Zwei Leben
Von Emanuele Trevi
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Über dieses E-Book
Das Leben zweier Literaten erzählt von einem dritten, der ihr Freund war. Um die Lücke zu füllen, die Pia Pera und Rocco Carbone durch ihren frühen Tod in seinem Leben hinterlassen haben, erzählt Emanuele Trevi von ihnen. Von Rocco, dem ewig Unzufriedenen, und von Pia, der bezauberndGartenverliebten. Im Erzählen nehmen sie wieder Gestalt an, diese vielschichtigen und liebenswerten, zerbrechlichen und brillanten Menschen, die von den Stürmen und Freuden des Schaffens, von Erfolgen und Misserfolgen mitgerissen werden und mit ihren persönlichen Dämonen kämpfen.
Emanuele Trevi schreibt mit großer Zuneigung und bedingungsloser Ehrlichkeit gegen das Vergessen an und schenkt uns damit eine Reflexion über das Erwachsenwerden, das Verstehen und Missverstehen, das Trauern – und eine einzigartige Ode an die Freundschaft.
Emanuele Trevi
Emanuele Trevi wurde 1964 in Rom geboren, wo er auch heute noch lebt und in den 1980er-Jahren die Freundschaft zu Pia Pera und Rocco Carbone begann. Er ist Schriftsteller – Autor von siebzehn Büchern – und Literaturkritiker, Mitarbeiter des Corriere della Sera und des Manifesto und hat zahlreiche Preise gewonnen, darunter den Premio Strega 2021 für ›Due Vite‹. Er vermischt erfolgreich Roman und Essay, Biografie und Memoiren zu einem äußerst persönlichen Genre.
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Buchvorschau
Zwei Leben - Emanuele Trevi
Er war einer von diesen Menschen, die dazu bestimmt sind, ihrem Namen im Lauf der Zeit immer ähnlicher zu werden. Ein unerklärliches Phänomen, aber gar nicht mal so selten. Rocco Carbone klingt tatsächlich nach einem geologischen Gutachten. Und viele Facetten seines wahrhaftig nicht einfachen Charakters sprachen deutlich für eine Sturheit, eine Härte aus dem Reich der Mineralien. Vorausgesetzt wir besinnen uns wie die alten Alchemisten darauf, dass es in der Natur nichts Psychischeres gibt als Steine und Metalle. Ein Eindruck, der durch seine kantige Physiognomie und seine markanten Züge eher noch verstärkt wurde. Sein dichter, kompakter, massiver Haarschopf wirkte fast so, als wäre er modelliert und aufgemalt wie der von Marionetten. In den fünfundzwanzig Jahren, die ich ihn bis zu seinem Tod mit sechsundvierzig erlebt habe, ist er für mich im Grunde unverändert geblieben – ganz so, als hätte das Leben, dieses unerbittliche und gleichgültige Los, keinerlei sichtbare Spuren bei ihm hinterlassen. Der ausdauernde Läufer mit den muskulösen Armen hatte schon als junger Mann einen schwarzen Gürtel in Judo. Er liebte es, diese edle Kampfkunst in ebenso spontanen wie gefährlichen Darbietungen vorzuführen. Und es war wirklich unmöglich, ihn auch nur um einen Millimeter zu verrücken, wenn er die Füße wie bei seinem einstigen Tatamimatten-Training fest in den Boden stemmte. Erst in den letzten Jahren legte er durch das Lithium, das er einnahm, etwas an Gewicht zu, aber ohne dass er deswegen weniger kompakt und kämpferisch gewirkt hätte. Seine Kleidung war stets mehr als nur schlicht. Schon harmlose Pullover-Rauten waren ihm unangenehm, wie er mir einmal gestand. So wie man einen Horror vacui haben kann, haben manche Leute eine krankhafte Angst vor allen Verzierungen. In seiner letzten Wohnung in Rom, in Monteverde Vecchio in einem modernen Mehrfamilienhaus in der Via Lorenzo Valla, gab es nicht ein einziges Bild, rein gar nichts schmückte die weißen Wände. Die Einrichtung beschränkte sich auf das Nötigste. Er mochte dunkles Holz und Lederpolster – alles, was den Charakter eines Raums, eines Menschen unaufdringlich und schnörkellos ausdrückt. Ich erinnere mich an einen Vormittag im Sommer 1995, als wir uns in Paris vor dem Musée d’Orsay trafen. Erst wenige Wochen zuvor war der französische Staat in den Besitz von Courbets Der Ursprung der Welt gelangt. Der letzte Privatbesitzer dieses Gemäldes mit abenteuerlicher Provenienz war Jacques Lacan, der angeblich seinen Spaß daran gehabt haben soll, seine Gäste (oder seine Patienten?) mit einer Art Enthüllungsritual zu unterhalten. Er entfernte die Abdeckung, die das Gemälde vor lästigen empörten oder lüsternen Blicken schützte, und da war er, der Ursprung aller Dinge bzw. die Pforte ins Leben: Der feuchte, halboffene, von Schamhaar bedeckte Spalt zwischen zwei wohlgeformten, gespreizten Schenkeln ist mit einer solchen Könnerschaft und Hingabe gemalt, dass er fast schon seinen leicht süßlichen, berauschenden Duft einer überreifen Frucht zu verströmen scheint. Bei der offiziellen Übergabe des Meisterwerks an das Musée d’Orsay verrenkte sich der arme französische Kulturminister, ein Katholik und ehemaliger Bürgermeister von Lourdes, der notgedrungen an der Zeremonie teilnehmen musste, wie ein Schlangenmensch, um ja nicht von den Fernsehkameras mit dieser Möse verewigt zu werden, die trotz ihres künstlerischen Etiketts durchaus in der Lage war, sündige Gedanken hervorzurufen. Zwischen den riesigen Werken, die die Wände des Courbet-Saals im Erdgeschoss des Museums bedecken, nimmt sich Der Ursprung mit seiner Kantenlänge von rund fünfzig Zentimetern direkt mickrig aus: derselbe Effekt wie bei Andrea Mantegnas Beweinung Christi in der Pinacoteca di Brera – auch so ein malerisches Meisterwerk, bei dem das Sakrale die winzigen Dimensionen sprengt. Rocco war außer sich vor Begeisterung. Mit dabei war auch Pia Pera, unsere geliebte Pia, die wie immer, wenn wir drei zusammen waren, einen nicht unerheblichen Teil ihrer Energie darauf verwandte, zu verhindern, dass Rocco und ich aus den üblichen völlig unwichtigen Gründen in Streit gerieten. Aber an diesen Vormittag habe ich eine besonders schöne Erinnerung, das Leben schien noch vielversprechende Geheimnisse bereitzuhalten und es war, als hätte der Meister soeben extra für uns mit einem letzten Pinselstrich sein Glanzstück vollendet. Wie gesagt, Rocco war am begeistertsten. Noch Jahre später sprach er darüber wie von einem ästhetischen Erweckungserlebnis, wie von einem wichtigen Meilenstein unserer Freundschaft. Die erotische Intensität dieses Bildes, seine philosophischen und naturalistischen Anspielungen interessierten ihn jedoch kein bisschen. Wenn überhaupt, war es das Nichtvorhandensein jeglicher Zeichenhaftigkeit, das ihn faszinierte: die eindeutige Einheit von Dargestelltem und darstellerischen Mitteln. Mit anderen Worten, das, was man als Courbets höchste Freiheit bezeichnen kann, die nicht darin besteht, eine offene Möse so zu malen, wie sie nun mal aussieht, nämlich in all ihrer Fleischlichkeit, sondern darin, dies ohne jede rhetorische Verbrämung zu tun. Natürlich kann man sagen, dass diese Eindeutigkeit, diese Freiheit ihrerseits Kunst und somit Utopien sind: Rocco, alles andere als dumm, wusste das ganz genau, dennoch hatte er das dringende Bedürfnis, sich der Essenz, der Klarheit, der Konzentration, der größtmöglichen Übereinstimmung zwischen Darstellung und Dargestelltem anzunähern. Aus meiner Sicht hatte er ein fast schon verzweifeltes Bedürfnis nach konkreten Wortbedeutungen ohne jede Mehrdeutigkeit und nach den moralischen Implikationen dieser Konkretheit («Wie meinst du das?» – «Wieso sagst du das?» – «Wieso lachst du?»). Wer ihn kannte, wusste, dass da noch etwas viel Tiefgehenderes, Notwendigeres und Zwingenderes dahintersteckte als bestimmte künstlerische oder literarische Vorlieben. Die Furien, die ihn, seit er auf der Welt war, mal mehr, mal weniger verfolgten, jubelten bei Manierismen, Komplikationen, uneindeutigen Zeichen und ihren Bedeutungen. Hartnäckig versuchte er, zu vereinfachen, zu entschlacken. Wenn es die menschliche Anatomie zuließe, hätte er sich liebend gern sogar noch die Knochen und Nerven mit einer eisernen Drahtbürste blankgeschrubbt.
Geboren wurde er im Februar 1962 in Reggio Calabria, ausgerechnet in der schwierigen astrologischen Übergangsphase Wassermann und Fische. Den Großteil seiner Kindheit verbrachte er jedoch in Cosoleto, einem kleinen Dorf im Aspromonte mit einem harten, stolzen, verschlossenen Menschenschlag, der dazu neigt, Leben wie Tod mit heftiger Verbitterung zu begegnen. Die dortige Grundschullehrerin war seine Mutter, die ihn im Unterricht stets genauso behandelte wie die anderen Kinder, wenn nicht gar strenger – worunter er verständlicherweise litt. Sein Vater war lange Bürgermeister dieses kleinen Dorfes im Schatten der Berge, umgeben von uralten Wäldern und reißenden Bächen, die seit Jahrtausenden den Fels zerklüften. Über seinen Vater erzählte Rocco oft eine lang zurückliegende, befremdliche Anekdote. Im Sommer 1970 schaute dieser mit Rocco und dessen jüngerem Bruder Sandro (zusammen mit der Schwester waren es drei Kinder) das berühmte (und überschätzte) Halbfinale Italien gegen Deutschland bei der Fußball-WM in Mexiko. Ja genau, das, was mit 4:3 für uns ausging, mit fünf Toren in der Verlängerung und dem alles entscheidenden, beherzten Schuss von Gianni Rivera. Doch als die reguläre Spielzeit vorbei war und das Beste erst noch kommen sollte, ertrug der Vater die Anspannung nicht länger, so Rocco. Er machte den Fernseher aus und zwang sich sowie beide Söhne ins Bett zu gehen. Roccos Anekdoten waren alle so, Fragmente eines absurden Theaters, die er ausgrub, ohne es sich nehmen zu lassen, sie x-mal zu wiederholen – ganz so, als würden sie dadurch veredelt, bekämen eine prophetische Bedeutung oder groteske Schönheit. Und zwar solange, bis sich diese Erzählungen bei denjenigen, die sie zu hören bekamen, unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt hatten.
Als ich Rocco im Winter 1983 kennenlernte, war er erst seit Kurzem in Rom. Er hatte sich für Literaturwissenschaften eingeschrieben und eine Art Stipendium für die Teilnahme an einem Dramaturgie-Seminar bei Eduardo De Filippo bekommen. Zwischen dem großen Schauspieler, der inzwischen am Ende seines Lebens angelangt war, und dem blutigen Anfänger herrschte eine spontane, unwiderrufliche Abneigung. Entgegen jeder Logik und ganz so, als hätten sie die Rollen und das damit einhergehende Urteilsvermögen getauscht, fand Rocco den altehrwürdigen Eduardo «arrogant». Damals wohnte er in einem Priesterkolleg bei den warmherzigen und toleranten Silvestrinern, die viele «von außerhalb» aufnahmen (und