Luisas Chance
Von Carola Wegerle
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Luisas Chance - Carola Wegerle
21
1
Luisa ist nervös. Sie zappelt auf dem Stuhl herum und räumt ihre Schultasche zum dritten Mal komplett aus - und wieder ein.
„Wo hast du den Pullover gekauft?", will Verena wissen.
„Der ist superschön!"
„Wo?", fragt Luisa zerstreut und zupft an ihrem Ärmel.
„Bei …, bei, ähm - ich hab‘ ihn geschenkt bekommen, zum Geburtstag."
„Den du nicht mit uns gefeiert hast, lacht Verena. „Immer hast du in den Ferien Geburtstag.
Sie wollte einen Scherz machen, schließlich kann man ja nicht ändern, wann man Geburtstag hat, aber dann blickt sie ihre Freundin verwirrt an. Luisa hat ihr gar nicht zugehört. Sie starrt zur Tür des Klassenzimmers wie ein hypnotisiertes Kaninchen.
„Was ist los?", fragt Verena, doch Luisa antwortet nicht. Sie ist plötzlich ganz blass.
„Du guckst, als ob Spiderman in der Tür hängt! Dabei kommt doch nur Frau Sommer …"
Luisa schluckt. Frau Sommer, ihre Deutschlehrerin, betritt das Klassenzimmer, einen Stapel Aufsätze unter dem Arm.
„Heute besprechen wir eure Aufsätze von der letzten Woche – Aber, bevor ich es vergesse: die Theater-AG findet leider nicht statt. Tut mir leid. Es gibt nur drei Anmeldungen. Das ist nicht genug."
Luisa stöhnt leise. Verena blickt sie besorgt an. Ihre Freundin fährt sich mit der Hand über die Stirn, schließt kurz die Augen. Wochenlang hat sie Theaterstücke gelesen, ist sie in allen Klassen herumgelaufen und hat versucht, ihre Mitschüler dafür zu begeistern. Für das Theaterspielen. Luisa lernt ständig neue Rollen und übt sie zu Hause. Dort hat sie alles Mögliche zusammengetragen, womit man spielen kann: Stoffe, Hüte, einen Plastikdegen, den ihr kleiner Bruder zum Glück nicht vermisst, Federn, ein Mieder vom Flohmarkt, Masken und einen Kajalstift – an den Karnevalstagen geht sie jedes Jahr auf Pirsch und sammelt Liegengebliebenes. Sie kann alles brauchen. Aber sie will nicht immer allein spielen! Deshalb hat sie sich unbändig gefreut, als Frau Sommer die Idee von der Theater-AG hatte, und alles dafür getan, dass sie stattfindet. Trotzdem haben sich nur drei Schüler angemeldet. Also noch zwei außer ihr. Klar, alle finden Fernsehserien viel spannender oder in Kaufhäusern rumlaufen und alles anfassen und anprobieren (die Mädchen) und Fußball spielen (die Jungs). Und natürlich Computerspiele (Mädchen und Jungs). Luisa beißt sich auf die Lippen. Sie ist kurz davor zu heulen. Aber das wird sie nicht tun. Nicht hier. Nicht vor den anderen. Verena reibt tröstend über den Ärmel von Luisas Geburtstagspullover. Sie kennt ihre Freundin. Sie weiß, wie sehr sich Luisa auf die Theater-AG gefreut hat. Aber Luisa guckt sie nur kurz an wie ein Hund, der einen Klaps bekommen hat. Dabei hat sie den besten Aufsatz geschrieben. Bloß freut sie sich heute kein bisschen über ihre gute Note.
Am Nachmittag liest sie alle Rollen aus „Die Jungfrau von Orléans". Laut. Ihre ganze Wut und Enttäuschung legt sie hi- nein, ihre Schulhefte hat sie in eine Ecke gekickt.
„Luisa! Luiiisa!", ruft ihre Mutter, die die gleichen dunkel- braunen Locken wie ihre Tochter hat. Sie öffnet die Tür zu Luisas Zimmer.
„Nicht so laut, Olli muss ein bisschen schlafen."
Olli ist Luisas kleiner Bruder. Er geht noch in den Kinder- garten. Heute hat die Mama ihn früher abholen müssen, weil er Bauchweh hatte. Luisa geht mit der Jungfrau Johanna ins Treppenhaus und spricht ihre Rollen noch lauter. Im Stockwerk unter ihr geht eine Tür auf.
„Kind! Bitte! Schrei nicht so!", Frau Mertens. Die stört schon, wenn Olli Eisenbahn spielt. Luisa beugt sich über das Treppengeländer.
„Entschuldigung", sagt sie. Frau Mertens nickt.
„Geh nach draußen, wenn du schreien willst. Aber hier leben noch andere außer dir."
Oh ja, denkt Luisa, leider. Warum haben ihre Eltern kein Haus mit Garten wie Verenas Eltern? Warum wohnen sie in einem großen, grauen Mietshaus? Aber raus wollte sie sowieso. Racker besuchen. So heißt ihr Pferd. Eigentlich ist es nicht ihr Pferd, aber sie darf es reiten, weil der Besitzer zwar ein Pferd hat, aber keine Zeit. Geld für Reitstunden hat sie nicht. Ihre Eltern haben keines. Ihr Vater ist Sozialarbeiter, eine richtig schwere Arbeit, doch bezahlt wird sie nicht sehr gut. Und ihre Mutter hat mit den drei Kindern und dem Haushalt genug zu tun. Außer Olli gibt es noch das Baby. Das ist süß. Olli mag es nicht. Vorher war er das Baby. Vielleicht hat er deshalb so oft Bauchschmerzen?
Luisa mistet die Ställe aus. So verdient sie sich den Reitunterricht. Herr Hauser, dem der Reitstall gehört, lässt sie dafür mit seinen Schülern mitreiten. Jetzt ist sie schon so sicher, dass sie ein Mietpferd allein ausreiten darf. Racker. Er ist ein männliches Pferd, aber kein wildes – ein Wallach. Das ist sowas wie ein kastrierter Kater. Luisa liebt ihn. Sie liebt alle Pferde. Schon mit drei Jahren hat sie sich die Nase am Autofenster plattgedrückt, wenn sie mit ihren Eltern unterwegs war und sie auf einer Wiese Pferde sah.
„Ein Pferd, ein Pferd!", rief sie jedes Mal und war kaum noch zu beruhigen.
Als sie neun Jahre alt war, hat sie ihre Eltern angefleht: „Ich will reiten, bitte!"
Doch ihre Eltern blickten sich besorgt an. „Das ist viel zu gefährlich, Luisa, meinten sie. „Das können wir dir nicht erlauben.
Luisa war sehr enttäuscht. Ihre Tränen liefen und liefen. Ihre Eltern wollten ihr den Geburtstag nicht verderben. Sie versprachen ihr, dass sie reiten dürfte, wenn sie Zwölf wäre. Luisa schluckte ihre Tränen hinunter und zählte die Tage, bis sie Zwölf war.
An ihrem Geburtstag sprang sie morgens aus dem Bett und jubelte: „Reitstunden!!!"
Ihre Eltern verstanden überhaupt nichts. „Reitstunden? Das ist viel zu gefährlich, und außerdem bist du viel zu jung dafür!"
„Aber ihr habt es doch versprochen!"
„Wann?", fragten sie ungläubig.
„Na, als ich Neun war!"
Luisas Eltern lachten. „Da hast du was falsch verstanden", meinten sie.
„Das kenne ich, seufzte Verena, als Luisa es ihr vor einem Jahr erzählte. „Mir haben sie versprochen, dass sie mir das Autofahren beibringen. Vor zwei Jahren war das. ‚Wenn du Zwölf bist‘, sagten sie.
„Und?" fragte Luisa.
„Genau wie bei dir, erwiderte Verena und zog einen Flunsch. „Sie konnten sich an nichts erinnern. Sie werfen mit Versprechen um sich, nur um ihre Ruhe zu haben und vergessen es dann gleich wieder. Sie denken nicht daran, dass wir in solchen Dingen ein Elefantenhirn haben.
Verena übt seitdem heimlich in Mamas Auto, wenn es in der Garage steht. Das Gangschalten, mehr geht ja nicht, den Rest stellt sich Verena einfach vor. In Gedanken brummt sie Landstraßen entlang, jagt das Auto Berge hinauf und nimmt schwungvoll die Kurven.
Luisa machte keine Trockenübungen in der Garage. Sie hat einen Reitstall gefunden, der kein Reitclub ist – der wäre zu teuer.
2
Sie hebt einen Fladen Pferdemist nach dem anderen auf eine Schubkarre. Dreimal in der Woche macht sie das am Nachmittag. Sie ekelt sich kein bisschen. Im Gegenteil, sie liebt den Geruch von Pferdeschweiß, Mist, Heu und Stroh. Geübt hantiert sie mit der Mistgabel und arbeitet sich Box um Box voran. Die meisten Pferde sind draußen auf der Weide. Es ist still im Stall. Nur die frischgebackene Mutterstute steht im frischen Stroh und säugt ihr schwarzglänzendes Fohlen. Luisa wäre gern bei der Geburt dabei gewesen. Ob sie Tierärztin werden soll? Das ist sicher ein schöner Beruf, denkt sie. Doch dann fällt ihr Johanna wieder ein. Die möchte sie später unbedingt spielen. So eine starke Frau!
„Mir nach! Auf nach Orleáns!", ruft sie und reckt die Mistgabel in den Himmel, weil ihr die Fahne fehlt.
„Die Duse mit der Mistgabel", lacht jemand. Die Stimme kennt sie. Wie peinlich. Da steht er auch schon vor der Box und grinst bis über beide Ohren. Luisa wird rot.
„Tag, Daniel", sagt sie und ärgert sich, weil sie spürt, dass sie rot geworden ist. Daniel ist der Sohn von Herrn Hauser, dem der Reitstall gehört, und schon ziemlich alt: er ist sechzehn.
„Was ist eine Duse?", fragt Luisa ihn, als er in die Box gegenüber geht, wo das Fohlen jetzt ungeduldig seine Beine hebt. Behutsam nimmt Daniel einen Fuß des Pferdekinds nach dem anderen in seine Hände. Er prüft, ob es gesund ist. Und gewöhnt es dabei an seine Hände. Luisa gefällt, wie er mit Pferden umgeht.
„Die Duse", sagt Daniel. „Eleonora Duse war eine große
Schauspielerin. Vor hundert Jahren oder so. Sie war damals ein Star."
Luisa staunt. Woher weiß er das?
Daniel hat einen Frosch im Hals. Er räuspert sich umständlich, während er der Mutterstute Melasse mit Vitaminen vor die Nase hält. „Meine Mutter guckt ARTE, es klingt fast entschuldigend, findet Luisa, „und wenn Erdnüsse auf dem Tisch stehen, diese scharfen, kennst du die? Dann guck‘ ich mit. So lange, bis sie weg sind. Die Nüsse.
Mit sehr viel Schwung wirft er der Stute eine Decke über.
„Eleonora Duse", wiederholt Luisa ehrfürchtig. Morgen wird sie die Bücherei durchstöbern, um alles über diese Frau zu erfahren. Bilder will sie sehen, wissen, wie sie gelebt hat. Schade, dass sie die Stimme nicht mehr hören kann. Früher war die Stimme das wichtigste für eine Schauspielerin. Sie