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Vorgehensweise Comicanalyse Am Beispiel von Alan Moores und David Lloyds V for Vendetta Vorbemerkung: Eine Analyse setzt eine enge Vertrautheit mit dem (Comic-)Text voraus. Sie sollte allerdings nicht daran ›kleben‹ bleiben (Extrem: reine Nacherzählung in Worten), sondern muss vom Inhalt abstrahieren können und der Form mindestens den gleichen Stellenwert einräumen; umgekehrt ist eine rein formale Analyse ohne inhaltlich-interpretative Gesichtspunkte wenig wert. Paratextanalyse ‣ Seriöses Hardcover mit Schutzumschlag, aber ›knalliges‹ Covermotiv (vgl. Heftausgaben); Lloyds und Moores Vorworte (politische Stoßrichtung), Moores Aufsatz (Entstehungsgeschichte als kreativer Prozess; explizite Thematisierung der Fangemeinde); ›Bonusmaterial‹ als Kaufanreiz für Buchausgabe ‣ FORMAT: Buchausgabe (»Graphic Novel«) vs. Serie (zuerst in schwarz-weißer Anthologie-Heftreihe Warrior, Nr. 1–26 mit je einem Kapitel 1982–84 [einschl. S. 166 in Buchausg.], dann eigenständige kolorierte Heftreihe, Nr. 1–10 mit je vier Kapiteln und einigen Zusatzseiten [nicht in Buchausgabe] 1988–89) ‣ AUTOR: Wer ist ein Autor im Comic (neben Lloyd und Moore noch die Koloristen und Letterer, ev. Assistenten des Zeichners; bei anderen Comics Vorzeichner [penciller], Reinzeichner [inker], Editor …)? Arbeitsweise, Dominanz im Team (Machtpositionen); Moores Status als Genie, als Produkt von Selbst- und Fremddarstellung (Verlag, Interviews, [Nicht-]Auftritte auf Conventions, Fangemeinde, Festschrift von Millidge u. smoky man, Biographien von Millidge und Parkin, Wissenschaft) Inhaltsanalyse ‣ THEMEN: Auflehnung gegen totalitäres Regime und gegen Autoritäten; Anarchismus; Frage der Ethik: Sind Gewalt und Terrorismus zu rechtfertigen? ‣ ERZÄHLWELT: faschistischer Staat in naher Zukunft, dessen Vorgeschichte von unserer Welt ausgeht, aber irgendwann beginnt, davon abzuweichen (detaillierte Chronologie in Eveys Kindheitserzählung); Ähnlichkeiten zum modernen Überwachungsstaat der Gegenwart (England) sowie zu Deutschland in der NS-Zeit ‣ FIGURENANALYSE: Hauptpersonen und ihre Beziehungen untereinander (V als ›Unpersönlichkeit‹ ohne fixen Charakter, Evey, Rose Almond, Valerie, Finch und Adam Susan); Bezüge zur Figur des Superhelden (Maske, Kraft und Geschicklichkeit, origin story und Homebase [vgl. Batcave]) bzw. Superschurken (Skrupellosigkeit), z.B. Batman/Joker: feststehende Moral und Bewahrung des Status Quo durch Superheld vs. (positiv bewertete) Subversion und Staatssturz durch V ‣ ZENTRALE MOTIVE: Masken- und Theatermetaphorik; Rose (Blume und Personenname); abweichende sexuelle Identität Formanalyse ‣ AUFBAU, STRUKTUR: Symmetrisch: 3 Bücher, darin jeweils 11–14–11 Kapitel mit teilweisen Cliffhangern, bedingt durch serielle Vorveröffentlichung; Kapitelüberschriften "1 beginnen immer mit »V« (vgl. Thomas Pynchons Roman V in der Bibliothek der »Shadow Gallery«) – Mikrostrukturen: häufig Parallelmontage verschiedener Handlungsstränge ‣ STIL: harte Kontraste (ursprüngl. schwarz-weiß, im bewussten Gegensatz zur ›grauen‹ ethischen Ausrichtung); später hinzugefügte Farben (wegen geändertem Publikationskontext in amerikanischem Verlag), ungewöhnlich aquarellartig und düster ‣ ERZÄHLER: kein auktorialer Erzähler; multiperspektivisch durch unterschiedliche Erzählerstimmen in vielfältiger Form (innere Monologe, teilweise mit Anrede eines »Du«, Tagebuch, autobiographische Aufzeichnungen, Ansprachen, daneben Montage aus TV- und Radiosendungen, Stimmen aus der Bevölkerung, Songs etc.) => keine vorgegebene Moral, zwingt Leser dazu, selbst die ›richtige‹ herauszufinden (im Gegensatz zu den Superheldencomics des Verlags DC) – Was ist im Comic ein ›Erzähler‹, im Unterschied zur Literatur (telling vs. showing)? Erzählt der Comic überhaupt im Sinne der Literatur? – Transmediales Erzählen I: Multiperspektive in Literatur, Film, Comic …; vgl. Akira Kurosawa: Rashomon (1959) und Jason: Hemingway (2006) – Transmediales Erzählen II, Medienkonvergenz: Konstanten und Veränderungen in Verfilmung (James McTeigue, USA 2006) und literarischer Adaption (Steve Moore, 2006) sowie Gründe für Veränderungen; Medienspezifität ‣ MEDIENSPEZIFISCHES: – Panelgestaltung: regelmäßig abgegrenzte, verschieden hohe Reihen, Variation nur in der Breite (›rhetorisch‹ nach B. Peeters) ❖ Perspektive und Blick der Figuren auf den Zuschauer – Sequenzialität: unterschiedliche Übergänge zwischen Paneln und Seiten – Seitenaufbau: z.T. Aufhebung der Sequenzialität zugunsten Gesamtkomposition – Verhältnis von Text und Bild: ❖ keine Onomatopöien, keine Denkblasen ❖ Textboxen (bis auf wenige Ausnahmen am Anfang ohne Erzählerkommentar) ❖ ›Überlappung‹ von durchgehenden inneren Monologen und nicht darauf bezogenen Bildern ❖ extradiegetische Schrift (in Sprechblasen und Textboxen sowie [hier nicht vorhandenen] Onomatopöien) vs. intradiegetische Schrift und die (zuweilen) narrative Funktion letzterer Kontextanalyse ‣ GATTUNG: Dystopie (Anti-Utopie); Vergleich zu George Orwell: 1984 (1949), Ray Bradbury: Fahrenheit 451 (1953), Aldous Huxley: Brave New World (1932); Superheldencomic mit Figur des Vigilanten: Vorläufer Robin Hood (Walter Scott: Ivanhoe, in Vs Bibliothek) und Zorro (vgl. Vs Zeichen; erstmals als Held eines Pulp-Romans, Verfilmung 1920 u. 1940 als The Mark of Zorro – Verweis auf Batman, dessen Eltern nach Besuch dieses Films vor seinen Augen ermordet werden) ‣ EPOCHE: Alternative Comics seit 1980; englische Independent-Szene (Heftserie Warrior, 1982–84), später Erneuerung des Superhelden-Genres im US-Verlag DC (Frank Miller: The Dark Knight Returns, 1986, Moore u. Dave Gibbons: Watchmen, 1986–87) "2 ‣ ALAN MOORES WERKE: Entstehung/Publikation an entscheidender Stelle vor und nach dem Beginn seiner Karriere in den USA (Swamp Thing 1984–87, Watchmen); nimmt viele seiner Erzähltechniken in Watchmen vorweg (Parallelmontage, ›Überlappung‹ von Text und Bild) ‣ ZEITGESCHICHTE: (indirekt) politisch und gesellschaftlich extrem konservative Regierung Thatcher im England der 1980er-Jahre; NS-Zeit in Deutschland als direktes Vorbild für viele Details und Charakteristika der Erzählwelt ‣ INTERTEXTUELLE BZW. INTERMEDIALE ANSPIELUNGEN: Shakespeare-Zitate sowie 17.Jahrhundert-Kostüm Vs; Bücher, Gemälde, Filme und Musik in der »Shadow Gallery« (Mix aus Hoch- und Populärkultur); historische Ereignisse um Guy Fawkes und ihre Folgen; Musik und Show aus Film Cabaret (1972); Sherlock Holmes (Kriminalplot und Pfeife Finchs); »Big Brother« und Propagandamethoden Orwells – Zitatmontage und Selbstreflexivität: ›Postmoderne‹? ‣ REZEPTION: Fankultur (Leserbriefe in den Heftpublikationen, Fanzines, Status in Bestenlisten, Amazonrezensionen, Wikipedia, ev. Preisverleihungen und Blogbeiträge); Kritik (Rezensionen der Buchausgabe, wissenschaftliche Behandlung in historischen Darstellungen und Forschungsliteratur) ‣ KULTURELLES FELD NACH BOURDIEU: Sammlung von symbolischem bzw. kulturellem Kapital durch Paratexte, formale Besonderheiten, Unterscheidung vom Superheldengenre, expliziter ideologischer Hintergrund, moralische Ambiguität, literarische und historische Anspielungen (Bewegung zum Pol der Autonomie) – Verfilmung reduziert viele dieser Züge zugunsten Massenkompatibilität (Bewegung zum Pol der Heteronomie) Kulturwissenschaftliche Fragestellungen ‣ GENDER: Geschlechtslosigkeit Vs; hervorgehobene Rolle der weiblichen Erzählstimmen (Evey, Rose, Valerie); Rolle der Homosexualität; Geschlechterbeziehungen (Rose und Derek Almond, Conrad und Helen Heyer; Evey und Gordon; Valerie und Ruth; Adam Susan und Überwachungscomputer »Fate«); ›Körperpolitik‹ des Staates: Staatsapparat als Körper (vgl. Hobbes), Internierung der Homosexuellen (vgl. Thatcher-Politik und AIDS und NS-KZs), frauenfeindliche Propaganda im Staatsfernsehen; Gewaltausübung Vs gegenüber Evey ‣ RAUM: Stadt London als Gedächtnisraum für englische Geschichte (Guy Fawkes); Architektur als Ausdruck von Herrschaft (›sprechendes‹ Regierungsgebäude im allerersten Panel, Houses of Parliament), Phallussymbolik; Gegenstück dazu »Shadow Gallery« als höhlenartiger Zufluchts- und Regressionsort (vgl. Batmans Batcave), ehemalige Victoria Station nach Frau benannt (aber Ambiguität Königin Victorias als Symbolfigur der Macht [vgl. Moores und Campbells From Hell], Präfiguration und Vorbild Margaret Thatchers), Ausstoßung Eveys als Geburt eines neuen Menschen ‣ MEMORIA: »Shadow Gallery« als Archiv der unterdrückten Kultur (vgl. Fahrenheit 451), Mischung aus Hoch- und Populärkultur; alternativer Comic als Archiv für Mainstreamcomics; Kanonbildung und Comic: Gründe für Kanonisierung Moores im Allgemeinen und von V for Vendetta im Speziellen; Exkurs: Comic als ephemeres Medium (›Abfall‹), Sammlungen von Fans als ›rettendes‹ Archiv; Rolle der Comicforschung für eine Kanonbildung "3