Der Tempel der Liebe
Von Walther Kabel
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Der Tempel der Liebe - Walther Kabel
1. Kapitel
Der große Haß
Inhaltsverzeichnis
Irma Hölsch hatte nach der letzten Unterrichtsstunde und nach all dem Ärger sehr schnell bei Frau Mikla, die angeblich einen ›guten, billigen Mittagstisch‹ unterhielt, das mehr als mäßige Essen hinuntergeschlungen, hatte den schlanken Herrn Larisch, der wieder in seiner höflich bescheidenen Art eine Anknüpfung bei Tisch gesucht hatte, kühl mit ein paar fast unliebenswürdigen Worten abgeblitzt und war dann nach Hause geeilt in ihr bescheidenes möbliertes Zimmer, um endlich wieder allein zu sein mit ihren Gedanken, die ihr wie ein Bienenschwarm im Kopfe summten.
Sie warf jetzt das Paket Hefte, in die heute die fünfte Klasse den Aufsatz über ›Mein liebstes Buch‹ hineingeschrieben hatte, mit einer Gebärde des Ekels auf den Mitteltisch und ließ sich selbst, ohne erst den einfachen Filzhut abzulegen, aufatmend in den Korbsessel am Fenster fallen, schloß die Augen und dachte nur immer dasselbe: ›Ich begreife das alles nicht – ich begreife es nicht …!‹
Wie qualvoll war ihr nur heute das Unterrichten geworden! Noch schwerer als sonst! Sie eignete sich nicht zur Lehrerin. Das wußte sie längst, das hatte sie schon auf dem Seminar gemerkt. Sie konnte sich keinen Respekt bei diesem jungen, übermütigen Völkchen verschaffen, – vielleicht, weil sie Kinder zu gern mochte und daher nicht streng sein konnte. Heute hatte sie sich wie schon so oft über ihre eigene Milde und Nachgiebigkeit bis zu einer gelinden Wut gegen sich selbst aufgestachelt. –
Oder – war daran vielleicht doch nur das andere schuld gewesen, – das andere, das sie nicht ergründen konnte und daß ihr Denken seit Tagen völlig beherrschte …?! War es nicht lediglich die Enttäuschung darüber, daß ihr Verstand nicht hinreichte, diese Dinge aufzuklären, die da wie seltsame Rätselwesen aus dem Dunkel auf sie zu krochen und ihr höhnend zuflüsterten: ›Rate, wer wir sind, was wir wollen …!‹ –
Ja, das war wohl nur das Außergewöhnliche, das sie so nervös, so zerfahren gemacht hatte, und als dessen nächste Folge dann all die kleinen Widerwärtigkeiten in ihren Schülerinnen hingekommenen waren.
›Armes Völkchen!‹ dachte Irma. ›Ich bin heute sicher sehr ungerecht gewesen … Es tut mir jetzt leid. Aber – ich fürchte, morgen werde ich nicht anders sein … Es muß etwas geschehen – muß! So darf es nicht weitergehen! Ich fühle, wie meine Nerven förmlich vibrieren …‹
Sie erhob sich langsam, nahm den Hut ab, hängte ihn über den Eckknopf des Kleiderschrankes, trat vor den hohen Spiegel und zupfte sich das zerdrückte, aschblonde Haar zurecht, stellte dabei fest, daß sie heute recht blaß aussah, gar nicht vorteilhaft. Und sie war bisher mit ihrem Äußeren doch stets leidlich zufrieden gewesen, konnte es auch wohl sein … Das bewiesen ihr ja auch die vielen Frechdachse von Herren, die auf diese oder jene Weise ihre Bekanntschaft zu machen suchten und ihr auf der Straße geduldig folgten …
Irma lächelte. Und in diesem Lächeln war so ein ganz klein wenig Eitelkeit und Freude. – Sie war jung, war Weib … Und es waren doch schließlich alles Huldigungen, die man ihrer eigenartigen Schönheit darbrachte.
Dann trat sie ans Fenster. Der Mittagssonnenschein des warmen Apriltages lag grell auf der nüchternen Front der Mietskaserne gegenüber. Auf dem kleinen Balkon begoß der alte Herr gerade wieder seine Blumenkästen. Und ein Stockwerk höher lagen wieder die Betten zum Lüften über dem Balkongitter.
Irma riß das Fenster auf. Frische Luft brauchte sie, Licht, Sonne … – Da, – wie gräßlich! – von drüben aus der Kneipe wieder die kratzenden Töne des Grammophons, – ein Gassenhauer …: ›Paulinchen kann tanzen, habt ihr so was schon gesehn …‹ – Scheußlich … aber heute munterte es sie doch auf. Wie ein leiser Strom Berliner Leichtsinns drang’s mit den Tönen in das möblierte Zimmer – dreißig Mark mit Morgenkaffee! – hinein …
Irma ertappte sich darüber, daß sie die Melodien mitsummte. Sie merkte aber auch, wie sich die unerträgliche Spannung in ihrem Innern immer mehr löste. Sie wurde ruhiger. Und als sie jetzt leise vor sich hin sprach »Es muß etwas geschehen!«, da war schon wieder ein Überschuß von Kraft und Unternehmungslust in ihr. Sie würde doch dahinter kommen, was der Schreiber der Briefe eigentlich bezweckte! Eigentlich – war’s nicht lächerlich, sich über solchen Unsinn überhaupt aufzuregen …?! Hatte sie nicht schon genug Briefe ohne Unterschrift empfangen mit allen möglichen Ansinnen darin …?! – Freilich – all das hatte stets ihrer Schönheit gegolten. Diese drei Schreibmaschinenepistel dagegen, die waren so ganz anders abgefaßt, – ganz anders …
Irma mußte hier vorläufig ihren Gedanken halt gebieten.
Es hatte recht kräftig an die Zimmertür geklopft.
Ihre Wirtin, die verwitwete Frau Kanzleirat Mießtaler, trat ein, zwischen den dürren Fingern einen großen Brief haltend.
»Der Postbote wartet draußen, liebes Fräulein Hölsch,« flötete die Mießtaler. »Hier, – die Zustellungsurkunde sollen Sie unterschreiben. Der Brief scheint vom Gericht zu sein.«
Frau Leontine Mießtalers Neugierde entsprach durchaus ihrer Gestalt – war übergroß! – Ein Gerichtsbrief – was mochte wohl dahinterstecken …?! – Zu gern hätte sie es gewußt. –
Irma war wieder allein. Zögernd öffnete sie das Schreiben. – ›Amtsgericht Sziemanowo‹ stand oben in der linken Ecke des großen Bogens.
Irma las – las. Erst begriff sie nicht recht, faßte sich unwillkürlich mit der Linken an die Stirn …
Mein Gott – jetzt auch noch dies – dies …?! Was bedeutete das alles. Wie sollte sie sich nur zurechtfinden in den merkwürdigen Geschehnissen, die sich so plötzlich in ihr stilles Dasein gedrängt hatten …?!
Sie saß in dem Korbsessel. Der große, so streng amtlich ausschauende Bogen lag in ihrem Schoß. Und die Hände hatte sie darüber gefaltet, als wollte sie Gott anflehen, mit einem Lichtstrahl diese Dunkelheit zu erhellen, die um sie her war trotz des sonnigen Frühlingstages.
Nach einer Weile nahm sie das Schreiben wieder auf, las es nochmals ganz langsam durch.
Drüben in der Kneipe unten duldete das Grammophon als Begleitung den bekannten Marsch ›So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage …‹
Irma hörte nichts davon …
Im Auftrage Ihrer am 3. April des Jahres verstorbenen Großmutter väterlicherseits, der verwitweten Frau Grundbesitzer Elvira Hölsch, geborenen Lammert, teilt Ihnen das unterfertigte Nachlaßgericht in Ausführung des letzten Willens der Verblichenen mit, daß die Beerdigung hier in aller Stille am 8. des Monats stattgefunden hat und daß nunmehr dem Antritt der Erbschaft nach der Erblasserin durch Sie nichts mehr im Wege steht. Näheren Aufschluß gibt Ihnen die untenstehende beglaubigte Abschrift des Testaments der p. Elvira Hölsch.
Dann stand da weiter:
Mein letzter Wille
Zu meiner alleinigen Erbin setzte ich hiermit meine einzige nähere Verwandte, meine Enkelin Irma, Agathe, Anna Hölsch, Lehrerin, wohnhaft in Berlin Moabit, Reutlingerstraße 16, 2 Treppen bei Mießtaler, ein. Mein Nachlaß besteht in der Hauptsache aus einem Sparguthaben von zwölftausend Mark und aus dem sogenannten Lammerthof, der einen Wert von etwa zweiundzwanzigtausend Mark haben mag.
An meine langjährigen treuen Gehilfen, das Ehepaar Parlitz, ist ein Legat von dreitausend Mark auszuzahlen. Außerdem sollen die Leute bis zu ihrem Tode kostenlos weiter auf dem Grundstück wohnen dürfen. Den Lammerthof, der sich seit zweihundert Jahren im Besitz meiner Familie befindet, soll mein Erbin, wenn irgend möglich, nicht veräußern. Ich lege ihr diese Bitte warm ans Herz.
Ich wünsche nicht, daß meine Enkelin von meinem Tode vor meinem Begräbnis benachrichtigt wird. Dieses soll in der einfachsten Form stattfinden.
Dieses Testament hinterlege ich bei dem Amtsgericht Sziemanowo, damit ich sicher bin, daß mein letzter Wille streng beachtet wird.
Frau verwitw. Elvira Hölsch
geb. Lammert
Irma ließ den Bogen wieder sinken.
Vor ihr tauchte das Bild einer alten Frau auf, – ein grobknochiger Körper, ein Kopf mit harten Zügen, strengen Augen … Sie hatte die Großmutter Hölsch nie geliebt, stets gefürchtet, obwohl sie sie kaum kannte.
Die geborenen Lammert, aus altem posener Bauerngeschlecht stammend, das sich mannhaft seine deutsche Art inmitten einer fanatischen polnischen Bevölkerung bewahrt hatte, vergaß es dem einzigen Sohne nie, daß er gegen ihren Willen das ›Theatergeschmeiß‹ – anders nannte sie ihre Schwiegertochter nie! – geheiratet hatte. Und der verbohrte Haß gegen die kleine, bescheidene Schauspielerin, die dann Irmas Mutter wurde, hatte sich auch auf die Enkelin übertragen, war nie verhehlt worden. Dazu war die alte Frau Hölsch eine viel zu aufrichtige Natur.
Der Großmutter Bild verschwand …
Andere Erinnerungen stiegen vor Irmas geistigem Auge wie aus der Versenkung in bunter Folge auf – –: eine kleine Großstadtwohnung, in der es erst so fröhlich hergegangen war, in der die Liebe und das Glück sich so fest eingenistet zu haben schienen, bis dann die raue Faust des Schicksals die junge Menschenblüte knickte, an der sich eines Mannes schwacher Charakter wie ein haltsuchendes Schlinggewächs hochgerankt hatte. –
Das hatte die Großmutter Lammert aber nie einsehen wollen, daß der leichtsinnige Leutnant Günter Hölsch ohne das ›Theatergeschmeiß‹ wahrscheinlich drüben in Amerika als Kellner oder dergleichen geendet hätte, daß er nur durch die kleine Schauspielerin Irma Werhofen ein strebsamer Versicherungsbeamter und glücklicher Ehemann geworden war …
Wie mußte der Vater doch seine Frau geliebt haben – wie sehr …! Ihretwegen der Bruch mit den Eltern, ihretwegen das Ausscheiden aus der Armee, ihretwegen die plötzlich erwachte Freude an geregelter Tätigkeit, an dem eigenen Heim, – und das trotz all der Sorgen! – und ihretwegen schließlich das gewaltsame Ende, – ein Revolverschuß an einem frischen Grabe …
Damals war die kleine Irma gerade zwölf Jahre alt gewesen. Und seitdem hatte sie unter Fremden gelebt. Die einzige Verwandte, die sie noch besaß, die harte, unerbittliche Frau auf dem Lammerthof bei Sziemanowo, hatte das Kind in Pension gegeben, es nur selten, sehr selten besucht. Auch zwischen ihr und dem zum Weibe heranreifenden jungen Mädchen gab es keine engeren Fäden, – nur lose Bande: die Pflicht, für die Enkelin zu sorgen …! – Und sie hatte auch bestimmt, daß Irma Lehrerin wurde, – ohne sie zu fragen. Sie verlangte Gehorsam, – denn sie gab ja das Geld …
Und diese Frau war jetzt tot … War von Fremden zu Grabe geleitet worden … –
Irma war stets ehrlich gegen sich selbst. – Wo sollte sie wohl ein Gefühl der Trauer über den Tod ihrer Großmutter hernehmen …?! – Nein, wenn sie überhaupt etwas empfand, war es lediglich ein wenig Freude, daß sie jetzt die nahe bevorstehenden Osterferien auf dem Lammerthof als dessen neue Herrin zubringen konnte …
Aber diese kleine Freude blieb stark gedämpft. Als Schatten fiel darauf … das Andere, Dunkle … die anonymen Briefe …
2. Kapitel
Die treue Hand
Inhaltsverzeichnis
Irma verschloß das Schreiben des Amtsgerichts in der Blechkassette, die sie sich eigentlich nur Frau Mießtalers wegen angeschafft hatte, bei der sie nun schon ein Jahr wohnte und von deren Neugier sie sehr bald sichere Beweise erhalten hatte. Die Kassette hatte ein Schloß, das nur mit dem schmalen, langen Schlüssel mit den vielen Zacken zu öffnen war, – zu der Kanzleirätin großem Ärger.
Dann legte sich Irma wie immer auf den Diwan, schlief bis vier, wachte von selbst auf und machte sich zum Ausgehen fertig. Sie wollte ihre Freundin und Kollegin Hedwig Melcher besuchen, die schon etwas altjüngferliche Zeichenlehrerin, die doch ein so gutes Herz und einen so scharfen, feingebildeten Verstand besaß. Ihr wollte Irma sich endlich anvertrauen. Das Geheimnis der anonymen Briefe konnte sie jetzt nicht länger in ihrer Seele verschließen, jetzt, wo es durch den Tod der Großmutter nur noch rätselhafter geworden war.
Fräulein Melcher wohnte in der Invalidenstraße gegenüber einem alten Museum. Drei Geschwister hausten hier zusammen, zwei Schwestern und ein Bruder, stille, zufriedene Menschen, die die Arbeit nicht als Frondienst auffaßten, die an allem Freude hatten.
Hedwig war nicht daheim, auch die älteste Melcher nicht, Thilde, die als Buchhalterin in einem Warenhause zu der gemeinsamen Wirtschaft fast eben so viel beisteuern konnte wie Fritz Melcher, der pedantische Herr Polizeisekretär, trotz seiner achtundzwanzig Jahre bereits ein eingefleischter Junggeselle mit dem Glaubenssatz ›Besser als bei meinen Schwestern kann ich’s nirgends haben!‹
Fritz Melcher hatte soeben eine harmlose Influenza überstanden und daher noch ein paar Tage Urlaub. Er führte Irma in das Wohnzimmer, setzte ihr eine Tasse Kaffee vor, strich ihr ein Brötchen, – alles mit der Selbstverständlichkeit erprobter Freundschaft.
»Hedwig wollte erst ein paar Besorgungen erledigen und dann zu Ihnen gehen, liebes Fräulein Hölsch,« hatte er Irma aufgeklärt. »Sie wollte mit Ihnen irgendwohin ins Freie hinaus. Sie meinte heute beim Mittagessen, Sie seien in letzter Zeit stets sehr nervös und reizbar.«
Irma trank die halbe Tasse auf einmal aus. Sie fühlte sich schon wieder recht abgespannt.
Fritz Melcher saß ihr gegenüber und beobachtete sie unauffällig. Mit seinem blonden, dünnen Bart und der goldenen Brille, dem dunkelblauen Jackettanzug und der soliden schwarzen Schleife unter dem niedrigen Kragen brauchte er niemandem zu sagen, daß er Beamter sei, zumal der Ausdruck seines blassen Gesicht zumeist streng und verschlossen war. Nur jetzt leuchtete fast väterliche Güte und Milde auf diesem feingeschliffenen Antlitz, das durch jedes Lächeln wunderbar verschönert wurde.
»Was quält Sie eigentlich, Fräulein Hölsch?« fragte er, als Irma nicht gleich etwas erwiderte, sondern nachdenklich vor sich hinschaute.
»Deshalb kam ich ja gerade zu Hedwig,« meinte sie leise aufseufzend. »Ich wollte mich mit Ihrer Schwester einmal aussprechen.«
»Hm – wäre es unbescheiden, wenn ich Sie bäte, sich der Selbsttäuschung hinzugeben, daß nicht ich, sondern Hedwig Ihnen jetzt gegenübersäße …?! So halb und halb betrachte ich Sie ja doch als meine Adoptivschwester, Fräulein Irma. Natürlich will ich mich Ihnen wahrhaftig nicht aufdrängen. Aber …«
Sie hatte ihm die Hand über den Tisch hingestreckt.
»Für diese schlechte Welt sind Sie eigentlich viel zu gut, – wirklich! Sie finden für jeden das rechte Wort. Adoptivschwester …! Wie hübsch das klingt … Ich bin ja immer so allein gewesen. – Aber – was das Aufdrängen anbetrifft, das könnte doch