Thomas Hippler

Wer die Feierlichkeiten zu 150 Jahren italienischer Nationalstaatsgründung 2010/11 bzw. zu 25 Jahren Mauerfall und deutscher Einheit 2014/15 genauer verfolgt hat, konnte beobachten, dass sich längst überwunden geglaubte Mythen und teleologische Meistererzählungen erneut in breiter Öffentlichkeit zeigen. Obwohl die Geschichtswissenschaft seit der Jahrtausendwende beispielsweise die Darstellung Verdis als nationaler Barde oder der antinapoleonischen Kriege als Befreiungskriege kritisiert hat, bleibt eine scharfe Diskrepanz zwischen professioneller Historiographie und öffentlicher Debatte. Die nationalen Integrationsideologien, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchsetzten, wurden hingegen von der damaligen historischen Zunft eifrig unterstützt und trugen von Anfang an ein Janusgesicht: einerseits die beschleunigte, oft diktierte Überwindung von Differenzen; andererseits die Vertiefung bestehender Gräben zwischen sozialen und regionalen Milieus. Die Diskrepanzen heutiger Erinnerungskulturen haben ihren Ursprung in politischen Spaltungen und konkurrierenden Integrationsideologien der gerne als " verspätete Nationen " bezeichneten Länder Deutschland und Italien vor und unmittelbar nach der Gründung der jeweiligen Nationalstaaten. Ziel der Sektion ist es daher, die Vielfalt nationaler Mythologien zu diskutieren und die retrospektiv gewonnenen Rückschlüsse über die nationale Einheit als Telos und einzig legitime Integrationsideologie zu revidieren. Die innovativen Ansätze der Beiträge wollen keine binationale Meistererzählung durch parallel erzählte Erfolgsgeschichten reproduzieren. Vielmehr diskutieren sieben international führende Historikerinnen und Historiker die Prozesse gesellschaftlicher Spaltung nördlich und südlich der Alpen kritisch und tragen derart zu einem vertieften Verständnis der Problemlage bis in die heutige Zeit hinein bei. Schließlich ist der 150. Jahrestag der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 2021 nicht mehr fern.