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Schicksalsmeisterschaften von Alster und Elbe: Biografische Romane
Schicksalsmeisterschaften von Alster und Elbe: Biografische Romane
Schicksalsmeisterschaften von Alster und Elbe: Biografische Romane
eBook227 Seiten3 Stunden

Schicksalsmeisterschaften von Alster und Elbe: Biografische Romane

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Über dieses E-Book

Mit diesen neuen Geschichten von Josepha Franziska Konsek fügt die Autorin ihren bisherigen Veröffentlichungen ein Buch mit zu Herzen gehenden Lebensschicksalen hinzu. Sie belegen sehr eindringlich, wie eng Familienbindungen sein können, welche Verwicklungen es im Laufe eines Lebens gibt, und wie prägend die Zeitgeschichte ist, in der die Men-schen hinein geboren wurden. Es sind Beziehungen von Partnern voller Liebe und Zuneigung, aber auch vieler Missverständnisse, die rückblickend am Ende ihres Lebens betrachtet werden.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. Mai 2014
ISBN9783837252149
Schicksalsmeisterschaften von Alster und Elbe: Biografische Romane

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    Buchvorschau

    Schicksalsmeisterschaften von Alster und Elbe - Josepha Franziska Konsek

    Epilog

    PROLOG

    Jeder Mensch kann eine Geschichte erzählen, wenn er auf sein Leben zurück blickt, seine eigene oder die der Menschen, die sein Leben beeinflusst haben. Sie kann spannend sein, viele Höhen und Tiefen beinhalten oder sie verläuft ebenmäßig ohne große Aufregungen. Ganz egal, in welche Gesellschaft ein Mensch hineingeboren wurde, welchen Bekanntheitsgrad er erreicht hat, seine Lebensgeschichte ist wichtig für seine Familie, für die Nachwelt im Allgemeinen. Sie spiegelt die Zeit wieder, in der dieser Mensch gelebt hat. Zeigt ein kleines Stück aus der großen Menschheits- und Zeitgeschichte auf. Solche Geschichten, die ich als kleines Mädchen bei sonntäglichen Besuchen von Familie und Freunden mit Spannung belauschte, habe ich aufgeschrieben.

    Hier ein kurzer Überblick über das Leben „namenloser" Menschen, die der Öffentlichkeit bis heute fremd geblieben sind. Einige Geschichten haben einen wahren Kern und sind zum Teil geschehen, wie beschrieben. Einige Passagen sind frei erfunden. Andere Geschichten sind der Fantasie entsprungen, könnten sich so oder ähnlich ereignet haben. Ähnlichkeiten mit beschriebenen und namentlich genannten Personen sind rein zufällig.

    Lucy, der Engel der Studenten

    Um Lucys Leben und Wirken zu beschreiben, bedarf es zuerst der Beleuchtung ihres Umfeldes. Dort, wo sie nach langer Odyssee der Vertreibung Zuflucht fand, entwickelte sie sich zu der Persönlichkeit, die so viele Menschen schätzten.

    Die Familie, die Lucy am Ende ihrer langen beschwerlichen Reise bei sich aufnahm, war eine Künstlerfamilie. Zu ihr gehörten Klara und Heinrich – ein Ehepaar mit zwei Töchtern - Marie und Klarissa, die zwischen zwei Auftritten auf die Welt kamen. Marie war während einer Tournee in Schweden geboren worden und Klarissa erblickte das Licht der Welt auf der Krim. Klara, eine kleine Person, war Sängerin. Mit ihrem Mann, der sie auf der Violine begleitete, hatte sie sich einer Gruppe von Künstlern angeschlossen. Es war die Zeit der Varietees. Mit dieser Künstlertruppe zogen sie von Varietee zu Varietee und bereisten ganz Europa. Klara und Heinrich unterrichteten ihre Kinder selbst. Zur Schule wurden sie nur geschickt, wenn sie für längere Zeit an ein und demselben Ort gastierten. Als die Töchter größer wurden, traten sie gemeinsam mit den Eltern auf. Klarissa hatte den schönen Sopran von der Mutter geerbt und sie begleitete ihre Interpretationen eigenhändig auf dem Akkordeon, einem Instrument, das für ihren kleinen Körper viel zu groß erschien. Marie hatte das Aussehen vom Vater geerbt. Sie war eine hoch gewachsene Frau und eine Virtuosin auf dem Violoncello, das auch das Lieblingsinstrument des Vaters war und ebenso wie er konnte sie Akkordeon spielen. Nur für Gesang konnte sie sich nicht erwärmen. Um die Stimme professionell einzusetzen, war sie nicht umfangreich genug.

    Irgendwann mussten Klara und Heinrich erkennen, dass ihre Töchter im heiratsfähigen Alter waren. Bei Marie, der älteren der beiden, ließ die Hochzeit nicht lange auf sich warten. Während eines Auftritts in Breslau lernte sie Erich kennen und verliebte sich sofort in den gut aussehenden Musiker, den sie noch während ihres Gastspieles in Breslau heiratete, bevor sie mit der Truppe weiter zogen. Die Eltern waren einverstanden, dieser Schwiegersohn war ein künstlerischer Gewinn für sie alle.

    Ein schönes freies Leben war es, das sie führten. Nicht immer einfach, nein, und so manches Mal reichte das Geld noch nicht einmal dazu, sich auf der Tournee ein Hotelzimmer zu mieten. Aber sie fanden immer wieder nette Menschen, die die Familie für die Zeit des Gastspieles bei sich aufnahm. Während eines Gastspieles wurde der Sohn von Marie und Erich zwischen zwei Auftritten geboren. Auch zur damaligen Zeit lautete der Tenor: „Die Schau muss weitergehen. Manchmal träumten Marie und Erich davon, sesshaft zu werden. Man könnte sich bei einem städtischen Orchester bewerben oder sich um eine Festanstellung in den vielen Varietee-Häusern bemühen. Aber es kam ganz anders. Die „Goldenen Zwanziger gehörten längst der Vergangenheit an. Prügeleien und Randale zwischen Kommunisten und Sozialisten machten die Straßen unsicher. Klara und Heinrich, die sehr aufmerksam die politische Presse verfolgten, ahnten, dass die wirtschaftlichen und politischen Ereignisse einen bevorstehenden Krieg unvermeidlich werden lassen würden. Sie, die sie beide schon den Ersten Weltkrieg miterlebt hatten, wussten, dass es besser sein würde, sich einen festen Wohnsitz zu suchen. Außerdem hatte Heinrich große Probleme mit seinen Augen, was das Reisen nicht einfacher machte. Er trug schon sehr starke Augengläser, aber die Sehkraft nahm immer weiter ab. Schon bald, während eines Engagements in Hamburg, wurde ihnen das Angebot unterbreitet, in der Innenstadt eine Musikkneipe zu übernehmen. Ganz in der Nähe des Hauptbahnhofes. Neben Getränken wurden auch Kleinigkeiten, wie Schinkenbrot, Kartoffelsalat und Würstchen sowie Erbsensuppe angeboten. Die Kneipe lag im Souterrain des Hauses, die dazugehörige Wohnung in der ersten Etage. Klara atmete auf. Nun hatten sie einen festen Standort, was gut war, denn Klarissa war mittlerweile Mutter eines Sohnes geworden. Allerdings hatte sich der Vater sehr schnell wieder scheiden lassen. Den Sohn hatte er mitgenommen. Die Tochter, der Klarissa danach das Leben schenkte, musste sie alleine großziehen. Der Erzeuger dieses Kindes hatte sich schon vor der Geburt aus dem Staub gemacht und war nie wieder aufgetaucht. Warum nur fiel ihre Jüngste stets auf solche Männer herein, die keine Verantwortung übernehmen wollten, fragten sich Klara und Heinrich.

    Die kleine Kneipe war ein voller Erfolg. Sie ernährte die ganze Familie. Klara und ihre Töchter nebst Schwiegersohn Erich musizierten zur Freude der Gäste und erfüllten gerne spezielle Musikwünsche. Marie nahm nebenbei noch Engagements in Varietees an. Die Familie war zufrieden. Doch dieses Glück war nicht von langer Dauer. Schon zeichnete sich der Beginn des Zweiten Weltkrieges ab. Hitler kam an die Macht und machte mobil. Das Leben veränderte sich. Alles wurde schwieriger. Der Schwiegersohn versuchte, zwei seiner Geschwister aus Oberschlesien nach Hamburg zu holen. Sein Bruder wagte den Schritt in die Fremde. Für Georg war Hamburg schon immer ein lohnendes Ziel gewesen und er konsumierte die Schönheiten, die die Stadt ihm bot. Seine Liebe und das Zugehörigkeitsgefühl zu dieser Stadt waren so groß, als sei er dort geboren worden. Der junge Mann entlastete den immer hinfälliger werdenden Heinrich dadurch, dass er nach Feierabend in der Kneipe aushalf. Im Gegenzug kümmerte sich Heinrich um die Kleidung von Georg. So erfreute sich dieser immer blank geputzter Schuhe und exakt gebügelter Hemden.

    Georg hatte eine Anstellung in einer großen namhaften Konditorei in Hamburgs Einkaufsmeile, der Mönckebergstraße. Jedoch, ohne Hintergedanken kümmerte Heinrich sich nicht um den jungen Mann. Er hegte die stille Hoffnung, dass er bei Georg die Tochter Klarissa mit ihrer unehelichen Tochter unter die Haube bekommen würde. Dieser Wunsch wurde ihm allerdings nicht erfüllt, denn Georg lernte eine Frau kennen und lieben, die in der gleichen Konditorei arbeitete wie er.

    Der Krieg brach aus; Heinrich starb. Klara war verzweifelt. Alles hatten sie gemeinsam gemacht in der Vergangenheit, sie und ihr Mann. Wie sollte es nun weitergehen?, fragte sie sich. Aber das Leben musste weitergehen. Ware zu bekommen, wurde immer schwieriger, doch Klara schaffte es, ihre Stammkunden durch die musikalischen Darbietungen in die Kneipe zu ziehen. Die Menschen vom Alltag abzulenken, sah sie als ihre vornehmste Aufgabe an. Soldaten machten Station, bevor sie sich ihren Einheiten anschlossen. So auch Marinekadetten, deren Schiff von Hamburg auslaufen sollte. Eines Abends, man hatte den Volksempfänger eingeschaltet, wurde die Nachricht über den Verlust eines Schiffes durchgesagt. Es gab keine Überlebenden. Klara stand hinter der Theke, die Tränen rannen ihr über das Gesicht, als sie murmelte: „Meine Jungs, alle meine Jungs sind mit dem Schiff untergegangen. Ersoffen sind sie! Die armen Mütter, die armen Verwandten! Verfluchter Krieg!" Es waren die Kadetten, die gerade noch bei ihr gewesen waren, die ihr junges Leben für das Vaterland hatten hergeben müssen.

    „Sinnlos, es ist so sinnlos", überlegte Klara. Aufgeben, dachte sie. Ich werde einfach aufgeben. Wie sollte es weitergehen? Den Alarm hörte sie, blieb aber, wie fest mit dem Stuhl verbunden, weinend auf ihm sitzen, nicht bereit, sich in den nächstgelegenen Bunker zu begeben. Sie hatte sich entschieden. Ich gebe auf. Georg, der überprüfte, ob alle das Haus verlassen hatten, blieb nichts anderes übrig, als die Frau zwangsweise hinauszutragen. Gerade noch rechtzeitig, bevor eine Bombe einschlug, die das Haus unbewohnbar machte.

    Als die Familie nach der Entwarnung den Bunker verlassen konnte, führten sie die ersten Schritte zur Kneipe. Durch die Trümmer bahnten sie sich den Weg in den Keller. Er war vollständig ausgebrannt. Nichts war mehr da. Der Inhalt der Fässer, die das Feuer nicht direkt erreicht hatte, war verdampft.

    Nun musste sich jeder von ihnen eine neue Bleibe suchen. Marie, die mittlerweile von ihrem Mann geschieden war, befand sich mit dem gemeinsamen Sohn in Schweden. Sie verdiente sich ihren Lebensunterhalt als Cellistin. Erich hatte zwischenzeitlich eine junge Frau geheiratet und deren Tochter adoptiert. Ihm mit Frau und Tochter wurde ein Zimmer in einer kleinen Wohnung zugewiesen, in der noch eine zweite Familie untergebracht war. Ein Bad und eine Küche für sieben Personen. Aber man war froh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Erich machte Musik auf Familienfeiern, um seine Familie ernähren zu können. Seine zweite Frau, eine schlanke gut aussehende Erscheinung, war Schneiderin von Beruf. Unter ihren geschickten Händen wurde jedes Kleidungsstück zum Unikat. Diese Kunst, aus jedem Fetzen Stoff etwas Besonderes zu zaubern, kam auch den Kindern in der Familie zugute. Sogar die Kindermäntel, die sie aus Militärwolldecken nähte, zeigten einen gewissen Schick.

    Georg durfte vorübergehend die Gartenlaube eines Kollegen nutzen. Etwa zehn Kilometer legte er jeweils auf seinem Weg zur Arbeitsstätte zurück, die ihn über den Stadtteil Hamm-Süd durch einen schmalen Pfad von Trümmern führte, vorbei an zerstörten Häusern. Häuser, die, da sie einsturzgefährdet waren, die Leichen ihrer Bewohner nicht freigeben konnten. Vor den Häusern hielten Soldaten Ehrenwache, bis die sterblichen Überreste der Bewohner Flammenwerfern zum Opfer fielen, um die Seuchengefahr einzudämmen. Die Soldaten zogen ab und die Ruinen wurden dem Erdboden gleich gemacht.

    Der Angriff, der unter dem Namen „Operation Gomorrha" bekannt ist, ließ Hamburg brennen. Zehn Tage lang dauerten Ende Juli/Anfang August 1943 die Angriffe. Über die Hälfte der Stadt lag in Schutt und Asche. Wie viele Menschen dabei genau ums Leben kamen, wird man nie genau sagen können, da einige vollständig verbrannten. Man geht heute von 34 000 Toten und 125 000 Verletzten aus (siehe Wikipedia). Am 3. Mai 1945 kapitulierte Hamburg. Es herrschte Waffenstillstand! Die Briten marschierten über die Elbbrücken in die Stadt hinein und besetzten sie.

    Georg wollte heiraten. Als gebürtiger Oberschlesier musste er zuerst den Nachweis seiner arischen Herkunft erbringen. Viele Gebiete des heutigen Polens hatten lange Zeit zu Deutschland gehört, und zu eben diesen Zeiten waren Georg und seine Vorfahren dort geboren worden. Er fuhr mit seiner Frau nach Kattowitz, besorgte die Papiere und kehrte nach Hamburg zurück. 1944, sofort nach der Hochzeit, wurde er eingezogen.

    Nachdem Klara und Familie einige Zeit in der ausgebrannten Kellerkneipe übernachtet hatten, bekamen sie eine Vierzimmer-Wohnung zugewiesen, die sie sich mit zwei weiteren Familien teilen mussten. Marie war aus Schweden zurückgekehrt. Den Sohn ließ sie bei Klara und ging mit einem befreundeten Künstler auf Europa-Tournee. Da war noch die Enkelin, die Tochter von Klarissa. So bewohnte jede der vier Familien ein einziges Zimmer. Küche und Bad wurde von allen Bewohnern genutzt. Mit der Zuweisung dieser Wohnung hatten sie Glück gehabt. Sie war sehr gut geschnitten, lag in einer angenehmen Wohngegend, und da sie im Parterre lag, gehörte auch ein kleiner Garten dazu. „Das ist wunderbar, nicht wahr Klarissa? Hier können die Kinder im Freien spielen und wir können etwas Gemüse anpflanzen und uns Nutzvieh halten", sagte die aus ihrer Lethargie erwachte Klara, neue Hoffnung schöpfend. Sie besorgte Hühner und Kaninchen und beschaffte auch die dazugehörigen Ställe, die im Garten ihren Platz fanden. So war wenigstens für Eier und Fleisch gesorgt. Irgendwie würde es schon weitergehen. Klarissa putzte in einem britischen Haushalt und dieser Arbeitgeber vermittelte Klara auch die Lizenz für die Vertretung von Unterwäsche und Kurzwaren. Das Leben begann sich zu normalisieren.

    Auf dem Treck

    Lucy befand sich inmitten eines Trecks, der sich von Ostpreußen in Richtung Westen bewegte. Mutter, Vater und Geschwister waren tot. Abgerissen und völlig erschöpft schleppte sie sich weiter. Alles hatte sie verloren. Das Liebste hatte sie hergeben müssen. Sie war allein. Mutterseelenallein. Ein letzter Rest von Lebenswillen trieb sie weiter. Sie war doch erst junge siebzehn Jahre alt und hatte das Leben noch vor sich! Da musste doch noch etwas kommen, etwas Schönes! Aber wie sollte es jetzt weiter gehen, was würde das für ein Leben sein?  Die Russen rückten nach. Niemand wusste genau, ob man dem Krieg entgegen oder vor ihm her ging. Dann und wann sah man eine Patrouille von Soldaten der Heimatfront. Neben Lucy ging eine mit einem Overall bekleidete maskulin wirkende Frau mit kurz geschnittenen braunen Haaren. Sie wirkte abweisend und war nicht sehr gesprächig. Die kleine Lucy mit den rotblonden Locken hätte ihr so gerne die Hand gegeben, aber alleine der Versuch der Annäherung wurde durch ein abruptes zur Seite treten  und einen bösen Blick der Frau vereitelt. In Lucys Augen wirkte diese Frau so stark und vertrauenswürdig auf sie, die selber so schwach und klein und viel jünger war.

    Plötzliche Motorengeräusche von Flugzeugen erfüllen die Luft. Ein Angriff! Schreiende Menschen laufen panisch durcheinander und suchen Schutz auf dem freien Feld. Weit und breit ist kein Haus, kein Strauch zu sehen. Dort, wo sie stehen, werfen sich die Menschen, die Arme schützend über ihre Köpfe haltend, auf den Boden und versuchen, dem Kugelhagel der Geschütze zu entgehen. Instinktiv wirft Paula sich über die kleine Lucy und begräbt sie schützend unter ihrem Körper. So plötzlich, wie der Angriff kam, so schnell ist er vorüber. Lediglich die leiser werdenden Geräusche der sich entfernenden Flugzeuge sind zu hören. Die Gewehre haben einen breiten Streifen von toten Leibern auf der Erde hinterlassen. Ein Massaker hat stattgefunden.

    Langsam erheben sich die Überlebenden. Sie müssen weiter ziehen. Es bleibt keine Zeit, sich um die Toten zu kümmern. Ein kleines Gebet vielleicht im Stillen. Jeder für sich. Man tauscht die eigenen verschlissenen Schuhe und Kleidung gegen noch intakte der Toten aus. Die brauchen sie jetzt nicht mehr.

    Als Lucy sich, von Paulas Gewicht befreit, bei ihr bedanken will, winkt diese mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck ab und sie vergrößert den Abstand zwischen sich und Lucy.

    Der Treck setzt sich wieder in Bewegung und zieht langsam weiter nach Westen. In einem verlassenen Dorf angekommen, wollen sie Station machen: Sie verteilen sich auf die leer stehenden Gebäude, die offensichtlich in aller Eile verlassen worden waren. Lucy und Paula wird mit einer Gruppe, bestehend aus Männern und Frauen, ein Platz in einer Scheune zugewiesen. Der Platz ist nicht schlecht. Es ist genügend Stroh vorhanden, das die Lagerstatt wärmer und bequemer machen wird. Einer von Hitlers Schergen, der ursprünglich die ostpreußische Heimatfront verteidigen sollte, war als Begleiter des Trecks abgestellt worden. Ein unangenehmer Mensch, der nichts weiter gelernt zu haben schien, als Kommandos zu geben. Lucy machte es sich im Stroh bequem und streckte die lahmen Glieder aus. Es war kalt in der Scheune. Zum Zudecken reichte das Stroh nicht, also zog sie den Rock über ihre Knie und deckte sich notdürftig mit ihrem Mantel zu. Das letzte Stückchen trockenes Brot, das sie in ihrer Manteltasche fühlen konnte, würde sie später essen. Wasser würde es hier wohl noch geben. Die Häuser sahen nicht so aus, als hätte hier ein Kampf stattgefunden, also würden auch die Wasserleitungen intakt sein. Mit diesem Gedanken schlief Lucy ein. Im Traum hörte sie Vogelgezwitscher und Meeresrauschen.

    Paula war ein Platz gegenüber von Lucy zugewiesen worden. Sie hatte sich auf dem Strohlager ausgestreckt, aber es wollte sich keine Ruhe bei ihr einstellen, so müde sie auch war. Wieder und wieder musste sie daran denken, wie es sich angefühlt hatte, als Lucys schmächtiger Körper unter ihr gelegen hatte. Ja, Paula liebte Frauen. Bis zu diesem Zeitpunkt war es ihr gelungen, das Geheimnis zu hüten. Schlimmes hätte ihr widerfahren können, wenn die Wahrheit ans Licht gekommen wäre. Sie hätte im Konzentrationslager landen können. Ihr zärtlicher Blick streift die kleine, schlafende Lucy. Wo Paula auch hinsieht, liegen vor Erschöpfung vom Schlaf übermannte Menschen. Nur einer der Männer, die den Treck begleiten, schläft nicht. Leise erhebt er sich von seinem Lager. Einen Moment bleibt er ruhig stehen und betrachtet die Schlafenden. Dann schleicht er sich an ihnen vorbei, bleibt vor Lucy stehen, kniet sich neben sie hin, schiebt ihr den Rock nach oben. Gerade, als er sie besteigen will, fühlt er einen heftigen Schmerz in seinem Rücken. Ein röchelnder Atemzug entweicht seinem leicht geöffneten Mund. Dann ist es vorbei. Ein erstaunter Augenausdruck weicht dem leeren Blick eines Toten. Paula zieht das Messer aus dem Körper des Mannes, schleift die Leiche in eine Ecke der Scheune und deckt sie mit Stroh ab. Danach sieht sie nach Lucy. Lucy liegt wach und stumm da und blickt mit

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