Andreas Losch
Ich, Du und ER
Franz Rosenzweigs Einfluss auf die Abfassung von »Ich und Du«
Bekannt ist die Tatsache, dass Martin Buber und Franz Rosenzweig gemeinsam
die Hebräische Bibel übersetzt haben, jedenfalls bis zu Jesaja 53, als Rosenzweig
verstarb. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass Rosenzweig auch auf die Abfassung
von Bubers Hauptwerk Ich und Du Einfluss ausgeübt hat.1
Eine frühe Auseinandersetzung
Martin Buber und Franz Rosenzweig waren zuerst 1914 in Kontakt getreten, allerdings dabei zunächst inhaltlich aneinandergeraten.2 Drei Jahre zuvor waren Bubers
Drei Reden über das Judentum erschienen, in denen Buber von der Erneuerung
des Judentums aus der Zugehörigkeit zum Volk spricht. Insbesondere in der dritten
Rede entfaltet er die Erneuerung des Judentums aus den Ideen der Einheit, der
Tat und der Zukunft, nicht als »abstrakte Begriffe, sondern natürliche Tendenzen
des Volkscharakters« (Erneuerung des Judentums, S. 33). Wer die drei Reden
liest, dem wird deutlich, wie sehr sich hier das damalige Spektrum der Überzeugungen Bubers bündelt, und wie sehr er ›Fürsprecher einer Generation‹ (vgl. Rosenzweig 1984b, S. 699) gewesen ist. Gershom Scholem kommt rückblickend nicht
umhin festzustellen: »Ich wüßte aus jenen Jahren kein Buch über das Judentum
zu nennen, das auch nur annähernd solche Wirkung gehabt hätte — nicht bei den
Männern der Wissenschaft, die diese Reden kaum gelesen haben, sondern bei
einer Jugend, die hier zu einem Aufbruch aufgerufen wurde, mit dem viele von
ihnen Ernst gemacht haben.« (Scholem 1995, S. 149)
Franz Rosenzweig, dessen Leipziger Nachtgespräch mit Rudolf Ehrenberg und
Eugen Rosenstock im Juli 1913, also im Vorjahr, stattgefunden hatte, und dessen
Wiederentdeckung seines Judentums noch frisch war, hatte auf Anregung Bubers hin
den Artikel »Atheistische Theologie« verfasst (vgl. Schmied-Kowarzik 2006,
S. 164) und an das von Bubers Schülerkreis in Prag herausgegebene Jahrbuch Vom
Judentum geschickt. Der Text wurde von dessen Herausgeber Leo Herrmann mit
Wissen Bubers (vgl. Horwitz 1978, S. 187) allerdings an Rosenzweig zurückge-
1 Ich danke Paul Mendes-Flohr sehr herzlich dafür, dass er sich die Zeit zur Durchsicht
des Manuskripts genommen hat. Etwaige verbleibende Fehler und Inkonsistenzen gehen
natürlich auf mich zurück.
2 Der folgende Abschnitt orientiert sich an Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig
im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber (vgl. Schmied-Kowarzik 2006, S. 163 ff.),
und an Rivka Horwitz, Buber’s Way to »I and Thou«. An Historical Analysis and the
First Publication of Martin Buber’s Lectures »Religion als Gegenwart« (Horwitz 1978,
S. 186 f.).
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schickt,3 vermutlich weil Rosenzweig Buber darin grundlegend kritisierte, ohne
ihn jedoch beim Namen zu nennen. Rosenzweig vergleicht die in Bubers Drei Reden zum Ausdruck kommende Auffassung vom »Volksjudentum« mit dem Phänomen
der Entchristlichung des zeitgenössischen Kulturprotestantismus. Auch auf jüdischer Seite versuche man (also vor allem Buber), statt »das Menschliche unter
der Gewalt des Göttlichen zu zeigen … umgekehrt das Göttliche als die Selbstprojektion des Menschen an den Himmel des Mythos zu verstehen. … in der Erzeugung
des ›Mythos‹ bewährt sich unseren Neusten die Ewigkeit des jüdischen Volkes.«
(Rosenzweig 1984a, S. 692) Rosenzweig beharrt dagegen darauf, an der Unterschiedenheit von Gott und Mensch und gegen die Idealisierung der Mythologie an dem
»beleidigenden Gedanke[n] der Offenbarung, dies Hereinstürzen höheren Inhalts
in unwürdiges Gefäß« (ebd., S. 693) festzuhalten. Deutlich werde dies an Bubers
Behandlung des Begriffs der Einheit, des »jüdischsten aller Begriffe« (ebd., S. 694).
»Denn während das überlieferte Judentum die Aufgabe der Einheit dem Juden
setzt auf Grund der offenbarten Einheit Gottes […], gilt nun diese Wechselbeziehung zwischen dem Menschen und seinem Gott als ein historischer Unterfall der
dem jüdischen Volkscharakter in aller Zeit innewohnenden Sehnsucht nach Einheit
des Lebens.« (Ebd.) Das Ende des Artikels ist etwas versöhnlicher, denn auch die
Volksjudentumstheologie wurzele in der Tradition (vgl. ebd., S. 695) und »daß
Gott und Mensch untrennbar zusammengedacht werden müssen, diese Gewißheit
steht am Eingang jeder Erkenntnis unseres Glaubens« (ebd., S. 697). Doch »eben
um das jüdische Volk als Herzstück des Glaubens zu verstehen, muß er den Gott
denken, der zwischen Volk und Menschheit die Brücke schlägt«, kommt um den
Gedanken der Offenbarung also nicht herum (vgl. ebd.).
Buber schätzte Kritik allerdings, und nur ein Jahr später lud er Rosenzweig
ein, einen Beitrag für den Juden abzuliefern,4 dessen Herausgeberschaft er innehatte. Rosenzweig sandte einen Vorabdruck seines Artikels »Zeit ist’s« ein (vgl.
Horwitz 1978, S. 187). Später würdigt Buber dann auch Rosenzweigs früheren
Beitrag, indem er 1923 seinen inzwischen sieben Reden eine Vorrede voranstellt,
um ihnen eine »Erläuterung« zu geben (vgl. Vorrede [1923], S. 3), wenn dies auch
keiner »Bekehrung« (vgl. ebd.) gleichkäme. Buber ist es jetzt wichtig, festzuhalten, »daß ich mit ›Gott‹ weder eine metaphysische Idee noch ein sittliches Ideal,
noch eine ›Projektion‹ eines psychischen oder sozialen Gebildes, noch irgend etwas vom Menschen ›Erschaffenes‹ oder im Menschen ›Gewordenes‹, sondern Gott
meine.« (Ebd., S. 4) Franz Rosenzweig kommentiert dazu: »…für die Hörer und
Leser der Reden müssen die Worte der neuen Vorrede schon zu einer Bekehrung
und nicht zu einer Klärung werden. Für Sie [Buber] selber war es nur Klärung,
denn Sie sind derselbe geblieben; Ihren Worten aber ist es eine Bekehrung geworden, sie sind wirklich verwandelte.« (Rosenzweig 1984b, S. 700)
3 Franz Rosenzweig, Undatierter Brief Franz Rosenzweigs an Martin Buber Nr. 606, als
Entwurf im Nachlass gefunden, vermutlich Ende August 1919 (Rosenzweig 1979, S. 643 f.).
Es ist nicht klar, ob Rosenzweig den Brief überhaupt abgeschickt hat. Er bitte Buber in
dem Brief darum, einen Verlag für die Veröffentlichung des Sterns zu finden und nimmt
die Schärfe seiner früheren Äußerungen als nicht publikationsreif zurück.
4 Martin Buber an Franz Rosenzweig, 22.11.1915 (in: Briefwechsel I, S. 404).
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Die kreative Entwicklung von »Ich und Du« und Rosenzweigs Einfluss
auf dessen Abfassung
Ich und Du erschien im Jahre 1923; dem ging allerdings eine mehrjährige Entstehungsgeschichte voran. In dem auf Oktober 1957 datierten Nachwort zu dem
Werk spricht Buber davon, dass er »vor mehr als 40 Jahren« die erste Skizze des
Buches entwarf (vgl. Nachwort, S. 161). Und tatsächlich ließ Buber in die Erstauflage des Buches drucken: »Entwurf des Werks, dessen Anfang dieses Buch ist:
Frühling 1916; erste Niederschrift dieses Buchs: Herbst 1919; endgültige Fassung:
Frühling 1922.« (Buber 1923, S. 139)5
Ich und Du sollte also, so Buber, »ursprünglich den ersten Teil eines fünfbändigen Werkes bilden, dessen Inhalt ich schon 1916 flüchtig skizziert hatte, dessen
systematischer Charakter es mir aber zusehends entfremdete.« (Geschichte des
dialogischen Prinzips, S. 298) Recherchen im Martin Buber Archiv in Jerusalem
(MBA) haben ergeben, dass diese Skizze von 1916 anscheinend leider nicht erhalten
geblieben ist. Rivka Horwitz, die die Recherchen durchgeführt hat, hat jedoch
einen auf 1918 datierenden Plan ausfindig gemacht und dokumentiert, der offensichtlich von Buber aufbewahrt worden war, weil er ihn für das Ende von Ich und
Du benutzte (vgl. Horwitz 1978, S. 156). Da Buber Ich und Du also bereits 1916
geplant und schon 1919 einen ersten Entwurf des Textes verfasst hatte, der leider
ebenfalls nicht erhalten geblieben ist,6 sind grundlegende Einflüsse Rosenzweigs
auf die Entstehung von Ich und Du zunächst zurückzuweisen, denn in dieser Zeit
hatten die beiden keinen intensiveren Kontakt. Rosenzweig hatte auch seinen
Stern der Erlösung zwar 1919 bereits beendet, doch noch nicht publiziert, und
Buber hatte noch keine Notiz davon nehmen können. Nach 1919 kamen, so Buber,
»zwei Jahre, in denen ich bis auf Chassidisches fast gar nicht arbeiten konnte,
aber auch — mit Ausnahme des wieder einmal vorgenommenen ›Discours de la
méthode‹ — keine Philosophie las (deshalb habe ich auch die genannten Werke
von Cohen, Rosenzweig und Ebner erst später, verspätet gelesen). Es gehört dies
in den Zusammenhang eines Vorgangs, den ich damals als spirituale Askese verstand.« (Geschichte des dialogischen Prinzips, S. 298)
Buber legte also eine Pause in der philosophischen Beschäftigung ein und las
(mit der genannten Ausnahme) keine Philosophen mehr — bis er schließlich mit
dem dritten Teil von Ich und Du begann, wie er sagt: »Dann durfte ich an die endgültige Fassung gehen, die — nachdem ich den Gedankengang im Januar und Februar 1922 in einem Kolleg über ›Religion als Gegenwart‹ des von Rosenzweig gegründeten und geleiteten Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt a.M. vorgetragen hatte — im Frühling 1922 beendet war. Als ich den dritten und letzten Teil
schrieb, brach ich die Lese-Askese und begann mit Ebners Fragmenten.« (Ebd.)
Buber präzisiert diese letzte Aussage in einer Fußnote: »Zuerst bekam ich einiges
in einem Heft des ›Brenner‹ veröffentlichte zu Gesicht und ließ mir nun das Buch
schicken.« (Ebd., Anm. 6) Es wird im Folgenden darzulegen sein, dass Buber jedoch möglicherweise noch mehr von Rosenzweig beeinflusst gewesen sein wird,
als er in dem obigen Zitat zugesteht.
5 So auch im Brief Bubers an Rosenzweig vom 14.9.1922, (vgl. Briefwechsel II, S. 128 f.).
6 Paul Mendes-Flohr vermutet »daß der Aufsatz ›Gemeinschaft‹ den ersten Entwurf zu ›Ich
und Du‹ darstellt bzw. eng mit demselben zusammenhängt« (Mendes-Flohr 1979, S. 152).
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Wie ebenfalls aus dem Zitat ersichtlich ist, sind natürlich nicht nur die Beiträge
Rosenzweigs bemerkenswert.7 Der Einfluss Ebners auf Buber war auch Rosenzweig
bekannt,8 er selbst hatte über seinen Vetter Hans Ehrenberg von Ebners Gedanken
erfahren (vgl. Horwitz 1983, S. 145). Dazu nennt Buber chassidisches Denken als
Ursprung seiner Überlegungen, und damit hatte er sich ja auch während seiner
philosophischen Askese weiterhin beschäftigt. Buber konstatiert: »in dem im September 1919 verfaßten ›Geleitwort‹ zu dem Buch ›Der große Maggid und seine
Nachfolge‹ (1921) wird die jüdische Lehre als ›ganz auf die doppelgerichtete
Beziehung von Menschen-Ich und Gott-Du, auf die Gegenseitigkeit, auf die Begegnung gestellt‹ gekennzeichnet.« (Geschichte des dialogischen Prinzips, S. 297 f.)9
Chassidisches hat auch im Gespräch mit Rosenzweig eine Rolle gespielt, ja die
Vorlesung Religion als Gegenwart hat sich geradezu aus der Idee einer chassidischen Quellenlektüre entwickelt;10 auch wenn Buber als ergänzende Übung zu
seiner vorgestellten Vorlesung »nicht die Lektüre chassidischer Quellen, sondern
eine ›Besprechung ausgewählter religiöser Texte‹ (darunter freilich auch chassidischer)«11 angedacht hat, kündigt der Plan des Lehrhauses schließlich chassidische
Quellenlektüre an.12
Woran lässt sich nun der Einfluss Rosenzweigs festmachen? Bubers kreative
Entwicklung lässt sich mit Hilfe des Martin Buber Archivs nachvollziehen (vgl. Horwitz
1978, S. 216). Im Vergleich zu seinem philosophischen Erstlingswerk Daniel (1913),
das mit dem Gefühl der mystischen Einheit mit einem Baum eröffnet (vgl. Daniel,
S. 183), zeigt der genannte Plan von 1918 erstmals die Idee des Gegenübers, wie
sie 1919 auch in der Rede Cheruth erscheint.13 Die Vorlesungen Religion als Gegenwart von Januar bis März 1922 knüpfen an diese Ursprünge an, stellen also viel
mehr eine Philosophie des Gegenüber als schon die eines Dialogs dar. Damit wird
7 Für eine Kritik der Darstellung Horwitz‘, der dieser Artikel in einiger Hinsicht folgt,
siehe Maurice Friedman 1988, S. 415–427.
8 Vgl. Franz Rosenzweig an Martin Buber, undatiert (in: Rosenzweig 1979, S. 825).
9 Dies widerlegt in gewisser Weise Rivka Horwitz’ Behauptung, Buber verdanke seinen
Gottesbegriff Ebner, vgl. Horwitz, »Ferdinand Ebner als Quelle der Dialogik in ›Ich und
Du‹«, S. 143.
10 Rosenzweig schreibt am 6.12.1921 an Buber: Ȇber den Plan der chassidischen Quellen
Lektüre habe ich natürlich noch weiter nachgedacht… Ich dächte so: an einer Reihe
aufeinanderfolgende Sonntage im Januar kämen sie um 10 Uhr in Frankfurt an und
beginnen mit einer öffentlichen Vorlesung, die es vielleicht schon im Titel andeuten
würde, dass es dabei nicht um ›Chassidismus‹, sondern um die Wahrheit selber ginge
(also etwa, nachdem was Sie mir in der schönen Stunde auf Ihrem Zimmer davon
gesagt haben, Thema: ›Gott und Welt‹). Im Anschluss daran dann 2stündlich die Quellen
Übung, für die sicher der kleine Kreis automatisch herstellen würde und jedoch immer
im Zusammenhang mit dem stehen würde, was die öffentliche Stunde vorher gebracht
hätte.« Franz Rosenzweig an Martin Buber, 6.12.1921 (in: Rosenzweig 1979, S. 720).
11 Martin Buber an Franz Rosenzweig, 8.12.1921 (in: Briefwechsel II, S. 92).
12 Vgl. Drittes Lehrjahr. Zweiter Lehrgang (10. Januar bis 11. März 1922; in: Rosenzweig
1979, S. 743).
13 Vgl. Cheruth, S. 120: »… so widerfährt es [das Göttliche] ihm als das große Gegenüber,
als das Du an sich.«
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deutlich, dass die berühmte Dialogphilosophie tatsächlich Bubers letzte Ergänzung
zu dem entstehenden Werk ist. Dieser dialogische Charakter von Ich und Du, ist,
so darf man annehmen, eben auch auf den Einfluss Rosenzweigs zurückzuführen,14
wobei dazu sicher nicht nur die Gedanken Rosenzweigs, sondern eben auch der
Dialog mit diesem zu zählen ist.
Als Beispiel für Bubers Entwicklung von einer Philosophie des Gegenübers hin
zu einer Dialogphilosophie sei eine grundlegende Passage in der Vorlesungsreihe
mit der finalen Wiedergabe in Ich und Du verglichen. In Religion als Gegenwart
bringt Buber das Beispiel: »Ich stehe einem Menschen gegenüber, […] den ich liebe. Was bedeutet das, was ist das für ein Vorgang, wenn ich diesem Menschen
wirklich gegenüberstehe als einem Du?« (Horwitz 1978, S. 87) Buber erläutert
dies und fasst die Essenz des Gegenübers so zusammen: »Ich habe das Du, das mir
gegenübersteht, nicht zu erfahren, sondern zu verwirklichen.« (Ebd., S. 92; kursiv
v. Verf.) Verwirklichung ist ein terminus technicus15 aus Daniel (das auch den Untertitel trägt »Gespräche von der Verwirklichung«). Diese Verwirklichung oder
Realisierung, so Buber, »bezieht jeden Vorgang auf nichts als auf seinen eignen
Gehalt und bildet ihn gerade darum zu einem Signum des Ewigen.« (Daniel, S. 213)
Dabei kann mit Martin Treml an die Doppeldeutigkeit des »Ewigen«, das ja auch
als Gottesname gebräuchlich ist, erinnert werden. (Vgl. Treml 2001, S. 60) Der
Vorgang der Verwirklichung ist also Zeichen des Göttlichen, wie später die IchDu-Beziehung. Diese Idee der Verwirklichung verbindet sich dann in den Vorlesungen mit der Idee des Gegenübers. Die Ich-Du-Beziehung wird in diesem Rahmen
gedeutet. Buber selbst sagt dazu, dass er dieser Erkenntnis seiner Lebenssache
»schon in der in meinem Buche ›Daniel‹ (1913) dargelegten Unterscheidung zwischen einer ›orientierenden‹, vergegenständlichenden, und einer ›realisierenden‹
vergegenwärtigenden Grundhaltung vorgearbeitet« habe, »einer Unterscheidung,
die sich in ihrem Kern mit der in ›Ich und Du‹ ausgeführten zwischen der Ich-EsRelation und der Ich-Du-Relation deckt, nur daß die später nicht mehr in der
Sphäre der Subjektivität, sondern in der zwischen den Wesen gegründet ist.«
(Geschichte des dialogischen Prinzips, S. 298 f.)16
14 Wenn Horwitz sich zur Begründung dieser Beobachtung im Wesentlichen auf ein Äußerung Rosenzweigs über Buber in einem Brief an seine Frau bezieht (»Das Sprechen
werde ich ihn ihn in Frankfurt richtig lernen«; Franz Rosenzweig an Edith Rosenzweig,
4.1.1922 in: Rosenzweig 1979, S. 737), scheint sie m.E. die Stelle zu überinterpretieren,
und »Sprechen« mit »Sprache« zu verwechseln. Für eine grundlegende Kritik an ihrer
Gleichsetzung von Dialog und Sprache vgl. Friedman 1988, S. 420.
15 Buber erklärt den Terminus in einem Brief an Max Brod so: »In der Verwirklichung sind
Erkenntnis und Ethos verschmolzen: der Mensch kann die Welt nur erkennen, indem
er sie tut.« Brief Bubers an Max Brod vom 6.12.1913 (in: Briefwechsel I, S. 350).
16 Diese Sphäre »Zwischen« beschreibt Buber in Der heilige Weg: »Gott ist in den Dingen
nur keimhaft zu schauen, aber er ist zwischen den Dingen zu verwirklichen. Wie die
Sonne die Substanz ihres Seins unter den Sternen hat und doch ihr Licht im irdischen
Raume fließt, so ist es den Kreaturen gewährt, in ihrer Mitte die Glorie des Unerfaßlichen erstrahlen zu sehen. Sie dämmert in den Wesen, in allen, aber sie wird nicht in
ihnen, nur zwischen ihnen leuchtend.« (Der heilige Weg, S. 88)
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»Sowie Buber sein philosophisches Denken — und ein echter Dialog verlangt
zwei völlig eigenständige Partner des Dialogs bzw. der Ich-Du-Beziehung — weiter
ausbaute, wurde die Vorstellung von der Verwirklichung Gottes im Tun des
Menschen zunehmend problematisch.« (Mendes-Flohr 1979, S. 153) Im Vergleich
zu der genannten Stelle aus den Vorlesungen, in der das Du verwirklicht werden
soll, heißt es in Ich und Du nun: »Stehe ich einem Menschen als meinem Du gegenüber, spreche das Grundwort Ich-Du zu ihm […]« (Ich und Du, S. 83). Der Gedanke des Gegenübers bleibt, aber die Rede von der Sprache tritt an die Stelle
derjenigen von der Verwirklichung. Aus der Philosophie des Gegenübers wird so
eine Philosophie des Dialogs.17
Die Adaption dieses fundamentalen Elements dialogischen Denkens fand nun
gerade in dem Zeitraum statt, indem Buber eine enge persönliche Freundschaft
zu Rosenzweig begonnen hatte (vgl. Horwitz 1978, S. 222), und dessen frühere
Kritik an Buber dadurch sicher an Bedeutung gewann. So versucht Buber — Horwitz
vermutet, um dieser Freundschaft willen — 1923 eine Neuinterpretation des Ausdrucks der ›Verwirklichung Gottes‹: »Dieser Ausdruck, den ich in einem fundamentalen, noch klarzulegenden Sinn verantworten darf, wird uneigentlich, wenn,
wie in der ersten Rede, davon gesprochen wird, Gott aus einer Wahrheit zu einer
Wirklichkeit zu machen; denn so kann er zu der schillernden Meinung verführen,
Gott sei eine ›Idee‹, die erst durch den Menschen ›Realität‹ werde, und weiter
zu der hoffnungslos verkehrten, Gott sei nicht, sondern werde — im Menschen
oder in der Menschheit.« (Vorrede [1923], S. 7) Dagegen bedeutet »Gott verwirklichen« für Buber: »Gott die Welt zu einem Ort seiner Wirklichkeit bereiten; der
Welt beistehen, daß sie gottwirklich werde; mit anderm, heiligen Wort: die Wirklichkeit einen.« (Ebd., S. 8) Verteidigt Buber hier den Begriff der »Verwirklichung«
noch recht wortreich, gibt er ihn nach 1923 dann allerdings weitgehend auf (vgl.
Horwitz 1978, S. 224 f.).
Noch eine weitere Entwicklung von den Vorlesungen zu Ich und Du scheint
möglicherweise bedeutsam. Die Vorlesungen eröffnen mit der Darstellung von
Religion als »absolute Gegenwart« (Religion als Gegenwart, S. 48).18 Damit verknüpft Buber sodann den Begriff des Gegenübers: »Gegenwart gibt es im Leben
[…] nur insofern, als es Beziehung gibt, aus ihr allein entsteht Gegenwart. Dadurch,
daß uns etwas gegenübertritt, daß es unser Gegenüber, unser ausschließliches
Gegenüber wird, dadurch, daß uns etwas gegenwärtig wird, entsteht Gegenwart
und nur kraft dessen gibt es Gegenwart.« (Ebd., S. 103. Kursiv v. Verf.) Der Begriff
des Absoluten ist hier also sehr positiv gebraucht, im Gegensatz zum Relativen.
Auch »Gott ist das absolute Du, das seinem Wesen nach nicht mehr Es werden
kann.« (Ebd., S. 108)
Rivka Horwitz legt nahe, dass es möglicherweise ein Missverständnis seitens
der Hörerschaft war, die dann zu der Änderung der Terminologie für Gott in Ich
17 Rivka Horwitz deutet auch Brief die Stelle in einem Brief Rosenzweigs an seine Frau
so, als wolle Rosenzweig Buber eine sprachorientiertes Denken lehren (vgl. Horwitz
1978, S. 222). Es heißt aber in dem Brief schlicht: »Das Sprechen werde ich ihn in
Frankfurt richtig lehren.« (Rosenzweig 1979, S. 737)
18 Zur Fortwirkung dieses Konzepts in Ich und Du vgl. Bernhard Casper (vgl. Casper
2004, S. 104 f.).
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und Du geführt hat. Dort heißt Gott nicht mehr »absolutes Du«, sondern »ewiges
Du«.19 Ein Hörer der Vorlesungen fragt: »Sie sprachen von der Beziehung zum absoluten Ich. Ich kann verstehen, wenn man Du-Beziehungen absolute Beziehungen
nennt, aber ist das nicht dann vielleicht eine Hypostasierung, wenn ich sage:
reine Beziehung zum absoluten Du? Die Du-Beziehung kann ich absolute Beziehung
nennen, aber die Beziehung zum Absoluten …« (ebd., S. 121). Der Fragende bricht
hier anscheinend ab oder wird unterbrochen, wenn Buber antwortet: »Ich habe
nicht gesagt, ›zum Absoluten‹, sondern ich habe gesagt ›zum absoluten Du‹, das
heißt zu dem Du, das seinem Wesen nach nicht mehr Es werden kann, nichts weiter. Und darum nannte ich jedes andere Du relativ, weil es seinem Wesen nach Es
wird. Es wird also nicht hypostasiert.« (Ebd., S. 121 f.)
Ich meine allerdings, dass in der Frage der Umbenennung des Gottesbegriffs
außerdem ein Einfluss Rosenzweigs denkbar ist. Im Stern der Erlösung wird der
dem Idealismus entstammende Begriff des Absoluten stark kritisiert. Auch der
Name, den der Idealismus Gott geschöpft habe, ›absoluter Geist‹, sei »Kein Ich
also, sondern ein Er, — nein, weniger als Er: ein Es.« (Rosenzweig 1976, S. 160)20 So
benutzt auch Buber in der sechsten Vorlesung das »absolute Ich« noch positiv als
Ausdruck für reine Beziehung (Religion als Gegenwart, S. 118),21 während es in Ich
und Du heißt: »Es gibt kein Ich an sich«. (Ich und Du, S. 79) Andererseits gebraucht
Buber in einem späteren Vortrag von 1923 den Begriff des Absoluten immer noch
positiv (vgl. Wissenschaftliche und religiöse Weltauffassung 2013). So könnte vielmehr Rosenzweigs Gebrauch des »Ewigen« als Gottesnamen im Stern (vgl. Rosenzweig 1976, S. 196, 198, 281, 303, 356, 442, 471) Buber bei dem Wechsel vom »absoluten Du« zum »ewigen Du« beeinflusst haben. Buber jedenfalls schreibt über
den Gegenstand seiner letzten Vorlesung anlässlich eines bevorstehenden Besuches
an Rosenzweig: »der Gegenstand ist ja unser gemeinsamer und ewiger.«22
Ebenfalls möglich ist allerdings eine Entwicklung der veränderten Begrifflichkeit aus den Vorlesungen heraus, denn an einer Stelle erscheint schon dort der
Begriff des »ewigen« für ein auf Dauer gestelltes gegenwärtiges Gegenüber: Auf
»die Grundfrage, von der aus, wie ich glaube, allein wir das zu fassen vermögen,
was rechtmäßig Religion genannt werden darf«, »die Frage nach der Kontinuität
des Du, nach der Unbedingtheit des Du« (Religion als Gegenwart, S. 108) antwortet
das noch als »absolut« bezeichnete Du»…daß das Wort Gegenwart in Wahrheit das
Dauernde bezeichnet, das was, man darf es wohl sagen, hinüberführt, was in Wahrheit wartet, das dauernd mir gegenübersteht, was ewig ist.« (Ebd., S. 104. Kursiv
v. Verf.) Schon hier in den Vorlesungen benutzt Buber also die Attribuierung ewig in
hervorgehobener Weise, und von hier aus ist es kein weiter Weg bis zum ›ewigen Du‹.
Vielleicht jedoch hat die Bekanntschaft mit Rosenzweig bei der Beschreitung
dieses Weges geholfen. Wie gut kannte Buber Rosenzweig und den Stern zu diesem
Zeitpunkt?
19 So bereits durchgängig in dem Manuskript vom Mai des Jahres 1922 (vgl. MBA, Arc.
Ms. Var. 350, Beth 9).
20 Interessant, wie an dieser Stelle auch Rosenzweig die dritte Person abwertet.
21 Vgl. auch das in Cheruth noch so bezeichnete »Du an sich«, siehe Anm. 30.
22 Martin Buber an Franz Rosenzweig, 19.4.1922, Nr. 17—18 im Archiv des Leo Baeck Instituts in New York.
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Der Beginn einer Freundschaft
Etwa im Herbst 192123 beginnt der Briefwechsel zwischen Rosenzweig und Buber.
Rosenzweig hatte zunächst Buber eingeladen, an einer Festschrift für Rabbiner
Nobel mitzuwirken, und Buber hatte darauf mit einem Beitrag und mit der Erneuerung seiner Einladung zur Publikation in Der Jude geantwortet, wie der erfreuten
Reaktion Rosenzweigs darauf zu entnehmen ist (vgl. Rosenzweig 1979, S. 724).
Rosenzweig besuchte Buber in Heppenheim sodann und nachdem er — wie er
später gegenüber Rudolf Hallo äußerte — merkte, »daß Buber auch geistig nicht
mehr der mystische Subjektivist war, als den ihn die Leute anbeten, sondern daß
er auch im Geiste anfing ein solider und vernünftiger Mensch zu werden«,24 lud
er ihn zur Mitarbeit in dem von ihm geleiteten Freien Jüdischen Lehrhaus in
Frankfurt ein. Buber sagte zu, bereits im kommenden Trimester vom 8.1. bis
zum 12.3. des nächsten Jahres25 die Vorlesung unter dem Titel »Religion als Gegenwart« zu halten, ein Gegenstand, der den »Prolegomena einer Arbeit« entspreche,
mit der er befasst sei (also das angedachte Gesamtwerk, zu dem Ich und Du gehören sollte).26
Rosenzweig kommentiert Bubers Vorlesungsplan, es werde »schon am besten
›Religion als Gegenwart‹ heißen, auch wenn es nachher in Wahrheit von ›Gottes
Gegenwart‹ handeln wird. Und daß das der Fall ist, das habe ich mit frohem
Erstaunen am Sonntag bei Ihnen gesehen …«27 Man mag hier noch einen Nachklang
der frühen Auseinandersetzung um die Rolle des Göttlichen hören. Buber wird
dann gemeinsam mit seinen Zuhörern im Lehrhaus »zu erkunden suchen, inwiefern
es Religion als Gegenwart gibt« (Religion als Gegenwart, S. 47), »inwiefern Religion
absolute Gegenwart ist« (ebd., S. 48). Rosenzweig kommentiert in einem
Schreiben nach der ersten Vorlesung Bubers: »Es war wunderschön heut morgen«.28
Und dass seine Interpretation der Absichten Bubers offensichtlich zutreffend war,
wird in der siebten Vorlesung deutlich. Buber resümiert dort: »Religion … ist
Gegenwart … Und wenn wir dies recht fassen …, dann fühlen wir auch, daß diese
Gegenwart, von der wir reden, die Gegenwart Gottes ist.« (Ebd., S. 131)
Wie steht es nun um Rosenzweigs Hauptwerk, den Stern der Erlösung, und
Bubers Kenntnis davon? Buber befasste sich bereits bald nach dessen Publikation
damit. Er hatte die Besprechung des 1921 erschienenen Stern im Juden natürlich
gut geheißen (vgl. Horwitz 1978, S. 188)29 und gelesen,30 und bald darauf auch
23 Undatierter Brief Franz Rosenzweigs an Martin Buber Nr. 681, vermutlich Herbst 1921
(in: Rosenzweig 1979, S. 724 f.)
24 Brief Rosenzweigs an Rudolf Hallo, Anfang Dezember 1922 (in: ebd., S. 865).
25 Franz Rosenzweig an Martin Buber, 6.12.1921 (in: ebd., S. 731).
26 Brief Bubers an Franz Rosenzweig, 8.12.1921 (in: Briefwechsel II, S. 92)
27 Franz Rosenzweig an Martin Buber, 9.12.1921 (in: Rosenzweig 1979, S. 732).
28 Franz Rosenzweig an Martin Buber, 15.1.1922 (in: ebd., S. 744).
29 Vgl. auch Brief Margarete v. Bendemann-Susmans an Martin Buber, 30.4.1921 (in:
Briefwechsel II, S. 75).
30 Martin Buber an Franz Rosenzweig, 19.12.1921, Nr. 4—5 im Archiv des Leo Baeck Instituts in New York: »Die schöne Susmansche Besprechung Ihres Buchs ist heute in die
Druckerei gegangen.«
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den Stern selbst, wie aus einem Brief Rosenzweigs an dessen Frau vom 4.1.1922
hervorgeht.31 »Buber lobt vom ! am meisten III 2. III 1 nur in Beziehung auf III 2.
Daß er beides ablehnt, ist ja klar. Auch sonst ist er voller Ablehnung, und das wo er
zustimmen müßte (II) hat er nicht so recht gesehen.«32 Immerhin stelle Buber den
Stern weit über Max Brods ebenfalls 1921 erschienenes »Heidentum, Christentum,
Judentum«.33 Es sind also nicht so sehr die dialogphilosophischen Teile des Sterns, zu
denen Buber sich äußert, sondern dessen religionsphilosophischen Abschnitte.
An Buber schreibt Rosenzweig unter dem Eindruck seiner bevorstehenden
Lähmung (vgl. ebd., S. 197), verstärkt durch den allzu frühen Tod Rabbiner Nobels
im Januar 1922: »Es darf kein Zufall sein, daß ich in der letzten Stunde jenes
Glücks, das mir verloren ist, mit Ihnen jenes dunkle und aussichtslose und doch
— wenn auch ins Dunkle — zum Weiterschreiben zwingende Gespräch hatte.«34
Geht hieraus noch eine gewisse Enttäuschung Rosenzweigs über die Rezeption
seines Hauptwerkes seitens Bubers hervor, schreibt Buber schon ein paar Monate
später, das im Stern »keine Seite steht, die mir — wie fern mir auch manche in
ihrer Meinung sein mag — fremd wäre.«35
Ich, Du und ER
Das Manuskript zu Ich und Du wurde nach den Vorlesungen im Frankfurter Lehrhaus
im Mai 1922 geschrieben. Bevor Buber den Satz in den Druck gab, sandte er die Satzfahnen an Rosenzweig zwecks Kritik. Diese von Rosenzweig im September 1922 kritisierten Satzfahnen sind leider nicht erhalten geblieben. Allerdings ist uns der Teil
des Briefwechsels zwischen Buber und Rosenzweig erhalten, der sich auf diese bezieht.
Rosenzweig kritisiert darin sehr grundsätzlich Bubers Konzeption des Ich-Es
und vor allem einen Satz des zweiten Abschnitts des ersten Teils von Ich und Du:
»Das Grundwort Ich-Es kann nie mit dem ganzen Wesen gesprochen werden.«
(Ich und Du, S. 79) Rosenzweig kommentiert: »Sie geben dem Ich-Du im Ich-Es
einen Krüppel zum Gegner. Dass dieser Krüppel die moderne Welt regiert, ändert
nichts daran dass es ein Krüppel ist: Dieses Es haben sich freilich leicht abführen.
Aber es ist ja das falsche Es, das Produkt der großen Täuschung, in Europa keine
300 Jahr alt.«36 Gemeint ist hier das Aufkommen des naturwissenschaftlichen Rationalismus seit Descartes,37 welcher bekanntlich konstatierte: »Ich denke, also
bin ich«.38 Rosenzweig referenziert m. E. auch darauf, wenn er in Hinsicht auf
das »falsche Es« fortfährt: »Nur mit diesem Es wird ein Ich mitge- (nicht: -sprochen, sondern:) -dacht. Zum gesprochenen Es wird kein Ich mitgesprochen. Jedenfalls kein menschliches. Was ich als Mensch mitspreche, wenn ich recht Es
31 Allerdings nicht früher, wie vermutet worden ist (vgl. Horwitz 1978, S. 188 [Anm. 18]).
32 Franz Rosenzweig an Edith Rosenzweig, 4.1.1922 (in: Rosenzweig 1979, S. 736). Vgl.
dazu auch den Brief Franz Rosenzweigs an Martin Buber vom 20.9.1922 (in: ebd., S. 828).
33 Franz Rosenzweig an Edith Rosenzweig, 4.1.1922 (in: ebd., S. 736).
34 Franz Rosenzweig an Martin Buber, 25.1.1922 (in: Rosenzweig 1979, S. 745).
35 Martin Buber an Franz Rosenzweig, 21.8.1922 (in: Briefwechsel II, S. 115).
36 Franz Rosenzweig an Martin Buber, undatiert (in: Rosenzweig 1979, S. 824).
37 So interpretieren sowohl Horwitz (vgl. Horwitz 1978, S. 229) als auch Schmied-Kowarzik
(vgl. Schmied-Kowarzik 2006, S. 169).
38 »Je pense, donc je suis« (Descartes 1997, S. 52 f.).
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spreche, lautet ER.«39 Rosenzweig spricht von der Anerkennung der Natur als
Kreatur Gottes, und nicht nur als Gegenstand einer rationalisierenden naturwissenschaftlich-technischen Betrachtungsweise. »Das ›Grundwort Ich-Es‹ kann
freilich nicht mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Es ist eben kein Grundwort, es ist allenfalls ein Grundgedanke, ach nein: ein Spitzengedanke, eine
Gedankenspitze, eine philosophische Pointe. Wenn also Es doch ganz wirklich
ist, so muss es eben in einem Grundwort stehen, das ebenfalls mit ganzen Wesen
gesprochen wird von dem der es spricht. Von ihm aus heißt dieses Grundwort
ICH-Es. Von uns aus: ER-es. Sagen Sie einmal hyyxmv tymm! Dann haben Sie dies
Grundwort gesagt und haben es ganz wesentlich gesagt.« (Rosenzweig 1979, S. 825)
Rosenzweig bezieht sich hier auf die zweite Bitte im zentralen jüdischen Achtzehnbittengebet (vgl. van der Sluis/Tomson/u. a. 2005, S. 12), in dem ebenfalls der Schöpfungsgedanke zum Ausdruck kommt. Rosenzweig bemerkt: »Von dieser Verengung
auf das Ich-Du (die Sie übrigens mit Ebner teilen) ergibt sich glaube ich alles andere.«40
Rosenzweigs Gegenentwurf lautet: »…es gibt neben Ich-Du zwei ebenso wesenhafte Grundworte, Grundworte, in deren eine Hälfte sich jeweils ebenso
sehr das ganze Wesen der anderen Hälfte hinein passt wie bei Ich-Du. Von dem
einen, dem ER-Es, dem Wort des ›Eingangs‹ sprach ich schon.«41 Dies ist das
Schöpfungswort. Hinzu kommt das Wort von der Erlösung, dass sich laut Stern
der Erlösung in der Beziehung zwischen Mensch und Welt vollzieht (vgl. die
Grafik in Losch 2011). »Das Wort des ›Ausgangs‹, eben jener hayjy heißt: WirEs … Das ist die zweite Weise, ›mit dem ganzen Wesen‹ Es zu sprechen. Ich kann
nicht wesenhaft Es sagen, aber ER kann‘s und Wir könnens … Indem aber wir Es
sagen, wird Es zu — ES.«42 So geschieht die Erlösung der Welt. Schmied-Kowarzik
deutet Rosenzweig hier im Zusammenhang des Sterns so: »Es geht hier darum,
daß wir die uns geschenkte Liebe, die uns im zugesprochenen Wort offenbar
wird, nur erwidern können, indem wir sie als tätige Liebe unseren Nächsten gegenüber erfüllen und verwirklichen. Dadurch aber wird uns die noch ausstehende
Geschichte zu einem nur in gemeinsamer Praxis einlösbaren Auftrag. Wo uns
dieser unter Einschluß der Natur gegenüber gelingt, wird uns die Welt zum verheißenen Reich — zum Wir-ES.« (Schmied-Kowarzik 2006, S. 170)
Rosenzweig beschließt seinen Brief mit einem dringlichen Appell: »Was soll
denn aus Ich und Du werden, wenn sie die ganze Welt und den Schöpfer dazu verschlingen müssen? Religion? Ich fürchte es — und schüttle mich vor dem Wort wie
immer wenn ich es höre.«43 Diese Abneigung Rosenzweigs gegenüber dem Religions39 Franz Rosenzweig an Martin Buber, undatiert (in: Rosenzweig 1979, S. 824 f.)
40 Franz Rosenzweig an Martin Buber, undatiert (in: Rosenzweig 1979, S. 825).
41 Ebd.
42 Franz Rosenzweig an Martin Buber, undatiert (vgl. Rosenzweig 1979, S. 825 f.).
43 Franz Rosenzweig an Martin Buber, undatiert (in: Rosenzweig 1979, S. 826 f.). Bernhard
Casper deutet Rosenzweigs Kritik an Ich und Du von diesem Schlusswort aus, siehe
Casper, Franz Rosenzweigs Kritik an Bubers »Ich und Du«. Vf. teilt allerdings nicht alle
Aspekte der Ausführungen Caspers, wie im Vergleich dieser mit Caspers Arbeit sicher
deutlich werden wird. Insbesondere sei darauf hingewiesen, dass m.E. Buber den Gottesnamen nicht erst durch Rosenzweig in der dritten Person gewürdigt hat (vgl. auch Losch
2014 und im Folgenden).
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begriff war bereits zu Beginn des Briefwechsels mit Buber deutlich geworden,44
und er teilt diese Abneigung ja mit Buber.45 Rosenzweigs letzter Satz lautet: »Um
Meinet- und Deinetwillen muß es noch etwas andres geben als — Mich und Dich!«46
Buber nun nennt das Ganze eine »große, großartige Kritik.«47 Er verteidigt
seinen Ansatz mit Hinweis auf das Gesamtwerk, in das Ich und Du eingebettet
werden sollte und verweist auch auf die Rosenzweig noch nicht zugesandten
Korrekturbögen des zweiten und dritten Teils von Ich und Du. »Vielleicht werden
Sie doch noch vor dem Schluss des ersten Teils das Unrecht, das dem Es hier geschehe, als weniger schwer empfinden, vielleicht im Lauf des zweiten auch das
Recht, das ihm gegeben wird, anerkennen, und fast gewiss im dritten (und letzten)
merken, dass es auch hier ER (und wir) als Wirklichkeit gibt: — eine Scheidung im
eigentlichen Wissen und Müssen wird wohl bestehen bleiben, und schließlich kann
der redliche Mensch nichts mehr entgegnen als eben daß er nicht anders könne;
nicht anders als das Wort, um das er lang und ernst gedient hat, nun auch sagen.«48
Franz Rosenzweigs Kritik ist stark von den Strukturen des Sterns geprägt, den
Buber ja nun sehr schätzte. Rosenzweigs Einlassungen und sein Werk haben tiefe
Spuren in Bubers Denken hinterlassen.49 Mir scheint aber, dass Rosenzweig vor
dem Deutungsmuster des Sterns die Ich-Du und die Ich-Es-Beziehung anders versteht oder zumindest anders betont, als Buber es intendiert. Es geht Buber nicht
um die jeweiligen ›Bezugspunkte‹ der jeweiligen Ichs, also etwa um das Du und
das Es, sondern um die jeweilige Art der Beziehung.50 »Grundworte bedeuten
nicht Dinge, sondern Verhältnisse.« (Ich und Du, S. 81) Das Du kann sich also
durchaus auch auf die Natur als Kreatur beziehen, ja Bubers erstes Beispiel für
die Welt der Beziehung ist ja »das Leben mit der Natur« (ebd.). »Da ist die Beziehung im Dunkel schwingend und untersprachlich. Die Kreaturen regen sich
uns gegenüber, aber sie vermögen nicht zu uns zu kommen, und unser Du-Sagen
zu ihnen haftet an der Schwelle der Sprache.« (Ebd.) Es kann aber geschehen,
»daß ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm eingefaßt werde, und
nun ist er kein Es mehr.« (Ebd., S. 82) 51 Dieses Beispiel des Baumes ist ja bereits
44 Franz Rosenzweig an Martin Buber, 9.12.1921: »Das Wort ‚Religion‘ liegt mir zwar
nicht, weil es zu sehr ein Fuchsbau geworden ist, aus dem die idealistischen Ausflüchte
hinten herausführen, wenn man schon meint, nun hätte man den Fuchs und nun
könnte er einem nicht mehr entwischen.« (In: Rosenzweig 1979, S. 732)
45 »Die Religionen entstehen, wenn die Dauer an Stelle der Ewigkeit tritt.« (MBA, Ms.
Arc. Var. 350, Beth 9).
46 Franz Rosenzweig an Martin Buber, undatiert (in: Rosenzweig 1979, S. 826 f.).
47 Martin Buber an Franz Rosenzweig, 14.9.1922 (in: Briefwechsel II, S. 128).
48 Ebd.
49 Vgl. z.B. Martin Buber, »Der Glaube des Judentums« (in: Der Jude und sein Judentum,
S. 183—195); Martin Buber, Der Mensch von heute und die jüdische Bibel (in: Schriften
zur Bibelübersetzung, S. 38—55, hier S. 43 ff.) , jetzt in: Schriften zur Bibelübersetzung,
MBW 14, S. 38—55, hier S. 43 ff.
50 Darin im Grunde Rosenzweigs Unterscheidung zwischen Teil I und II seines Sterns
nicht unähnlich, so Schmied-Kowarzik (vgl. Schmied-Kowarzik 2006, S. 171).
51 Vgl. zu diesem Abschnitt von Ich und Du auch Martin Buber an Franz Rosenzweig (in:
Briefwechsel II, S. 129 f.).
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aus Daniel bekannt, und schon dort hatte es eine durchaus hervorgehobene Bedeutung.
Augenscheinlich geht es in der Diskussion zwischen Rosenzweig und Buber
auch um den Gebrauch des »Es«, grammatikalisch gesprochen also um die Wertschätzung der dritten Person. Die Betonung des »Du« scheint einerseits Bubers
Fokus in der Abkehr von der früheren Hochschätzung einer Mystik der Vereinigung
des menschlichen und göttlichen Ich gewesen zu sein. Signifikant ist m. E. eine
Stelle in den Ekstatischen Konfessionen, mit der Buber offensichtlich länger gerungen hat: »Bâjezîd sprach [zu Gott]: ›Wie lange noch wird es zwischen mir und dir
das Ich und das Du geben? Hebe zwischen uns mein Ich auf, mache, dass ich ganz
in dich eingehe, dass ich nichts werde.‹« (Ekstatische Konfessionen, S. 69) Bei
dieser Stelle hat Buber sich sogar eigens die Mühe gemacht, den persischen
Originaltext zu vergleichen (vgl. ebd., S. 212), so sehr hat sie ihn beschäftigt.
Sie scheint mir wie eine Wegmarke auf dem Weg zu Ich und Du52 und dessen entschiedener Abgrenzung von Bubers früherer Mystik, wie sie auch schon in den
Vorlesungen Religion als Gegenwart zum Ausdruck kommt.
Eine Anekdote, die Buber in den Vorlesungen und später auch in seinen autobiographischen Fragmenten wiedergibt, illustriert diese Bedeutung des Du in Bezug auf Gott. Von einem alten Christen gefragt, ob er an Gott glaube, fällt Buber
zunächst keine richtige Antwort ein. Später auf einer Zugfahrt jedoch, ist ihm
plötzlich ein Satz eingegeben, fällt ihm die Antwort ein, die er sich selbst auf
diese Frage geben würde: »Wenn an Gott glauben bedeutet, von ihm in der dritten Person reden zu können, dann glaube ich wohl nicht an Gott, oder zumindest,
ich weiß nicht, ob ich sagen darf, daß ich an Gott glaube. … Diese Antwort ist
aber, wenn ich es recht verstanden habe, keine negative.« (Religion als Gegenwart,
S. 130)53 Denn für Buber ist es positiv möglich, zu Gott zu reden, das ewige Du
anzusprechen (vgl. Ich und Du, S. 132).
Zu dieser Anekdote Bubers passt eine Notiz auf einem Manuskript, das zusammen mit der Planskizze von 1918 überliefert wurde, jedoch jüngeren Datums ist
(da es bereits termini technici von Ich und Du benutzt). In dieser Notiz ist von
Gott die Rede: »Von Gott Er oder Es sagen: das ist Allegorie. / Die Religionen entstehen, wenn die Dauer an Stelle der Ewigkeit tritt.« (MBA, Ms. Arc. Var. 350,
Beth 9) Das Dokument unterstreicht, was schon in Ich und Du steht: »Ob man
Gott als Er oder Es beredet, es ist immer Allegorie.« (Ich und Du, S. 145)
Andererseits, und das ist m.E. bisher kaum oder gar nicht beachtet worden
(was aber auch verständlich ist, da das Zeugnis dessen erst durch die Martin Buber Werkausgabe zugänglich worden ist), hat Buber aber auch das »Ich und Er«
52 Das früheste Zeugnis der Formulierung des »Ich und Du« bei Buber findet sich m.W. in
der Einleitung zu Die Legende des Baalschem: »Die Legende ist der Mythos des Ich und
Du, des Berufenen und des Berufenden, des Endlichen, der ins Unendliche eingeht,
und des Unendlichen, der des Endlichen bedarf.« (Die Legende des Baalschem, S. VI)
53 Vgl. die etwas variierende Wiedergabe der Anekdote in Martin Buber, Begegnung.
Autobiographische Fragmente.
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lange schon, ja seinen eigenen Worten nach von Jugend an, beschäftigt.54 Buber
vermutet, dass in dem Ausdruck ani wa-ho (avhv yna),55 der in der Mischna,
Traktat Sukka 4,5, erscheint, und der ihn so früh beschäftigt hat, ein altes Tabuwort für den Namen der Gottheit verborgen ist.56 In der talmudischen Wiedergabe, auf die sich Buber offensichtlich bezieht, lautet die Stelle (bSuk 45a):
»›Ach, Herr, hilf doch, ach, Herr, lass doch gelingen!‹ R. Jehuda sagt: ›Ich und
er, hilf doch‹.« (Goldschmidt 1996, S. 378) Die Gemara äußert sich dazu nicht,
allerdings gibt es eine Erklärung Raschis, nach der mit »Ich und Er« abgekürzte
Formen von Gottesbezeichnungen intendiert sind (ebd., Anm. 41).
Dass Buber tatsächlich gedanklich mit dem ani wa-ho beschäftigt war, sieht
man bereits in den Ekstatischen Konfessionen, wo er eine Passage aus dem Diwan
des Dschalâl-ed-dîn Rumî wie folgt wiedergibt: »Einen suche ich, Einen kenne
ich, Einen schaue ich, Einen rufe ich. Er ist der Erste, Er ist der Letzte, Er ist der
Äusserste, Er ist der Innerste. Ich weiss nichts andres als ›O Er‹ und ›O Er der
ist‹« (Rumî/Buber 2013, in: Ekstatische Konfessionen, S. 78 f.). Dabei steht im
Original »Yâ Hû« für »O Er« und »Yâ man Hû« für »O Er der ist«. Den Kommentar
dazu hat Buber in Moses und im Königtum Gottes nachgeliefert (Moses, S. 47 ff.,
Königtum Gottes, S. 621 Anm. 27 insbesondere). Wie gesagt, sieht er in diesen
Ausdrücken die Ursprünge des Gottesnamens, des Tetragramms. Ebenso auch
Rosenzweig im zweiten Teil seines berühmten letzten Aufsatzes »Der Ewige«
(vgl. Rosenzweig 1936, S. 201 ff.).
54 »Dass wir recht taten, uns in der Wiedergabe des Gottesnamens nicht von dem Ersatzwort ynda, sondern von dem Anruf avhv yna leiten zu lassen, der mich schon in
meiner frühen Jugend tief bewegte, hat sich mir seither bestätigt« (Die Schrift übersetzen, S. 184). Vgl. auch die Besprechungen mit Martin Buber in Ascona, August 1924
über Lao-tse’s Tao-te-king (in: Schriften zur chinesischen Philosophie und Literatur):
»Wenn man dem Göttlichen nachstrebt (Imitatio dei), wenn man seine Aufgabe erfüllt,
dann tut sich das Wesen des Göttlichen kund; wenn wir uns aber mit seinem Wesen
befassen, uns zurückbiegen, dann erkennen wir ihn nicht, wie von einem Blitz werden
wir zurückgeworfen in die Welt des Bedingten, der Manifestation. / Imitatio — ein
Nachahmen. ›Seid vollkommen, gleichwie er vollkommen ist.‹ — Ani vehu hoschiana
— seid heilig, wie ich heilig bin (Pentateuch). Ani vehu — ich und er — das ist dynamisch
zu verstehen, ein Anruf.« Auch das Manuskript von Bubers Rede »Jüdische Religiösität«
(1914) zeigt bereits sein frühes Interesse an dem Ausdruck: «Am schlichtesten und
überzeugendsten wird diese Anschauung in einem Wort Abba Schauls überliefert; er
erklärte die Worte des Mosesliedes vhvnav ylX hz durch: Dies ist mein Gott und ich
will ihm gleich werden; nach Raschi bildete er aus dem Wort vhvnav nach dem Notariken-System die Worte avhv yna und sprach: Dies ist mein Gott — ich und er; das ist:
ich will wie er werden.« (In: Mythos und Mystik, S. 207.432)
55 »Die babylonische Version hat vhv yna, wobei das vhv keine Kurzform des avhv wie
normalerweise ist, sondern auch mit dem Verständnis des Gottesnamens zusammenhängt.« (Krupp 2002, S. 25) Bei Buber tauchen in den im Folgenden genannten Texten
beide Varianten auf.
56 Der Kontext der Stelle in der Mischna bezieht sich auf das Gebot des Weidenumzugs
und lautet: »An jedem Tag umschritt man den Altar ein Mal und sprach: ›Oh, Adonai
hilf doch (an hiywvh yy Xna), oh, hilf doch.‹ Rabbi Jehuda sagt: ›Ich und er, so hilf
doch (an hiywvh Xvhv yna), ich und er, so hilf doch.‹« (ebd., S. 24).
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In Ich und Du schreibt Buber dazu: »Ihr ewiges Du haben die Menschen mit vielen Namen angesprochen. Als sie von dem so Benannten sangen, meinten sie immer
noch Du: die ersten Mythen waren Lobgesänge. Dann kehrten die Namen in die Essprache ein; immer stärker trieb es die Menschen, ihr ewiges Du als ein Es zu bedenken und zu bereden. Aber alle Gottesnamen bleiben geheiligt: weil in ihnen
nicht bloß von Gott, sondern auch zu ihm geredet worden ist.« (Ich und Du, S. 128)
So lässt sich erklären, dass auch die spätere Wahl der Wiedergabe des Gottesnamens in der gemeinsamen Verdeutschung der Schrift das Personalpronomen
selbstverständlich auch in der dritten Person gebraucht. (Vgl. Die Schrift übersetzen, S. 184)57 Ich und Du, das heute oft isoliert gesehen wird, war ja nur als
Auftakt eines größeren Gesamtwerkes angelegt, in dem auch ER noch eine Rolle
spielen sollte. Buber hatte vor, alle Teile dieses Werkes im Frankfurter Lehrhaus
zu sprechen.58 Der beabsichtigte Teil III dieses Werkes, »Gotteskunde und Gottesgesetz« sollte sogar »nur von ER«59 handeln.
Ein Nachklang
Das Gespräch zwischen Martin Buber und Franz Rosenzweig geht weiter. Das Gesetz
ist dann die Thematik eines Aufsatzes, den Rosenzweig Buber nach Erscheinen
von Ich und Du widmet. In seiner dritten Rede über das Judentum hatte Buber
das Bild des Baumeisters verwendet (vgl. Erneuerung des Judentums, S. 43). Rosenzweig greift das Bild auf und titelt seinen Aufsatz »Die Bauleute«. Wie Buber
in einer anderen Rede, nämlich Cheruth, stellt auch Rosenzweig ein Motto voran,
dass eine andere Lesart einer Stelle in der hebräischen Bibel vorschlägt. Hatte
Buber das klassische Beispiel verwendet »›Gottes Schrift eingegraben auf den
Tafeln‹ — lies nicht charuth: eingegraben, sondern cheruth: Freiheit« (Cheruth,
S. 119) und gedeutet,60 so setzt Rosenzweig ein Wortspiel voran, dass »deine
57 Vgl. Dazu Losch 2014.
58 Rosenzweig schreibt über Bubers Vorhaben: »Wie er im Januar und Februar 22 den ersten
Band seines fünfbändigen Lebenswerks, ehe er ihn niederschrieb, gesprochen hat und
jetzt den zweiten sprechen wird, so war es ihm eine vollkommene Selbstverständlichkeit,
daß er auch die weiteren Bände mit Vorlesungen im Lehrhaus einleiten oder begleiten
wird.« Franz Rosenzweig an Rudolf Hallo, Dezember 1922 (in: Rosenzweig 1979, S. 866).
59 Martin Buber an Franz Rosenzweig, 14.9.1922 (in: Briefwechsel I, S. 129) , in: Martin
Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, I: 1897—1918, S. 128—130, S. 129.
60 In Bubers Deutung wird seine liberale Grundhaltung zum Gesetz deutlich: »Gottes Schrift
ist Freiheit auf Tafeln: die Zeichen der Gottesfreiheit wiederzufinden, mühen sich die religiösen Kräfte je und je. Gottes Urtafeln sind zerbrochen: die Kräfte der ewigen Erneuerung mühen sich je und je, auf den zweiten Tafeln, den Tafeln der Lehre und des Gesetzes, verwischte Züge der Gottesfreiheit wiederherzustellen. Ihr ewig erneuter Versuch
bedeutet das Streben, das religiöse Grundgefühl mit der Unbefangenheit und Fülle des
natürlichen Lebens zu verschmelzen, wie sie auf Gottes Urtafeln verschmolzen waren.«
(Cheruth, S. 228 f.). Diese Lesart war Rosenzweig natürlich bekannt und wird auch im
Stern verwendet: »Der Mensch … muß lernen, an seine Freiheit zu glauben. Er muß glauben, daß sie, wenn sonst vielleicht auch überall beschränkt, Gott gegenüber ohne Grenzen
ist. Gottes Gebot selber, gegraben in steinerne Tafeln, es muß ihm, nach einem unübersetzbaren Wortspiel der Alten, ›Freiheit auf Tafeln‹ sein.« (Rosenzweig 1976, S. 297)
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Kinder« (banajich) mit »deine Bauleute« (bonajich) wiedergibt (Rosenzweig 1984b,
S. 699).
Der Austausch über Ich und Du war Teil des Auftaktes einer intensiven Freundschaft zwischen Martin Buber und Franz Rosenzweig, die bis zu Rosenzweigs frühem
Tod im Jahre 1929 dauern sollte. Nun geht es in den Diskussionen der beiden um
das Gesetz, und bald werden Buber und Rosenzweig damit beginnen, gemeinsam
auch das Gesetz von Neuem ins Deutsche zu übertragen.
Literatur
Martin Buber: Die Legende des Baalschem. Frankfurt a.M.: Rütten und Loening 1908.
—: Ich und Du. Leipzig: Insel-Verlag 1923.
—: Begegnung. Autobiographische Fragmente. Stuttgart: Kohlhammer 1961.
—: Ich und Du. In: Schriften zur Philosophie. (Werke, Bd. 1) München/Heidelberg: KöselVerlag/Verlag Lambert Schneider 1962, S. 77—170.
—: Nachwort. In: Schriften zur Philosophie. (Werke, Bd. 1) München/Heidelberg: KöselVerlag/Verlag Lambert Schneider 1962, S. 161.
—: Zur Geschichte des dialogischen Prinzips. In: Schriften zur Philosophie. (Werke, Bd. 1)
München/Heidelberg: Kösel-Verlag/Verlag Lambert Schneider 1962, S. 291—305.
—: Königtum Gottes. In: Schriften zur Bibel. (Werke, Bd. 2) München/Heidelberg: KöselVerlag/Verlag Lambert Schneider 1964, S. 485—723.
—: Moses. In: Ders.: Schriften zur Bibel. (Werke, Bd. 2) München/Heidelberg: KöselVerlag/Verlag Lambert Schneider 1964.
—: Religion als Gegenwart. In: Buber’s Way to ›I and Thou‹. An Historical Analysis and
the First Publication of Martin Buber’s Lectures ›Religion als Gegenwart‹. Heidelberg:
Verlag Lambert Schneider 1978, S. 41—152.
—: Cherut. In: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Gerlingen:
Verlag Lambert Schneider 2. Auflage 1993, S. 119—140.
—: Der heilige Weg. In: Ders.: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und
Reden. Gerlingen: Verlag Lambert Schneider 2. Auflage 1993, S. 87—119.
—: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Gerlingen: Verlag
Lambert Schneider 2. Auflage 1993.
—: Die Erneuerung des Judentums. In: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze
und Reden. Gerlingen: Verlag Lambert Schneider 2. Auflage 1993, S. 27—44.
—: Vorrede. In: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. Gerlingen:
Verlag Lambert Schneider 2. Auflage 1993, S. 3—9 [erstmals 1923].
—: Daniel. In: Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891-1924. Hrsg. von
Martin Treml. (Martin Buber Werkausgabe. Hrsg. von Paul Mendes-Flohr/Peter Schäfer,
Bd. 1) Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2001, S. 183—245.
—: Schriften zur Bibelübersetzung. Hrsg. von Ran HaCohen. (Martin Buber Werkausgabe.
Hrsg. von Paul Mendes-Flohr/Bernd Witte, Bd. 14) Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
2012.
—: Warum und wie wir die Schrift übersetzen. In: Schriften zur Bibelübersetzung. Hrsg.
von Ran HaCohen. (Martin Buber Werkausgabe. Hrsg. von Paul Mendes-Flohr/Bernd
Witte, Bd. 14) Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2012, S. 170—185.
—: Ekstatische Konfessionen. Hrsg. von David Groiser. (Martin Buber Werkausgabe. Hrsg.
von Paul Mendes-Flohr/Bernd Witte, Bd. 2.2) Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2013.
—: Mythos und Mystik. Frühe religionswissenschaftliche Schriften. Hrsg. von David Groiser.
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Andreas Losch
(Martin Buber Werkausgabe. Hrsg. von Paul Mendes-Flohr/Bernd Witte, Bd. 2.1) Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2013.
—: Wissenschaftliche und religiöse Welterfassung. In: Mythos und Mystik. Frühe religionswissenschaftliche Schriften. Hrsg. von David Groiser. (Martin Buber Werkausgabe.
Hrsg. von Paul Mendes-Flohr/Bernd Witte, Bd. 2.1) Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
2013, S. 218—223.
—: Schriften zur chinesischen Philosophie und Literatur. Hrsg. von Irene Eber. (Martin
Buber Werkausgabe. Hrsg. von Paul Mendes-Flohr/Bernd Witte, Bd. 2.3) Gütersloh:
Gütersloher Verlagshaus 2014.
—: In: Martin Buber Archiv (Jerusalem).
Bernhard Casper: Franz Rosenzweigs Kritik an Bubers ›Ich und Du‹. In: Religion der Erfahrung. Paderborn: Schöningh 2004.
René Descartes: Discours de la méthode. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2. Auflage 1997.
Maurice Friedman: Martin Buber’s Life and Work. Detroit/Michigan: Wayne State University Press 1988.
Lazarus Goldschmidt: Der Babylonische Talmud, Bd 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996.
Rivka Horwitz: Buber’s way to ›I and thou‹. An historical analysis and the first publication
of Martin Buber’s lectures ›Religion als Gegenwart‹. Heidelberg: Verlag Lambert
Schneider 1978.
—: Ferdinand Ebner als Quelle der Dialogik in ›Ich und Du‹. In: Martin Buber. Bilanz seines Denkens. Hrsg. von $ayim Gordon/Jochanan Bloch. Freiburg: Herder 1983, S. 141—
156.
Michael Krupp (Hrsg.): Die Mischna. Textkritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung
und Kommentar, Sukka, bearbeitet von Ralf Kübler mit Zusätzen von Michael Krupp.
Jerusalem: Lee Achim Sefarim 2002.
Andreas Losch: Der Stern, im Licht der Offenbarung betrachtet — zur geometrischen
Konstruktion des Sterns der Erlösung. In: Naharaim — Zeitschrift für deutsch-jüdische
Literatur und Kulturgeschichte. 5, 1-2 2011, S. 36—54.
—: Kann Gott einen Namen haben? Martin Buber befragt die jüdische Geistes- und die
Religionsgeschichte. Zu ungedruckten Typoskripten Bubers. In: 50 Jahre Martin Buber
Bibel. Beiträge des Internationalen Symposiums der Hochschule für Jüdische Studien
Heidelberg und der Martin Buber-Gesellschaft. Hrsg. von Daniel Krochmalnik/HansJoachim Werner. (Altes Testament und Moderne) Münster: Lit-Verlag 2014, S. 165—183.
Paul Mendes-Flohr: Von der Mystik zum Dialog. Martin Bubers geistige Entwicklung bis
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