Die Zukunft der Frauen: Anthologie zum Wettbewerb „Frauen schreiben Science Fiction‟ des vss-verlag
Von Hermann Schladt
()
Über dieses E-Book
18 Science-Fiction-Stories von Frauen.
Raven E. Dietzel - Roboter und Zombies
Sarah Peters - Jenseits des Horizonts
Carla Benara - Der Programmfehler
Anke Elsner Planetenwechsler
Martina Bethe-Hartwig – Elien
Martina Schneider - Für andere vielleicht ein Albtraum . . .
Siggi Becker - Planet M 77
Mara Laue – Sternenkind
Veronika Eitze – Glück
Heidi Gensheimer - Der letzte Countdown
Christia Wuttke - Kommunikation mal anders
Kaia Rose – ELYSIUM
Sabine Reyher – Arker-1
Eva von Kalm -Eiswelt
Sophia Weller - Reise ohne Ziel
Tanja Schwarz-Krapp - INITIUM
R.West - Kommt ein Gott in eine Bar
Sarah Drews - Technik hat ihren Preis
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Buchvorschau
Die Zukunft der Frauen - Hermann Schladt
vss-verlag
Impressum
Hermann Schladt (Hrsg.) – Die Zukunft der Frauen
1. Auflage – Januar 2019
© vss-verlag Hermann Schladt
Titelbild: Armin Bappert unter Verwendung eines Fotos von Pixabay
Lektorat: Hermann Schladt
www.vss-verlag.de
Vorwort
Sie sind gar nicht so selten und erst recht keine Exoten: Frauen, die Science-Fiction schreiben. Einundvierzig Einsendungen zu diesem Wettbewerb zeigen auf, dass es auch im deutschsprachigen Raum eine respektable Gemeinde Science-Fiction schreibender Frauen gibt. Und dass sie auch gute Science-Fiction schreiben, das weist diese Anthologie nach.
Aber was hat mich eigentlich veranlasst, diesen Wettbewerb zu starten?
Ich muß vielleicht etwas ausholen, um diese Frage zu beantworten. Der Guardian fragte 2010 online seine Leser nach deren Lieblingsbüchern in der Science Fiction. Heraus kam eine beeindruckend lange Liste, die von so manchem gelesen und analysiert wurde.
Die Autorin Nicola Griffith aus Seattle nahm die Liste und wertete sie aus - es wurden 500 männliche Autoren genannt, aber nur 18 weibliche.
»Das Verhältnis von Frauen zu Männern ist 1:24. Das sind ungefähr 4%. Ich bin mir der geschlechtsspezifischen Vorurteile in der Literatur bewusst (siehe zum Beispiel Hard Takes Soft
und Girl Cooties
), aber dieses Verhältnis hat mich ehrlich gesagt schockiert.« schreibt sie auf ihrer Website.
In den Anfangszeiten moderner Science-Fiction legten sich viele Schriftstellerinnen männliche Pseudonyme zu oder zumindest doch solche, die geschlechtsneutral wirkten.
So versteckte sich Alice Mary Norton hinter dem Pseudonym „Andre Norton‟ und wurde unter diesem Namen weltberühmt. Erst lange nach ihrem Durchbruch wurde das Geheimnis gelüftet.
Norton, die 130 Romane sowie etwa einhundert Kurzgeschichten verfasste und zahlreiche Anthologien herausgab, wurde dann 1997 als erste Frau in die Science Fiction Hall of Fame aufgenommen. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie unter anderem mit dem Balrog-, Skylark- und World Fantasy-Award ausgezeichnet. Als erste Frau erhielt sie den Gandalf Grand Master of Fantasy Award. Nortons Werk beschränkt sich nicht auf Science Fiction und Fantasy, sie schrieb ebenfalls Mystery-Thriller und Westernromane.
Alice Bradley Sheldon, bekannt als Science-Fiction-Schriftsteller James Tiptree Jr., hatte bereits eine Karriere als Grafiker, Maler und Kunstkritiker. Nach ihrer Rückkehr in Science-Fiction nahm sie ihr männliches Pseudonym an. Bradley Sheldon sagte später in einem Interview mit Asimovs
Science Fiction Magazin, dass ihr ein männlicher Name wie eine gute Tarnung erschien. Ich hatte das Gefühl, dass ein Mann weniger beobachtet werden würde. Ich hatte zu viele Erfahrungen in meinem Leben als die erste Frau in einem verdammten Beruf.
Tiptree / Sheldon ist Autor von preisgekrönten Werken, darunter die Novelle Das Mädchen, das in eingeschlafen wurde. Alice Sheldon mit Kikuyu Menschen | © Julie Phillips / Wikimedia Commons
Robyn Thurman, der unter dem Namen Rob Thurman schreibt, ist ein in den USA meistverkaufter US-amerikanischer Schriftsteller. Bis heute hat sie drei Serien und zwei Kurzgeschichten mit insgesamt 17 Büchern geschrieben und wurde in den USA, Großbritannien, Deutschland und Japan veröffentlicht.
Joanne K. Rowling ist ein ganz aktuelles Beispiel. Unter dem geschlechtstneutralen Pseudonym J. K. Rowling veröffentlichte sie die Harry-Potter-Reihe. Die Bücher sollten nicht unter Rowlings vollständigem Vornamen Joanne erscheinen, da der Verlag fürchtete, dass Jungen ungern von einer Frau verfasste Bücher lesen würden. Rowling entschied sich daher für die Initialen „J. K.. Bis heute werden die Harry-Potter-Bände in Großbritannien unter dem Autorennamen „J. K. Rowling
verlegt.
2001 veröffentlichte Joanne K. Rowling außerdem zwei kleine Bände, die als nicht-fiktionale Bücher in den Harry-Potter-Büchern erwähnt worden waren: Phantastische Tierwesen & wo sie zu finden sind (Fantastic Beasts and Where to Find Them) unter dem Pseudonym Newt Scamander und Quidditch im Wandel der Zeiten (Quidditch Through the Ages) unter dem Namen Kennilworthy Whisp.
Als Robert Galbraith schrie sie die Krimi-Reihe um den Ermittler Cormoran Strike,
Dennoch, die Zeiten haben sich geändert. Weibliche Hauptfiguren sind mittlerweile in vielen Science-Fiction Welten zuhause. Wie sieht es aber mit Autorinnen aus? Interessieren sich Schriftstellerinnen für Science-Fiction?
Eine rhetorische Frage, denn natürlich schreiben Frauen auch Science-Fiction! Immerhin ist Frankenstein für viele ein Gründungsroman der Science-Fiction. Mary Shelley veröffentlichte die Geschichte des verantwortungslosen Wissenschaftlers, der einen künstlichen Menschen erschafft und ihn dann sich selbst überlässt, zuerst anonym, im Januar 1818. Auch wenn Frankenstein eine Gothic Novel und der Horror-/Schauerliteratur zuzurechnen ist, so untersucht die Autorin doch (fiktives) wissenschaftliches Handeln und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft. Bei all den Abgrenzungsschwierigkeiten der Science-Fiction zu Fantasy, phantastischer Literatur und Utopie/Dystopie, mit den dargestellten technologischen Neuerungen und ihren Folgen erfüllt der Roman damit grundlegende Elemente des Genres.
Wie divers und politisch Science-Fiction-Literatur sein kann, zeigen dann zwei berühmte Nachfolgerinnen von Mary Shelley aus dem 20. Jahrhundert. Octavia E. Butler untersucht mit ihrer zwischen 1987 und 1989 veröffentlichten Xenogenesis-Trilogie die Themen Fremdheit und Rassismus, indem sie die Menschen der Zukunft auf Aliens treffen lässt. Einen ebenso einflussreichen Science-Fiction-Klassiker schuf Ursula K. Le Guin schuf mit dem Hainish-Zyklus. Ihre Idee der fließenden Geschlechter in The Left Hand of Darkness (1969) und einer androgynen Gesellschaftsordnung ist immer noch revolutionär und wird heute von Autorinnen wie Ann Leckie aufgegriffen und variiert.
Ob die Frauen aber eine „andere‟ Science-Fiction schreiben, als ihre männlichen Kollegen, dazu habe ich mir aufgrund eigener Erfahrungen bereits eine Meinung gebildet. Ich möchte sie aber an dieser Stelle noch unbeantwortet lassen. Antwort darauf wird womöglich eine weitere Anthologie geben, in der ausschließlich SF-Stories von Männern veröffentlicht werden. Lassen Sie sich überraschen.
Ich bedanke mich bei allen Autorinnen, die sich mit einer Geschichte an diesem Wettbewerb beteiligt haben.
Mein Dank geht auch an die vier weiteren Mitglieder der Jury die einen hervorragenden Job gemacht haben..
Jetzt wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lesen der achtzehn Stories dieser außergewöhnlichen Anthologie.
Hermann Schladt
Herausgeber
Das Ergebnis
Hier sind die Top-Ten des Schreibwettberbs „Frauen schreiben Science-Fiction‟
1. Sabine Reyher - Arker 1
2. Mara Laue - Sternenkind
3. Inken Weiand - Der Programmfehler
4. Tanja Schwarz-Krapp - Initium
5. Martina Bethe-Hartwig - Elien
6. Sophia Weller - Reise ohne Ziel
7. Sarah Drews - Technik hat ihren Preis
8. Veronika Eitze - Glück
9. R. West - Kommt ein Gott in eine Bar
10. Raven E. Dietzel - Roboter und Zombies
Darüber hinaus wurden noch folgende Stories in die Anthologie aufgenommen:
Christina Wuttke - Kommunikation mal anders
Eva Von Kalm - Eiswelt
Sarah Peters - Jenseits des Horizonts
Sigrid Hecker - Planet M 77
Kaia Rose - Elyseum
Heidi Gensheimer - Der letzte Countdown
Martina Schneider - Für andere vielleicht
Anke Elsner – Planeternwechsler
Als Herausgeber beglückwünsche ich – auch im Namen aller Jury-Mitglieder – die Top-Platzierten aud die „Ausgewählten‟ zu ihrem Erfolg.
Auch an die Autorinnen, die diesmal nicht berücksichtigt werden konnten, ein herzliches Dankeschön für die Teilnahme, verbunden mit der Aufforderung weiter zu schreiben. Meist waren es Kleinigkeiten, die eine Aufnahme in die Anthologie verhinderten. Einen richtigen „Ausrutscher nach unten‟ hat es in diesem Wettbewerb nicht gegeben.
Hermann Schladt
vss-verlag
Raven E. Dietzel - Roboter und Zombies
Ich war einer der wenigen Menschen, die Deus Galle nach seiner Verhaftung zu Gesicht bekamen.
Sie wissen schon: Galle! Der Mann, der die Anschläge auf die leitenden Lobbyisten verübte. Es war der Galle, der uns alle monatelang den Atem anhalten ließ, weil die Stadtmilitärs ihn einfach nicht zu fassen bekamen. Der Jugendgangs dazu anstiftete, kritische Graffitis zu hinterlassen und die Klimaanlagen von Tagungsstätten zu sabotieren. Der Galle, dessen man letztendlich in einer furiosen, hollywoodreifen Verfolgungsjagd durch die Straßen der Stadt habhaft wurde. Er war der Vorzeigeterrorist Nummer eins. Der Galle.
Dies ging mir so durch den Kopf, als ich ihn auf der Bahre erkannte, die ich von einem Ende des Institutes zum anderen schob.
Ich tat das, weil ich zu der Zeit in der Gerichtsmedizin arbeitete - ich half ich in der Abteilung testibus post fatum novissimum aus, also in der Abteilung, die regelmäßig die Voreiligkeit des Durchschnittspolizisten wieder ausbügelte.
In diesem Fall äußerte sich die Voreiligkeit in blutigen Kratern, drei klafften in der Brust, zwei weitere entstellten Galles ohnehin nicht schöne Visage. Offensichtlich hatte jemand fünf nervöse Zucken im Zeigefinger gehabt – und so Arbeit für Professor Gastode und seinen gegenwärtigen Gehilfen geschaffen.
Die meisten hatten nicht die Nerven, lange in diesem Job zu bleiben. Tote waren ja durchaus zu verkraften; es ließ sich ohnehin nicht vermeiden, ein, zwei Mal im Monat einen toten Habenichts aus der Einfahrt zu räumen. Doch der Job in Professor Gastodes Abteilung war etwas anderes. Er hatte das Potenzial für schlaflose Nächte, Herzleiden, Nervenzusammenbrüche und Bewusstseinsspaltung. Aber er wurde gut bezahlt und das war der Grund, warum ich ihn durchhielt – ich war in meinem Leben einfach schon zu vielen ekelerregenden und schlecht bezahlten Tätigkeiten nachgegangen. Und beispielsweise hatte mit vierzehn Jahren die Arbeit im Kraftwerk mir schlimmere Albträume beschert. Damals hatte ich eine ganze Woche Zitteranfälle, nachdem ich unter den Leichen, die ich in den Brennofen schaufelte, den Bettler erkannte, der eine Weile hartnäckig in der Garage meines Wohnblockes gehaust hatte. Doch das Leben in dieser Welt härtete ab.
„Du trödelst.", beklagte sich Professor Gastode, als ich die Rollbahre durch die Flügeltür schob.
„Wissen Sie, wer das hier ist?", erkundigte ich mich.
Der Professor warf einen flüchtigen Blick auf das zerklüftete Gesicht. Er hob die Schultern.
„Es ist Deus Galle., klärte ich auf, während ich die Bahre an gewohnter Stelle parkte. „Sie wissen schon, Galle, der Mann, der die Anschläge…
Gastode brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Arbeite, Max." Dann ging er nach nebenan in seine kleine Bürokabine.
Während ich den Überwurf von Galle entfernte, dachte ich über Professor Gastode nach. Ich mochte ihn. Er war mein Boss, aber immer freundlich, wenn auch so distanziert und professionell es eben ging, wenn man mit mir arbeitete. Er war vom Wesen her so geradlinig wie ein Laserstrahl und so pünktlich wie eine Atomuhr, und beides zusammen gab ihm den Sinn von Humor ein, den nur ein Rechenschieber teilte – doch abgesehen davon war er ein angenehmer Zeitgenosse.
Ich füllte einen Eimer mit Lauge, stellte das Radio an und machte mich gutgelaunt daran, den Leichnam zu säubern. Sobald die Krater vom Blut befreit waren, sahen sie schon weniger plakativ aus. Die Kugeln in der Brust holte ich mit ein wenig Fingerspitzengefühl heraus. Wer auch immer die zwei ins Gesicht gefeuert hatte, hatte Galle keinen Gefallen getan. Eine hatte nur die Schläfe geschrammt, aber die zweite war direkt rein gegangen. Ich hasste das Rumgestocher!
Dann nahm ich Rasierer und Pinzette und machte mich daran, alle Haare vom Körper zu entfernen. Irgendwann zwischendurch klopfte Professor Gastode gegen die Scheibe, ich sollte zurücktreten. Zehn Minuten brauchten die Sensoren über der Bahre um jene Messungen durchzunehmen, die nicht möglich waren, solange ich im Weg stand. Ich zog mir derweil einen Schokoladenriegel aus dem Automaten, setzte mich auf die benachbarte, freie Bahre und sah den surrenden Apparaturen zu, die ihre Daten direkt an den Professor im Büro weiterleiteten – und ich meine direkt.
Als ich weiterarbeitete, musste ich ihm noch einmal meine Aufmerksamkeit zuwenden. Er klopfte und tippte dann mit dem Finger auf seine rechte Wange. Also nahm ich die Zange, schob die Kiefer des Toten auseinander und brach die zwei Backenzähne mit Metallplomben heraus.
Als alles Metall und alle Haare entfernt und die fünf Löcher gestopft waren, gesellte sich der Professor wieder zu mir und stellte das Radio ab.
Er legte sich das zerbeulte Gesicht zu Recht und gab mir eine Spritzphiole in die Hand. „Wir müssen die nachgebesserten Stellen nachher einfärben., sagte er, während ich den Inhalt in den Stirnkrater abdrückte. „Bei Verhaftungen nimmt nie einer Rücksicht auf den Auftritt vor Gericht.
„Wir rackern uns ab und das Ergebnis ist nur für wenige Wochen., beschwerte ich mich. Ich zählte die verschiedenen Verbrechen auf, die Galle begangen hatte. „Alles gegen hohe Tiere.
, fügte ich nachdrücklich hinzu. „Die Konsequenz ist klar."
„Das einzige Urteil, dass diesen Mann nach derzeitiger Gesetzeslage erwartet, stimmte der Professor mir zu „ist die Exekution.
Er plauderte teilnahmslos, seine eigentliche Aufmerksamkeit lag woanders. Er hielt den leeren Blick ununterbrochen auf das Loch in Galles totem Gesicht gerichtet. Ich beobachtete, wie sich um die Wundränder allmählich eine durchsichtige Flüssigkeit sammelte – scheinbar von Zauberhand, aber ich wusste, dass dies nur der Professor in Aktion war. Er hatte eine Staffel anorganischer Mikroroboter angeleitet, Galles zerfetztes Gehirn zu rekonstruieren, die zog er jetzt zurück. „Ich bin fertig.", erklärte er schließlich und richtete sich auf.
Ich waltete meines Amtes und zog die Trägerflüssigkeit wieder in die Spritze. „Seit einem Jahrzehnt kennen wir das lang gesuchte Geheimnis des Lebens., brüskierte ich mich nebenbei. „Auf wen wenden wir es an? Auf Wirtschaftsmagnate und Schwerverbrecher – wobei sich die Frage nach dem Unterschied stellt.
Natürlich wusste ich so gut wie jeder andere, dass alles was man sagte aufgezeichnet und an einen zentralen Computer weitergeleitet wurde. Allerdings war meine eben getroffene Äußerung für ein Basisprogramm kaum verdächtig, einfach weil die Vokabel Schwerverbrecher in diesen Räumen öfter fiel. Es gab keinen Grund, die fragliche Äußerung an einen Sachbearbeiter weiterzuleiten und selbst wenn mit so niedriger Priorität, dass ich schon lang und auch lang genug tot wäre, wenn sie geahndet werden könnte.
„Arbeit, Max., mahnte der Professor. „Die Zeit drängt.
Er hatte Recht: Es war nicht selten, dass wir mehrere Anläufe brauchten, und die sollten wir heute noch unterbringen können.
Ich löste die Bremsen der Bahre und folgte Gastode zum roten Raum. Gemeinsam hievten wir Galles Körper auf das Fließband, das ihn ins Innere transportierte. In der Schleuse wurde er antibakteriell behandelt, dann tauchte er hinter dem Sichtfenster wieder auf. Genau in der Mitte des roten Raums kam er zum Stillstand.
Professor Gastode erstarrte und bekam seinen WiFi-Blick, und ich beobachtete, wie hinter der Scheibe eine mir inzwischen wohl bekannte Prozedur in Gang geriet: Rote Fliesen schoben sich zur Seite und aus den Öffnungen reckten sich gläserne Spinnenbeine dem Toten entgegen, streckten ihre unterschiedlichen Werkzeuge aus und verharrten dann ganz plötzlich wartend.
Auffordernd sah sich Professor Gastode zu mir um. Ich seufzte und machte mich auf den Weg.
Der führte auch mich durch eine Schleuse, in der ich nackt mit juckendem Desinfektionsmittel eingenebelt wurde. Danach schlüpfte ich in einen weißen Overall, setzte Schutzbrille und Mundschutz auf und betrat den roten Raum.
Wenn ich ihn Abends schrubbte, war er so weiß, wie jeder andere Raum im Institut, doch in Standby leuchteten die eckigen roten Lampen unter der Decke ihr bedrückendes Licht, das auf längere Zeit ungemein aggressiv machte. Einmal hatte ich über vier Stunden hier drin verbracht und noch zwei Tage später das Bedürfnis gehabt, Jeden anzuschreien. Heute wollte ich schneller wieder raus sein.
Mit einigermaßen geübten Griffen nahm ich die verschiedenen Anschlüsse der mechanischen Arme und führte sie ihrem Bestimmungsort zu. Insgesamt zweiunddreißig Nadeln stach in Adern und saugte das tote Blut an, dessen Gerinnung durch Chemikalien rückgängig gemacht wurde – kein Plan welche, ich spritzte sie nur. Eine lange Elektrode stach ich auf der linken Brustseite tief ein, danach klebte ich über hundert kleine Elektroden penibel an. Außerdem schmierte ich die glatt rasierte Glatze mit Gel ein und stülpte den komplexen Helm darüber, der sich mit vielen kleinen metallenen Greifern selbst festzog. Ich führte einen Schlauch durch die Luftröhre bis in die geflickten Lungen, schob einen ringartigen Stopfen in den Mund und klebte die Elektrodenmaske auf das Gesicht. Ganz zum Schluss klebte ich mir selbst eine punktförmige Elektrode auf die Stirn. Niemand hatte mir je erklärt, wozu es die brauchte, das war Betriebsgeheimnis. Aber ohne funktionierte der Trick wohl nicht.
Um mich herum startete ein nervöses Summen. Ich trat zwei Schritte nach hinten und blickte zum Fenster, das von dieser Seite aus spiegelte. Er zeigte einen Haufen Technik, eine Leiche und eine bis zur Unkenntlichkeit verhüllte, unvermeidlich rote Gestalt, die wohl ich war. Jetzt präsentierte sie einen Daumen nach oben zu dem von hier aus unsichtbaren Professor Gastode. Die Mechanik setzte sich in Bewegung und ich wich bis zur Wand zurück.
Was dann folgte, lässt sich schwer in Worte fassen. Der Professor hatte mir mal erklärt, dass die Farbe Rot dem Gehirn Platz für Projektionen schuf. Wohl deshalb hatte ich das Gefühl, die Geräusche und Bilder stammten aus meinem eigenen Kopf. Es waren Bilder, Filme und Tonaufnahmen aus Deus Galles Leben – die Behörden stellten uns das Material. Ich sah Galles Frau Lydia und hörte verschiedene Dinge, die sie sagte, manche davon recht intim. Ich sah seine Brüder, seinen besten Freund und seine Tochter Zora. Sie war ein gewöhnliches Mädchen, vielleicht sechzehn, und ganz nach Mentalität ihres Vaters weder operiert noch genmanipuliert. Ein recht wilder, rotbrauner Haarschopf wucherte um ihr kantiges Gesicht. Für einen winzigen Augenblick glaubte ich, es sei meine Tochter, so wie sie mit mir sprach. All das war sehr verwirrend.
Dann wurden die Dinge schneller, zu schnell, um ihnen noch zu folgen. Sie steigerten sich zu einer verwirrenden Lautstärke, einer schmerzhaften Lichtflut, die sich in meinen Kopf brannte.
Ich besann mich rechtzeitig, meine Augen zu schließen, denn die Brille half nur unzureichend gegen den folgenden Lichtimpuls. Noch durch meine Augenlieder nahm ich den Sekundenbruchteil unbefleckter Weißheit ganz deutlich wahr. In den kommenden Nächten würde ich mehrmals von dieser gleißenden Helligkeit aus dem Schlaf gerissen werden – ich kannte das.
Dann fiel alles zurück in seine normalen Werte. Ich schlug meine Augen auf, ignorierte die tanzenden schwarzen Flecken, und eilte zur Mitte des Raumes, wo Galle an dem Helm auf seinem Kopf zerrte. Die kleinen Beine, die sich ringsum in der Haut seines Kopfes festkrallten, weigerten sich zu weichen und es flossen bereits kleine Rinnsale des eben aufgefrischten Blutes über die schwammige Haut des nicht mehr all zu Toten.
Zwei Handgriffen von mir, und die Krallen zogen sich zurück, und somit auch die feinen Nadeln, die ich durch Galles Schädeldecke gebohrt wusste. Ganz ohne jede Betäubung tat das sicher weh – aber wie wollte man einen Toten schon betäuben?
Ich beeilte mich, die übrigen Anschlüsse zu entfernen, bevor Galle sie mit grober Motorik und rasend vor Schmerz herausreißen konnte. Noch immer stand ich hinter ihm und außerhalb seines Blickfeldes.
Als ich die Maske von Galles Gesicht zog und damit auch den langen Schlauch aus seiner Luftröhre und den Stopfen aus seinem Mund, wirbelte er in erstaunlicher Vitalität herum, erblickte mich, und schrie, nein brüllte los, in der Lautstärke eines Presslufthammers.
Ich war schon knapp eine Stunde hier drin. Meine Nerven waren angegriffen, von der penetranten Beleuchtung, der kleinschrittigen Arbeit und einer Stimulierungen, die Tote aufwecken konnten, deshalb sollte man meine Reaktion nicht so streng sehen: Ich scheuerte dem Typen, der meinen armen Gehörsinn so überforderte, links und rechts welche. Danach war Ruhe.
Galle starrte mich wie ein Wahnsinniger an; wobei Augen, die zwei Tage lang nur das Innere eines Eisfaches nicht gesehen haben, nicht sonderlich gut funktionierten.
„Hallo, Herr Galle.", sagte ich mit bestrebt beruhigender Stimme. Er zuckte zusammen, sah aber aus, als wolle er sich bemühen, zuzuhören. Ich musste ihm das anrechnen, wusste ich ja genauso wenig, wie es um seine Ohren beschaffen war. Das würden erst noch die Tests zeigen.
„Verstehen Sie mich?", fragte ich.
Er stierte mich mit verdrehten Augen an, dann öffnete er den Mund. Ich wartete, ob noch etwas passieren würde, doch mehr kam nicht. Mit offenem Mund und Silberblick blieb er sitzen.
Ich erinnerte mich an eine Leiche, die versucht hatte, mich umzubringen, während ich sie von den Elektroden befreite. Sie war so hartnäckig gewesen, dass mir damals nichts anderes übrig blieb, als sie mit dem Luftschlauch zu erwürgen. Wir mussten die ganze Apparatur warten und die Reanimation noch einmal durchführen – dagegen war Galle ein durchaus annehmbares Ergebnis.
Ich griff nach den Schnappbändern, die einer der Teleskoparme vom Professor gesteuert mir inzwischen darbot. Galle blickte erschrocken drein, wehrte sich aber nicht, als die automatischen Banden sich um ihn schlossen und seine Arme an seine Brust und seine Beine zusammen fesselten. Ich legte ihn wieder auf dem Platz nieder, den er bis eben noch stillschweigend hingenommen hatte und er und ich kehrten beide auf den Wegen zurück nach draußen, auf denen wir hereingekommen waren.
Als ich wieder in meinen Alltagskleidern und mit dem vertraut weißen Arbeitskittel in die gewöhnlichen Räumlichkeiten des Institutes trat, war Professor Gastode schon dabei, mit Taschenlampe und Klopfhammer die Reflexe des ehemals Toten zu überprüfen. Er tat das mit schweigenden Teilnahmslosigkeit, an die man sich bei ihm erst gewöhnen musste. Wer ihn nicht kannte, hielt ihn schnell für kalt und maschinell. Wenn man sich die Zeit nahm, ihn kennenzulernen, stellte man fest, dass er kalt und maschinell war – und das war seine beste Entschuldigung.
Professor Gastode hatte Galle die Fesseln bereits abgenommen. Die Bänder aus Polyethylen hatten sich zurückgezogen, sie lagen als kleine fünfeckige Gegenstände auf der Bahre. Galle selbst schien sich gefangen zu haben. Er erblickte mich und erwiderte mein beruhigendes Lächeln mit einem Ausdruck, der seinen wiederbelebten Gesichtsmuskeln zuzuschreiben war, und den ich wohlwollend als Erwiderung meiner Mimik deutete.
„Mein Name ist Max, Herr Galle. Und das ist Professor Gastode., stellte ich uns vor. „Wenn Sie mich verstehen können, nicken Sie nach Möglichkeit.
Es verging eine kleine Weile, bis meine Worte Zugang zu Galles Gehirn gefunden hatten. Er machte eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf, dann bemüht noch zweimal.
„Hervorragend!" Es war wirklich hervorragend. Von einem Menschen, der knapp drei Tage tot gewesen war, konnte man nunmal keinen philosophischen Diskurs oder Kalligraphie erwarten. Gehirn und Muskeln mussten erst wieder in Übung kommen. Außerdem durfte man nicht vergessen, dass in Galles Kopf eine Kugel gefeuert worden war.
Ich leierte den üblichen Fragenkatalog hinunter, wobei ich jedes Mal wenigstens eine halbe Minute auf das vertikale oder horizontale Zucken von Galles breitem Kinn warten musste.
„Wissen Sie, wer Sie sind?"
Ja.
„Erinnern Sie sich daran, was passiert ist?"
Ja.
„Können Sie Ihre Finger bewegen?"
Er versuchte es. Schließlich gelang es.
„Auch einzeln?"
Das ging nicht.
„Hören Sie normal?"
Nein.
„Haben Sie Schmerzen?"
Ja. Es war ein sehr eindeutiges Ja.
„Hätten Sie gerne etwas dagegen?"
Ja.
Ich bereitete eine Spritze vor, während ich weiter fragte.
„Erinnern Sie sich noch an den Anfang unseres Gespräches?"
Ja.
Das war gut, denn