Flüchtiges Glück: Reportagen aus der Zwischenkriegszeit
Von Else Feldmann
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Über dieses E-Book
Diese erstmals in Buchform publizierten Texte heben Else Feldmanns Werk mühelos auf eine Stufe mit dem von Max Winter, Heinrich Zille oder Käthe Kollwitz.
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Flüchtiges Glück - Else Feldmann
BLICK AUS DEM HOTELFENSTER
Arbeiter-Zeitung, 5. März 1922
Ich bin bei einer Freundin aus der Schweiz zu Besuch. Sie wohnt an der Kreuzung einiger belebter Hauptstraßen.
Während sie Briefe schreibt, dem Zimmermädchen Aufträge gibt, trete ich ans Fenster, und ganz verloren in den Anblick des Menschengewimmels schaue ich hinaus. Eine unerhört bewegte Welt da unten. Ich bin an solchen Ausblick nicht gewöhnt – ich habe eine kleine begrenzte Welt von Bäumchen vor meinen Augen oder ein kleines Stück der stillen Gasse, wenn ich aus dem Fenster zu Hause sehe. (Ich habe es schon oft bedauert, daß ich nicht ein größeres Stück der Straße übersehen kann – ein oder das andere Mal kann es doch vorkommen, daß man sehnsüchtig jemandem entgegenschauen möchte …)
Es ist Abend und alle elektrischen Lichter brennen. Ein bläulich grauer Dunst liegt in den Straßen. Die Fenster der hohen Häuser sind erleuchtet. Die Geschäftsläden werden eben geschlossen. Eine Straßenbahn nach der anderen fährt vorbei. Lastenwagen, Fiaker und die Anzahl der Autos. Man kann nur Menschen in schwarzen Röcken unterscheiden, so hoch ist es. Erst wenn man sich weit vorbeugt, sieht man die Frauen; die jungen erkennt man am Gang, an der Flottheit der Kleider, und die alten, müde gewordenen, die nicht mehr um sich schauen und langsamer gehen.
Es ist unheimlich, wie dieses Getriebe nie zur Ruhe kommt – nie; die Wagen nicht zu fahren aufhören, die Menschen nicht durcheinander zu eilen, und man möchte die Nacht vor dem Fenster erwarten, um endlich Ruhe eintreten zu sehen.
Ich nehme den Stecher, Marke Zeiß, und auf einmal ist mir alles nah. Ich kann jeden deutlich sehen. Die fernsten Gestalten stehen plötzlich vor mir und enthüllen mir ihr Leben.
Ein junger, abgerissener Mensch mit leeren Augenhöhlen, mit den Resten einer Uniform bekleidet, verkauft Schneerosen. Seine blauroten Hände zittern, wenn er Geld zählt – alle Augenblicke kommt jemand vorbei und fragt, was die Schneerosen kosten, dann geht er weiter, ohne zu kaufen. Kommt aber ein Jüngling mit einem Mädchen, dann fragt er nicht und kauft die Blumen, und da es März ist, und also bald Frühling, kommen viele Jünglinge mit Mädchen …
Die Blumenfrauen daneben sehen robust aus, kugelrund, sie haben so viele Röcke an, um sich gegen die Kälte auf offener Straße zu schützen; aber trotzdem wird eine vom Husten geschüttelt. Ihre Nachbarin schaut sie kaum an, sie ist eben dabei, die Blumen zu morden, sie auf Draht zu stecken. Und, ja richtig, Veilchen sieht man schon, jede hat in ihrem Korb ein paar kleine Sträußchen.
Vor der Haltestelle der Straßenbahn drängen sich die Leute. Arbeiter, Angestellte fahren heim, sie stoßen sich im Wagen: Jeder möchte sitzen; sie haben alle mißmutige, verbrauchte Gesichter, sie runzeln die Stirnen; kaum sitzen sie, schließen sie die Augen und atmen auf; sie sind müde – hungrig – müde …
Erleuchtete Autos rasen vorbei. Damen mit gepflegten weißen Gesichtern in kostbaren Kleidern, mit Herren an ihrer Seite, die mit gierigen, schlauen Augen dasitzen. Es geht ins Theater und zu den Vergnügungsstätten.
Ein Kind steht am Weg und weint, die Mutter hat es geschlagen, weil es Süßigkeiten gekauft haben wollte. Nun will es nicht mitkommen, weil die Mutter es schlug, und es bleibt mitten am Weg stehen und weint verzweifelt.
An der Säule des Denkmals steht schon lange ein junger Mann und wartet. Er macht immer ein paar Schritte, zieht seine Uhr und vergleicht sie mit der großen Straßenuhr, dann zuckt er nervös zusammen – nimmt seinen Hut vom Kopf, trocknet sich die Stirn.
Ein Laden nach dem anderen schließt. Auch der Diener aus der Buchhandlung kommt mit der Stange – wie er den Rollbalken herunterziehen will, tritt noch schnell eine Frau in den Laden, bald darauf kommt sie mit einem schmalen, roten Buch heraus, das sie bei der nächsten Straßenlaterne zu lesen beginnt.
Der junge Mann vor der Schule geht noch immer auf und ab.
An der Ecke ist eine »Verkehrsstörung« entstanden. Ein riesengroßer Wagen, hoch mit Säcken beladen, kommt nicht weiter, die zwei Pferde rühren sich nicht. Der Kutscher schreit hü und schlägt mit der Peitsche – es nützt ihm nichts; die Pferde stehen still, sie können nicht weiter. Alle Wagen müssen auf einmal halten, nur die Autos suchen sich rasch und finden einen Weg. Ein wüstes Beschimpfe beginnt. Mehrere Straßenbahnschaffner helfen den Wagen in Bewegung zu bringen. Sogar ein Herr im Pelz ist ausgestiegen, und lächelnd will auch er helfen – alle sehen ihn verwundert an. »Wie kann man nur einen Wagen so voll beladen?!«, schreit jemand. Der Wagen kommt ein wenig vorwärts, so daß das eine Geleise frei wird. Die beiden Pferde stehen stumpf da und zucken unter den Peitschenhieben, manchmal schütteln sie ihre kummervollen Köpfe, als wollten sie bitten: Nein! Nein!
Es hat sich ein dichter Menschenknäuel gebildet. Der junge Mann mit der Uhr in der Hand hat Mühe, nach allen Seiten auszuschauen. Plötzlich verändert sich sein Gesicht, es strahlt von Glück und Freude, und aus der Menschenmenge zieht er ein Mädchen heraus – er spricht heftig auf sie ein, sie lacht – dann nimmt er ihren Arm und sie gehen.
Aus einem Haustor kommt eine Katze herausgeschlichen und ohne sich nur im geringsten um andere Dinge zu kümmern, springt sie durch die Anlagen vor dem Denkmal und läuft dann schnurgerade ihren Geschäften nach – wie ein Herr, der ins Büro geht.
Der Wagen ist fort und die Straßenbahn voll angesammelter Menschen fährt wieder.
In dem großen Kaffeehaus gegenüber sieht man an den Fensterbänken die Tische und Stühle, die Kellner, die den Kaffee und die Zeitungen bringen. Es gehen und kommen die Gäste – manch einer hat ein lustiges und manch einer ein trauriges Gesicht, der eine lacht über einen Witz und einer sitzt mit bleichem Gesicht und schreibt einen Brief.
Zwei lange, magere Frauen in Trauer mit langen Schleiern geben einem Bettler etwas, die eine findet, daß es zu wenig ist, und greift noch einmal in die Börse.
Ich nehme den Stecher von den Augen und alles ist wieder ein gleichgültiges Gewimmel – weit und fern – schwarze Röcke …
Noch einmal sehe ich hinein, ehe ich das Fenster verlasse.
Vor dem Haustor steht ein Dienstmädchen mit einem Mann im blauen Arbeitsrock. Sie muß ihm eine furchtbare Mitteilung gemacht haben, denn er starrt sie ganz entsetzt an und greift sich an die Schläfe. Dann dreht er sich um und geht, auch sie will hineineilen ins Haus, doch plötzlich kehren beide um – das Mädchen spricht ihm gut zu, es schmiegt sich an ihn und auf einmal fallen sie einander in die Arme – und es ist, als ob beide weinten.
Wo ist ein Weg zu all diesen Menschen in Häusern und Straßen? Wie ist es möglich, alle zu verstehen, Leiden zu lindern … mit allen in Frieden und Brüderlichkeit zu leben?
Das denke ich in einer schmerzlich schlaflosen Nacht – ein Uhr nach Mitternacht, während ich bei verhängter Lampe dies aufschreibe.
BILDER VON DER MENSCHLICHEN SEELE. MUTTER UND SOHN
Neues Wiener Journal, 3. November 1918
Die Wohnung befindet sich im Prater. Lange und graue Gassen, hohe Häuser, vollgestopft mit Artisten, kleinen Hausierern, allerlei Glücksspielern und Freudenmädchen.
Dort wohnt die Mutter.
Die Mutter steht ganz allein in der Welt. Wohl hat sie viele Kinder geboren; aber nur einer ist ihr von allen geblieben. Er ist in den letzten Jahren eine Berühmtheit geworden: ein berühmter Einbrecher. Vor einigen Tagen ist er aus dem Gefängnis entsprungen und wird von der Polizei gesucht.
Die Mutter ist Aufwartefrau in fremden Häusern. Wenn die Leute sie fragen, ob sie vielleicht mit dem bekannten Einbrecher verwandt wäre, sagt sie: nein; aber insgeheim trägt sie ein Mutterherz voll Kummer nach diesem Sohn. Immer lebt sie in Angst, er könnte kommen. Die Zeitungen liest sie in der Erwartung, etwas über ihn darin zu finden. Und vor einigen Tagen las sie: »Der bekannte Einbrecher … ist aus dem Gefängnis entflohen.«
Da erstarrte die Mutter, als sie es las, und ein unruhvolles Suchen ist seither in ihr; auf der Straße, bei den fremden Leuten, überall.
Zu Hause aber ist es ihr immer, als stehe jemand vor der Tür. Das war das Ärgste, wenn er kam. Er brachte Kameraden mit und Freudenmädchen und dann begann eine Zecherei. Die Mutter sollte mittrinken, aber sie wollte nicht; da war der Sohn beleidigt; er schlug auf den Tisch, daß die Flaschen und Gläser in die Höhe sprangen, dann verließ er mit den Kameraden und den Freudenmädchen schimpfend und fluchend das Haus.
Wenn er fort war und die Mutter dastand und nachsann, dachte sie, sie hätte vielleicht doch trinken sollen, dann wäre er bei ihr geblieben und nicht wieder der Polizei in die Hände gefallen.
O, man kannte ihn; jeder Polizist trug sein Bild bei sich; ein Entkommen war nicht möglich.
Vor einem Jahr hat die Mutter den Sohn zuletzt gesehen. Bevor er die große Strafe antrat, ist er zu ihr gekommen, hat ihr einen Sack Lebensmittel mitgebracht – damit sie nicht verhungere, während er nicht da ist. Geschrieben hatte er von dort nicht.
Müde von der Arbeit und dem Gram ihrer Seele geht die Mutter schlafen. Mit in den Schlummer nimmt sie ein Gebet für den Sohn, daß auch er in dieser Stunde Erlösung finden möge im Schlafe, daß er müde Richter finden und zu ihr zurückkehren möge.
Sie liebt diesen Sohn, wie man das einzige liebt, das man auf der Welt hat.
Kaum lag die Mutter im ersten Schlaf – es war eine frostige Novembernacht –, da war es ihr, als sehe sie draußen vor der Glastür einen langen Schatten; es war ihr auch, als hörte sie einen kurzen, schrillen Pfiff – eine lange Minute Stille, dann leises Stöhnen.
Die Mutter fuhr auf.
Nein, sie hatte nicht geträumt. Draußen stand ihr Sohn.
Sie schloß ihm sogleich die Tür auf und zog ihn hinein ins Zimmer.
Er hatte den Kopf verbunden mit Papierverband – er sah jämmerlich aus; seine lange Gestalt war ganz abgemagert. Das Gesicht mit den vorstehenden Knochen, das in allen illustrierten Zeitungen abgebildet war, sah fast kindlich aus.
Die Mutter legte ihn in ihr Bett; zu essen hatte sie nichts für ihn, nur eine Brotrinde; die gab sie ihm.
Er konnte nicht ruhig liegen; sein Körper war mit brandigen Blasen bedeckt, die in der Strafanstalt nicht behandelt wurden. Die Krankheit hatte er von einem Zellengenossen geerbt, Schmutz und Feuchtigkeit hatten sie verschlechtert.
Die Mutter wusch die Wunden; sie gab ihm reine Wäsche. Sie richtete sich auf dem Fußboden ein Lager neben seinem Bett.
In der Nacht hatte er Fieber. Er phantasierte.
»Mutter, warum hast du mich verstoßen?«, flüsterte er.
»Ich habe dich nie verstoßen.«
»Doch, du hast mich von dir gewiesen, darum bin ich schlecht geworden.«
»Du bist schlecht geworden und darum habe ich dich von mir gewiesen.«
»Mutter, ich büße für alles, das ich getan; fürchterlich büße ich. Ich habe aufgehört, ein Mensch zu sein und ein Menschengesicht zu tragen. Sie haben einen Teufel aus mir gemacht. Wenn ich nicht bald eingesperrt werde, begehe ich einen Mord. In mir ist alles Gift; ich hasse alle Menschen und alle hassen mich, auch dich hasse ich,