatsache, dass 1916 ein Plan gefasst wurde. Buber hat jedoch dann seit 1919 an
einem Manuskript gearbeitet, das durchaus in
weiten Stücken erhalten ist und teilweise sogar in
die Endfassung von Ich und Du aufgenommen
wurde, wie zu zeigen sein wird. Es wäre ja auch
merkwürdig, würde Buber die Anfänge dieses von
ihm selbst als Auftrag erfahrenen Werks verloren
und nicht aufbewahrt haben.
Der Schlüssel, um Buber in dieser Hinsicht zu
verstehen, ist seine handschriftliche Aussage auf
dem Datierungsblatt, die wir oben zitiert haben,
die von Horwitz sogar als Faksimile wiedergegeben wird, aber fälschlicherweise als dem Buch voranzustellendes Motto klassifiziert worden ist. 10
In Wirklichkeit handelt es sich, wie dargelegt, um
eine detaillierte Erläuterung der Kurzfassung der
Wegstationen des Buches, wie sie am Ende der
Erstauflage auch abgedruckt worden ist.
ZfBeg 1/2 | 2018
7
8
9
10
Ebd. S. 20.
Ebd.
»No evidence of the 1919 manuscript has been discovered.«
Ebd. S. 22.
Ebd. S. 261.
Deckblatt der Erstausgabe
»Ich und Du« von Martin Buber,
erschienen im Insel-Verlag, 1923.
Merkwürdig ist außerdem, dass Horwitz gar
nicht diskutiert, dass der Plan laut Buber 1916 gefasst wurde, während sie ein auf den 5.2.1918
(also zwei Jahre später) datiertes Manuskript als
entscheidend ansieht. Sie liegt damit jedoch zum
Teil unbewusst richtig, weil der 1916 gefasste Plan
ja der Plan zum Werk (also Gesamtwerk) war, wie
es im Gegenteil zu ihrer eigenen unsachgemäßen
Übersetzung (»plan for the book« 11; richtig wäre:
for the work) im Original heißt, während die erste
Niederschrift des Buchs (also Niederschrift von
Ich und Du) auf 1919 datiert.
Wie lassen sich die verschiedenen Versuche,
d.h. Aufrisse des Gesamtwerks, nun zeitlich einordnen?
Das sorgfältig beschriebene Dokument am
Ende des umfangreichen und bekannten Handmanuskripts von Ich und Du 12 ist recht offensichtlich eine nachträgliche Synopse:
11
12
Ebd. S. 20.
Buber, Martin: »Mappe 9 mit dem Handmanuskript von
›Ich und Du‹«, Arc. Ms. Var. 350, 2, 9. In: Horwitz (1978):
Buber’s way to I and Thou, S. 210.
23
Erstes Blatt (Martin Buber Archiv
Zweites Blatt (Martin Buber Archiv
Ms. Arc. Var. 350, 2, 9, 100)
Ms. Arc. Var. 350, 2, 9b)
Bücherreihe: Religion als Gegenwart
I
II
III
IV
V
I
II
III
IV
V
Ich und Du
Die Urformen des religiösen Lebens
Die religiöse Person
Die Religionen
Die religiöse Kraft und unsere Zeit
Das religiöse Leben
1 Die Offenbarung
2 Die Weihe (Mysterium)
3 Der Dienst (Opfer und Gebet)
4 Die Kunde (Mythus – Dogma)
5 Die Lehre
6 Die Gemeinde
7 Das Reich
Die Urformen und die Magie
Ich und Du
Urformen des religiösen Lebens
1. Magie | 2. D. Opfer
3. D. Mysterium | 4. Das Gebet
Gotteskunde und Gottesgesetz
1. Mythus | 2. Dogma
3. Gesetz | 4. Lehre
Die Person und die Gemeinde
1. Der Stifter | 2. Der Priester
3. Der Prophet | 4. D[er] Reformator
5. Der Einsame 13
Die religiöse Kraft und unsere Zeiten
(Die Kraft und das Reich)
Interessant ist der Unterschied zu einem losen
einzelnen Blatt:
13
Ich danke meinem früheren Kollegen Arne Taube
für die Hilfe bei der Entschlüsselung dieser Aufzeichnung.
7
Ich und Du
Die Offenbarung
Die Weihe
Der Dienst
Mythus und Dogma (Die Kunde)
Gesetz und Lehre (Die Lehre)
Das Reich
I
Ich und Du
1
2
3
4
5
6
II Urformen des religiösen Lebens
III Gotteskunde und Gottesgesetz
(Mythus – Dogma) | (Gesetz – Lehre)
IV Person und Gemeinde
V Die religiöse Kraft
und unsere Zeit das Reich 14
Was in der zweiten – ich vermute, ursprünglicheren – Variante einen siebenteiligen Gesamtplan (wobei die Siebenzahl sicher kein Wunder
ist, sondern als Vollzahl ein alles umfassendes
Werk symbolisiert) darstellt, wird in der späteren
Darstellung quasi in Ich und Du und die weiteren Themen aufgebrochen, von denen ja selbst
Das religiöse Leben von Buber nur noch ansatzweise verwirklicht wurde 15.
Dann aber stünde der Titel Ich und Du von
Anfang an fest. Dies ist interessant, aber auch
nicht wirklich überraschend, wie noch dargelegt
werden wird. Der Schlüssel nun, um Bubers eigene Aussagen zu verstehen, ist das hier in diesem
Aufsatz an den Eingang gestellte, vermutlich
1922/23 – jedenfalls nach Abfassung des Buchs –
verfasste Gedicht. Die Anlage und Niederschrift
14
15
Streichungen von Martin Buber.
Vgl. Losch (2015): Ich, Du und ER, S. 32. Skizzen dazu in:
Buber: »Mappe 9b zu: ›Ich und Du‹«.
ZfBeg 1/2| 2018
24
Andreas Losch: Überlieferung und Kompositionsstruktur von Ich und Du. Ein Neuansatz der Interpretation
des Buchs sind demnach
geprägt von Erlebnissen
Bubers mit seinen nahen
Freunden. So, wie gesagt,
die zentrale hier zu vertretende These.
Wollen wir sie aufrechterhalten, müssen wir
als Erstes fragen, welches
einschneidende Erlebnis
mit einem nahen Freund
den Ausschlag gegeben haben kann, das Vorhaben für
Das Haus in Heppenheim an der Bergstraße
zwischen Darmstadt und Heidelberg,
das Werk im Mai 1916 zu
wo die Familie Buber von 1916 bis 1938 wohnte.
fassen und mit dem Thema
Ich und Du zu beginnen.
Man beachte, Buber hat es
dass die Datierung der Anfänge des Werks (auf
»nicht immer, aber immer wieder« als Auftrag erdem Datierungsblatt) von Buber mehrfach verlebt, oder um es mit seinem späten Nachwort zu
schiedentlich überschrieben, also verbessert, worIch und Du zu sagen: »Als ich (vor mehr als vierden ist 17. Im vermutlich ursprünglicheren, längezig Jahren) die erste Skizze dieses Buches entren Text lautet das Datum: Mai 1916.
warf, trieb mich eine innere Notwendigkeit an.
Was geschah zu dieser Zeit? Buber war nach
Eine Sicht, die mich seit meiner Jugend immer
Heppenheim gezogen, Heft I des Juden war erwieder heimgesucht hatte und immer wieder geschienen, und die brieflichen Reaktionen der Leser
trübt worden war, hatte nun eine beständige Klartrafen ein. Allen voran Max Brod, sodann Stefan
heit erlangt, und diese war so offenbar von
Zweig, Gustav Landauer und Walter Benjamin gaüberpersönlicher Art, daß ich alsbald wußte, für
ben sich brieflich ein Stelldichein. Doch so etwas
sie Zeugnis ablegen zu sollen.« 16
allein beeinflusst zwar die Stimmung, motiviert
2 Bubers Freundschaft mit Landauer:
aber keinen monumentalen Neubeginn.
Von den Freunden gerade besucht hatte ihn
der Entwurf des Werks
Gustav Landauer, 18 der ihm dann aber in einem
»langen und bitteren Brief Ästhetizismus und
Bubers Briefwechsel sind es, die uns heute
geistige Verwirrung« vorwarf. 19 Es ging um den
Auskunft über Bubers Begegnungen und ErlebKriegsbuber: »Trotz seiner ›Versöhnung‹ mit Lannisse mit seinen Freunden geben. Aber in weldauer ging Buber von seiner metaphysischen Bechem Zeitraum sollen wir suchen? Interessant ist,
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16 Buber, Martin (1962): Nachwort (zu ›Ich und Du‹), in:
17
Buber, Martin: Schriften zur Philosophie, Werke 1, München/
Heidelberg, S. 161–170, hier S. 161.
18
19
Wenn ein Freudscher Versprecher schon den wahren
Gedanken verrät, verraten diese Änderungen zumindest
spätere Reflexionsstufen.
Schaeder, Grete (Hg.) (1972): Martin Buber, Briefwechsel
aus sieben Jahrzehnten. I: 1897–1918, Heidelberg, S. 433.
Ebd. S. 67.
25
falls solange dieses Blatt bzw. sein Herausgeber
direkt oder indirekt für den Krieg eintritt.« 22
»Wir dürfen wohl davon ausgehen, daß Landauers Brief vom 12. Mai 1916 für Bubers persönliche und intellektuelle Entwicklung höchst bedeutsam war. Zumal die Vermutung naheliegt,
daß dieser Brief Bubers Wendung von der Mystik,
die wir vielleicht lieber als Erlebnis-Mystik bezeichnen sollten, zum dialogischen Denken ausgelöst hat.« 23 SoPaul Mendes-Flohr, dem wir soweit folgen wollen.
Martin Buber, 1916.
trachtungsweise des Krieges nicht ab. Sein Vortrag ›Die Tempelweihe‹ war im Dezember 1914
gehalten worden; auf dasselbe Thema kam er in
seinem Essay ›Die Losung‹, welches er der Zeitschrift Der Jude voranstellte, noch einmal zurück.« 20
»Im März 1916 zog Buber – nach über zehnjährigem Aufenthalt in Berlin, während dessen er
Landauer fast täglich sah – mit seiner Familie nach
Heppenheim in die Nähe von Frankfurt am Main.
Am 7. Mai 1916, nach zweimonatiger Trennung,
stattete Landauer Buber in seinem neuen Heim
einen Besuch ab. Buber hieß den Freund herzlich
willkommen, aber Landauer kehrte aus Heppenheim doch ziemlich irritiert und verärgert zurück.« 21 Es kommt zu dem genannten Schreiben.
»Landauer schließt seinen langen und scharfen
Brief mit der Weigerung, an Bubers neu gegründeter Zeitschrift ›Der Jude‹ mitzuarbeiten, jeden-
20 Mendes-Flohr, Paul (1979): Von der Mystik zum Dialog:
21
Martin Bubers geistige Entwicklung bis hin zu ›Ich und Du‹,
Königstein, S. 135.
Ebd. S. 136.
Es war m.E. der emotionale Widerstand Landauers gegen den Kriegsbuber, der den ersten Entwurf des Gesamtwerkes bewirkte. Landauer
›kochte das Blut‹, er sagte über Bubers zeitgenössische Ausführungen in Der Geist des Orients
und das Judentum: »Das ist die Sprache eines, der
durch Bewirktheit in seiner Klarheit bedenklich
getrübt ist, nicht eines Wirkenden noch eines
Schauenden.« 24 Das musste dem um Verwirklichung so bemühten Buber in der Seele weh tun.
Landauer zielte mit seiner Kritik auf die der ersten
Ausgabe des Juden vorangestellte Losung Bubers
und verweist von dorther auf den Sammelband
Der Geist des Judentums, darin auf eine Stelle in
der ersten Rede Bubers, Der Geist des Orients
und das Judentum.
Was hat ihn dermaßen verärgert? Die Losung,
ja nichts weniger als Bubers damaliges Programm,
beklagt die Gespaltenheit der Judenheit und glorifiziert dabei den Krieg. Nicht nur das, Buber stilisiert sich selbst gewissermaßen als Erlöser. Er
zitiert eine frühere Rede von sich selbst: »Viele
werden uns folgen, die uns noch nicht gefolgt waren – vielmehr, sie werden sich selber folgen.
22 Ebd. S. 139.
23 Ebd. S. 140.
24 Buber, Martin (1918 –1938): Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. II, S. 434.
ZfBeg 1/2| 2018
26
Andreas Losch: Überlieferung und Kompositionsstruktur von Ich und Du. Ein Neuansatz der Interpretation
Denn sie haben den Weg der inneren Befreiung
betreten und sie werden erkennen, daß es für den
sich befreienden Juden keine Wege gibt, sondern
nur einen Weg.« 25 Buber wusste es sozusagen
schon immer. Alle Gespräche mit Kriegsheimkehrern bestärken ihn: Die wahre neue Gemeinschaft
(Landauers Thema) ist gewissermaßen die Kriegsbruderschaft. »… wir meinen nicht den Einzelnen, sondern den Juden als Träger des Volkstums
und seiner Aufgabe. Wir fordern … Lebens - und
Arbeitsfreiheit für eine niedergehaltene Volksgemeinschaft, und daß sie, die heute in ihrem größten Teil als ohnmächtiges Objekt der Ereignisse
behandelt wird, freies Subjekt ihres Schicksals
und ihres Werkes werde, damit sie zur Erfüllung
ihres Amtes an der Menschheit heranwachse.
Diese Freiheit zu erkämpfen, ist die eine Losung
unseres Kriegs; die andere aber, die hemmenden
Kräfte der Eigensucht und Zersetzung zu bezwingen, die im Judentum selbst der Aufgabe entgegenstehen. Wenn wir erkannt haben, daß es gilt,
mit unserem Verhältnis zu unserer Gemeinschaft
Ernst zu machen, wenn wir dazu erwacht sind,
uns für sie verantwortlich zu fühlen, dann müssen wir alles einsetzen, um sie zu reinigen. Der
Jude, der ist, ist für uns nicht Ziel, sondern Ausgangspunkt; wir wollen den Juden, dessen hohes
Bild wir im Gedächtnis und in der Hoffnung tragen, verwirklichen.« 26
Hier war gewissermaßen der Widersacher des
einzig heiligen Weges, der Sache Bubers, markiert:
die eigensüchtig-zersetzenden jüdischen Kriegsgegner. War Landauer nicht ein solcher? Wenn
man vor diesem brisanten Hintergrund nun den
von Landauer als anmaßend empfundenen Ab-
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25 Buber, Martin (1916/17): »Die Losung«,
Der Jude: eine Monatsschrift 1.1, S. 1 – 3, hier S. 2.
26 Ebd. S. 3. Kursiv A.L.
schnitt im Geist des Orients und das Judentum
liest, versteht man dessen Wut noch mehr: Der
Orientale, insbesondere durch den Juden verkörpert, ist dort zugleich primitiv und vollendet. Das
hört sich zunächst einmal irgendwie ausgewogen
an. Aber primitiv will ja niemand genannt werden, und vollendet meinte Buber wohl in diesem
Sinne: »Wohl aber darf man vom Orientalen hervorheben, daß die bestimmende Zeit seines inneren Schicksals, die Zeit, die seinen Charakter
geprägt und seine schöpferische Kraft bestimmt
hat, daß die Stunde seiner entscheidenden Plastizität in eine frühere Epoche der Erdgeschichte
fällt als die plastische Stunde des Europäers.« 27
Vollendet meint hier also so viel wie überholt,
und der Kriegsgegner war damit ein ›Primitivling‹.
Wer Bubers Ausführungen nicht folgte, war
›von gestern‹. Landauer schäumt: »Ich gestehe,
mir kocht das Blut, wenn ich (S.11) lese, wie Sie neben den Griechen der Perikleischen Zeit oder den
Italiener des Trecento ›den Deutschen unserer Tage‹ [als fortschrittlichen Abendländer] stellen, unter Ausschluß der Deutschen früherer Zeiten und
unter Ausschluß aller anderen europäischen Nationen.« Und dann kommt das bereits genannte
vernichtende Urteil: »Das ist die Sprache eines, der
durch Bewirktheit in seiner Klarheit bedenklich
getrübt ist, nicht eines Wirkenden noch eines
Schauenden.« Wir übersetzen: Buber, ein trüber
Geist, Hochstapler und Möchtegernmystiker?
Buber trieb es sogar noch schlimmer. Landauer fährt fort: »Über das aber, was sich von S. 46
an anschließt, kann ich fast nicht reden.« In diesem Schlussteil von Bubers Rede geht es um das
27 Kursiv A.L.
27
zeitgenössische Deutschland als Mittler- und Erlöservolk, gewissermaßen als Lösung für die Spannung zwischen Orient und Abendland. »Das Volk,
das in dieser [Umkehr] vorangehen muß, ist das,
dessen Leben im Geiste und dessen metaphysische Schöpfung einzig im modernen Europa
denen der großen orientalischen Völker verwandt
ist, das deutsche Volk.« 28
Der ganze Abschnitt wird in Neuauflagen
schlicht durch das Wort Europa ersetzt. Landauer
prophezeit, Buber werde um seiner selbstwillen
›auszulegen, hinzuzufügen, einzuschränken, zurückzunehmen und zu bedauern haben‹…29
In der Tat unterließ Buber dann bei der Neuausgabe jeden Hinweis auf eine deutsche Mission
und auf eine besonders herausgehobene Beziehung zwischen Deutschland und den Juden. Seine Erklärung lautete: ›Von der zweiten Auflage
an sind am Schluß der ersten Rede die Sätze gestrichen, in denen das deutsche Volk aufgerufen
wurde, in der Umkehr voranzugehen und eine
neue Ära des Einvernehmens mit dem Orient zu
begründen. Das deutsche Volk hat die ihm in jenen Sätzen zugedachte Funktion nicht auf sich genommen und kann sie nun nicht mehr auf sich
nehmen. Aber Europa steht die Entscheidung noch
bevor.‹ (Buber, Vom Geist des Judentums.)« 30
Noch wichtiger als diese spätere Einschränkung ist nun aber Bubers direkte Reaktion auf
Landauers Einwände. Leider fehlt Bubers unmittelbare Antwort. Schaede vermutet: »Wahrscheinlich haben sich die Freunde mündlich ausgesprochen«. 31 Warum aber begann Buber nun gerade
über Ich und Du dezidiert nachzudenken, und
warum im Rahmen eines Werkes, das auch von
28 Buber, Martin (2013): Mythos und Mystik. Frühe religionswissenschaftliche Schriften, in: Groiser, David (Hg.):
Martin Buber Werkausgabe 2.1, Gütersloh, S. 202.
29 Dieses Zitat bezieht sich auf Martin Buber: Briefwechsel
aus sieben Jahrzehnten. II: 1918–1938, S. 437.
30 Buber (2013): Mythos und Mystik. Frühe religionswissenschaftliche Schriften, S. 405.
31 Buber, Martin: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. II:
1918 – 1938, S. 438.
Die Offenbarung, Die Weihe, Der Dienst, Der
Mythos und Dogma, Das Gesetz und Lehre, Das
Reich handeln sollte? Das ist mir noch nicht klar.
Vielleicht wollte er sich einmal grundlegend erklären und zukünftige Missverständnisse unter
Freunden vermeiden. Dann wären die sieben Stichpunkte nichts weniger als Bubers vorgestelltes Lebenswerk. Ist das zu gewagt oder finden wir vielleicht einen Anklang daran in seinen autobiografischen Fragmenten? Zumindest eine »Bücherreihe« soll es jetzt ja werden 32. Jedenfalls bezeichnet er in den Fragmenten den Anfang, die Erkenntnis des Zwischen von Ich und Du als die
»entscheidende Wandlung, die sich in der Zeit
des ersten Weltkriegs an einer Reihe von Geistern
vollzog.« 33
3
Der Heilige Weg: Gotteserkenntnis
aus der Katastrophe heraus
Den nächsten Meilenstein stellt sodann die
Niederschrift des ersten Buches, Ich und Du, dar,
die im (Sommer bzw.) Herbst 1919 begann. Was
geschah in dieser Zeit? Wieder etwas in der sehr
wesentlichen Beziehung zu Landauer?
Gustav Landauer war nach der gewaltsamen
Niederschlagung der Münchner Räterepublik, an
der er beteiligt gewesen war, am 2. Mai 1919 ermordet worden. Buber war darauf mehrere Monate körperlich beeinträchtigt. 34 In einem Ge-
32 Buber: »Mappe 9 mit dem Handmanuskript von ›Ich und Du‹«,
S. 100.
33 Buber, Martin (2016): Schriften zu Literatur, Theater und Kunst,
Lyrik, Autobiographie und Drama, in: Bilski, Emily D. (Hg.):
Martin Buber Werkausgabe 7, Gütersloh, S. 305.
34 Schaeder, Grete (Hg.) (1973): Martin Buber, Briefwechsel aus
sieben Jahrzehnten. II: 1918 –1938, Heidelberg, S. 57.
Hatte er nicht im Geist der Zeit selbst zur Reinigung der Volksgemeinschaft von diesen Elementen aufgerufen?
»Wenn wir erkannt haben, daß es gilt, mit unserem Verhältnis zu
unserer Gemeinschaft Ernst zu machen, wenn wir dazu
erwacht sind, uns für sie verantwortlich zu fühlen, dann
müssen wir alles einsetzen, um sie zu reinigen.« Buber, ›Die
Losung‹, 3. Schlimmer noch mögen ihm diese eigenen Sätze unmittelbar vor dem von Landauer unsagbar befundenen Teil nachgeklungen haben: »Die Seele Asiens wird gemordet, und es selber
tut bei diesem Morde mit.« Buber (2013): Mythos und Mystik.
Frühe religionswissenschaftliche Schriften, S. 202.
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28
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Andreas Losch: Überlieferung und Kompositionsstruktur von Ich und Du. Ein Neuansatz der Interpretation
nun ausgesprochen werden. Der Auftrag bzw. die
Aufgabe war ja bekanntlich lange gefühlt. Vor diesem Hintergrund bekommen Bubers Ergänzungen einen tieferen Sinn. Die Niederschrift des
Werks, die Verwirklichung, zunächst von Ich und
Du, bahnt sich an.
»Ich habe von der gesprochenen Fassung der
Rede nichts weggelassen und ihr nur im Schlußteil drei – entwurfsweise im Frühjahr 1918 niedergeschriebene – Abschnitte hinzugefügt.« 40
Diese sind vermutlich für das Neue sehr wichtig,
das ist im Moment jedoch nicht unsere Frage; wir
hatten uns gefragt, wieso der Titel Ich und Du so
fraglos zuvorderst auf jedem Abriss des vorgesehenen Werkes prangte. Das lässt sich eigentlich
nur so verstehen, dass das Thema schon lange
feststand. Es geht dabei vermutlich an diesem
Datum auch um keinen der Freunde Bubers (Gustav Landauers Brief provoziert ja nur den Entwurf
des monumentalen Gesamtwerks), sondern um
die Erfahrung eines Du, also als erstes um Paula.
Dies nachzuzeichnen würde an dieser Stelle allerdings zu weit führen, es sei auf Bubers intimste
Gedichte verwiesen. 41
spräch mit Grete Schaeder sagte er: »Ich habe seinen Tod als den meinen erlebt« 35, mit der Folge:
»Du sollst dich nicht vorenthalten.« 36 Die Erschütterung musste auf vielfältige Weise verarbeitet werden, und es ist zu vermuten, die im Herbst
beginnende Niederschrift von Ich und Du war
eine davon. Nicht zufällig erkennt Paul MendesFlohr enge Parallelen zwischen den Landauer gewidmeten Texten, insbesondere dem umbenannten Heiligen Weg, und Ich und Du. Hier entsteht
das Konzept des Zwischen. Hat auf diese Weise
Landauers Gedankengut überlebt? 37
Der Heilige Weg ist die erweiterte Fassung
von einem Artikel Bubers in Der Jude, nämlich
Heft 8/9 1918 »Wege und der Weg«. 38 Die überarbeitete und umbenannte Fassung ist Dem Freunde Gustav Landauer aufs Grab gewidmet. Sie unterscheidet sich von der früheren Veröffentlichung vor allem durch eine vorangestellte Reflektion und Explikation der Veränderungen.
Er schreibt: »Diese siebente und letzte Rede
hat zum Gegenstand die Aufgabe selbst, ihr Werden und ihr Sein. Die drei ersten wollten zur
Selbstbesinnung, zur Selbsterkenntnis, zur Bereitschaft aufrufen, die den Einzelnen zur Teilnahme
am Werk befähigen sollen, die drei folgenden auf
die durch die Zeiten dauernde innere Macht hinweisen, aus der das Werk aufsteigen soll, diese
letzte will des Werkes überliefertes und doch
noch unerkanntes Wesen aussagen und andeuten, wie es zu tun ist. Sie handelt vom Weg –
vom morgigen, vom ewigen, von Israels, von Gottes Weg. Hier endet die Pflicht des Redenden.« 39
Wir deuten also Bubers Aussagen vor dem geschilderten Hintergrund auf sein Lebenswerk:
Dieses war sozusagen schon angelegt, musste aber
Der Drang loszulegen, war also da. Wie aber
beginnen? Am 11. November 1918 endete der Erste
Weltkrieg, worauf einige Zeit später das Doppelheft von Der Jude mit der ursprünglichen Fassung
der Rede erscheint. Der Heilige Weg, ein Wort ja
auch »an die Völker« wird ja offensichtlich nach
dem verfrühten Tode des Kriegsbubergegners Landauer veröffentlicht, also frühestens im Mai 1919.
Thema ist, wie gesagt, das Zwischen – das
sich natürlich auch in den nun gedruckten handschriftlichen Nachträgen findet. Zu den immanen-
35 Schaeder in: Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahr-
39 Buber, M. (2018): »Der heilige Weg«, in:
zehnten. II: 1918 –1938, S. 63.
36 Ebd.
37 Buber wurde auch der Nachlassverwalter Landauers.
38 Buber, M. (1918): »Wege und der Weg«,
Der Jude: eine Monatsschrift 8/9, S. 365 –368.
Schriften zur politischen Philosophie und zur Sozialphilosophie,
von Martin Buber, in: Ferrari, Francesco; Franchini, Stefano
und De Villa, Massimiliano (Hg.): Martin Buber-Werkausgabe
11, Gütersloh, 2018, S. 125 – 156, hier S. 127. Kursiv A.L.
40 Ebd. S. 150ff. Kursiv A.L.
41 Vgl. Buber (2016): Schriften zu Literatur, Theater und Kunst,
Lyrik, Autobiographie und Drama, S. 25.
29
ten Grundsätzen des jüdischen Willens zählt
Buber »die Gemeinde in ihren mannigfachen Formen, Ortsgemeinde, Genossenschaft, Kameradschaft, Brüderschaft, als die Zelleneinheit aller
Gemeinschaft,darin sich die unmittelbare Beziehung zwischen den Menschen, die Trägerin des
Göttlichen, zur dauernden Gestalt aufbaut«, und
später: »Die Beziehungen zwischen den Menschen müssen sich verwandeln, damit aus ihnen
wahre Wandlung der Gesellschaft,wahre Wiedergeburt geschehe.« 42
Der Weg dahin führt über »das kostbarste
Erbe des klassischen Judentums: … die Tendenz
der Verwirklichung. Diese Tendenz bedeutet, daß
das wahre Menschenleben das Leben im Angesichte Gottes ist. Gott ist dem Judentum keine
kantische Idee, sondern elementar gegenwärtige
Substanz – weder ein von reiner Vernunft Gedachtes noch ein von einer praktischen Postuliertes, sondern die Unmittelbarkeit des Daseins
schlechthin, das Geheimnis der Unmittelbarkeit,
dem der fromme Mensch standhält, der unfromme ausweicht – er ist die Sonne der Seelen. Aber
nicht der hält stand, nicht der lebt im Angesichte
Gottes, der sich von der Welt der Dinge abwendet und selbstvergessen in die Sonne starrt, sondern der in ihrem Lichte atmet, in ihrem Lichte
wandelt, sich und alle Dinge in ihrem Lichte badet. Wer sich von der Erde abkehrt, er faßt Gott
nur als Idee, nicht als Wirklichkeit, er wird nur
seiner Einheit, nicht auch seiner Allheit habhaft,
er hat ihn im Erlebnis, er hat ihn nicht im Leben.
Aber auch wer sich der Erde zukehrt und Gott in
den Dingen schauen will, lebt nicht wahrhaft in
dessen Angesicht. Gott ist in den Dingen nur
42 Buber (2018): Schriften zur politischen Philosophie und
zur Sozialphilosophie, S. 155f.
Titelseite der Monatszeitschrift »Der Jude«,
Erstausgabe im April 1916. Von Martin Buber
stammte der erste Aufsatz »Die Lösung«.
Die Zeitschrift erschien bis 1924.
keimhaft zu schauen; aber er ist zwischen den
Dingen zu verwirklichen. Wie die Sonne die Substanz ihres Seins unter den Sternen hat und doch
ihr Licht im irdischen Raume fließt, so ist es den
Kreaturen gewährt, in ihrer Mitte die Glorie des
Unerfaßlichen erstrahlen zu sehen. Sie dämmert in
den Wesen, in allen, aber sie wird nicht in ihnen,
nur zwischen ihnen leuchtend. In jedem Wesen
ist Allsein angelegt, aber es kann sich nicht anders
entfalten als in dieses Wesens Allverbundenheit,
in der reinen Unmittelbarkeit seines Gebens und
Nehmens, die es als eine Lichtsphäre umgibt und
in die Einheit der Welt einfügt. Das Göttliche
kann sich im Einzelnen erwecken, kann sich aus
dem Einzelnen offenbaren, aber seine wahre
Fülle erlangt es je und je, wo zum Gefühl ihres
Allseins erwachte Einzelwesen sich einander öffnen, sich einander mitteilen, einander helfen, wo
Unmittelbarkeit sich zwischen den Wesen stiftet,
wo der erhabene Kerker der Person entriegelt wird
und Mensch zu Mensch sich befreit, wo im Dazwischen, im scheinbar leeren Raum, sich die
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Andreas Losch: Überlieferung und Kompositionsstruktur von Ich und Du. Ein Neuansatz der Interpretation
ewige Substanz erhebt: der wahre Ort der Verwirklichung ist die Gemeinschaft, und wahre Gemeinschaft ist die, in der das Göttliche sich zwischen den Menschen verwirklicht.« 43
Buber resümiert: »Dies sind die Grundzüge der
Lehre, auf der sich die Berufung des Judentums
aufbaut.« 44
4 Die erste Niederschrift:
wie beginnen?
Die Lage für Buber ist im Frühjahr 1919 also
katastrophal, er hatte angesichts des Todes Landauers quasi seinen eigenen Tod erlebt. Wann war
es soweit, dass sich der Anbeginn des Werks verwirklichte, wann brach es sich Bahn? Wann schien
ihm der Sonne Glanz von Neuem? Laut der Notiz
war es im Sommer bzw. Herbst (für Buber Oktober) 1919 bereits der Fall.
Nähern wir uns diesem Datum von seiner
Nachwirkung her. Am 3.3.1920 schreibt Buber
an Robert Weltsch: »Ich bin gegenwärtig ganz tief
in der Arbeit an meinen religionsphilosophischen
Prolegomena, und zwar an ihrem schwersten Abschnitt. Zu dieser Arbeit, die fünf Jahre lang fast
ganz ruhte, bin ich erst seit kurzem wieder gekommen, nach Überwindung starker seelischer
und körperlicher Hemmungen. Auch jetzt muß
ich mir die innere Möglichkeit zu ihr noch täglich
neu erkämpfen. Die Reise nach Prag würde mich
aller Voraussicht nach für kürzere oder längere
Zeit dieser Möglichkeit entreißen, mindestens für
einen Monat (so ist das leider mit mir bestellt).
Ich frage mich, ob ich sie trotzdem unternehmen
soll. Dagegen spricht vor allem, daß ich in meiner
gegenwärtigen Verfassung, ganz auf ein kosmisch-
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43 Ebd. S. 129f.
44 Ebd. S. 130.
Friedrich Nietzsche, um 1875.
geistiges Geheimnis eingestellt, zwar hier und da
Anregungen in jüdischen Angelegenheiten geben
kann (sozusagen von einem autonomen Peripheriesegment meines Wesens aus), aber zur zionistischen Sache nichts Wesentliches zu sagen
habe.« 45
Wie so oft, galt auch für Buber: Aus der Krise
erhebt sich das Werk, die Katastrophe gebiert den
Neubeginn. Es ist zu vermuten, er begann bei seinen eigenen literarischen Anfängen. Das waren
Kant und Nietzsche 46. In der Tat, es ging ihm ja
um seine religionsphilosophischen Prolegomena,
aber wieso bei Nietzsche?
Also sprach Zarathustra, das Buber in jungen
Jahren, nämlich seinem 17. Lebensjahr (1895)
entdeckte, beginnt nicht zufällig mit dem Sonnen-
45 Buber, Martin, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten.
II: 1918 – 1938, S. 66. Kursiv A.L.
46 Buber (2016): Schriften zu Literatur, Theater und Kunst,
Lyrik, Autobiographie und Drama, S. 282 – 283.
31
aufgang, dem Anfang eines neuen Tages. Man erinnere sich daran, dass der noch recht jugendliche Buber wenige Jahre später 47 ganz unbescheiden seinen zukünftigen Freunden schrieb: »Sollte
Euch einmal ein Buch über Friedrich Nietzsche
zu Gesichte kommen mit meinem Namen auf
dem Titelblatte, so wisset: Dies ist die Einleitung
dazu und die Anleitung zum Verstehen.« 48
War es nun Zeit für dieses Werk? Nietzsche
hatte Bubers zionistische Jugend geprägt, und auch
auf Landauer hatte Buber damit Eindruck gemacht.
Mit Bezug auf Bubers Daniel sagte Landauer: »Sie
erreichen mit diesem Werk, dessen Probe ich hier
vor mir habe, was Nietzsche mit dem Zarathustra
und den Dithyramben nicht erreicht hat.« 49 »Verständlicherweise hat Buber auf Landauers Lob mit
großer Freude reagiert und dem Freund weitere
Teile des Buchs versprochen.« 50 Die Erinnerung
an Landauers Lob jedenfalls, so hier die Vermutung, steckt also auch noch in dem Neuanfang
der Niederschrift von Ich und Du.
In seinen autobiografischen Fragmenten bestätigt Buber: Es ging um die Frage nach der Zeit,
die Kant im Grunde nicht beantwortet. Dazu geschah folgendes mit ihm (Buber): »Nietzsches
›Also sprach Zarathustra‹ … bemächtigte sich
meiner …; denn hier trat mir nicht eine Lehre
[wie die Kants] schlicht und gelassen gegenüber,
sondern ein … großartig gewollter und großartig
gekonnter – Vortrag … Dieses Buch, vom Verfasser als das größte Geschenk bezeichnet, das der
Menschheit bisher gemacht worden sei, hat auf
mich nicht in der Weise einer Gabe, sondern in
der Weise des Überfalls und der Freiheitsberaubung
gewirkt, und es hat lang gedauert, bis ich mich
loszumachen vermocht habe.«
Als die Grundkonzeption dieses Buches wollte Nietzsche selbst eine Deutung der Zeit verstanden haben: Ihre Deutung als »ewige Wiederkehr
des Gleichen, das heißt, als eine unendliche Folge
endlicher Abläufe, die einander in allem gleichen,
so daß die Endphase des Ablaufs in seine eigene
Anfangsphase übergeht.«
Buber fühlte sich wieder an den Anfang seines
intellektuellen Lebens versetzt, und er suchte einen
Ausweg aus dem Gefängnis seines Geistes. 51 Konnte Buber – angesichts des angerichteten Scherbenhaufens – nun der ewigen Wiederkehr entkommen? Hatte er Glück, fand er einen Ausweg?
Es ging schon um das mystische Schauen, dessen
Trübung bei ihm (so Landauer) ja zu klären war.
»Diese von ihrem Verkünder [Nietzsche] als die
abgründigste Lehre gepriesene Konzeption erweist
sich dem kritischen Blick als der mit stets neuen
Variationen durchgespielte Vortrag einer ekstatisch
erlebten Denkmöglichkeit.« 52 Konnte Buber nun
den Ausweg aus der Endlosschleife der Mystik
sehen?
Bereits dem 17-jährigen Buber hätte sich der
Weg zum Fragen der Frage eröffnen können:
»Wenn aber die Zeit nur eine Form ist, in der wir
anschauen, wo sind ›wir‹? Sind wir mitsamt der
Zeit nicht sinngemäß im Zeitlosen? Sind wir nicht
in der Ewigkeit?« 53 Damit ist freilich eine gänzlich andere Ewigkeit gemeint als die kreisartige, die
Zarathustra als das ›Fatum‹ liebt; die in sich Unerfaßliche ist gemeint, die die Zeit aus sich entsendet und uns in das Verhältnis zu ihr setzt, das
wir das Dasein nennen, und wer dies erkennt,
dem zeigt die Wirklichkeit der Welt kein Angesicht des Absurden und Unheimlichen mehr: weil
Ewigkeit ist.« 54
47 Buber, M. (2001): Frühe kulturkritische und philosophische
51
Schriften 1891 –1924, in: Treml, Martin: Martin Buber
Werkausgabe 1, Gütersloh, S. 307.
48 Ebd. S. 103.
49 Ebd. S. 62.
50 Ebd. S. 63. Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten. II: 1918 – 1938, S. 307. (M. Buber an Landauer,
30.7.1912).
Die mehrfache Wiederholung ist ein verbreitetes Motiv in
Märchen, psychologisch mit einem inneren Gefängnis erklärbar.
52 Buber (2013): Schriften zu Literatur, Theater und Kunst,
Lyrik, Autobiographie und Drama, S. 283.
53 Ebd. S. 284.
54 Ebd.
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Andreas Losch: Überlieferung und Kompositionsstruktur von Ich und Du. Ein Neuansatz der Interpretation
Es war m. E. das ewige Du, das Buber hier
rückblickend entdeckte. Das kosmisch-geistige
Geheimnis, das Buber im Brief an Weltsch beschreibt, passt nun bestens zu folgendem im Martin Buber Archiv 55 entdeckten, ebenso nietzscheanischen wie biblischen Anfangsmanuskript. Anfang, weil es mit großen geschwungenen Lettern
anhebt; jedes Wort hat hier Gewicht, insbesondere in Bezug auf Bubers Situation angesichts des
Todes Landauers, dessen Geist erloschen war, in
der »Schicksalsstunde des Planeten«. 56
»Der Mensch, das jüngste Kind eines jungen
Planeten, zu einem Wiederbringer und Wahrer
des Geistes im Welt All 57 bestellt, gründete sein
Sonderreich, indem er sich [immer weiter] aus der
naturhaften Verbundenheit hob. Er kann es nur
erhalten und wird es nur vollenden können, wenn
er sich in die geisthafte Verbundenheit hebt, die er
nur aus immer flüchtigeren Beziehungen kennt.
Er wird es nur erhalten können, wenn er es vollendet.
Denn nur in der Verbundenheit hat er das
wirkliche Leben. Wenn er sie verlässt, verlässt
ihn die Wirklichkeit; des Schöpferhauchs ledig
schrumpft sein Geist zur leeren Geistheit zusammen; der Antwort auf Antwort war, wird zur
schauspielerischen Gebärde; und ein Morgen käme, da entdeckte der Mensch, dass sein Reich
nicht mehr im Sein, sondern im Abgrund steht.«
Vielleicht kann man sagen: Buber beschreibt
seine eigene Situation. Er korrigiert:
»…da entdeckte der Mensch, dass sein Reich
aus dem Sein in den Abgrund versetzt worden
ist.« War das besser? Der ganze Absatz wird gestrichen.
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Buber setzt nochmal neu an, bei seiner Antwort an Kant, man beachte das Gestrichene:
»Der Mensch hat irgendwo im Weltraum, irgendwann in der Weltzeit, das Wort Ich gesprochen. Da war Ich in der Welt. Aber Ich war nur
am Du. Der Mensch hat mit Ich nicht seine Abgelöstheit, sondern seine – geisthaft gewordene –
Verbundenheit, die ihn zum Wort, zum Grundwort bestürzte und erschütterte, gesagt. Die Bestürzung und Erschütterung im Innewerden des
Verbundenseins war entwickeln das Grundwort,
das nun vorsprachliche Grundwort aus seinem
Wesen, beides in einem, Ich und Du – Ich – Du.
Das löste sich im Wachsen des Geistes, in der Beziehung der geistigen Welt Geist und in der Sprache«. 58
Die ewige Wiederkehr des Gleichen beginnt
sich aufzulösen, die Mauern des Gefängnisses fallen, erschüttert vom Verlust von Landauers Du.
Leider ist es so, »dass die reinen Du-Momente selten sind« 59, und manchmal bedarf es der Katastrophe, um zu ihnen durchzustoßen. Meinem
Verständnis nach ist es dies, was Buber erlebt und
was ihn zum Neuanfang mit der Abfassung der
Niederschrift bewogen hat.
Die Klärung geschieht hier im Übrigen im Zusammenhang mit Bubers Deutung des Chassidismus: »In dem im September 1919 verfaßten ›Geleitwort‹ zu dem Buch Der große Maggid und
seine Nachfolge (1921) wird die jüdische Lehre
als ›ganz auf die doppelgerichtete Beziehung von
Menschen-Ich und Gott-Du, auf die Gegenseitigkeit, auf die Begegnung gestellt‹ gekennzeichnet.
Bald danach, im Herbst 1919, folgte die erste,
noch unbeholfene Niederschrift von Ich und
55 Buber: »Mappe 9a zu: ›Ich und Du‹: Entwürfe zu
58 Ein Echo dieses Neuanfangs findet sich noch als angedachtes
›Ich und Du‹, Entstehungsarbeit«, Arc. Ms. Var. 350, 2, 9a.
56 Buber (2013): Mythos und Mystik. Frühe religionswissenschaftliche Schriften, S. 403.
57 Streichungen hier und im Folgenden von Martin Buber.
Motto im 1922er Manuskript von ›Ich und Du‹:
»Was hier Sprache genannt wird, ist der Urakt des Geistes,
dessen menschlichem Vollzug die Laut- und alle Zeichensprache und alle Mächte der Äusserung als Helfer und Werkleute dienen.« Buber: »Mappe 9 mit dem Handmanuskript
von ›Ich und Du‹«.
59 Buber: »Mappe 9a zu ›Ich und Du‹: Entwürfe zu ›Ich und Du‹,
Entstehungsarbeit«, S. 99.
33
Du.60 Dieses Geleitwort handelt nun natürlich
vom Geist, so die Überschrift:
»Bewegungen, die eine Erneuerung der Gesellschaft anstreben, meinen damit zumeist, daß
der vorgefundenen Ordnung die Axt an die Wurzel zu legen sei; sie setzen dem Gewordenen, das
sie verwerfen, ein von Grund aus andersartiges
Erzeugnis des wollenden Gedankens gegenüber.
Nicht so die religiösen Bewegungen, die auf eine
Erneuerung der Seele ausgehen. Mag das Prinzip,
das von einer echten religiösen Bewegung vertreten wird, dem herrschenden religiösen Status der
Umwelt noch so entgegengesetzt sein: die Bewegung empfindet und äußert diesen Gegensatz
nicht als einen Gegensatz zum wesenhaften Urbestand der Überlieferung, sie fühlt und erklärt
sich vielmehr berufen, diesen Urbestand von seiner gegenwärtigen Trübung zu reinigen, ihn wiederherzustellen, ›wiederzubringen‹.« 61
Und so geht es weiter. Die Schlüsselwörter
sind markiert. Ich verstehe also auch diese Passage als eine Antwort auf Landauers Kritik.
Leider müssen wir hier unsere Untersuchungen unterbrechen, wenn nicht abbrechen. Wir
haben gezeigt, womit die – durchaus erhaltene –
erste Niederschrift von Ich und Du ursprünglich
beginnt, und worin der Interpretationsfehler von
Horwitz besteht: in der teilweisen Verwechslung
des Plans des Gesamtwerks mit der Niederschrift
des Buchs Ich und Du. Die intensive und detaillierte Darstellung der Zusammenhänge kann nun
bei jedem im Textkorpus der ersten Niederschrift
befindlichen Neuansatz wiederholt durchgeführt
werden. Jeder Neuansatz in der Schrift könnte
Zeugnis einer neuen Begegnung sein. Wahrscheinlich wäre am besten, einen Handschriftenexperten hinzuzuziehen, der vielleicht beurteilen kann,
in welcher Gemütslage ein Abschnitt verfasst
worden ist. Jeder Neuansatz, wie er sich in den
handschriftlichen Notizen dokumentiert, wird
also mit einer Begegnung oder doch zumindest
einem Erlebnis zusammenhängen, das Buber widerfahren ist. Die Begegnungen Bubers wären damit, wie im eingangs zitierten Gedicht illustriert, der
Schlüssel zur Kompositionsstruktur von Ich und
Du. Und die Begegnung mit Franz Rosenzweig
wird in diesem Zusammenhang eine sehr wesentliche, wenn auch späte sein.
Die Darstellung dieser Zusammenhänge würde jedoch den Umfang eines Artikels wie diesem
bei Weitem sprengen. Eine Monographie wäre das
Konzept – überzeugt es den Leser – wohl wert.
Der Anfang ist gemacht, nun müssen Andere das
Weitere klären 62.
Es sei aber noch auf etwas Wichtiges hingewiesen: der fragmentarische oder – wie wir hier
gedeutet haben – Begegnungscharakter der ersten
Niederschrift eröffnete Buber auch die Möglichkeit, die Fragmente neu zu sortieren. Die jetzige
Reihenfolge im Martin Buber Archiv war vielleicht
nicht die erste, und sicher nicht, was den ursprünglichen Anfang angeht. Buber hat offensichtlich auch ausgereiftere Stücke des Erstentwurfs
in das abschließende Handmanuskript übernommen und schlicht in die Kladde eingeklebt. 63 Dies
gilt es, bei der Rekonstruktion zu berücksichtigen:
Die Klebstücke gehören damit zwei Schichten an
und fehlen in den Dokumenten zur ersten Niederschrift, zu der sie aber auch gehören.
60 Buber, Martin (1984): Das dialogische Prinzip:
62 Eine Erfassung des gesamten im Martin Buber Archiv
Ich und Du – Zwiesprache – Zur Geschichte des dialogischen
Prinzips, Heidelberg, S. 297f.
61 Buber, Martin (1922): Der grosse Maggid und seine Nachfolge,
XIII. Kursiv A.L.
befindlichen Briefkorpus wäre dabei sicher hilfreich.
63 Buber: »Mappe 9 mit dem Handmanuskript von ›Ich und Du‹«,
5/15/56a.
5
Ans Ende denken
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Andreas Losch: Überlieferung und Kompositionsstruktur von Ich und Du. Ein Neuansatz der Interpretation
6 Schluss
Eine Frage ist aber noch zu klären: Welche
Bedeutung hat die von Horwitz entdeckte Skizze,
datierend auf den 5.02.1918?
Gehen wir gedanklich zurück in dieses Jahr.
Wir befinden uns noch im Krieg. Was geschah an
genau diesem Tag in Bubers Leben? Buber war in
Aufbruchstimmung, was die Situation in Palästina
anging. Das einzige veröffentliche Schreiben unter
diesem Datum ist interessanterweise ein Brief von
Landauer, in dem er Bubers Palästinaaktion absagt. Russland ist ihm für die neue Gemeinschaft
wichtiger. Auch der Heilige Weg dokumentiert ja
die Bedeutung dieser Zusammenhänge für Bubers
Neuanfang, aber natürlich wird Buber das Schreiben nicht am selben Tag erreicht haben.
Rivka Horwitz (1926 – 2007),
israelische Philosophin und Professorin für Philosophie
und Jüdische Geistesgeschichte
an der Ben-Gurion-Universität des Negev.
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Es fragt sich, welchen Status die Skizze, das
dämonische Blatt (wie ich es etwas ironisch nennen möchte) hat. Horwitz behauptet von dessen
Interpretation ausgehend, bisherige Forscher seien
mit der Nachzeichnung der Ursprünge der Dialogik einer falschen Fährte gefolgt. 64 Dies mag die
weitere Forschung klären, wir haben jedenfalls
gezeigt, dass das Ich – Du bzw. Ich und Du dann
am Beginn der Niederschrift von 1919 erscheint.
Der Titel Ich und Du ist, wie gesagt, wohl alt
(spätestens 1916), daher glaube ich nicht, dass
Das Gegenüber und das Dazwischen der ursprüngliche Titel des dämonischen Blatts ist 65, denn ich
vermute, bei der ganzen Seite handelt es sich um
etwas, was sich auch sonst jetzt im selben Ordner
befindet 66, um ein Itinerar, allerdings von dem
gedachten Ich und Du, welches Buber bearbeiten
will. Hierin stimme ich also Horwitz durchaus
zu.67 Es stimmt, »die Natur dessen, was man
überwinden muss, um eine Begegnung zu erreichen, war noch nicht klar definiert« 68.
Bei Horwitz verstehe ich allerdings nicht, wieso das zwischen im vorletzten Satz des Erstdrucks
von Ich und Du nicht im Vollsinn von Bubers Entwicklung gemeint sein soll, auch wenn das dazwischen (man beachte die Vorsilbe) sicherlich auf dessen eigentümlichen Ursprung erweist. Das Zwischen wäre demnach aus dem Dämonischen entstanden, ein bei Buber sehr schillerndes Konzept,
welches sicher einmal eine eigene Abhandlung
wert wäre. Für die These von Horwitz spricht im
Übrigen, dass die Dämonen das erste, allerdings
ausgetilgte Motto für das ausführliche Handmanuskript von Ich und Du sind: 69 »Die Götter und
die Dämonen stritten miteinander/Da sprachen
die Dämonen in Hochmut«.
64 Horwitz, Rivka (1978): Buber’ s way to I and Thou, S. 158.
65 Ebd. S. 159.
66 Auch oder gerade, wenn man berücksichtigen muss, dass
Horwitz es am Ende des Handmanuskripts gefunden hat.
Ebd. S. 156.
67 Ebd. S. 160.
68 Ebd.
69 Die »Kladde« = Martin Buber Archiv Arc. Ms. Var. 350, 2, 9.
35
Wer sind diese Dämonen? Befragen wir dazu
zunächst Ich und Du selbst, dann finden wir folgenden eigenständigen Abschnitt, der das alte
Motto expliziert: »Im Wettstreit, so erzählt das
Brahmana der hundert Pfade, lagen einst Götter
und Dämonen. Da sprachen die Dämonen: ›Wem
mögen wir wohl unsre Opfergaben bringen?‹ Sie
legten alle Gaben in den eignen Mund. Die Götter aber legten die Gaben einander in den Mund.
Und da gab Pradschapati, der Urgeist, sich den
Göttern.«
Hier haben wir in der Tat die ausformulierte
Fassung des anzitierten Mottos. Der Ursprung ist
das Brahmana der hundert Pfade. Buber benutzte
The Sacred Books of the East. Dort heisst es in
ŚatapathaBrãhman. a XI.1.8.1–3:
Now, the gods and the Asuras, both of them
sprung from Pragâpati, once strove together. Then
the Asuras, even through arrogance, thinking,
›Unto whom, forsooth, should we make offering?‹
went on offering into their own mouths. [They
came to naught, even through arrogance: wherefore let no one be arrogant, for verily arrogance
is the cause of ruin.]
2 But the gods went on offering unto one another. Pragâpati gave himself up to them [, and the
sacrifice became theirs; for, indeed, the sacrifice
is the food of the gods.
3 Having given himself up to the gods, he created
that counterpart of himself, to wit, the sacrifice:
whence people say, ›The sacrifice is Pragâpati‹; for
he created it as a counterpart of himself]. 70
Das dämonische dazwischen scheint hier also
so etwas wie das Fehlen der Wahrnehmung des Gegenübers zu sein.
Warum ist dieses kleine, selbstständige Stück
Buber so wichtig? Es sollte offensichtlich einst ein
Anfang sein und etwas für das geplante Werk Wesentliches charakterisieren. Insofern macht Horwitz’ diesbezügliche Darstellung durchaus Sinn.
Man sollte allerdings auch das Wiederauftauchen
des Dämonischen in Ich und Du mit einbeziehen.
Diese Stelle in Ich und Du betrifft Napoleon und
ist in der ersten Niederschrift interessanterweise
dreifach überliefert 71, war Buber also sehr wichtig. Man erkennt bei der Lektüre, es geht in der
Tat in gewissem Masse um das Ich – Es, wie Horwitz ja darlegt 72.
Wie sagte Buber? »Ich bin gegenwärtig ganz
tief in der Arbeit an meinen religionsphilosophischen Prolegomena, und zwar an ihrem schwersten Abschnitt. Zu dieser Arbeit, die fünf Jahre lang
fast ganz ruhte, bin ich erst seit kurzem wieder
gekommen…« 73. Ich denke, das dämonische Blatt
dokumentiert dieses fast, einen ersten Versuch
oder Abriss.
Man kann getrost sagen: Die Erkenntnis zwischen Ich und Du ist Bubers Lebenswerk. Den
vollständigen Erkenntnisweg dazu zu skizzieren
ist allerdings eine äußerst umfangreiche Aufgabe,
für die mit dieser Darstellung in konstruktiv-kritischer Aufnahme von Horwitz hoffentlich das
Fundament gelegt worden ist. Hiervon ausgehend
macht es wahrscheinlich Sinn, ihren Ausführungen wieder zu folgen, man sollte allerdings auch
auf etwaige Ungereimtheiten im Detail achten –
und vor allem im Gedächtnis behalten: Den nahen Freunden ist Ich und Du gewidmet, sie sind
wohl in jedem Stück wieder zu finden.
Erkennt sie, schliesst den Kreis,
es ist die Stunde.
70 Eggeling, Julius (1882): The Satapatha-Brâhmana according
71
1
to the Mâdhyandina school, Oxford, S. 22.
Mit herzlichem Dank an Evan Hanks und Charles Stang
für ihre Hilfe bzw. Vermittlung derselben.
72
73
Buber: »Mappe 9a zu: ›Ich und Du‹: Entwürfe zu
›Ich und Du‹, Entstehungsarbeit«, 80/72–74/75–79.
Man kann ihr auch folgen, wenn man folgende These wagt,
die hier aber nicht mehr diskutiert werden kann:
Das »Dazwischen« wandelt sich vom Widersacher zur
erlösenden Wiederbringung des Geistes.
Buber, Martin: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten.
II: 1918 –1938, S. 66.
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