Location via proxy:   [ UP ]  
[Report a bug]   [Manage cookies]                
Originalien Manuelle Medizin 2008 · 46:418–423 DOI 10.1007/s00337-008-0655-9 Online publiziert: 6. Dezember 2008 © Springer Medizin Verlag 2008 D. Ohlendorf · K. Pusch · S. Kopp Poliklinik für Kieferorthopädie, Stiftung Carolinum, JohannWolfgang-Goethe-Universiät, Frankfurt am Main Beinlängendifferenz versus zentrische Lage des Unterkiefers Viele Menschen weisen Indikatoren einer kraniomandibulären Dysfunktion (CMD) auf [5]. Chronische Schmerzsyndrome, wie z. B. chronische Kopfschmerzen oder Schmerzen im Kopf-, Gesichts- und (Hals-)Wirbelsäulenbereich, atypische Gesichtsschmerzen, aber auch Dysfunktionen von Körperbewegungen sind vielen betroffenen Personen bekannt. Mithilfe einer Schienentherapie kann unzähligen Patienten geholfen werden. Auch aus orthopädischer Sichtweise wurden bereits gute Erfolge mit Schuheinlagen bzw. Beinlängenerhöhungen erzielt. Dadurch konnten nicht nur körperliche Beschwerden gelindert werden, deren Ursache im Fuß selbst lokalisiert war, sondern darüber hinaus auch Problematiken des Knie- oder Hüftgelenkes sowie Wirbelsäulenbeschwerden. Daher stellt sich die Frage, ob nicht nur durch den Einsatz zahnärztlicher Hilfsmittel allein Therapieerfolge bei kraniomanidbulären Dysfunktionen zu erreichen sind, sondern in Kombination mit anderen, nichtinvasiven Möglichkeiten weiterführende Therapieerfolge erzielt werden könnten. Durch eine Kombination von mindestens zwei sich gegenseitig unterstützenden Methoden könnten Beschwerden multimodaler betrachtet und behandelt werden, wodurch die Häufigkeit einer symptombezogenen Therapie sinken und die Anzahl ursachenbezogener Behandlungen steigen würde. Aufbauend auf diesen Feststellungen entwickelte sich das folgende Untersuchungsdesign, um herauszufinden, ob sich gegebenenfalls auch die Position des 418 | Manuelle Medizin 6 · 2008 Kiefergelenkes durch eine einseitige Beinlängenerhöhung verändern lässt. Material und Methoden An dieser Studie nahmen 30 freiwillige Erwachsene (21 weiblich, 9 männlich) im Alter von 22 bis 61 Jahren (Altersdurchschnitt 31,2 Jahre) teil. Für den Ausschluss aus dieser Untersuchung galten folgende Kontraindikatoren: aktuelle kieferorthopädische Behandlung oder Therapie mit Aufbissbehelfen, Knack- oder Reibegeräusche im Kiefergelenk, Schmerzen beim Bewegen oder beim Kauen im Kiefergelenk, Missbildungen, Trauma oder Operationen am Ober- oder Unterkiefer, Kieferklemme, Kiefersperre, Tumoren der Mund-, Kiefer- oder Gesichtsregion, akuter Infekt oder Medikamente zur Muskelrelaxation. Für die dreidimensionalen Untersuchungen der Unterkieferbewegungen sowie zur Registrierung der Kondylenpositionen wurde das Gerät ARCUS®digma SD II (KaVo Dental GmbH, Biberach) verwendet (. Abb. 1). Dieses System arbeitet auf der Basis eines dreidimensionalen Ultraschallnavigators mit 40 KHz. Bei einer Messfrequenz von 50 Hz ist es möglich, die Unterkieferbewegungen über vier Sender und acht Mikrophone (Empfänger) zu untersuchen. Demnach ergeben sich 16 Messstrecken, anhand derer Informationen für die Analyse der Unterkieferbewegungen in Relation zum Schädel des Probanden erfasst werden. Das Gerät selbst setzt sich zusammen aus einem Basisgerät, einem Gesichtsbo- gen mit Empfänger (Gewicht 250 g ohne und 340 g mit Sensorik, d. h. Sender) und einem Sender, der an der Unterkieferbissgabel (100 g) über einen Magneten befestigt ist. Für die Durchführung der Untersuchungen muss zunächst die metallische Unterkieferbissgabel an dem Unterkieferzahnbogen des Probanden befestigt werden. Hierfür wird zunächst die Bissgabel probandenspezifisch angepasst. Bevor ein zähfließender, selbsthärtender Kunststoff (Luxatemp, DMG, Hamburg) auf der Bissgabel angebracht wird, erfolgt eine Reinigung der Zähne des Unterkiefers. Anschließend wird diese Bissgabel mit dem Kunststoff auf den Zähnen möglichst nahe der Gingiva angepresst und fixiert, bis der Kunststoff ausgehärtet ist (ca. 2–3 min). Bevor der Sender an der Bissgabel mit integriertem Magneten fixiert werden kann, müssen die scharfen Kanten des Kunststoffes geglättet und nach erneuter Positionskontrolle mit Gewebekleber (Cyano-Veneer, Hager & Werken, Duisburg) an der Unterkieferzahnreihe fixiert werden. Anschließend erfolgt die Befestigung und Ausrichtung des Gesichtsbogens am Probanden mithilfe der Glabellastütze, Kopfstütze sowie einer temporären Fixierung des Geräts im Gehörgang, die auf diese Weise individuell über eine justierbare Schraube an jede Kopfform angepasst werden kann. Zur Justierung der Vorrichtung benötigt das ARCUS®digma SD II drei Punktvorgaben, die den weiteren Berechnungen als Referenzzeiger dienen: der rechte und Zusammenfassung · Abstract linke Kondylus (möglichst nahe der Gelenkachse, . Abb. 2) sowie das linke Foramen infraorbitale (. Abb. 3). Die Bestimmung dieser Punkte erfolgt mithilfe geeichter systemeigener Pointer. Die Bewegungen werden nach Berechnung ihrer Koordinaten in dem Softwareprogramm KaVo KID graphisch dargestellt. Damit ermöglichen die Darstellung der kondylären und inzisalen Bewegungen in drei Raumebenen sowie die Betrachtung von Kondylenbewegungen zu gleichen Zeitpunkten Schlussfolgerungen bezüglich einer Bewegungslimitation oder einer Diskoordination im arthrogenen und okklusalen Bereich. Anschließend wird der Proband aufgefordert, sich vor eine Wand zu stellen, wobei er nicht auf den Monitor sehen kann, um Biofeedbackeinflüsse auszuschließen. Um Bewegungsartefakte zu reduzieren, wird er ferner angewiesen, eine entspannte Körperhaltung bei gerader Kopfhaltung einzunehmen, die Arme locker neben dem Körper zu halten und mit den Augen einen Punkt an der Wand in Augenhöhe zu fixieren. Diese Ausgangsposition wird bei jeder neuen Messsituation wieder eingenommen. Nach der neutralen Messung nimmt der Proband vier weitere, unterschiedliche Positionen ein. Dabei steht er jeweils mit der gesamten Fußsohle auf einer hölzernen Erhöhung. Nacheinander werden zwei verschiedene Höhen unter den linken und rechten Fuß gelegt: F Position 0 – Grundstellung, F Position 1 – Erhöhung 1 cm unter linken Fuß, F Position 2 – Erhöhung 1 cm unter rechten Fuß, F Position 3 – Erhöhung 3 cm unter linken Fuß, F Position 4 – Erhöhung 3 cm unter rechten Fuß. Manuelle Medizin 2008 · 46:418–423 © Springer Medizin Verlag 2008 DOI 10.1007/s00337-008-0655-9 D. Ohlendorf · K. Pusch · S. Kopp Beinlängendifferenz versus zentrische Lage des Unterkiefers Zusammenfassung Ziel der Untersuchung war der Nachweis einer Beeinflussung sowohl der Bewegungen des Unterkiefers als auch der zentrischen sowie dynamischen Okklusion über eine erzwungene Beinlängendifferenz im Stehen. Dazu wurde an einer Probandengruppe (n=30) systematisch eine Beinlängendifferenz provoziert, indem ihnen abwechselnd eine 1 bzw. 3 cm dicke Holzplatte unter den linken und rechten Fuß gelegt wurde. In diesen Positionen wurden vorab definierte Bewegungen des Unterkiefers durchgeführt und mit einem dreidimensionalen Spurschreibsystem aufgezeichnet. Anschließend erfolgte ein statistischer Vergleich dieser Messdaten mit einer Referenzmessung (habituelles Stehen). Anhand der Ergebnisse kann ein Zusammenhang zwischen der Funktionalität des Bewegungssystems und der dreidimensionalen Lage des Unterkiefers hergestellt werden. Sowohl die Seite der Erhöhung als auch ihr Ausmaß ist entscheidend für Veränderungen der Kiefergelenkpositionen (links: p=0,04 bzw. 0,03; rechts: p=0,003 bzw. 0,04). Darüber hinaus lässt sich durch die Erhöhung des linken bzw. rechten Beines eine veränderte Mundöffnung nachweisen, jedoch keine signifikante Veränderung der Mittellinienverschiebung. Schlüsselwörter Beinlängendifferenz · Zentrische Okklusion · Unterkieferbewegung · Kiefergelenkposition Difference in leg length versus centric position of the mandible Abstract The aim of the investigation was to show the impact on movements of the lower jaw in centric occlusion by a forced leg length difference during standing. For this purpose a leg length difference was systematically invoked in a group of volunteers (n=30) by placing a 1 or 3 cm thick wooden panel under the left or right foot. In these positions predefined movements of the lower jaw were carried out and recorded with a 3-dimensional axiographic system. These measurements were statistically compared with a reference measurement (habitual standing). The results revealed a relationship between the function- ality of the movement apparatus and the 3dimensional position of the lower jaw. Both the side and the height of the difference in leg length as well as its magnitude are crucial for changes of the mandible position (left: p=0.04 or 0.03; right: p=0.003 or 0.04). In addition, a changed mouth shape can be demonstrated if the left or right leg is increased in height, whereas no significant shift of the center line can be detected. Keywords Leg length difference · Centric occlusion · Mandible movement · Mandibular joint Alle Positionen werden immer nacheinander vom Probanden eingenommen, wobei jede Messung dreimal wiederholt wird. Mit dem Gerät werden aufeinanderfolgend zwei verschiedene Messreihen durchgeführt: zum einen eine elektronische Positionsanalyse (EPA) und zum anderen eine Bewegungsanalyse. Im Hinblick auf die EPA wird immer die Position Manuelle Medizin 6 · 2008 | 419 Originalien 5 6 1 2 7 3 8 4 9 Abb. 1 8 Gerätebeschreibung des ARCUS®digma SD II: 1 Kopfband, 2 Gummiband, 3 Gesichtsbogen ARCUS®evo, 4 verschiebbare Achse, 5 Nasenstütze, 6 Feststellhebel für Nasenstütze, 7 ARCUS®digmaEmpfänger, 8 Einstellrad zur Einstellung der Gesichtsbreite, 9 ARCUS®digma-Sender 3,66 mm 10,33 mm Abb. 2 8 Achsenbestimmung des linken Kondylus nach Reiber/Dickbertel. Die arbiträren Achsenpunkte können durch Palpation gefunden werden. Nach Reiber/Dickbertel befinden sie sich 10,33 mm vor dem Tragus medialis und 3,66 mm oberhalb der Verbindungslinie zwischen Tragus medialis und Infraorbitalpunkt Abb. 3 9 Bestimmung des linken Foramen infraorbitale 420 | Manuelle Medizin 6 · 2008 des rechten und linken Kondylus in drei Ebenen (x, y, z) in Bezug auf eine Referenzposition bestimmt. Diese wird bei jedem Probanden individuell registriert, indem der Proband sechsmal aufgefordert wird, den Mund zu öffnen und bis zum ersten Zahnkontakt (zentrische Okklusion) langsam zu schließen. In dieser Position wird das Gleiten des Kiefers in die habituelle Okklusion vermieden. Die Software ermittelt aus den Daten die jeweiligen Mittelwerte, die dann als Referenzposition bei allen drei Koordinaten (x, y, z) als neutrale Ausgangslage angesehen werden (. Abb. 4). Visuell werden die Positionen von der Software wie auf einer Art Dartscheibe in zwei Ebenen dargestellt. Die Zahlenangaben sind Abweichungen vom Referenzpunkt in Millimeter, wobei die Richtung mit Vorzeichen angezeigt wird (. Abb. 5). Die gleiche Vorgehensweise ist bei der Bewegungsanalyse durchzuführen, wobei hier jedoch die Mundöffnung selbst vorrangig untersucht wird. Hierfür ist es notwendig, den Mund so weit wie möglich zu öffnen und zu schließen. Auch bei dieser Messreihe werden alle Positionen hintereinander eingenommen und die Bewegungsbahn wird aufgezeichnet. Die Software legt die drei Bewegungswiederholungen einer Position übereinander und stellt sie grafisch als Spuren in allen drei Ebenen dar. Zusätzlich erfolgt die Animation am Schädel, bei welcher der Verlauf der anfangs bestimmten arbiträren Scharnierachse des Kiefergelenkes als gelbe Linie dargestellt ist (. Abb. 6). Anhand der aufgezeichneten Daten wird das Ausmaß der Mundöffnungsbewegung (inzisal) in der sagittalen Ebene (in Millimeter) bestimmt. Zusätzlich findet eine Berechnung der Deviation (Abweichung der Mittellinie bei Mundöffnung) in der frontalen Ebene (Winkel) statt (. Abb. 7). Nach Beendigung der Messreihe werden Gesichtsbogen und Sensor vom Probanden entfernt. Die festgeklebte Bissgabel wird mit leichten Hebelbewegungen vorsichtig von der Zahnreihe abgetrennt. Um die überschüssigen Kleberreste von den Zähnen zu entfernen, erfolgt eine Zahnreinigung. Abb. 4 7 Einzeichnen der drei Ebenen am animierten Schädel der Bewegungsanalyse. x links, −x rechts (gelb), y oben, −y unten (rot), z hinten, −z vorne (blau) x 0.2 mm y z Abb. 5 7 Grafische Darstellung der EPA mit eingezeichneten Ebenen zur Verdeutlichung der räumlichen Darstellung der Kondyluspositionen (schwarze Kreuze) Ergebnisse Die Daten der Messungen wurden mit dem Softwareprogramm SPSS (Version 16.0) statistisch ausgewertet. Zunächst wurde der Kolmogorow-Smirnow-Anpassungstest (KS-Test) eingesetzt. Dieser Test bestätigte die Annahme, dass die erfassten Messdaten der zuvor angenommenen Wahrscheinlichkeitsverteilung folgten. Anschließend wurde der t-Test für korrelierende Stichproben angewendet, um zu überprüfen, ob sich die erzwungenen Beinlängendifferenzen auf Bewegungen des Unterkiefers auswirkten. Des Weiteren wurden die Messdaten der 1 cm erhöhten Beinlänge mit denen der 3 cm erhöhten Beinlänge des ipsila- teralen Beines systematisch miteinander verglichen. Das Signifikanzniveau dieser Studie lag bei 5%, 1% und 0,1%. In Bezug auf die elektronische Positionsanalyse der beiden Kondylen wurden zunächst die drei einzelnen Koordinaten des Kondylus im Raum mithilfe einer euklidischen Distanzrechnung zusammengefasst und anschließend mit dem t-Test auf Manuelle Medizin 6 · 2008 | 421 Originalien Bei der Mittellinienabweichung wurden keine statistisch nachweisbaren Veränderungen ermittelt. Diskussion Abb. 6 9 Darstellung der Achse durch den linken und rechten Kondylus, die mithilfe der drei zu bestimmenden Punkte vor jeder Messung festgelegt werden muss Abb. 7 8 Bei den oberen Abbildungen „linkes Gelenk“ und „rechtes Gelenk“ ist in sagittaler Ansicht die Bewegung von der Mundöffnung bis zum Mundschluss zu erkennen (rote Messstrecke). Die unteren drei Abbildungen zeigen den Verlauf der Mundöffnung aus drei verschiedenen Ebenen (rote Messstrecke) Veränderungen der Mittelwerte hin überprüft. Hierbei konnte festgestellt werden, dass zwischen den beiden Erhöhungen von 1 cm (links: p=0,04; rechts: p=0,03) und 3 cm (links: p=0,03; rechts: p=0,0) sowohl beim linken als auch beim rechten Kondylus eine signifikante Veränderung vorlag. 422 | Manuelle Medizin 6 · 2008 Die Mundöffnung verändert sich bei einer Erhöhung von 1 cm (p=0,01) und 3 cm (p=0,04) des linken Beins mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 1 bzw. 5%. Wird das rechte Bein erhöht, ist lediglich bei der 1-cm-Erhöhung eine veränderte Mundöffnung (p=0,04) festzustellen. Bei der Erhöhung eines Beines sind Veränderungen der Mundöffnung sowie der Kondylenposition der ipsilateralen Körperseite statistisch zu belegen. Im Hinblick auf die elektronische Positionsanalyse war dies mit einer Erhöhung sowohl von 1 cm als auch von 3 cm auf beiden Körperseiten der Fall. Ferner muss berücksichtig werden, dass sich die Erhöhung der einen Körperseite nicht nur auf die Kondylenposition der ipsilateralen Körperseite, sondern auch auf die der kontralateralen Körperseite auswirkt. Anhand eines Vergleichs der Mittelwerte zwischen den beiden unterschiedlich starken Beinerhöhungen wird deutlich, dass sich die Kondylenposition anhand der EPA umso mehr verändert, je stärker die Erhöhung und folglich der Unterschied zwischen den beiden Beinlängen ist. Demnach ist neben der Körperseite, die erhöht wird, auch das Ausmaß dieser Erhöhung für Veränderungen der Kiefergelenkpositionen ausschlaggebend. Die gleiche Schlussfolgerung trifft für die Veränderungen der Mundöffnung zu. Bei der Mundöffnung folgt der Rotationsbewegung des Kondylus ein Gleiten entlang der anatomisch vorgegebenen Gelenkbahn. Zusätzlich spielen andere Faktoren, wie der Discus articularis, der Band- und Kapselapparat, aber auch muskuläre Strukturen eine entscheidende Rolle bei der Unterkieferbewegung, da sie den Kiefer führen und Bewegungen limitieren können. Die neuen Informationen, die dem Körper kurzzeitig durch die Beinerhöhung übermittelt werden, ermöglichen primär eine schnelle Reaktion des aktiven Bewegungsapparates sowie des neurophysiologischen Systems. Aufgrund des kurzzeitig begrenzten Einflusses werden keine bzw. kaum Veränderungen des passiven Bewegungsapparats hervorgerufen. Solche Anpassungserscheinungen treten frühestens nach mehreren Wochen auf. Warum sich jedoch die Mundöffnung signifikant verändert, die Mittellinienabweichung hingegen Fachnachrichten konstant bleibt, ist in weiteren Studien eingängiger zu erforschen. Aufgrund der Erkenntnisse dieser Studie erscheint es notwendig, den Patienten ganzheitlich – im Sinne eines funktionsorientierten Screenings – vorab zu untersuchen und den Bewegungsapparat, d. h. neben der Wirbelsäule auch die Becken-, Knie- und Fußstellung zu berücksichtigen, anstatt nur die Okklusion bzw. die Funktion des Kiefergelenkes zu behandeln. Diagnostizierte Funktionsstörungen des Kiefergelenkes bzw. asymmetrische Bewegungsabfolgen des Unterkiefers müssen nicht zwingend auch im Kiefergelenk ihre Ursache haben, sondern können auch nur das Ausmaß dessen widerspiegeln, was der Körper zu kompensieren vermag – mit den Folgen einer symptomatischen Erscheinung. Demzufolge sollten sich Zahnarzt und Manualmediziner bewusst sein, dass es sinnvoll ist, die Diagnostik bei einem Patienten mit kraniomandibulärer oder kraniozervikaler Dysfunktion auszuweiten und bei möglichen Hinweisen auf interdependente Funktionsstörungen im Bewegungssystem die Behandlung möglichst zeitgleich und interdisziplinär durchzuführen. Denn eine orthopädische Therapie kann beispielsweise als unterstützende Maßnahme angesehen werden, um auf die Stellung des Kiefergelenkes Einfluss zu nehmen. Fazit Anhand dieser Studie kann gezeigt wer­ den, dass das vorgestellte dreidimensio­ nale Spurschreibsystem als effektive, un­ terstützende Maßnahme zur manuellen Diagnostik von Kiefergelenkfunktionen eingesetzt werden kann und mit einer Messgenauigkeit von 0,1 mm dem Behand­ ler verlässliche Messdaten liefert. Ferner belegen die Ergebnisse, dass ein Zusam­ menhang zwischen einer experimentell provozierten Beinlängendifferenz und Kiefergelenkbewegungen existiert. Literatur Konrad-Biesalski-Preis 2008 Gedanken steuern die künstliche Hand 1. Bittmann F, Badtke G (1994) Bewegungsmuster – primärer Faktor von Fehlentwicklungen des Muskel-Skelett-Systems. Manuelle Med 32:61–65 2. Comerford MJ, Mottram SL (2001) Movement and stability dysfunction – contemporary developments. Manual Ther:15–26 3. Kopp S, Plato G (2003) Änderung der dreidimensionalen Lage des Unterkiefers durch Atlasimpulstherapie. Manuelle Med 41:500–505 4. Kopp S, Sebald WG (1999) Orientierende Untersuchung des craniomandibulären Systems – Teil 1. ZMK 15:532–539 5. Kopp S (2005) Okklusale und klinisch funktionelle Befunde im craniomandibulären System (CMS) bei Kindern und Jugendlichen. Med Habilitationsschrift, Friedrich-Schiller-Universität, Jena 6. Kopp S, Sebald WG, Langbein U (2003) Craniomandibuläre Dysfunktion und Kieferorthopädie. Prakt Kieferorthop 12 7. Krogh-Poulsen W (1980) From occlusion theory to oral physiotherapy. Quintessence, Chicago 8. Plato G, Kopp S (1996) Das Dysfunktionsmodell. Manuelle Med 34:1–10 9. Plato G, Kopp S (1999) Kiefergelenk und Schmerzsyndrome. Manuelle Med 37:143–151 10. Stiesch-Scholz M, Tschernitschek H, Fink M (2002) Wechselwirkungen zwischen dem temporomandibulären und kraniozervikalen System bei Funktionserkrankung des Kauorgans. Phys Med Rehab Kuror 12:83–88 Der mit 5.000 Euro dotierten Konrad-Biesalski-Preis der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädischen Chirurgie e.V. wurde dieses Jahr an Dr. Rüdiger Rupp von der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg vergeben. Ausgezeichnet wurden seine Entwicklungen auf dem Gebiet der Neuroprothesen. Im Rahmen seiner Dissertation konnte er zeigen, dass sich elektrische Signale von sehr schwachen Armmuskeln für die Kontrolle speziell einer mehrkanaligen Stimulation eignen, weil Teile der noch intakten Bewegungskontrolle zur natürlichen Steuerung genutzt werden können und Patienten diese Art der Steuerung nicht umständlich einüben müssen. Zum anderen konnte erstmals der prinzipielle Nachweis erbracht werden, dass auch die in Folge einer Bewegungsvorstellung auf dem Kopf ableitbaren elektrischen Aktivitätsänderungen als Kontrollgrößen für Greifneuroprothesen zu verwenden sind. Darauf basierend stellte er ein Gerätekonzept vor, das genügend Ressourcen zur Vielkanalstimulation und zur universellen Implementierung von neuartigen Benutzerschnittstellen bereitstellt. Dabei werden Neuroprothesen eingesetzt, die entweder implantiert oder auf der Oberfläche befestigt werden. So wird ein wesentlich höherer Alltagsnutzen erreicht, da die Greifmuster besser reproduziert und koordiniert werden können und die Handhabung wesentlich einfacher ist. Literatur: Rupp R, Gerner HJ.: Neuroprosthetics of the upper extremity--clinical application in spinal cord injury and challenges for the future. Acta Neurochir Suppl. 2007;97(Pt 1):419-26. Quelle Orthopädische Universitätsklinik Heidelberg, www.orthopaedie.uni-heidelberg.de Korrespondenzadresse Dr. D. Ohlendorf Poliklinik für Kieferorthopädie, Stiftung Carolinum, Johann-Wolfgang-Goethe-Universiät Theodor-Stern-Kai 7, 60596 Frankfurt am Main ohlendorf@med.uni-frankfurt.de Interessenkonflikt. Keine Angabe. Manuelle Medizin 6 · 2008 | 423