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Repositorium für die Medienwissenschaft Vinciane Despret; Donna Jeanne Haraway; Karin Harrasser; Katrin Solhdju Stay where the trouble is 2011 https://doi.org/10.25969/mediarep/2532 Veröffentlichungsversion / published version Zeitschriftenartikel / journal article Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Despret, Vinciane; Haraway, Donna Jeanne; Harrasser, Karin; Solhdju, Katrin: Stay where the trouble is. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft. Heft 4: Menschen und Andere, Jg. 3 (2011), Nr. 1, S. 92– 102. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/2532. Nutzungsbedingungen: Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (Keine Weiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt. Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares, persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung dieses Dokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt. 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You are not allowed to alter this document in any way, to copy it for public or commercial purposes, to exhibit the document in public, to perform, distribute, or otherwise use the document in public. By using this particular document, you accept the conditions of use stated above. V I N C I A N E D E S P R E T und D O N N A H A R AWAY im Gespräch mit K A R I N H A R R A S S E R und K AT R I N S O L H D J U stAy Where the trouBle is — Ein Gespräch über Begründungen und Probleme eines neues Mensch-Tier-Verhältnisses mit der Philosophin und Psychologin Vinciane Despret und der Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway im Rahmen des Kolloquiums «Ce que nous savons des animaux», Cerisy la Salle 2.– 9. Juli 2010. Dieses wurde von den Interviewpartnerinnen, Isabelle Stengers und dem Agronomen Raphaël Larrère konzipiert und durchgeführt. Es widmete sich der interdisziplinären Erforschung von Mensch-Tier-Beziehungen in der Ethologie, der Anthropologie, der Philosophie, den Geschichtswissenschaften und der Veterinärmedizin. 1 Die Ausstellung Bête es hommes fand von September 2007 bis Januar 2008 in der Grande Halle de la Villette à Paris statt. Vgl. den Ausstellungskatalog: Vinciane Despret, Jocelyne Porcher, Etre bête, Paris (Actes sud) 2007. K.h. Als Marie-Luise Angerer und ich das aktuelle Heft der Zeitschrift für Medienwissenschaft «Menschen & Andere» planten, wollten wir den Stand der Diskussion zur medialen Konstruktion unterschiedlicher ‹Anderer› ins Auge fassen: Die Herstellung von Geschlecht, von ethnisch differenten Subjekten, aber auch neuere Debatten zum Verhältnis von Tieren und Menschen interessierten uns. Das überraschende Resultat unseres Call for Papers war, dass 90 % aller Einreichungen sich mit Tieren beschäftigten. Warum gibt es derzeit ein so enormes Interesse am Tier in der Kultur- und Medientheorie? v.d. Diese Frage stelle ich mir seit Jahren immer wieder, eigentlich seit dem Moment, als mir bewusst wurde, dass es diese Konjunktur gibt. Ende der 80er Jahre oder in den frühen 90ern wurden mir diese Veränderungen bewusst. Als ich dann in La Villette eine Ausstellung über Mensch-Tier-Verhältnisse kuratierte,1 begann ich damit, mich für sämtliche Bereiche zu interessieren, in denen Tiere eine Rolle spielten. Es gab viel mehr Debatten als erwartet. Zum Beispiel der Umgang mit Bären in den Pyrenäen, dort gingen damals wirklich unglaubliche Dinge vor sich. Da stellt sich natürlich die Frage: Warum gibt es soziale Veränderungen? Dies ist für mich eine zu generelle Frage, sie ist zu weit gefasst und zudem sind wir selbst Teil des Prozesses. Und es wird wahrscheinlich die Aufgabe von HistorikerInnen sein, diese Frage irgendwann einmal zu 92 ZfM 4, 1/2011 beantworten. Worüber wir Aussagen machen können, sind die konkreten Veränderungen, die in unserer direkten Umgebung geschehen. Nun, da ich Anekdoten liebe: Es gibt eine Anekdote mit deren Hilfe ich die Frage nach der aktuellen Brisanz von Tieren vielleicht beantworten kann. Es geht um eine kleine Stadt in der Nähe von Lyon, die mich um Hilfe bat. Die örtlichen Behörden wurden von Anwohnern einer Wohngegend gebeten, einzugreifen. Es gab dort zu viele Krähen, vielmehr scheußliche Raben. Nein, keine Raben, eine Art Krähe. d.h. Saatkrähen oder etwas Ähnliches? v.d. Ich denke schon. Es gab also mindestens 500 Krähen, vielleicht mehr, die in einen verlassenen Garten eingefallen waren und dort ihr Umfeld absolut terrorisierten. Die Anwohner wandten sich an die Stadtverwaltung mit der Bitte, etwas zu unternehmen. Denn sie konnten weder ins öffentliche Schwimmbad gehen noch ihre Kinder draußen spielen lassen. Sie hatten Angst vor Krankheiten und dann war da noch dieser Lärm die ganze Zeit, dieser schreckliche Lärm, das Gekrächze der Krähen. Die Stadtverwaltung wollte nicht wirklich eingreifen und antwortete: Gut, dann schicken wir einen Jäger, denn diese furchtbaren Krähen stehen ja nicht unter Naturschutz. Aber die Anwohner antworteten: «Oh nein, sie können sie nicht umbringen!» Ich fand das wirklich interessant, denn noch vor zehn Jahren hätten die meisten Leute angesichts der Information «Wir schicken einen Jäger» gerufen: «Wunderbar!» Man fragte die AnwohnerInnen also, was sie stattdessen wollten, und sie sagten: «Wir möchten, dass Sie die Tiere zum Fortziehen bewegen; ein paar können bleiben, aber nicht alle, und wir wünschen uns eine schonende, eine höfliche Vorgehensweise».2 Das ist der Grund, warum ich eingeschaltet wurde. Schlussendlich fand man eine Lösung, die als «Aufscheuchen» bezeichnet wird. Zur Zeit der Brut wurden Falken und Bussarde gebracht – das war fantastisch. Sie haben die Krähen nicht getötet, sondern die Krähen wurden daran gehindert, ihre Eier auszubrüten. Die Gelege wurden also zerstört. Als die Falken und Bussarde wieder verschwanden, kehrten die Krähen zurück und fanden die zerstörten Gelege vor. Sie legten ca. drei Wochen später erneut Eier. Daraufhin wurden die Falken und Bussarde wieder geholt und es vollzog sich das Gleiche wie zuvor. Man wusste, sobald die Krähen verstehen, dass sie an diesem Ort keine Jungen großziehen können, ziehen sie fort. Ich finde jedenfalls, dass diese Geschichte bestens die angesprochene Veränderung in der Mensch-Tier-Beziehung beschreibt. Erstens: Es gibt geschützte Arten und ihr Schutz beeinflusst die Reaktion bezüglich anderer Arten. Als ob der Schutz der einen Art sich auf diejenige übertragen würde, die ihr ähnelt, und zwar obwohl die Anwohner wussten, dass die Saatkrähen nicht unter Naturschutz stehen. Der zweite Aspekt ist die Vorgehensweise, die verwendet wurde, nämlich Tieren die Arbeit zu übertragen, sie handeln zu lassen. Die Lösung eines Problems, das die Menschen mit einer 93 2 Praktiken der Höflichkeit spielen eine zentrale Rolle in Vinciane Desprets Denken. Sie versteht darunter eine Art und Weise etwa des wissenschaftlichen Umgangs mit Tieren, die nicht von den eigenen, menschlichen Interessen ausgeht. Gute, und das heißt höfliche, Fragen sind dann solche, die versuchen, sich an der Perspektive oder den Interessen eines konkreten Tieres auszurichten, anstatt die eigenen auf sie zu projizieren. Siehe dazu etwa Vinciane Despret, The Body We Care for. Figures of Anthropo-zoogenesis, in: Body and Society, 10. Jg., 6/2004, 111–134. VINCIANE DESPRET / DONNA HARAWAY | KARIN HARRASSER / KATRIN SOLHDJU Ines Lechleitner, Space Study – section 1–4, aus Puzzle Box, 2009 Art von Tieren hatten, wurde hier an andere, an Tiere, delegiert. Ich fand das außergewöhnlich. Ich dachte damals, dass sich hier ein Wandel vollzieht, dass man begriff, dass man mit Tieren nicht nur interagieren kann, sondern dass man sie wirklich einbeziehen, mit ihnen zusammenarbeiten kann. Man wurde also erfinderischer, imaginativer. d.h. Wir können uns mit bestimmten Tieren verbünden, um anderen Tieren etwas mitzuteilen. v.d. Genau. Das ist eine der Veränderungen, die sich bei uns gerade vollzieht. Die Tiere werden also Akteure, die Bussarde und Falken werden Partner in einer Beziehung, mit den Bewohnern gemeinsam tragen sie Sorge und die Art und Weise, in der die Krähen hier behandelt wurden, könnte man beinahe als diplomatisch beschreiben. Es geht also darum, auf welche Art und Weise ich den Krähen etwas zu verstehen gebe: Wir wollen euch loswerden, aber uns ist nicht egal, auf welche Art und Weise. Schon vorher dachte ich: Ich wünschte, wir würden zu den mittelalterlichen Tierprozessen zurückkehren, denn ich fand, die Art und Weise, in der man sich in diesen zu den Tieren ins Verhältnis setzte, war adäquat. Und dann, etwa in Lyon, stellte ich fest: Unsere heutige Herangehensweise ähnelt ihr wieder. Das heißt, dass Tiere eine andere Identität haben, dass sie zu Wesen werden, die nicht nur bloße Objekte sind. Denn wir sind gerade dabei, ihre Handlungsfähigkeit zu multiplizieren und gleichzeitig verändert sich damit die Sorge, das, was auf dem Spiel steht, selbst. Man kann sich nun fragen, warum diese Sorge gerade jetzt? Es gibt hier eine Standardantwort, die lautet: Weil wir spüren, dass wir zerbrechlich sind, weil wir spüren, dass wir verletzlich sind, und weil die Wissenschaften gute Arbeit geleistet haben: Weil wir dank der WissenschaftlerInnen Tiere besser kennengelernt haben. Beispielsweise Jane Goodall und ihre Schimpansen. Der National Geographic hat – wie du gezeigt hast Donna – fantastische Arbeit darin geleistet, den lokalen Fall der Schimpansen zu Allgemeinwissen zu machen. Damit hat sich auch ein Nachdenken darüber verbreitet, dass das, was mit den Schimpansen passiert, auch anderen – wiederum lokalen – Arten passieren könnte. Das ist für den Anfang eine kleine Teilantwort. d.h. Hätte das Ganze in den Vereinigten Staaten stattgefunden, hätte es passie- ren können, dass die AbtreibungsgegnerInnen gesagt hätten: Es ist verboten, Eier zu töten. Ernsthaft: Eine solche Position könnten Pro-Life-Leute tatsächlich einnehmen. Es ist eines der Dinge, die mir an der Formulierung mancher 94 ZfM 4, 1/2011 STAY WHERE THE TROUBLE IS Tierrechtspositionen Sorge bereitet: Wenn sie Pro-Lebens-Positionen werden, wenn das Leben selbst zum einzig Wichtigen wird, kann der Tod nicht mehr Teil des Lebens sein, noch weniger das Töten. Differenzen, Kontingenzen, Partikularitäten verschiedener Lebenssituationen und -zeiten gehen damit verloren; auch die Differenzen zwischen Pflanzen, Tieren und Mikroben verlieren sich. Und dabei verliert man sich schnell in einem Diskurs des Lebens, der ein höchst abstrakter ist und – in meiner Sicht – ein genozidaler, einer, der fatalen faschistischen Diskursen, die ja ebenfalls Lebensdiskurse sind, zu sehr ähnelt. Aber das ist eine andere Frage. v.d. Nein, das ist keine andere Frage: Das ist das Risiko einer Ausweitung der Sorge in eine abstrakte Idee der Sorge, die nichts mehr mit dem Konkreten zu tun hat. d.h. Und es ist eine Extension, die uns von der Kontingenz einer Sache entlas- tet, die in Wirklichkeit keine finale Lösung hat. Es ist das Gegenteil dessen, was Isabelle Stengers «Kosmopolitik» 3 nennt. Kosmopolitik verstehe ich als eine Bemühung um Diplomatie, ein Bemühen, um miteinander weiterzukommen. Es gibt einen australischen Ausdruck dafür: Getting on together. Man muss eine Möglichkeit des gemeinsamen Weiterkommens finden, die ohne totale Harmonie auskommt, ein Weitertun, in dem Leben, Sterben, Leben-Hervorbringen und Töten Teil des Knotens sind, an dem man selber teilhat. v.d. Ich glaube, dass die Verallgemeinerung der Sorge, ihr Abstraktwerden, ge- nau das Risiko ist: Das ist der Punkt, an dem wir anfangen, eine unschuldige Position einzunehmen, an dem wir anfangen, die totale Unschuld zu suchen. d.h. Die Idee der Unschuld war zu früheren Zeiten sehr wichtig für mich. Ich fühlte eine große Notwendigkeit, ein gutes Mädchen zu sein, unschuldig zu sein, eine gute Katholikin zu sein. Ich hatte dermaßen Panik, im Zustand der Sünde zu sein, dass es einen Priester brauchte, meinen Beichtvater, mit dem ich als Teenager viele Gespräche führte, um mir klar zu machen, dass diese Position eine große Gefahr birgt. Er war ein Jesuit, der selbst viele Schwierigkeiten und Zweifel hatte und damit kämpfte, seinen Katholizismus aufrechtzuerhalten. Er sagte mir letztlich, dass ich so damit beschäftigt sei, ohne Sünde zu bleiben, dass ich völlig unverantwortlich, selbstzentriert und narzisstisch wäre, und dass dieses Begehren, von den Komplexitäten der Welt und normalen Verpflichtungen abstrahiert zu leben, eine viel größere Sünde sei als alles, was man 95 3 Isabelle Stengers, Cosmopolitics I, Minneapolis, London (University of Minnesota Press) 2010, übers. v. Robert Bonnono. VINCIANE DESPRET / DONNA HARAWAY | KARIN HARRASSER / KATRIN SOLHDJU als aktive Sünde begehen könnte. Der Wunsch, rein und unschuldig zu sein, hat mich davon abgehalten, ernsthaft zu leben. K.h. Es gibt also einen systematischen Zusammenhang zwischen einem Begeh- 4 Rachel Carson war eine USamerikanische Biologin, Zoologin und Wissenschaftsjournalistin, deren populärwissenschaftliche Bücher (z. B. über die Auswirkung von Pestiziden auf Ökosysteme) in den 50er und 60er Jahren als Ausgangspunkt der Umweltbewegung gesehen werden. ren nach Unschuld und der Verteidigung des Lebens als abstraktem Konzept? d.h. Ja, das würde ich so sehen. Leben und Sterben sind eine ganz andere Sache als «das Leben» als abstraktes Konzept. Und es ist auch etwas anderes, als miteinander zu leben und zu sterben, wissend, dass man mitverantwortlich für das Leben und Sterben anderer ist. Es gibt nämlich keine Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen und dabei rein zu bleiben. Man kann das vergessen, man kann das verleugnen, aber die Praktiken selbst ziehen uns in «schuldhafte» Zusammenhänge hinein, ob man es will oder nicht. Also kann man doch gleich versuchen, so gut mit anderen zusammenzuleben, wie man eben kann. Aber die Frage, warum die Tiere jetzt von so großem Interesse sind, ist wichtig. Zuerst muss man sagen, dass dieses Jetzt ein sehr langes ist. Ich denke, es ist ein erweitertes Jetzt eines globalen Post-Zweiten-Weltkriegs-Moments. Es ist der erweiterte Moment einer Situation der extremen Industrialisierung der Agrikultur in globalem Maßstab, die wiederum Ausdruck extremer Anstrengungen ist, eine immer größere Population der Erde im Namen einer «Ökologie» zu managen. Sowohl die Rate des Aussterbens von Gattungen als auch der Grad, in dem man nicht länger so tun kann, als wüsste man von alldem nichts, sind ebenfalls Teil dieses Moments. Und natürlich sind viele kleine Geschichten Teil dieser Transformation: Zum Beispiel Rachel Carsons 4 Geschichten, die in der Phase atomarer und chemischer Verschmutzung zu sehr populärem Wissen wurden. Und dann gibt es natürlich die Geschichten meiner kleinen Welt, die ich Dog-Land nenne. Ich lebe in Dog-Land, in einem Science-Fiction-Territorium. Draußen auf den westlichen Ranchen ist es zum Beispiel als Resultat der ökologischen Bewegung und ihrer Kämpfe unmöglich geworden, Strychnin oder Gifte zu verwenden, um Kojoten oder andere Räuber zu töten. Daher wurde es notwendig, die Herden mit nicht-lethalen Methoden zu bewachen. So wurden Herdenschutzhunde, die davor Teil einer Tiershow-Kultur gewesen waren, wieder in ihren ‹alten› Arbeitsplatz auf der Weide eingeführt. Davor gab es diese erstaunlichen Frauen, die ihre Hunde in Hunde-Shows zeigten, und nun mussten sie mit den Ranchern arbeiten, um den Hunden ihre Arbeit beizubringen. Die Hunde mussten Dinge lernen, die sie seit Generationen nicht mehr getan hatten: Schafe hüten und sie vor Kojoten schützen. Die Geschichte erinnert ein wenig 96 ZfM 4, 1/2011 STAY WHERE THE TROUBLE IS an die von Vinciane: Hol die Bussarde, um die Krähen zu vertreiben. Die Hunde sind immer noch dabei, ihren Job wiederzuerlernen, und klarerweise kann es nie wieder so werden, wie es einmal war. Man kann niemals eine Fantasie der Vergangenheit wiederherstellen. Aber es ist möglich, sich Fähigkeiten wiederanzueignen, es ist möglich, Verbindungen mit einem Wissen einzugehen, das zum Teil verloren, aber partiell noch vorhanden ist. Man kann dann auch neue Dinge hinzufügen, also neue Fähigkeiten und Wissensformen, die es davor nicht gab. Auch und gerade in Bezug auf diese Hunde: Sie leben jetzt in Ökologien, die nicht die Ökologien sind, in denen sie in früheren Zeiten ihrer Arbeit nachgegangen sind. Für mich ist dieses Jetzt deshalb die Epoche der Postindustrialisierung: Es ist der Moment, als evident wurde – aufgrund der Gefahr der Ausrottung ganzer Arten, aufgrund einer apokalyptischen Vision der ökologischen Zukunft –, dass es nicht darum geht, zwischen Natur und Kultur zu entscheiden, sondern dass Natur und Kultur immer schon gemischt waren. Wie Bruno Latour sagt: Wir sind nie modern gewesen. Ich habe ein Engagement für und in diesem Science-Fiction-Ort Dog-Land statt der Apokalypse für mich gewählt, denn der Genuss der Apokalypse ähnelt zu sehr meiner eigenen Mission, rein zu bleiben. Eine apokalyptische Interpretation der Gegenwart dient der Entlastung von Handlungsdruck, sie ist ein Mittel, um die Notwendigkeit, irgendetwas zu tun, loszuwerden. Ich ziehe das Gegenteil vor: Unreine Versuche des Weltlich-Werdens, der gemeinsamen Herstellung von Welt. K.s. Mir leuchtet der von euch verfolgte Ansatz sehr ein, den ich in einem doppelten Sinn verstehe: Erstens das Erzählen von Anekdoten als Ausgangspunkt, um die Reichhaltigkeit von Wissensformen als eine Politik des Wissens zu betreiben. d.h. Es sind keine Anekdoten, das hat den merkwürdigen Geschmack des Irrelevanten. Wir erzählen Geschichten. v.d. Auch im Sinn von Geschichte natürlich: Geschichten, die geschichtlich sind. K.s. Es geht also darum, Geschichten über eine Vielfalt konkreter Situationen und Praktiken zu erzählen. Das verstehe ich als eine Gegenstrategie zur Präsentation von abstraktem, wissenschaftlichem Wissen. Und das zweite Thema ist die Idee einer Ethik der Bezogenheiten, der Relais. Auf den ersten 97 VINCIANE DESPRET / DONNA HARAWAY | KARIN HARRASSER / KATRIN SOLHDJU Ines Lechleitner, Photographic Spaces – section 1–4, aus Puzzle Box, 2009 5 Alice J. Hovorka, Transspecies Urban Theory: Chickens in an African City, in: Cultural Geographies, Heft 1, 15. Jg., 2008, 119–141. Blick sieht das nach einem lokalen, kleinen Projekt aus. Wie ist es möglich, diese Art des Denkens ‹hochzuskalieren›, und damit auch Institutionen oder gesellschaftliche Regulierungen zu befragen, oder ist das vielleicht so gar nicht nötig? Anders gefragt: Wo ist das Politische zu verorten? d.h. Ich kann gar nicht sehen, wie all das nicht politisch wäre. Wer sagt uns, welche Skala die politische ist. Wenn man über das nachdenkt, was Alice Hovorka «transspecies urban theory» 5 nennt, einen Begriff, den sie aus ihren Feldstudien über Hühnerbäuerinnen in Botswana entwickelte, wird klar, dass das Lokale, ja selbst das Individuelle, stets mit dem Globalen in Beziehung steht. Lokales Wissen und lokale Praktiken stehen in unmittelbarem Austausch mit globalen Warenströmen. Man würde sich auch schwer tun, die Schlachtpraktiken in Kairo nicht mit religiösen Fragen und globalen Strömen von Waren und Daten in Zusammenhang zu bringen. Das Lokale, Religion, Ethik, Ökonomie usw. sind auf so enge Art und Weise miteinander verflochten, dass es schwer wäre, diesen Zusammenhang aufzudröseln. Darum werde ich wütend, wenn jemand nicht akzeptiert, dass die vielfältigen, verflochtenen Wissensformen und Praktiken, die mit Tieren zu tun haben politisch sind. Wenn man die Verhältnisse und Verantwortlichkeiten ernst nimmt, die sich aus den Verflechtungen ergeben, dann wird es politisch. Das ist es, was ich «Leben und Sterben in (der) Humanimalität» nenne. Wenn man die Dichte der Verflechtungen ernst nimmt, dann gibt es kein Zurück zu einem reinen, unpolitischen, unvergesellschafteten, machtfreien Naturzustand, sondern nur ein Hin zu einer gemeinsamen Produktion von Welt, zu einer Verantwortung, die sich aus der Etablierung einer Beziehung ergibt. Darum geht es für mich: Die Dichte der Interaktionen anzuerkennen, um Möglichkeiten des Weitermachens im Angesicht des möglichen Verlusts, der Ausrottung zu schaffen. Man kann hier auch an die Koevolution von Mikroorganismen und meiner Haut denken. Sind es sie oder bin ich es, ist es Natur oder Kultur, nah oder fern? Wir sind bis hinunter zur Ebene unserer Haut immer auch Teil einer Geschichte des Austauschs, der Kolonisierung, der Ernährungssysteme, einer Geschichte der Verkehrssysteme. Und wer hat die Trennung von Politik und einem «gemeinen» Sozialen überhaupt produziert? Bruno Latour hat recht, wenn er sagt, dass die Trennung des Sozialen und des Politischen neu bewertet werden muss. Aber ich glaube, er könnte hierzu auch etwas feministische Forschung gut brauchen: Die Feministinnen wissen viel über die materiellen Praxen der Sorge, die spezifische Wissensformen sind, aber Wissensformen, 98 ZfM 4, 1/2011 STAY WHERE THE TROUBLE IS die sich ziemlich von wissenschaftlichem Wissen unterscheiden, mit dem sich Bruno Latour fast ausschließlich beschäftigt. K.h. Eine andere Sache, die mir für ein politisches Selbstverständnis ebenfalls wichtig scheint, ist, dass es nicht immer nur darum geht, wie man zusammen lebt, dass man gut zusammenlebt, dass man Gesellschaft macht, sondern auch darum, wie man Dissens zulassen kann. Politik kann auch heißen, sich dafür zu entscheiden, nicht teilzuhaben, nicht sozial zu sein. Wie verträgt sich so eine Vorstellung von Politik mit dem Projekt des «Lebens und Sterbens in (der) Humanimalität»? d.h. Das ist ein wichtiger Punkt. Wir drei – Vinciane Despret, Isabelle Stengers und ich – haben uns dem Thema von verschiedenen Seiten genähert. Vinciane hat sich damit beschäftigt, wie wechselseitiges Interesse und Desinteresse die Kommunikation zwischen Tier und ForscherIn in der Ethologie organisieren. Das ist ein Verhältnis, das wichtiger ist als das Vorführen von Konsens. v.d. Das ist eigentlich eine pragmatische Frage, d. h. eine Frage, die einlädt, die Konsequenzen zu verfolgen, sämtliche Konsequenzen, sowohl aus der Antwort auf die Frage als auch aus der Tatsache, dass die Frage überhaupt gestellt wird. Und diese Frage ist zugleich epistemologisch, ethisch und ästhetisch; ästhetisch ist sie in dem Maße, wie sich die Stile des Forschens, des Fragens und auch die Stile der Tiere entfalten. Warum kann eine Frage, weil sie sich eignet, Tiere zu interessieren, diese interessant werden lassen? Und warum wird ein/e ForscherIn interessant, dem/der es gelingt, ein Tier zu interessieren, sodass es eine interessante Version seiner selbst entstehen lassen kann, was wiederum politische Konsequenzen hat; ein Tier, das in der Lage ist, ein noch nicht benanntes Kollektiv aus WissenschaftlerInnen, anderen Leuten und in manchen Fällen auch anderen Tieren dafür zu interessieren, auf eine bessere Art zu forschen. Wenn Thelma Rowell ein Dispositiv entwickelt, das Schafe interessant macht, führt das dazu, dass auch andere Tiere durch die Vermittlung ihrer ErforscherInnen hindurch beginnen, sich für Schafe zu interessieren. Oder anders ausgedrückt, indem es Rowell gelang, die Schafe eine interessante Version ihrer selbst herstellen zu lassen, brachte sie gemeinsam mit ihnen andere ForscherInnen dazu, sich zu sagen, schau an, meine Schweine oder meine Kühe oder meine Hühner (um die großen Benachteiligten der Ethologie zu nennen) könnten auch interessant werden, wenn ich das Dispositiv, die Art der Fragestellung verändere. Das wechselseitige Interesse ist also in Wirklichkeit kein gegenseitiges 99 VINCIANE DESPRET / DONNA HARAWAY | KARIN HARRASSER / KATRIN SOLHDJU Interesse, auf gar keinen Fall ein symmetrisches Interesse. Es sind Konstruktionen, Anordnungen, die bewirken, dass verschiedene Interessen – in bestimmter Hinsicht – konvergieren, sich verbünden, verweben und dabei gleichzeitig vollkommen auseinanderlaufen und diese Divergenz beibehalten. Teilinteressen, in gewisser Weise, wobei das Talent der darin verwickelten WissenschaftlerInnen und Tiere bewirkt, dass sie sich aufeinander einstimmen. d.h. Auch für Isabelle Stenger ist der Wunsch, nicht inkludiert zu werden, zen- tral. Die Bartleby-Geste – «inkludiere mich nicht» – ist für ihr Konzept der Kosmopolitik wichtig. Kosmopolitik in Fragen des Wissens in ihrem Sinn ist es, einem Köder des Interesses, der Neugier zu folgen, aber dabei der Bitte, nicht inkludiert zu werden, Folge zu leisten. Für meinen Teil mag ich die Formulierung: «Stay where the trouble is». Das scheint mir insbesondere deshalb wichtig zu sein, da ich eine Bürgerin einer der reichsten Nationen der Erde bin, ich bin zudem Teil einer wissenschaftlichen Elite und ich möchte mich deshalb mit meiner eigenen Involviertheit mit den Dingen beschäftigen. Das heißt auch, dass ich lieber Treue zu konfliktreichen Positionen bewahre, anstatt sie für eine ethisch unangreifbare Position einzutauschen. Deshalb interessiere ich mich für all die Fälle, wo Tiere sterben müssen, damit wir leben können, oder auch z. B. für die Indienstnahme von Tieren in der Krankenpflege, für die Hunde, die mit alten Menschen oder kranken Kindern arbeiten: Sie müssen sich einem rigorosen Training unterziehen und viele von ihnen fallen bei den Prüfungen durch. Die Arbeit selbst ist ebenfalls sehr hart. Die Hunde müssen sich wirklich engagieren, sie müssen trainieren und an all den Situationen und Prozessen interessiert sein, die es ihnen ermöglichen, im Krankenhaus zu arbeiten. All das ist natürlich Hightech: Man muss sich nur vor Augen halten, durch welche Hygieneprozeduren die Hunde gehen müssen, um zu arbeiten. v.d. Und natürlich sind all diese Situationen immer manipuliert. Jede experi- mentelle Situation, die Tiere arbeiten lässt/funktionieren lässt (orig.: to make animals work), muss deren Interessen manipulieren. d.h. Ja, und das ist nicht einfach nur ‹schlecht›, sondern das ist in jeder sozialen Situation der Fall: Wenn ich Leute zum Abendessen einlade, manipuliere ich ihre Bereitschaft zum Konsens. Das Gleiche passiert in jeder Lehrsituation. In jedem Klassenzimmer etablieren wir eine riskante Situation, die gerade genug 100 ZfM 4, 1/2011 STAY WHERE THE TROUBLE IS Platz für Dissens macht; und das ist immer eine manipulative Situation. Wir kreieren riskante Situationen, aber nicht zu riskante. Das Gleiche sollten wir für Tiere tun: Die Anerkennung der Möglichkeit, dass sie Widerstand leisten, dass sie nicht Willens sind zu kooperieren, dass sie Dissens zeigen, muss einen Raum bekommen. Das ist sehr nahe dran an Isabelle Stengers Denken und ist eine Alternative zu abstrakten Modellen dessen, was in der ‹Natur› der Tiere liege. Beim Thema Dressur kann man das beobachten, denn das Thema Konsens ist hier grenzwertig: Entweder macht das Pferd mit oder es ist nicht Teil des Spiels, es muss vielleicht sogar sterben. Aber was die Dressur für mich rettet, ist der Umstand, dass es immer um das individuelle Pferd geht. Das Thema Konsens ist mit so vielen Lebewesen schwierig: Wenn ich für Abtreibung bin, bin ich nicht dafür, weil der Embryo kein Lebewesen ist. Im Gegenteil: Er ist ein Lebewesen, das keine Möglichkeit hat, Konsens zu zeigen. Ich bin aber für das Recht auf Abtreibung, weil ich eine konkrete Situation sehe und eine ganze Reihe von Entitäten, die alle keine habermasianischen Subjekte sind – im starken Sinn von «autonomen» Subjekten. Es ist die konkrete Situation und nicht Leben als abstrakte Idee, die den Knoten schnürt. Es ist übrigens ein interessantes Faktum, dass laut Statistik Pro-Life-Leute genauso häufig abtreiben wie diejenigen, die für ein Recht auf Abtreibung sind. K.h. Mir scheint, dass das Konzept eines souveränen, voluntaristischen Subjekts als Basis für Sozialität und Politik durch genau solche unentscheidbaren Entscheidungsfragen immer noch und immer wieder aufs Neue herausgefordert wird und dass damit – neben anderen Dingen – auch das aktuelle Interesse an Tieren korreliert. Vinciane, du hast kürzlich explizit davon gesprochen, dass das Interesse an einem «Wissen mit dem Tier» dem Konzept eines «habermasianischen Tiers» entgegengesetzt wäre. Was meint das alles? d.h. Wir müssen uns zu Tieren auf eine andere Art und Weise verhalten, weil wir sonst immer noch Teil einer problematischen und gefährlichen Geschichte der Inklusion derer, die sich wohl verhalten, bleiben, einer Geschichte derer, die erfolgreich performen, dass sie verstehen, die zeigen, dass sie einverstanden sind. Das ist ein Prozess, in dessen Verlauf Schritt für Schritt Sklaven, Frauen, Kinder und Geisteskranke als Subjekte von Recht und Politik akzeptiert wurden. Aber was ist mit den Existenzweisen, die keinen Platz in dieser habermasianischen Auffassung von Politik haben? Was ist mit den Entitäten, die nicht auf der Basis ihrer Fähigkeit zu verstehen und einverstanden zu sein, inkludiert werden können? 101 VINCIANE DESPRET / DONNA HARAWAY | KARIN HARRASSER / KATRIN SOLHDJU v.d. Es gibt keine habermasianischen Tiere, aber Tiere sind Teil der Gesell- schaft. Wie macht man Gesellschaft in einer Welt, die kein Einverständnis verlangt? Wie verhält man sich, wenn man Rücksicht darauf nehmen möchte, dass Tiere zeigen können, dass sie nicht einverstanden sind? Wie verhält man sich, um aus dieser widersprüchlichen Situation wieder herauszukommen? Man kann sich nicht auf ein Einverständnis stützen, denn das würde zu einer unmöglichen Haltung führen; gleichzeitig aber gilt es, auf die Gelegenheiten zu achten, bei denen dieses oder jenes Tier in einer bestimmten Situation darauf besteht, dass es nicht einverstanden ist. Mit anderen Worten, das Einverständnis und NichtEinverstandensein sind nicht symmetrisch. Es handelt sich vielmehr um zwei Situationen, die jede für sich verdient, in ihrer Verschiedenheit wahrgenommen zu werden. Antworten, die für die eine gültig sind, gelten für die andere nicht. Ich glaube, wozu Donna uns auffordert, ist, dass wir den Begriff des Einverständnisses von Grund auf überdenken und dass wir uns nicht mehr nach dem Komfort sehnen, den Situationen des Einverständnisses bieten können. Diesem Einverständnis geht in der habermasianischen Situation, unter dem Vorwand einzuschließen, ein Ausschluss voraus, von dem man nicht spricht. Es gilt zu überdenken, was Konsens heißt, nicht als Bedingung eines Prozesses, sondern als Ergebnis eines langsamen, chaotischen, interessierten, nicht unschuldigen Prozesses, dessen integraler Bestandteil die Manipulation ist. — 102 Transkription und Übersetzung: Karin Harrasser, Heidrun Hertell, Maren Mildner, Katrin Solhdju ZfM 4, 1/2011