Ich hab gelebt: Erinnerungen
Von Jazz Gitti und Martin R. Niederauer
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Buchvorschau
Ich hab gelebt - Jazz Gitti
AUFTAKT
13. Mai 1977. Wiener Stadthalle: Die Göttin des Jazz, Ella Fitzgerald, kam auf die Bühne, griff zum Mikrofon und sprach: „Gibt es hier eine Jazz-Lady mit dem Namen Tschitti im Saal? Hallo Tschitti? Ein Vogerl hat mir gezwitschert, dass heute dein Geburtstag ist. Ich wünsche dir daher von Herzen alles Gute und ein glückliches Leben! Zuerst reagierte ich nicht, weil ich meinen Namen nicht verstanden hatte, bis mich eine Freundin stupste: „Gitti, die meint dich!
Es vergingen einige Minuten, bis ich realisierte, was gerade geschehen war. Mein Idol Ella Fitzgerald gratulierte mir höchstpersönlich zum 31. Geburtstag.
• • •
Wenn mir damals einer erzählt hätte, ich, Martha Butbul, würde zwei Jahrzehnte später als „Jazz Gitti" in der ausverkauften Wiener Stadthalle ein Konzert geben, den hätte ich stante pede für verrückt erklärt. Ich war 16 Jahre alt, als ich Ella das erste Mal aus der Musikbox im Kaffeehaus meines Vaters hörte, und sie begleitete mich ein Leben lang – in guten wie in schlechten Zeiten. So manche Lebenskrise hätte ich nicht meistern können, wenn sie mir mit ihrer Stimme nicht beigestanden und mir Mut gegeben hätte. Ich erinnere mich an diesen Konzertbesuch, als ob es gestern gewesen wäre, und ich bin überzeugt davon, dass Ella über mein Leben immer eine schützende Hand gehalten hat.
Im Erscheinungsjahr dieses Buches begehe ich mein 30-jähriges Bühnenjubiläum und keinen einzigen Tag dieser 30 Jahre möchte ich missen. Wenn ich als Geschäftsfrau nicht pleitegegangen wäre, dann wäre ich nicht im Showbiz gelandet und hätte nicht meine wahre Berufung als Entertainerin gefunden. Ich lebe dafür, Menschen zu unterhalten, egal, ob ich vor einem Dutzend auftrete oder in einem Stadion vor 12.000 Menschen singe. Ich gebe immer mein Bestes!
Mein Leben mag von außen betrachtet wie eine Achterbahn-Fahrt erscheinen: Geprägt hat mich der frühe Tod meiner Mutter. Sie hat mir nicht nur unendlich viel Liebe, sondern auch eine solide Basis für mein Leben mitgegeben, so dass ich nicht auf die schiefe Bahn geraten bin. Geprägt hat mich auch mein Leben in Israel. Zehn Jahre verbrachte ich dort und durchlebte entsetzliche, aber auch sehr schöne Stunden. In Israel habe ich den Blues kennengelernt und musste erwachsen werden. Und geprägt hat mich die Geburt meiner Tochter Shlomit.
Als kleines Kind war ich ein verwöhnter Fratz, später ein bunter Paradiesvogel. Als ich meine Tochter das erste Mal im Arm hielt, wusste ich: Es ist jetzt Zeit, Verantwortung zu übernehmen. Und das tat ich auch. Als sie dann ihr eigenes Leben zu leben begann, durfte ich wieder der Paradiesvogel sein – und das bin ich bis heute gern.
Ich habe es mir nicht ausgesucht, im Mittelpunkt zu stehen, es hat sich in meinem Leben so ergeben. Ich gehöre nicht zu den diplomatischen Vertretern der Menschheit und habe sicherlich mein Herz zu lange viel zu offen auf der Zunge getragen. Aber ich habe dazugelernt! Auch wenn manche immer noch behaupten, für die Jazz Gitti würde man eine Gebrauchsanweisung benötigen.
Ich begann in jungen Jahren als Kellnerin zu arbeiten, erkannte aber bald, dass man in diesem Beruf nicht alt werden darf. Daher machte ich mich selbständig und schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: Ich verband meine Liebe zum Jazz mit der Gastronomie. Denn ich war eine Wirtin mit Leib und Seele. Eine Wirtin, die gern mal auch selbst das Mikrofon in die Hand nahm und ein Ständchen zum Besten gab.
So gut wie alle heute bekannten Größen des Austropop waren in meinen Lokalen zu Gast, und als ich professionell mit dem Singen anfing, gab es zwar viel Zuspruch, aber auch so manche Kritik. Dass ich mit Singen und Unterhalten meine wahre Berufung finden und diesen Beruf auch noch 30 Jahre später ausüben würde, konnte ich mir zu Beginn meiner Karriere überhaupt nicht vorstellen – und viele trauten es mir bestimmt nicht zu.
Immer wieder werde ich gefragt, ob mich der Erfolg verändert habe. „Mich nicht, lautet meine Antwort stets. „Aber die anderen schon!
Warum das so ist, will ich mit meiner Lebensgeschichte erzählen.
MISCHPOCHE
März 1941. Wiener Franz-Josefs-Bahnhof. Schwerfällig setzte sich der Deportationszug in Bewegung und rollte stotternd aus dem Bahnhof in Richtung Polen. Ein letztes Mal konnte meine Großmutter durch einen schmalen Schlitz in der Bretterverkleidung des Wagons einen Blick auf ihr geliebtes Wien erhaschen und drückte ihren jüngsten Sohn Mani fest an sich. Es war das letzte Mal, dass die Familie meiner Mutter eine Familie war.
• • •
Um mich, die Jazz Gitti, kennenzulernen und ein wenig besser zu verstehen, sollte man auch etwas über die Geschichte meiner Familie erfahren. Meine Eltern waren durch und durch echte Wiener. Beide Familien kamen ursprünglich aus den Kronländern und der Vater wie auch die Mutter waren stark von ihrer familiären Herkunft geprägt. Aber Wien war ihre Heimat und ist auch heute noch mein Zuhause.
Die Verwandtschaft meiner Mutter stammte ursprünglich aus Galizien, genauer aus Westgalizien im heutigen Polen, das bis zum Ende der Monarchie ein Kronland war. Mein Urgroßvater, erzählte meine Mutter, war eine Art Hilfs-Rabbiner. Seine Brüder waren Kantoren, also Tempelsänger, und müssen für ihre Zeit recht ausgeflippte Typen gewesen sein. Mein Talent für die Bühne und meine lustige Wesensart kommen also nicht von ungefähr.
Mein Urgroßvater, Abraham Prober, hatte eine Tochter mit dem Namen Fanny, auf Jiddisch Feige. Sie war eine beachtenswert schöne Frau, hatte jedoch einen schlimmen körperlichen Makel, nämlich Klumpfüße. Daher wurde ein für die damalige Zeit üblicher Shidduch (eine jüdische Heiratsvermittlung) abgehalten, um die „behinderte" Tochter möglichst schnell unter die Haube zu bringen und zu versorgen. Diese arrangierte Ehe entpuppte sich als totales Desaster und meine Großmutter wollte nur weg aus dem galizischen Schtetl. Irgendwie gelang es ihr, die Ketubba, das heißt den jüdischen Heiratsvertrag, aufzulösen. Nach der Scheidung nahm sie ihren Sohn, meinen Onkel Bela, und kam 1910 als geschiedene Frau, sie hieß nun Feige Gold, nach Wien.
Sie hauste im neunten Bezirk in der Canisiusgasse und lebte von der Hand in den Mund, bis sie einen orthodoxen ungarischen Juden kennenlernte und nach jüdischem Gesetz heiratete. Meine Großmutter war eine fromme Frau und ein nicht frommer Jude wäre für sie als Ehemann nie in Frage gekommen. Mein Großvater machte ihr drei Kinder, den Emil, meine Mutter Frida, geboren 1918, und den Mani. Dann seilte er sich ab, zog nach Frankreich und zeugte dort angeblich 18 weitere Kinder. Gesehen oder gehört hat meine Mutter nie wieder von ihm.
So saß meine Großmutter nun mit ihren Klumpfüßen, vier Kindern und ohne geregeltes Einkommen in dieser Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung und hielt sich mit Näharbeiten und halb illegalem Handel einigermaßen über Wasser. Meine Mutter und ihre Geschwister waren sehr arme Kinder. Nur die Lebensmittelpakete der Tante Gitti aus Russland linderten oft die größte Not.
Die Familie meines Vaters stammte ursprünglich aus Jugoslawien, ich glaube aus Serbien. Mein Urgroßvater kam mit zwölf Brüdern irgendwann Ende des 19. Jahrhunderts nach Österreich, heiratete eine Frau aus Mähren und arbeitete für die Eisenbahn. Sie hatten vier Kinder: meine Großmutter Angela und meine Großtante Lieserl sowie noch zwei weitere Geschwister.
1916 kam mein Vater als lediges Kind auf die Welt, für die damalige Zeit eine große Schande für die Familie. Um Schadensbegrenzung bemüht und vor allem, um noch weiteres Unheil abzuwenden, steckte mein Urgroßvater seine beiden Töchter kurzerhand in ein Kloster. Dort lernten sie auch einen Beruf als Weißnäherinnen.
Mein Vater wuchs bis zu seinem sechsten Lebensjahr bei seinen Großeltern auf und diese Zeit prägte ihn ein Leben lang. Im Haus der Großeltern wurde Serbokroatisch gesprochen, es herrschte eine strenge Hand und früh schon musste er mit anpacken. Als er ungefähr sechs Jahre alt war, heiratete seine Mutter und nahm ihren Sohn zu sich. „Schwimmen hab ich g’lernt, weil mich der Opa g’packt und in die Donau g’schmissen hat", erzählte der Vater manchmal aus seiner Kindheit. Oder wie er als Volksschulkind einmal heimlich eine Virginia-Zigarre des Großvaters zu rauchen probierte und wegen der ungewohnten Wirkung schleunigst das Klo aufsuchen musste. Ein paar Ohrfeigen gab es als Strafe noch obendrein.
Meine Mutter erzählte nicht gern von ihrer Kindheit. Es waren harte Zeiten und an die erinnert man sich eben nicht so gern. Die vier Kinder meiner Großmutter mütterlicherseits waren richtige Düsen, wie man heute sagen würde. Besonders eng war das Verhältnis zwischen meiner Mutter und ihrem Bruder Emil.
Ihm gelang während der Nazi-Verfolgung über Tschechien die Flucht nach Israel. Nach Österreich fuhr er in seinem Leben nie wieder, nicht einmal zur Beerdigung meiner Mutter, also seiner Schwester, und auch nicht zur Sponsion seines Sohnes, der in Wien studierte. Emil lebte in Israel seiner Ehefrau Rifka zuliebe koscher. Aber auf die „Polnische", auf die Krakauer-Wurst, verzichtete er nur ungern.
Später erzählte er mir manchmal Geschichten aus den gemeinsamen Kindheitstagen mit meiner Mutter: Oft spielte er mit ihr im Hof des Wohnhauses und hoffte, wie damals üblich, von den Nachbarn ein paar Naschereien zu ergattern: „Dann hat deine Mama wieder in der Nas’n bohrt und den Nasenrammel g’fressen. Und bekommen haben wir nix! Auch musste Onkel Emil seiner kleinen Schwester immer beim Anziehen und Baden helfen. „Als es für mich dann interessant wurde, hab ich ihr nimma zur Hand gehn dürfen.
Mein Vater, Ferry, eigentlich Ferdinand, war schon als Kind ein Autonarr und hoffte, als Jugendlicher einen Ausbildungsplatz zum Automechaniker zu finden. Nur war er körperlich zu schwach. „Du kannst ja ned einmal die Werkzeugkiste schleppen", soll der Meister gesagt haben. Das war ihm Ansporn genug, ins Box-Training zu gehen, und aus dem Spargel-Tarzan wurde unversehens ein fescher, sportlicher junger Mann. Mein Vater fand schließlich mit Hilfe seiner Tante eine Ausbildungsstelle zum Friseur, die für ihn stolze 5000 Schilling Lehrgeld bezahlte. So begann er 1930 mit 14 Jahren seine Lehre.
Onkel Emil arbeitete als Verkäufer bei einem schicken Herrenausstatter in der Wiener Innenstadt und lernte meinen Vater im Tröpferlbad kennen. Die beiden waren beste Freunde und gingen meistens am Wochenende aus oder besuchten Emils älteren Halb-Bruder Bela, der als erfolgreicher Profi-Kartenspieler in den Lokalen beim Prater anzutreffen war. Onkel Bela wurde später von den Nazis nach Auschwitz-Birkenau deportiert. „Wenn ich diese Hölle überlebe, dann rühr nie wieder eine Karte an", schwor er bei seiner Ankunft im Konzentrationslager. Wie durch ein Wunder überlebte er. Kein einziges Mal hat er in seinem Leben je wieder Karten gespielt.
Als die beiden Freunde wieder einmal Bela beim Kartenspielen besuchten, war auch Schwester Frida in Begleitung ihrer Mutter anwesend – und da trafen Frida und Ferry das erste Mal aufeinander: Er war 18 und sie 16 Jahre alt. „Es war Liebe auf den ersten Blick, erzählte Frida später gern vom ersten Kennenlernen. Sie war damals im letzten Lehrjahr zur Schneiderin in einem Modesalon. „Schau Gittele, a junger, fescher Jid hätt mich nicht geheiratet, weil ich arm war. An alten Schiachen wollte ich ned. Ich hab mir einen Mann zum Gernhaben gewünscht und deswegen deinen Vater genommen.
Mit dieser Liebelei wurde die Freundschaft der beiden jungen Männer auf eine harte Probe gestellt, denn Onkel Emil war von dieser Liaison überhaupt nicht begeistert. Meiner Großmutter gefiel diese Liebe noch viel weniger. Sie soll Schive gesessen haben (so heißt die siebentägige jüdische Trauerzeit), als die beiden ihre Verlobung bekannt gaben und die Hochzeit ins Haus stand. Mein Vater war schließlich kein Jude!
Mit 18 Jahren, am 13. Mai 1937, brachte meine Mutter meine ältere Schwester Lieserl auf die Welt. Der Vater drängte auf eine rasche Hochzeit und der Pfarrer ließ sich mit Ach und Krach überreden, nicht nur das Lieserl, sondern auch gleich meine Mutter in der Sakristei zu taufen. Ein Jahr vor dem offiziellen Anschluss Österreichs im März 1938 ahnte man schon, was die Uhr bald schlagen würde. Auch wenn es die meisten noch nicht wirklich wahrhaben wollten. Im Wochenbett hat meine Mutter ihre Mutter noch einmal gesehen. „Sie wollte nur kontrollieren, ob die Füße vom Lieserl auch gerade waren, sagte sie. „Gesprochen hat sie kein Wort.
Die junge Familie wohnte gemeinsam mit der Mutter meines Vaters in ihrer kleinen Wohnung in Wien-Leopoldstadt. Keine leichte Zeit für meine Mutter: Der Bruch mit ihrer eigenen Mutter, eine beherrschende Schwiegermutter und ein Ehemann, der anfangs mit dem Baby auch nicht viel anfangen konnte, machten ihr das Leben schwer. Dennoch zogen sie an einem gemeinsamen Strang und schmiedeten Zukunftspläne: möglichst schnell viel Geld zu verdienen und zu sparen, um einen eigenen Hausstand zu gründen. Mein Vater konnte als Friseur nebenbei viel pfuschen und meine Mutter verdiente in einem Modesalon als Schneiderin gutes Geld. Schon als junge Frau konnte sie, vielleicht weil sie so arm aufgewachsen war, immer besonders gut mit Geld umgehen. Zusätzlich zeichnete sie in Heimarbeit für Malerbetriebe Schablonen und sägte mit der Laubsäge den Gummi für die Mal-Walzen aus. Damit verdiente sie sich ein schönes Körberlgeld.
Dann bekam mein Vater den Befehl zur Musterung. Er