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Situated Organizational Mapping Florian Windhager | Lukas Zenk | Hanna Risku 1 Orientierung in Organisationen So allgegenwärtig Organisationen in der modernen Gesellschaft auch sind und so unverzichtbar sie zu Regelung und Erhalt aller Lebensbereiche auch sein mögen, so allgegenwärtig sind auch Phänomene der Intransparenz oder Unverständlichkeit dieser komplexen sozialen Systeme für externe Beobachter und interne Mitglieder1. Dies gilt prinzipiell für größere Organisationen in jeglichem Funktionsbereich, insbesondere aber für knowledgeintensive firms, d.h. Unternehmen in denen komplexe (immaterielle und unsichtbare) Wissensarbeit eine zentrale Rolle spielt. Als besonders wissensintensive Organisationen treten Universitäten in Erscheinung – und in ihrem Inneren damit charakteristische Formen der Unübersichtlichkeit und Desorientierung, die besonders für neu hinzukommende Mitglieder mitunter auch kritische Ausmaße annehmen können. Da zwei der Verfasser des vorliegenden Beitrags ihren ersten Eintritt in die universitäre Black Box inklusive der mühevollen irrlichternden Aufhellungen noch in dunkler Erinnerung hatten, war die Strategie naheliegend, bei ihrem Übertritt in eine neue Universität die Suche nach organisationaler Orientierung mit methodisch professionelleren Restlichtverstärkern anzugehen. Im aktuellen Angebot organisationstheoretischer Optiken schien zu diesem Zweck die Methode der Sozialen Netzwerkanalyse (SNA) mit ihren komplexen und dennoch kompakten Visualisierungsmöglichkeiten bestens geeignet und wurde in der Folge am neuen Arbeitsplatz in Anschlag gebracht. So wurde das Department für Wissens- und Kommunikationsmanagement der Donau-Universität Krems mit 10 Fragen zu vorhandenen sozialen Beziehungen und Strukturen durchleuchtet und das Resultat in Form von visuellen Netzwerken veranschaulicht (Abb. 1). 1 „Von der Wiege bis zur Bahre – das Leben des Menschen in der westlichen Welt ist zu einem großen Teil von Organisationen und ihren Eigengesetzlichkeiten bestimmt. […] In überraschendem Kontrast zur unvermeidbaren, alltäglichen Konfrontation mit Organisationen steht, dass wir als Durchschnittsbürger nur sehr wenig über die Logik ihres Funktionierens wissen.“ (Simon, 2007: 7) 1 Abbildung 1: Drei verschiedene Netzwerkvisualisierungen des Departments für Wissensund Kommunikationsmanagement der Donau-Universität Krems Die Ergebnisse eröffneten interessante Ansichten und enthielten in ihrem Rahmen jeweils große Mengen an Information über das neue soziale Umfeld. Angesichts so mancher spezifischer Probleme und praktischer Fragen blieben die Bilder jedoch stumm. Zwar war bekannt: maps would never be the territory – aber das Problem mit den sozialen Netzwerkkarten aus der Anwenderperspektive schien weniger ihre mangelnde Detailgenauigkeit zu sein, als vielmehr ihre verhältnismäßig restriktive Optik auf rein soziale Informationsschichten des organisationalen Systems. So fehlten bei aller Komplexität der Visualisierungen beispielsweise hilfreiche Informationen über die Lokalisierung der Mitglieder im Gebäude der Organisation, aber auch persönliche Eigenschaften wie etwa theoretische Wissensgebiete oder praktische Kompetenzen verschwanden in der punktförmigen Einheitsdarstellung der Akteure. Und auch die Unbeweglichkeit der erstellten Visualisierungen gab zu denken – wie sollte diese den täglich beobachtbaren Veränderungen durch Konflikte, Kooperationen oder die Fluktuation von Kollegen gerecht werden? Darüber und über manche ähnliche Fragen schienen die ersten Abbildungen keine Auskunft geben zu wollen – und das schienen wiederum Schweigsamkeiten zu sein, die nicht zum ersten Mal an solchen traditionellen Formen von SNAVisualisierungen bemängelt oder bemerkt wurden. So brachte schon eine erste Einarbeitung in die Fachliteratur an allen erwähnten Punkten eine Reihe von Kommentaren und Diskussionen zum Vorschein. Wenn in der Folge also von optischen Defiziten oder mangelnden Tiefenschärfen der Sozialen Netzwerkanalyse und ihrer möglichen Überwindung die Rede sein wird, so soll das nicht in Form einer simplifizierenden Kritik von gut bekannten Positionen geschehen. Denn weder die exponierten Problemstellen, noch die präsentierten Lösungsansätze, die im nächsten Kapitel vorgestellt werden, sind dem Feld wirklich neu oder gänz- 2 lich unbekannt. Aber was sich vielleicht als diskussionsfähig erweisen könnte, ist die „systemisch-synoptische“ Kombination in der sie präsentiert werden - als einfaches Denk- und Darstellungsmodell, sowie als ausbaufähiges integratives Framework in dem einheitlichen konzeptuellen Design des „Dynamical Mappings“. Die Überlegungen und Skizzen werden in der Folge anhand des erwähnten Studienobjekts – einem Department für Wissens- und Kommunikationsmanagement – vorgestellt und illustriert. Diesbezüglich besteht zumindest die Hoffnung auf das eine oder andere visuelle Deja-Vu auf Seiten der RezipientInnen, die sich in ähnlichen organisationalen Settings bewegen. Inwiefern die Skizzen als Grundriss für ein allgemeines Modell eines „Organizational Mappings“ oder als Konzept für ein umfassendes „SozioInformations-System“ geeignet sind, bleibt freilich eine Frage jener Kommunikations- und Netzwerk-Dynamik, in die sie sich hier einordnen. 2 Multi-Layer Dynamical Mapping 2.1 Geo Mapping Soziale Netzwerke werden meist als formale Beziehungsstrukturen zwischen formalen Akteuren in einem abstrahierten „sozialen Raum“ präsentiert. Während es diese konstitutive Abstraktion einerseits ermöglicht von allen anderen Relationen der Realität abzusehen und nur die Position von Individuen im Netz sozialer Bindungen herauszupräparieren, wird dadurch andererseits das Verständnis der Situiertheit der Akteure im physikalischen (bzw. geographischen oder architektonischen) Raum tendenziell erschwert. Jedoch gilt für das alltägliche wie für das wissenschaftliche Verständnis von handelnden Individuen: „Social agents are embedded in both social structures and in geographical space. The combination of social and geographic space has often been neglected. With few exceptions, social network theory ignores geographic space […]. Yet the multiple embeddedness of actors in both physical and social space has important implications for understanding social behaviour. In many related research areas, there is a growing recognition that associations between social structure and geographical nearness may affect social systems and social behaviours.” 2 Aus dem Programm des “International Workshop on Social Space and Geographic Space”, Melbourne 2007 URL: http://geosensor.net/cosit/content/view/60/82/, [10-09-2007] 3 Ein Forschungsbereich, in dem die enge Verflechtung von geographischen und sozialen Faktoren besonders anschaulich wird, ist der Ansatz der „Zeitgeographie“ (Time-Geography), der im Folgenden kurz skizziert und als erste ergänzende Analyse-Ebene der sozialen Netzwerkanalyse zur Seite gestellt werden soll. Begründet durch den schwedischen Humangeographen Torsten Hägerstrand3 ist der Ausgangspunkt der Zeitgeographie ein kartographischer Ausschnitt der Erdoberfläche – mithin ein Blick auf und in den physikalischen Raum. Der Maßstab oder die Weite des Blicks ist hierbei frei wählbar und kann in Makro- oder Mikro-Maßstäben praktisch jeden möglichen Schauplatz auf der Erdoberfläche fokussieren (Abb. 2). Abbildung 2: Spektrum von möglichen zeitgeographischen Grundflächen – mit Zoom in auf das Department für Wissens- und Kommunikationsmanagement Krems In einem zweiten Schritt werden nun auf dem ausgewählten kartographischen Grundriss Akteure lokalisiert. Durch die geographisch jeweils eindeutig bestimmbaren Koordinaten von Individuen oder Gruppen können selbige also z.B. als Punkte in eine Landschaft, eine Stadt oder ein Gebäude eingezeichnet werden (Abb. 3).4 Wenn die Darstellung von solchen mobilen Objekten in der Kartographie üblicherweise aus nahe liegenden Gründen unterlassen wird, so erfolgt in einem nächsten Schritt eine wichtige perspektivische Operation, die auch die kartographische Darstellung von dynamischen Prozessen erlaubt - und die damit in der Folge auch auf den anderen Analyse- und Mapping-Ebenen eine zentrale Rolle spielen wird. 3 Siehe u.a. (Hägerstrand 1970) und (Kraak 2003). Damit steht der SNA übrigens bereits auf dieser „statischen“ Stufe der Time-Gography eine Darstellungsform zur Verfügung, die die „Rückübersetzung“ von sozialen Strukturen in den physikalischen Handlungs- und Lebensraum ermöglicht. So treten etwa bei einem stereoskopischen Blick auf Netzwerke vor weißem Hintergrund und den gleichen Strukturen auf Geo-Karten auch unmittelbar all jene fundamentalen Wechselbeziehungen hervor, die in der Netzwerkforschung unter dem Begriff der „Proximity“ diskutiert werden. Das sind z.B. „strong ties“ oder intensive Beziehungen im sozialen Raum, die vor allem durch geographische Nähe oder Nachbarschaft von Akteuren im physikalischen Raum ermöglicht und katalysiert werden. 4 4 Die geographische Grundfläche wird hierbei aus dem üblichen orthogonalen Aufblick gekippt und in eine „2½-D-Perspektive“ umgelegt. Die dadurch „frei“ werdende Vertikale kann so für die Einkopplung einer grafischen „Timeline“ oder Zeitachse genutzt werden und damit mehrere übereinander geschichtete kartographische Momentaufnahmen – und deren horizontalen Veränderungen – integrieren und visualisieren (Abb. 4). Abbildung 3: (links): Kartographische Grundfläche inklusive lokalisierter Akteure Abbildung 4: (rechts): Dieselbe Grundfläche in der 2½-D-Perspektive der Zeitgeographie Da auch die Dimensionierung der Zeitachsen beliebig und je nach relevantem sozialem Kontext frei wählbar ist – von Minuten bis zu Jahrhunderten – entstehen durch die Visualisierungsmethode der Zeitgeographie frei skalierbare „Space-Time-Cubes“, in die soziale Netzwerke und deren Dynamik eingebettet und geographisch (re-)lokalisiert werden können. Neben der allgemeinen Wechselwirkung von sozialem und physikalischem Raum (wie übersetzen sich dauerhaft geographische Nachbarschaften in soziale Beziehungen und umgekehrt?) werden nun vor allem dynamische und prozessuale Wechselwirkungen interessant: Wie prägen soziale Netzwerke die täglichen Bewegungsmuster und Interaktionen von Individuen im physikalischen Raum oder wie verändern zufällige zeit-räumliche Begegnungen, Wahrnehmungen oder Ereignisse die Gestalt von bestehenden sozialen Netzwerken? (Abb. 5). So könnten essentielle Forschungsfragen zu Veränderung und Evolution von Netzwerken mit der Methode der Zeitgeographie skizziert und modelliert - und für weitere Formen der Analyse aufbereitet werden. 5 Abbildung 5: Wechselbeziehungen von Strukturen im sozialem Raum (links) und Bewegungsmustern im physikalischen Raum (rechts). 2.2 Actor Mapping Eine zweite Ebene, auf der die ursprünglichen Bilder des Departments (Abb.1) gewisse Informationsdefizite aufwiesen, betraf neben der räumlichen Einbettung die einzelnen Akteure. So wie bei den meisten sozialen Netzwerken wurden sie als einheitliche Punkte dargestellt, die (abgesehen von der relationalen Position) keinerlei Rückschlüsse auf individuelle Eigenschaften zuließen. Weder über persönliche, demographische oder biographische Unterschiede, noch über individuelle Formen des Wissens, der Zuständigkeit oder diverse Kompetenzen. Dieses „Defizit“ ist wiederum von grundsätzlicher Natur, denn das Verhältnis von Struktur und Akteur (bzw. von Gesellschaft und Individuum, sozialen Systemen und Handlungen oder Network und Agency) kann wahrscheinlich als die zentrale theorie-architektonische Frage jedes soziologischen oder sozialwissenschaftlichen Ansatzes betrachtet werden. 6 Eher strukturalistische (bzw. systemische) Sichtweisen, die das Primat der sozialen Relationen und Einbettungen betonen, stehen hierbei Ansätzen des methodischen Individualismus gegenüber, die soziale Strukturen erst als das sekundäre Resultat der Handlungen von einzelnen Akteuren betrachten. Zwischen diesen Lagern finden sich wiederum alle möglichen theoretischen Konzeptionen, die sich um eine Integration oder Vermittlung dieser TopDown oder Bottom-Up-Perspektiven auf menschliches Handeln bemühen. Auch die soziale Netzwerkanalyse muss sich in diesem Spektrum positionieren – und tut dies bei aller internen Differenzierung wohl zu einem überwiegenden Anteil auf Seiten der sozialen Struktur5. Das bedeutet in den meisten Fällen, dass der Analyse der sozialen Relationen vor der Analyse der Individuen der Vorrang gegeben wird und Akteure mit ihren Handlungen eher als „Konsequenzen“ ihres Netzwerks betrachtet werden denn als primärer Bezugspunkt für (sozial-)wissenschaftliche Erklärungen und Beschreibungen. Diese Asymmetrie wird aber auch innerhalb Sozialen Netzwerkforschung ebenso oft reflektiert wie diskutiert und führt immer wieder zu nahe liegenden Versuchen „to bring the individual back in“6. Die hier vorliegenden Skizzen wollen in diese komplexe Diskussion nicht vereinfachend eingreifen, aber den zahlreichen Hinweisen folgend mit dem Modul des „Actor Mappings“ eine Möglichkeit anbieten, die Betrachtung von sozialen Netzwerken und Strukturen mit der synchronen Betrachtung von einzelnen Akteuren und ihren Handlungen zu verbinden. Zu diesem Zweck erfolgt aus der Perspektive der Netzwerkanalyse eine komplementäre Hinwendung zu der „internen“ Struktur und Dynamik der Knotenpunkte - was in der grafischen Darstellung zu einer unmittelbaren Auflösung ihrer visuellen Uniformität führt. Denn selbst wenn es sich bei Punkten in einem Netzwerk nicht um „Organizational Actors“ handelt , so müssen gerade auch individuelle Akteure als Komplexe von komplexen dynamischen Systemen verstanden werden. Die Umschreibung des Menschen als „bio-psycho-soziales Wesen“ deutet wie andere klassische Mehr-Komponenten-Definitionen bereits auf die Notwendigkeit hin, für jede konkrete Forschungsfrage im Rahmen einer 5 „The importance of systems of relations between actors is a core belief that underlies modern social network analysis.“ (Freeman, 2004: 16). Netzwerkforschung ist in dieser Hinsicht zu verstehen „as part of a general movement away from individualist, essentialist and atomistic explanations toward more relational, contextual and systemic understandings“ (Borgatti & Foster, 2003: 991) Für eine kompakte Diskussion der “strukturalistischen Intuition” und ihrer Kritiker siehe u.a. (Borgatti: Network Research in Light of Four Traditional Criticisms) sowie: (Holzer, 2006: 73ff). 6 (Kilduff & Krackhardt, 1994: 87) 7 Ein Fall in dem sich ein erneutes „Situated Organizational Mapping“ auf allen Ebenen anbieten würde. 7 „Actor Analysis“ jeweils relevante Komponenten und Beobachtungsvariablen auswählen zu müssen. Der „kartographische Raum“ eines ActorMappings erstreckt sich somit von physiologischen Variablen, Strukturen und Prozessen über psych(olog)ische Merkmale und Zustände bis hin zu kognitiven Strukturen, inklusive Formen theoretischen Wissens und praktischer Kompetenz – sowie der Synergie all dieser Dimensionen in Erlebnissen bzw. (sozialen) Handlungen. All diese Strukturen oder Variablen können prinzipiell graphisch oder diagrammatisch erfasst und innerhalb von existierenden Akteur-Symbolen abgebildet werden (Abb. 6). " " ! " #$ Abbildung 6: Mögliche Darstellungsformen relevanter individueller Faktoren, Strukturen oder Aktivitäten innerhalb von Akteur-Symbolen Diese mit Information angereicherten Akteur-Symbole können ihrerseits sowohl in Geo-Maps (Kap.2.1) als auch Social Network Maps (Kap.2.3) eingebaut werden. Ebenso ist es möglich praktisch all diese visuellen Repräsentationen in der Folge im Rahmen von 2½-D-Visualisierungen zu dynamisieren und in ihrer zeitlichen Veränderung zu mappen (Abb. 7). Hierbei würde es sich anbieten, in der physiologischen oder psychologischen Dimension auf die breite Erfahrung mit Messungen und Quantifizierungen von bestehenden „akteur-zentrierten“ Disziplinen zurückzugreifen. So lassen sich z.B. alle X-Zeit-Diagramme, die in diversen Wissenschaftsfeldern als grafische Kurven von relevanten Faktoren aufgezeichnet werden, direkt in die skizzierten 2½-D-Darstellungen einpassen. Für das Mapping von kognitiven Strukturen, Schemata oder persönlichen Wissensgebieten würden sich Mind-, Concept- oder Knowledge-Maps anbieten. Und für die symbolische Darstellung von 8 In diesem Kontext eröffnen sich auch zahlreiche Anschlussmöglichkeiten an das kognitionswissenschaftliche Paradigma der „Situated Cognition & Action“- ein potentielles theoretisches Interface zwischen zwei interdisziplinären Forschungsbereichen mit großem Wachstumspotential. 8 individuellen Operationen wie Erlebnissen oder Handlungen ließe sich an Erfahrungen mit standardisierten Piktogrammen anschließen, wobei auch auf allen Ebenen des Organizational Mappings ergänzende schriftliche Informationen neben den Visualisierungen zum Einsatz kommen können. * * + Abbildung 7: % % # ' & ( ) % - , ( Mögliche dynamische Darstellungen individueller Prozesse und Aktivitäten Das Zeitspektrum der jeweils fokussierten Prozesse kann dabei in einem breiten Ausmaß variieren – Darstellungen von Sekunden- oder MinutenSequenzen sind ebenso möglich wie das Mapping von Lebensphasen oder ganzen biographischen Prozessen. Naheliegenderweise wird sich eine individuelle Akteurs-Trajektorie aber selten über mehr als hundert Jahre erstrecken. Diese Beschränkung verweist gemäß dem soziologischen Merksatz „Das Individuum geht, die Gesellschaft bleibt“ bereits auf das nächste Kapitel, in dem wieder auf soziale Netzwerke fokussiert werden soll, diesmal jedoch inklusive ihrer multiplen Dynamiken und ihrer konstitutiven Aufgabe der organisationalen oder gesellschaftlichen Strukturerhaltung über die Zeit. 2.3 Dynamical Social Network Mapping Die Rückkehr zur Ausgangs-Ebene der Sozialen Netzwerkanalyse inklusive des präsentierten Grundgedankens des Dynamical Mappings bewirkt dort fast automatisch ebenfalls die Verschiebung der Netzwerke in die 2½-DPerspektive und somit den Zugewinn der Zeitdimension für die Darstellung 9 der Veränderung sozialer Strukturen (Abb. 8).9 Mit dieser Mapping-Technik bietet sich der oftmals kritisierten Bewegungs- und Geschichtslosigkeit der SNA jedenfalls ein interessanter „Strukturen-Beschleuniger“ an.10 . / Abbildung 8: (links): Dynamisches SN-Mapping des Departments in 2½-D-Perspektive Abbildung 9: (rechts): Email-Connections of a research group represented in time series Die bislang präsentierten Mapping-Module können in allen denkbaren Visualisierungsbereichen zwar auch einzeln zur Anwendung kommen; durch ihren einheitlichen Aufbau im 2½-Design bieten sie nun aber vor allem die Möglichkeit, sich in mehrfacher Weise gegenseitig zu situieren und wechselseitig zu erhellen. 3 Synopsis: Situated Organizational Mapping Durch die systematische Verbindung der Mapping-Module behält die Soziale Netzwerkanalyse zwar ihre volle Autonomie und theoretische Leistungskraft, gewinnt jedoch ein konzeptuelles und visuelles Framework hinzu, in dem sich räumliche, individuelle und zeitliche Zusammenhänge veranschau9 Eine Kombination aus statischer und dynamischer Visualisierung, deren Potential im Rahmen der SNA bislang kaum genutzt erscheint. Für eine Ausnahme siehe (Abb. 9) - mit freundlicher Genehmigung aus: Adel Ahmed et al.: GEOMI: GEOmetry for Maximum Insight, URL: www.it.usyd.ed.au/~cmurray/geomi.pdf [10-09-2007] 10 Dies ist natürlich nicht die einzige Möglichkeit, Dynamik und Veränderung in soziale Netwerkvisualisierungen zu implementieren. Für einen Überblick über das Aufgabengebiet mit einem Fokus auf Animation bzw. Motion innerhalb von Netzwerkdiagrammen siehe (Moody, McFarland & Bender-deMol, 2005). 10 lichen lassen, die zuvor im monochromen Hintergrund ihrer reinen Sozialraum-Visualisierungen versunken bleiben mussten. Je nach Forschungsfrage kann in diesem Setting nun auf einer der drei Ebenen begonnen werden, um von dort aus bei Bedarf verschiedene andere Informationsebenen zur Kontextuierung der relevanten Dynamiken einoder abzublenden (Abb. 10). 0 0 # 1 4 4 ( ,3 ( 4 5 1 1 0 2 + 5 # ( 1 # Abbildung 10: Synoptic Situated Organizational Mapping 11 4 Ausblick Die vorgestellten Überlegungen können im aktuellen Kontext kaum mehr sein als die Anregung einer visuellen Metamatrix, in die bestimmte Forschungsfragen der Sozialen Netzwerkanalyse bei Bedarf eingebettet und situiert werden können.11 Sie zielen somit weniger auf den theoretischen Kernbereich der SNA sondern auf mögliche Anschlüsse des Paradigmas an benachbarte Disziplinen12, ergänzende Perspektiven und nicht zuletzt an das Alltagsverständnis von Menschen ohne sozialwissenschaftlichen Hintergrund. Entstand dieser allgemeine Entwurf im konkreten Fall aus dem Bedarf nach Mehr-Ebenen-Orientierung innerhalb einer Universität, so wären zahlreiche weitere Organisationen in den verschiedensten Gesellschaftsbereichen denkbar, in denen ein solcherart situiertes Organizational Mapping vermittelnde oder veranschaulichende Funktion übernehmen könnte. Einer systemtheoretischen Einteilung folgend13 wäre dies das gesamte Spektrum im mittleren Sektor des sozialen Panoramas (Abb. 11). Soziale Systeme Interaktionen wirtschaftliche Organisationen politische Organisationen Organisationen MedienOrganisationen Gesellschaft ReligionsBildungsOrganisationen Kunst- Organisationen Organisationen GesundheitsSportOrganisationen Non-Government Organisationen Organisationen rechtliche Organisationen wissenschaftliche Organisationen Abbildung 11: Spektrum von Organisationen Anhand dieser diversen und vielgestaltigen Organisationstypen hätte sich das vorgestellte Konzept also zunächst zu bewähren – ob als sozialwissenschaftliche Weitwinkelobjektiv oder als Hilfsinstrument für so unterschied11 Zu dem hauptsächlich auf den Arbeiten von Carley beruhenden Begriff der „Metamatrix“ siehe u.a. (Krackhardt & Carley, 1998). 12 So wären visuell adaptierbare Wissensbestände u.a. in der Human- und Regionalgeographie, der Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung, der Physiologie, (Sozial-)psychologie, Cognitive Science, der Bildungs- und Erziehungswissenschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaft, der Geschichte, u.v.a.m. zu erwarten. Je nach Fragestellung könnten sie so den Kontext für spezifische Forschungsfragen systemisch veranschaulichen. 13 (Luhmann, 1984: 16) 12 liche praktische Anwendungsgebiete wie öffentliche oder interne Unternehmensdarstellung und -kommunikation, Management und Monitoring, Organisationsberatung, intra-organisationale Navigation u.a. Wie weit es darüber hinaus tauglich sein könnte, auch in den gesellschaftlichen Mikround Makro-Dimensionen zum Verständnis von situierter Sozialität beizutragen, wäre nicht zuletzt eine Frage der technischen Implementierung des gesamten Konzepts in ein integrales Visualisierungstool auf Softwarebasis. Denn erst Optionen der interaktiven Auswahl von relevanten Informationsebenen und Blickwinkeln, sowie freie Zoom- und Rotations-Funktionen würden ein synoptisches Sozio-Informations-System ermöglichen, das nicht seinerseits wieder zur Desorientierung in der Knowledge Society beitragen würde.14 Für solche Ziele – „seeing both the forest and the trees“15 – konnte hier nur ein mögliches Setting skizziert werden. Die Berücksichtigung von weiteren wichtigen Informations- oder Theorie-Ebenen sowie die Lernerfahrung des Konzepts anhand von bestehendem Wissen und durch umfassende Erprobung in angewandten Feldern bleibt anzustreben. Um Individuen inmitten der Dynamik komplexer Systemen ein breites Spektrum an Veranschaulichungsmöglichkeiten zu eröffnen: “Zooming In and Out: Connecting Individuals and Collectivities at the Frontiers of Organizational Network Research”.16 14 Ermutigend für solche Ausblicke mag wirken, dass Visualisierungsprogramme für alle einzelnen Ebenen des Organizational Mappings bereits existieren. Für einen Überblick über die zahlreiche Software zu SNAVisualisierungen siehe: http://www.insna.org/INSNA/soft_inf.html [10-09-2007], für eine Auswahl an MindMapping-Programmen siehe: http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_mind_mapping_software [10-09-2007] und für die Darstellung von Space-Time-Cubes mit dem Programm GeoTime siehe (Kapler & Wright), sowie http://www.oculusinfo.com/papers/GeoTime_Brochure_Nov_06.pdf [10-09-2007]. 15 (McGrath, Krackhardt & Blythe 2003) 16 (Ibarra, Kilduff & Tsai, 2005) 13 Literatur Ahmed, Adel et al.: GEOMI: GEOmetry www.it.usyd.ed.au/~cmurray/geomi.pdf [10-09-2007] for Maximum Insight, URL: Borgatti, Stephen P., Martin G. Everett, Linton C. Freeman (2002): UCInet for Windows: Software for Social Network Analysis. Harvard, MA: Analytic Technologies. Borgatti, Stephen P.: Social Network Research in Light of Four Traditional Criticisms. (Manuskript). URL: www.analytictech.com/borgatti/papers/criticisms.pdf [10-09-2007] Borgatti, Stephen P., Pacey C. 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