NR. 204
06.07.2018
ukraineanalysen
www.laender-analysen.de/ukraine
WAHLRECHTSREFORM UND PARTEIEN
VERHÄLTNIS ZU DEN USA
BEWAFFNETER KONFLIKT IN DER OSTUKRAINE
■ ANALYSE
■ UMFRAGE
Die Wahlrechtsreform in der Ukraine –
quo vadis?
Von Steffen Halling
(Forschungsstelle Osteuropa an der Universität
Bremen)
2
Landminen in der Konfliktregion im Donbass:
Gefahren und Perspektiven
22
Von Elena Ostanina (IHS Markit, Berlin)
7
■ GRAFIK ZUM TEXT
Opfer von Minen und Blindgängern
im Donbass
■ ANALYSE
Die politischen Parteien vor dem Wahlmarathon
2019/2020
8
Von Miriam Kosmehl
(Bertelsmann Stiftung, Berlin)
■ TABELLEN UND GRAFIKEN ZUM TEXT
Aktuelle Wahltrends in der Ukraine
13
■ ANALYSE
Überraschende Entwicklung mit offenem
Ausgang: die Ukraine-USA-Beziehungen
Von Susan Stewart
(Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin)
21
■ ANALYSE
■ GRAFIKEN ZUM TEXT
Einstellung der ukrainischen Bevölkerung zum
Wahlsystem und zu Parteien
Einstellung der ukrainischen Bevölkerung
zu USA und NATO
26
■ DOKUMENTATION
Menschenrechtssituation in den
»Volksrepubliken« im Donbass
27
■ DEKODER
Sie waren dort
Von Irina Tumakowa (Nowaja Gaseta)
29
■ DOKUMENTATION
16
Verlängerung der Krim-Sanktionen durch
die EU
■ CHRONIK
11. Juni – 1. Juli 2018
■ STATISTIK
32
33
Ukraine und USA – Warenexport und -import 20
Deutsche Gesellschaft für
Osteuropakunde
Deutsches
Polen-Institut
Forschungsstelle Osteuropa
an der Universität Bremen
Forschungsstelle Osteuropa
an der Universität Bremen
Leibniz-Institut für
Agrarentwicklung in
Transformationsökonomien
Leibniz-Institut für
Ost- und Südosteuropaforschung
Zentrum für Osteuropa- und
internationale Studien
(ZOiS) gGmbH
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
ANALYSE
Die Wahlrechtsreform in der Ukraine – quo vadis?
Von Steffen Halling (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)
Zusammenfassung
Ein wesentliches Reformanliegen, das von der ukrainischen Zivilgesellschaft, reformorientierten Politikern
und internationalen Akteuren seit Jahren unterstützt wird, stellt die Veränderung des Wahlsystems dar, mit
dem die Abgeordneten des ukrainischen Parlaments gewählt werden. Geht es nach den Befürwortern einer
Wahlrechtsreform, soll das Parlament zukünftig nach einem reinen Verhältniswahlsystem auf der Grundlage
lose gebundener regionaler Parteilisten, die in der Ukraine als »offene« Listen bezeichnet werden, gewählt
werden. Die Reform des ukrainischen Wahlrechts stellt zwar gewiss kein Allheilmittel dar, allerdings könnte
sie den Kampf gegen politische Korruption unterstützen, zu einer besseren Abbildung des Wählerwillens
führen und somit die Institution freie und faire Wahlen als wesentlichen Bestandteil der Demokratisierung
der Ukraine stärken. Ob die Reform rechtzeitig vor den Parlamentswahlen im Oktober 2019 umgesetzt
wird, ist jedoch ungewiss.
S
eit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion wurden
in der Ukraine bisher sieben Parlamentswahlen abgehalten. Die jeweilige Wahlgesetzgebung hat dabei dutzendfach Änderungen erfahren, und es kamen seit 1994
drei unterschiedliche Wahlsysteme zum Einsatz. Änderungen und Neufassungen von Einzelwahlgesetzen im
Vorfeld von Wahlen gelten in der Ukraine in der Regel
als Versuch der jeweils regierenden politischen Kraft,
sich Vorteile zu verschaffen. Es steht außer Frage, dass
sich häufige Änderungen der Wahlgesetzgebung sowohl
in der Bevölkerung als auch bei politischen Akteuren
negativ auf das Vertrauen in die Institution Wahlen
auswirken. Bei den ersten freien Parlamentswahlen
1994 wurden alle Abgeordneten der Werchowna Rada
zunächst per direktem Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen gewählt. Um in das Parlament einzuziehen, musste ein Kandidat (entweder im ersten Wahlgang
oder in einer Stichwahl) mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen erhalten. Die Wahlbeteiligung musste
dabei mehr als 50 Prozent betragen. Diese Bestimmungen führten dazu, dass die Wahlen in manchen Wahlkreisen mehrfach wiederholt werden mussten und auch
nach der Konstituierung des neu gewählten Parlaments
nicht alle Wahlkreise durch einen Abgeordneten im
Parlament vertreten waren. 1998 und 2002 erfolgte
die Wahl der Abgeordneten dann durch ein gemischtes Wahlsystem, bei dem die Hälfte der Parlamentssitze
per Verhältniswahl nach landeseinheitlichen und starren Parteilisten, die andere Hälfte per Mehrheitswahl
in Einerwahlkreisen besetzt wurde. Für die Parlamentswahlen 2006 sowie die vorzeitigen Neuwahlen 2007 sah
die Gesetzgebung dann eine reine Verhältniswahl auf
der Grundlage von landesweiten Kandidatenlisten vor,
die von Parteien und Wahlbündnissen aufgestellt wurden. Die bisher letzte Metamorphose des Wahlsystems
erfolgte 2011 durch Verabschiedung eines neuen Par-
lamentswahlgesetzes im Vorfeld der Parlamentswahlen 2012. Dieses Wahlgesetz sah eine Rückkehr zum
gemischten Wahlsystem der Jahre 1998 und 2002 vor
und kam zuletzt 2014 zur Anwendung.
Defizite des aktuellen Wahlsystems
Das zu den Parlamentswahlen 2012 erlassene Parlamentswahlgesetz, das bis heute Gültigkeit besitzt, sorgte
bereits bei seiner Verabschiedung für harsche Kritik.
Kritisiert wurde damals unter anderem, dass das Gesetz
von der damaligen Regierungskoalition unter Führung der Partei der Regionen und mit der Mehrheit
der Stimmen der Opposition in einem intransparenten und äußerst eiligen Verfahren verabschiedet wurde
(siehe dazu auch die Ukraine-Analysen Nr. 99 vom
24.1.2012, <http://www.laender-analysen.de/ukraine/
pdf/UkraineAnalysen99.pdf>). Darüber hinaus hatten sich auf Wahlgesetzgebung spezialisierte ukrainische Nichtregierungsorganisationen – wie das Komitee
der Wähler der Ukraine (Komitet Wyborziw Ukrajiny/KWU) und OPORA – ebenso wie die Europäische Union und die Venedig-Kommission des Europarats bereits im Vorfeld gegen die Wiedereinführung
des gemischten Wahlsystems ausgesprochen. Die Beanstandung dieses Wahlsystems hat im Kontext des politischen Systems der Ukraine mehrere Gründe. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Erstens führt das in der Ukraine bestehende
gemischte Wahlsystem dazu, dass etliche Stimmen der
ukrainischen Wählerinnen und Wähler bei der Mehrheitswahl, durch die die eine Hälfte der Abgeordneten
gewählt wird, keine Berücksichtigung finden. Anders
als beispielsweise in Deutschland, werden Direktmandate in der Ukraine nämlich nicht auf Listenmandate
angerechnet. Das heißt, Mehrheitswahl und Verhältniswahl stehen in der Ukraine nebeneinander und wer-
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UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
den ohne Verrechnung miteinander angewandt. Dieses
Wahlsystem wird daher auch als »Grabenwahlsystem«
bezeichnet.
Neben der Nichtberücksichtigung all jener Stimmen, die in der einfachen Mehrheitswahl auf unterlegene Direktkandidaten entfallen, führt das Wahlsystem
zweitens dazu, dass einzelne Fraktionen, insbesondere
die der jeweiligen »Partei der Macht«, sowohl durch
Direktkandidaten, die von einer Partei aufgestellt werden, als auch vermeintlich unabhängige Kandidaten
im Vergleich zum Landesergebnis stark überrepräsentiert werden können. Im Kontext eines von Korruption
geprägten politischen Systems kommt das schwerwiegende Problem hinzu, dass durch die Direktwahl von
Abgeordneten in Einerwahlkreisen der Einsatz administrativer Ressourcen sowie der Kauf von Wählerstimmen begünstigt werden, weil sie effektiver betrieben
werden können als in einer Verhältniswahl. Hiervon
können vor allem Oligarchen und andere finanzstarke
Geschäftsleute profitieren, die durch den Einsatz finanzieller Ressourcen und den »Kauf eines Wahlkreises«
den politischen Wettbewerb verzerren und sich selbst
oder persönliche Vertreter ins Parlament wählen lassen.
Dies erfolgt vor allem über Träger von Direktmandaten,
die häufig eine »unabhängige« Kandidatur deklarieren,
sich nach der Wahl zur Sicherung ökonomischer Interessen aber der Regierungsmehrheit anschließen. Für
die Demokratie schädliche Praktiken wie Korruption
und Klientelismus werden dadurch verstetigt.
Schließlich steht drittens auch die derzeitige Verhältniswahl, durch die die andere Hälfte der Abgeordneten gewählt wird, seit Jahren in der Kritik. Zu berücksichtigen sind hierbei die mangelnde Konsolidierung
des ukrainischen Parteiensystems sowie unzulängliche
demokratische Strukturen innerhalb der Parteien. Die
Zusammenstellung der landesweiten Parteilisten erfolgt
in der Regel hochgradig intransparent. Da die Wähler
nur eine landesweite Parteiliste en bloc wählen können,
muss davon ausgegangen werden, dass insbesondere jene
Listenplätze, die unterhalb des Radars der öffentlichen
und medialen Aufmerksamkeit liegen, gleichzeitig aber
aussichtsreich genug sind, um einen Einzug ins Parlament zu ermöglichen, gehandelt werden. Auch das System der starren Parteilisten stellt somit ein Vehikel der
Einflussnahme durch Oligarchen und Geschäftsleuten
dar und leistet der politischen Korruption Vorschub.
Der Reformprozess nach dem Euromaidan
Um den Defiziten des gegenwärtigen Parlamentswahlsystems zu begegnen, fordern vor allem Wahlrechtsexperten aus ukrainischen Nichtregierungsorganisationen
wie OPORA und KWU sowie internationale Organisationen – wie die Venedig-Kommission des Euro-
parats und das Büro für demokratische Institutionen
und Menschenrechte der OSZE (ODIHR) – die Einführung einer reinen Verhältniswahl auf der Grundlage lose gebundener regionaler Listen (in der Ukraine
als »offene« Listen bezeichnet). Im Unterschied zu starren Listen, bei denen die Reihenfolge der Kandidaten
durch Parteigremien festgelegt wird, überlassen lose
gebundene Listen dem Wähler die Entscheidung über
die Wahl eines Kandidaten beziehungsweise einer Kandidatin einer Partei. Die somit von den Wählern zum
Ausdruck gebrachten Präferenzen sind für die schlussendliche Kandidatenreihenfolge bei der Besetzung der
Parlamentssitze maßgeblich.
Die Idee einer entsprechenden Reform besteht darin,
dass das reine Verhältniswahlsystem den Wählerwillen
besser abbilden und gleichzeitig den Einsatz administrativer Ressourcen sowie den Kauf von Wählerstimmen
erschweren könnte. Ferner könnten regionale Wahllisten, die den Wählerinnen und Wählern die Möglichkeit
geben, bestimmte Kandidaten zu präferieren, die innerparteiliche Konkurrenz stärken, die Transparenz erhöhen und die Attraktivität des Verkaufs von Listenplätzen schmälern. Ein derartiges Wahlsystem findet auch
in der Bevölkerung Rückhalt. Laut einer Umfrage des
Rasumkow-Zentrums vom Dezember 2017 sprechen
sich 34,5 Prozent der Befragten für die Einführung
einer reinen Verhältniswahl mit »offenen« Parteilisten
aus (siehe Grafik 1 am Ende des Textes). Die Beibehaltung des gemischten Wahlsystems präferieren indes 17,2
Prozent. Eine reine Mehrheitswahl von Direktkandidaten in Einerwahlkreisen, wie sie 1994 erfolgte, unterstützen 16,1 Prozent und eine reine Verhältniswahl mit
starren beziehungsweise »geschlossenen« Parteilisten
nach dem Beispiel der Parlamentswahlen 2006 und
2007 nur 5,2 Prozent.
Die Forderung nach der Einführung eines reinen
Verhältniswahlsystems für Parlamentswahlen ist nicht
neu. Die Venedig-Kommission wies bereits im Nachgang der vorzeitigen Parlamentsneuwahlen 2007 sowie
im Zuge der Wahlrechtsreform 2011 darauf hin, dass
die Einführung einer reinen Verhältniswahl in regionalen Wahlkreisen jene Nachteile abbauen könnte, die
sowohl mit dem gemischten Wahlsystem als auch mit
der Verhältniswahl in einem landesweiten Wahlkreis
einhergehen. Unter der Administration von Präsident
Janukowytsch fehlte allerdings der politische Wille, das
gemischte Wahlsystem wieder abzuschaffen. Schließlich hatte sich dieses bei den Parlamentswahlen 2012
zur Sicherung der Regierungsmehrheit der Partei der
Regionen bewährt. Zuvor war dieses System von der Partei der Regionen bei den Lokalwahlen 2010 durch eine
kurzfristige Anpassung des entsprechenden Lokalwahlgesetzes erfolgreich erprobt worden (siehe dazu auch die
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Ukraine-Analysen Nr. 82 vom 9.11.2010, <http://www.
laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen82.
pdf>).
Durch den Euromaidan, den Sturz Janukowytschs
und den Zerfall der Partei der Regionen schienen sich
die Aussichten für eine Veränderung des ukrainischen
Wahlrechts vor allem im Hinblick auf das Wahlsystem
für Parlamentswahlen verbessert zu haben, auch weil die
Reform hin zu einer reinen Verhältniswahl mit »offenen«
regionalen Listen im Koalitionsabkommen von 2014
als Ziel ausgegeben wurde. Gleichzeitig offenbarte sich
jedoch auch recht früh das Dilemma, dass die Wahlgesetzgebung letztlich von jenen Abgeordneten reformiert
werden muss, die 2014 durch das bestehende Wahlgesetz in die Werchowna Rada gewählt worden sind und
von diesem entsprechend profitiert haben. Dies trifft insbesondere auf die Direktkandidaten zu. Erst drei Jahre
nach den Parlamentswahlen von 2014, im Oktober 2017,
als ein Bündnis aus verschiedenen Oppositionsparteien,
einzelnen Abgeordneten und Vertretern der Zivilgesellschaft zu Großdemonstrationen vor dem Parlament aufgerufen hatte und – neben der Schaffung eines Antikorruptionsgerichts sowie der Abschaffung der Immunität
von Abgeordneten – die Änderung des Wahlsystems als
eine zentrale Reform einforderte, kam das Thema der
Wahlrechtsreform überhaupt auf die Agenda des Parlaments. Zwei Tage nach dieser Demonstration wurden drei Gesetzesvorschläge, die bereits im Dezember
2014 registriert worden waren, auf die Tagesordnung
des Parlaments genommen. Alle drei Gesetzesinitiativen, darunter eine, die die Einführung einer reinen Verhältniswahl mit »offenen« Listen vorsah, wurden jedoch
zugleich in erster Lesung abgelehnt.
Umso überraschender erschien es, dass kurze Zeit später, am 7. November 2017, der Entwurf eines umfassenden einheitlichen Wahlgesetzbuches (siehe <http://w1.c1.
rada.gov.ua/pls/zweb2/webproc4_1?pf3511=56671>) in
erster Lesung angenommen wurde. Im Unterschied zu
den zuvor verabschiedeten Neufassungen von Einzelwahlgesetzen handelt es sich hierbei um eine einheitliche Kodifikation, die nicht nur den Gesetzesrahmen für
Parlamentswahlen, sondern auch für Kommunalwahlen und Präsidentschaftswahlen sowie für die Arbeit der
Zentralen Wahlkommission und für das zentrale Wählerregister absteckt. Die Wahlgesetzgebung soll somit
insgesamt harmonisiert werden. Die Annahme des von
den Abgeordneten Andrij Parubij, Leonid Jemez (beide
von der Partei Volksfront) und Oleksandr Tschernenko
(Block Petro Poroschenko) eingebrachten Wahlgesetzentwurfs, der für Parlamentswahlen eine Verhältniswahl und die Einführung »offener« Listen in regionalen
Wahlkreisen vorsieht, kam vor allem deshalb überraschend, weil nur 124 der insgesamt 226 Stimmen für
den Entwurf von der Regierungskoalition kamen (siehe
<http://w1.c1.rada.gov.ua/pls/radan_gs09/ns_golos?g_
id=15333>). Skeptische Beobachter des Prozesses gingen aufgrund des untypischen Abstimmungsverhaltens der Abgeordneten davon aus, dass es sich beim
Votum des Parlaments um einen »Unfall« gehandelt
habe und dass vor allem Abgeordnete des Oppositionsblocks sowie Träger von Direktmandaten nur deshalb
für den Entwurf gestimmt hätten, weil sie davon überzeugt gewesen seien, dass dieser ohnehin nicht angenommen werde. Gleichzeitig machte sich schnell auch
Ernüchterung breit, nachdem bekannt wurde, dass nach
der Annahme in erster Lesung mehr als 4000 Änderungsanträge zum Entwurf des Wahlgesetzbuchs eingebracht wurden. Diese Änderungsanträge werden nun
von einer Arbeitsgruppe bearbeitet, die der zuständige
Ausschuss für Rechtspolitik und Justiz im April 2018
eingesetzt hat. Bis Ende Mai hatte diese Arbeitsgruppe
etwa 300 Änderungsanträge bearbeitet. Erst wenn die
Arbeitsgruppe alle Änderungsanträge geprüft und dem
Ausschuss eine entsprechend überarbeitete Version des
Entwurfs vorgelegt hat, wird dieser über den überarbeiteten Entwurf abstimmen müssen, bevor eine Vorlage
im Parlament für die zweite Lesung erfolgen kann. Die
parlamentarische Geschäftsordnung der Werchowna
Rada sieht dabei keine Fristen vor, bis wann eine Befassung im Ausschuss oder auch im Parlamentsplenum
erfolgen muss.
Strittige Punkte im Entwurf des
Wahlgesetzbuchs
Die hohe Anzahl an Änderungsanträgen, die nach der
ersten Lesung zum Entwurf des Wahlgesetzbuches eingebracht wurden, kann als taktische Maßnahme interpretiert werden, die den Gegnern der Reform dazu
dient, den Reformprozess auszubremsen. Gleichzeitig
muss jedoch auch konstatiert werden, dass der Entwurf
des Wahlgesetzbuches bereits 2010 verfasst worden ist
und somit in vielen Bestimmungen änderungsbedürftig ist, da diese nicht mehr im Einklang mit der aktuellen Gesetzgebung und dem politischen Kontext stehen,
in dem sich die Ukraine mittlerweile befindet. Hierzu
gehören zum Beispiel Bestimmungen zu Beschwerdeverfahren, zum Prozedere der Wählerregistrierung sowie
zur Frage, wie Binnenflüchtlinge von ihrem Wahlrecht
Gebrauch machen sollen. Darüber hinaus gibt es mit
Blick auf die im Entwurf des Wahlgesetzbuchs angeführten Bestimmungen zur Wahl des Parlaments mehrere zentrale Streit- beziehungsweise Kritikpunkte.
Hierzu gehört unter anderem die Frage nach der
Höhe der Sperrklausel und der Möglichkeit von unabhängigen Kandidaten, an Parlamentswahlen teilzunehmen. Im Zuge der Parlamentswahlgesetzgebung von
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UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
2011 wurde die Sperrklausel von 3 auf 5 Prozent erhöht.
Höhere Sperrklauseln lassen größere Parteien profitieren
und verringern die Chancen von kleinen Parteien. Der
Entwurf des Wahlgesetzbuches sieht nun eine Sperrklausel von 4 Prozent vor. Gleichzeitig sieht der Entwurf
keine Möglichkeiten für unabhängige Kandidaten vor,
an den Wahlen teilzunehmen. Letztlich würden somit
vor allem die etablierten Parteien mit gut entwickelten
Strukturen in den Regionen gestärkt.
Ein weiterer strittiger Punkt stellt die Frage nach den
Möglichkeiten von Frauen dar, ins Parlament gewählt
zu werden. Der gegenwärtige Frauenanteil in der Werchowna Rada von nur etwa 12 Prozent gehört zu den
niedrigsten in Europa. Eine Änderung des Wahlsystems
könnte durch die Abschaffung der Mehrheitswahl von
Direktkandidaten positive Effekte auf ein ausgeglicheneres Geschlechterverhältnis im Parlament haben. Gleichzeitig führen »offene« Listen aber tendenziell auch dazu,
dass die Wahlchancen von Frauen geschmälert werden.
Gleiches trifft auf Minderheiten oder auch auf Technokraten zu. Die aktuelle Gesetzgebung hat nur sehr
schwache Bestimmungen, um die Wahlchancen von
Frauen zu erhöhen. Parteilisten müssen demnach zu
mindestens 30 Prozent aus Männern und Frauen bestehen. Sanktionsmechanismen bei Verstößen gibt es nicht.
Zudem gibt es keine Vorschriften darüber, auf welchen
Listenplätzen Frauen beziehungsweise Männer platziert werden müssen. Der Entwurf des Wahlgesetzbuches verspricht hier Besserung, indem er vorsieht, dass
nur drei von fünf Kandidaten auf den »offenen« regionalen Parteilisten das gleiche Geschlecht haben dürfen.
Daraus würde sich eine Frauenquote von mindesten 40
Prozent für die regionalen Parteilisten ergeben. Nichtsdestotrotz ergeben Simulationen, die auf der Basis der
Wahlergebnisse von 2014 erstellt wurden, dass auch
diese Bestimmungen den tatsächlichen Frauenanteil in
der Werchowna Rada im ungünstigsten Fall lediglich
auf 20 Prozent erhöhen würden (siehe dazu <https://
gallery.mailchimp.com/8a39d40b8b64140d1e69644f5/
files/ab763f52-22e3-41ef-8f73-a462fb9b5a4b/IFES_
Ukraine_Reynolds_and_Kovryzhenko_Report_on_
Open_List_PR_v1_2018_04_18_Eng.pdf>).
Umstritten ist drittens das vorgesehene Verfahren,
nach dem Stimmen in Parlamentssitze umgewandelt
werden. Im Unterschied zu den meisten Parlamentswahlsystemen sieht der Entwurf des ukrainischen Wahlgesetzbuches nicht vor, dass die Anzahl der Sitze, die
eine Partei in einer Region gewinnen kann, von der dortigen Anzahl der Wahlberechtigten abhängt. Vielmehr
spricht sich der Entwurf dafür aus, dass sich die Anzahl
der Parlamentsmandate, die einer Partei in einer Region
zusteht, an der Anzahl der abgegebenen Stimmen in
der Region bemisst. Dies würde Landesteile mit hoher
Wahlbeteiligung über- und Landesteile mit niedrigerer Wahlbeteiligung unterrepräsentieren. In der gegenwärtigen Situation negativ betroffen wären dementsprechend vor allem die Oblaste Donezk und Luhansk
sowie die Oblast Cherson, der im Entwurf des Wahlgesetzbuches die Autonome Republik Krim zugeordnet
wird. In diesen drei Regionen wäre aufgrund von Binnenflucht im Zusammenhang mit dem Krieg im Donbas sowie mit der Annexion der Krim die Anzahl der
registrierten Wahlberechtigten deutlich höher als die
Zahl derer, die derzeit tatsächlich an einer Parlamentswahl teilnehmen könnten.
Ausblick
Die Einführung einer reinen Verhältniswahl mit »offenen« Parteilisten in regionalen Wahlkreisen bei Parlamentswahlen ist nach wie vor eine der entscheidenden
Reformen, die zu einer nachhaltigen Demokratisierung
der Ukraine führen können. Ob rechtzeitig vor den
nächsten regulären Parlamentswahlen im Oktober 2019
eine Änderung des Wahlsystems erfolgen wird, ist sehr
ungewiss. Die Venedig-Kommission des Europarats
empfiehlt, dass Änderungen des Wahlsystems spätestens ein Jahr vor einer Wahl vorgenommen werden sollten. Dadurch, dass ein entsprechendes Einzelwahlgesetz
für Parlamentswahlen vom Parlament im Oktober 2017
abgelehnt worden ist, gleichzeitig jedoch ein komplexes
Wahlgesetzbuch in erster Lesung angenommen wurde,
hat sich die Wahrscheinlichkeit verringert, dass eine entsprechende Änderung des Wahlsystems noch in diesem
Jahr verabschiedet wird. Gleichwohl bietet das Wahlgesetzbuch die Möglichkeit, die bisherigen gesetzlichen
Rahmenbedingungen zu harmonisieren. Mit Blick auf
die vorgesehene Abschaffung des gemischten Wahlsystems bleibt dabei festzuhalten, dass diese Abschaffung
zu einer besseren Abbildung des Wählerwillens führen
und gleichzeitig den Spielraum für politische Korruption und den Einsatz administrativer Ressourcen einschränken kann.
Allerdings stellt die bloße Veränderung des Wahlsystems kein Allheilmittel dar, um den Schwächen und Problemen des politischen Systems der Ukraine zu begegnen. Schließlich muss jedes Wahlsystem immer auch
in seinem politischen Gesamtkontext betrachtet werden. Damit eine Veränderung des Wahlsystems hin zu
einer reinen Verhältniswahl in regionalen Wahlkreisen
letzten Endes nicht lediglich zu einer stärkeren Verlagerung der politischen Korruption von der nationalen
auf die regionale Ebene führt und damit nicht administrative Ressourcen zukünftig genutzt werden, um
bestimmten Kandidaten (dann nicht mehr als Direktkandidaten, sondern als Kandidaten in »offenen« Parteilisten) Vorteile zu verschaffen, bedarf es vor allem
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auch einer stärkeren gesetzlichen Reglementierung
des Wahlkampfes und der Wahlkampffinanzierung.
Ebenso sind bessere gesetzliche Rahmenbedingungen notwendig, um Verstöße gegen die Wahlgesetzgebung strafrechtlich verfolgen und bestrafen zu können.
Ein entsprechender Gesetzentwurf mit der Nummer
8270 (siehe <http://w1.c1.rada.gov.ua/pls/zweb2/webproc4_1?pf3511=63864>), an dem Wahlrechtsexperten
der ukrainischen Nichtregierungsorganisation OPORA
mitgearbeitet haben, wurde kürzlich im Parlament registriert. Er sieht vor, bisherige Gesetzeslücken zu schließen, und soll der bislang bestehenden faktischen Straflosigkeit von schwerwiegenden Wahlrechtsverstößen
begegnen.
Wichtig für die Institution freie und faire Wahlen wird darüber hinaus die Zusammensetzung und
Arbeitsweise der Zentralen Wahlkommission sein.
Bereits seit Juni 2014 sind die an sich auf sieben Jahre
festgesetzten Amtszeiten von 13 der insgesamt 15 Mitglieder der Zentralen Wahlkommission abgelaufen.
Zwar hat Präsident Poroschenko im Februar 2018 eine
Liste mit Neunominierungen eingereicht, die im April
2018 vom zuständigen Parlamentsausschuss zur Abstimmung in der Werchowna Rada gebilligt wurde. Diese
Liste schafft allerdings nicht die Voraussetzungen für
eine politisch balancierte Zusammensetzung der Kommission, die für eine ordnungsgemäße Durchführung
von Wahlen eine Schlüsselrolle spielt: Erstens enthält
die Vorschlagsliste des Präsidenten keinen Vertreter des
Oppositionsblocks, der derzeit drittstärksten Fraktion
im Parlament. Zweitens sind zwar alle anderen Fraktionen und Gruppen in der Vorschlagsliste Poroschenkos vertreten, allerdings könnte die Präsidentenpartei
am Ende dennoch sieben der 15 Mitglieder der Zentralen Wahlkommission kontrollieren. Die Vorschlagsliste
des Präsidenten ist bislang allerdings selbst innerhalb
der Regierungskoalition nicht mehrheitsfähig: Anfang
Juli weigerte sich Poroschenkos Koalitionspartner Volksfront, die Neubesetzung der Zentralen Wahlkommission im Parlament zu unterstützen. Da die Vorschlagsliste Poroschenkos einen Kandidaten zu viel enthält,
fürchtet die Partei von Arsenij Jazenjuk, dass einer ihrer
insgesamt drei Kandidaten in einer Kampfabstimmung
im Parlament das Nachsehen haben könnte. Wie dieser Konflikt um die Neubesetzung der Zentralen Wahlkommission aufgelöst wird, ist unklar. Eine in Bezug
auf die Parteien einseitig zusammengesetzte Zentrale
Wahlkommission würde die Zweifel an der Institution
Wahlen in der Bevölkerung sowie das Misstrauen zwischen den politischen Akteuren verstärken.
Über den Autor:
Steffen Halling ist Doktorand an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Er forscht
zu Oligarchen in der Ukraine und ihren Legitimationsstrategien. Für die »European Platform for Democratic Elections« (EPDE) beobachtet er die ukrainische Wahlrechtsreform (<https://www.epde.org/en/documents/category/
ukraine.html>).
Lesetipps:
• Wilfried Jilge: Das neue ukrainische Parlamentswahlgesetz, in: Ukraine-Analysen 99, 24.01.2012, <http://www.
laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen99.pdf>
• Andrew Reynolds und Denys Kovryzhenko: Electoral System Reform in Ukraine, April 2018, <https://gallery.
mailchimp.com/8a39d40b8b64140d1e69644f5/files/ab763f52-22e3-41ef-8f73-a462fb9b5a4b/IFES_Ukraine_
Reynolds_and_Kovryzhenko_Report_on_Open_List_PR_v1_2018_04_18_Eng.pdf>
• Steffen Halling und Serhiy Tkachenko: Electoral Reform in Ukraine. Challenges and Prospects, EPDE Policy Paper,
June 2017, <https://www.epde.org/en/documents/category/ukraine.html?file=files/EPDE/RESSOURCES/2017%20
Ukraine%20electoral%20law/_Challenges%20and%20Prospects%20of%20Electoral%20Reform%20in%20
Ukraine_fin_EN.pdf>
Websites wichtiger NGOs:
• The International Foundation for Electoral Systems (IFES ), <www.ifes.org>
• Civil Network OPORA, <http://www.opora.org.ua/>
• Komitee der Wähler der Ukraine (Komitet Wyborziw Ukrajiny/KWU), <http://www.cvu.org.ua>
6
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
7
GR AFIKEN ZUM TEX T
Einstellung der ukrainischen Bevölkerung zum Wahlsystem und zu
Parteien
Grafik 1: Welches Parlamentswahlsystem halten Sie für das beste für die Ukraine?
Gemischtes Wahlsystems
mit »geschlossenen« Listen
– wie es jetzt ist (ein Teils
der Abgeordneten über
geschlossene Listen, der
andere Teil über
Mehrheitswahl in
Einerwahlkreisen)
17,2 %
Verhältniswahlsystem mit
»offenen« Parteilisten (Wahl
einer bestimmten Partei
und Auswahl der besten
Kandidaten dieser Partei)
34,5 %
Mehrheitswahlsystem (Wahl
von Direktkandidaten in
Einerwahlkreisen)
16,1 %
Verhältniswahlsystem mit
»geschlossenen«
Parteilisten
5,2 %
Weitere
3,4 %
Schwer zu sagen
23,6 %
Quelle: Rasumkow-Zentrum, Dezember 2017, <http://www.razumkov.org.ua/uploads/socio/2017_Politychna_kultura.pdf>
Grafik 2: Auf einer Skala von 0 bis 10: In welchem Maße vertrauen Sie Politikern, Parteien und
der Werchowna Rada der Ukraine? (0 = gar kein Vertrauen, 10 = volles Vertrauen)
volles Vertrauen
gar kein Vertrauen
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Politikern
Parteien
Werchowna Rada
Quelle: Rasumkow-Zentrum, Dezember 2017, <http://www.razumkov.org.ua/uploads/socio/2017_Politychna_kultura.pdf>
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
ANALYSE
Die politischen Parteien vor dem Wahlmarathon 2019/2020
Von Miriam Kosmehl (Bertelsmann Stiftung, Berlin)
Zusammenfassung
Am 31. März 2019 wählen die Ukrainer den zweiten Präsidenten nach dem Euromaidan und wenige Monate
später die Parlamentsabgeordneten der neunten Werchowna Rada seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991. 2020
folgen landesweit Kommunalwahlen. Die Präsidentschaftswahl wird die darauffolgenden Wahlen maßgeblich
beeinflussen, vor allem die Parlamentswahl. Wer auch immer nächster Präsident wird, er wird in den folgenden
Wahlkämpfen seine Mediendominanz nutzen. Die großen TV-Sender, die in der Ukraine die Meinungsbildung beeinflussen, gehören noch immer denselben alten Oligarchen, die mit ihren Sendern zwar rein betriebswirtschaftlich rote Zahlen schreiben, die aber politisch Einfluss nehmen und oft ihre milliardenschweren Interessen auf anderen Feldern befördern. Der vorliegende Beitrag stellt die politischen Parteien der Ukraine vor.
A
uch fünf Jahre nach dem Euromaidan verdienen die
politischen Parteien der Ukraine diesen Namen oft
nicht, weil sie meist Instrument in den Händen einzelner Mächtiger sind, die eigene wirtschaftliche Interessen absichern oder durchsetzen wollen. In einem Land,
in dem Eigentum weniger durch den Rechtsstaat als vor
allem über Beziehungen geschützt wird, sind Einfluss
und ein Platz in der Politik – sprich in Regierung oder
Parlamenten auf allen Ebenen – eine teure doch wirkungsmächtige Investition. Vor den landesweiten Kommunalwahlen 2015 etwa starteten Geschäftsleute eine
Vielzahl lokaler politischer Projekte. 141 Parteien traten
an – wie man zum Beispiel der offiziellen Seite der Zentralen Wahlkommission entnehmen kann (<http://www.
cvk.gov.ua/pls/vm2015/PVM109?PT001F01=100>).
Insgesamt gibt es über 300 politische Parteien in
der Ukraine. Größtenteils sind sie nicht aktiv, werden
aber bei Bedarf als Hülle verkauft, um zügig ein politisches Projekt zu verwirklichen. Bei Wahlen sind sie
nützlich, wenn sie Mitglieder von Wahlkommissionen
stellen dürfen. Diese Plätze sind mitunter ein wertvolles Gut, wenn wirtschaftliche und politische Interessen
eng verflochten sind.
Nachfolgeparteien der Partei der Regionen
des ehemaligen Präsidenten Janukowytsch
Nach dem Euromaidan vertraten zunächst folgende
Parteien das frühere Regierungslager: der Oppositionsblock, Nachfolger der Partei der Regionen, die Partei Starke Ukraine von Serhij Tihipko und die Kommunistische Partei der Ukraine (inzwischen durch die
Dekommunisierungsgesetze verboten). In die nächste
Rada dürfte allein der Oppositionsblock einziehen. Das
heißt freilich nicht, dass sich mit der Parteienlandschaft
auch die Politik maßgeblich verändert hätte.
Neue Parteien mit alten Gesichtern
Seit 2014 gibt es zwar viele neue Parteien – doch mit
altgedienten Politikern. Im Verlauf des Euromaidan
schlossen sie sich den Vertretern der Zivilgesellschaft
an, die die Proteste zunächst organisierten (es hatte
2013 zuerst zwei Protestorte gegeben: den der Zivilgesellschaft am Platz der Unabhängigkeit und den der
damaligen Oppositionspolitiker auf dem Europaplatz).
Nur eine einzige der heute im Parlament vertretenen
Parteien, die 1999 registrierte Partei Vaterland, war
bereits im Vorgängerparlament vertreten. Parteichefin Julia Timoschenko sprang gerade noch rechtzeitig
auf den Postmaidan-Zug auf, und die Partei schaffte
es knapp über die Fünfprozenthürde (zu den Wahlergebnissen von 2014 siehe <http://www.cvk.gov.ua/pls/
vnd2014/wp300?PT001F01=910>).
Fast alle anderen Parteien, die 2014 in die Rada einzogen, wurden erst zur Wahl 2014 gegründet: Der Block
Petro Poroschenko »Solidarität« (BPP) übernahm die
Strukturen der Partei UDAR Vitali Klitschkos. Poroschenko und Klitschko einigten sich, dass Poroschenko
als Präsident und Klitschko als Oberbürgermeister von
Kiew kandidieren würde. Die neue Partei wurde nach
anfänglich hoher Zustimmung nur zweitstärkste Fraktion, was die Listenwahl angeht (21,82 Prozent). Dafür
erreichte der BPP die meisten direkt gewählten Abgeordneten in Mehrheitswahlkreisen. Das Listenergebnis und
das Ergebnis für die einzelnen Wahlkreise zusammengenommen ist die BPP-Fraktion die größte in der Rada.
Dass die anfänglich hohe Zustimmung für den BPP
abnahm, lag vermutlich unter anderem an der erwähnten Absprache zwischen Poroschenko und Klitschko, die
der in Wien lebende Oligarch und Gasmilliardär Dmytro Firtasch beeinflusst haben soll, der von den USA mit
internationalem Haftbefehl gesucht wird und gegen den
ein Auslieferungsverfahren läuft (<http://www.spiegel.
de/wirtschaft/dmitrij-firtasch-warum-die-usa-jagd-aufden-oligarchen-aus-der-ukraine-machen-a-1136210.
html>). Heute ist der BPP die Präsidentenpartei. Der
erste stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ihor Kononenko ist ein enger Verbündeter Poroschenkos, ebenso
wie der BPP-Abgeordnete Oleksandr Hranovsky. Beide
8
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
Abgeordnete nehmen über die Rada hinaus Einfluss;
von Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive kann faktisch nicht die Rede sein.
Die Partei Volksfront unter Arsenij Jazenjuk, dem
ersten Premierminister nach dem Euromaidan, wurde
erst am 31. März 2014 registriert – und kam aus dem
Stand auf das beste Listenwahlergebnis von 22,14 Prozent. Jazenjuk, früher Nationalbankchef, machte mit der
Volksfront-Gründung den Anschluss seiner früheren Partei Front für Wandel an die Partei Vaterland rückgängig, nachdem Timoschenko wieder in Freiheit und der
gemeinsame Gegner Janukowytsch nicht mehr im Land
war. Zur Volksfront gehören auch Innenminister Arsen
Awakow, einer der mächtigsten Männer der Ukraine,
und der Übergangspräsident und heutige Sekretär des
Sicherheits- und Verteidigungsrats Oleksandr Turtschynow, früher ein Verbündeter Timoschenkos.
Die entscheidenden Politiker blieben in beiden Parteien dieselben. Sie präsentierten sich nur anders. Beide
Parteien luden bekannte Maidan-Aktivisten oder ehemalige Freiwilligenkämpfer auf ihre Parteilisten ein, um ihre
Verbundenheit mit dem Euromaidan zu unterstreichen.
In die Gruppe der Altpolitiker gehört auch Oleh
Ljaschko, der seit 2011 Vorsitzender der Radikalen Partei von Oleh Ljaschko ist. Die Partei war ebenfalls auf
dem Maidan sichtbar und kam mit 7,44 Prozent ins Parlament. Der im Vorgängerparlament vertretenen nationalistischen Partei Freiheit (Swoboda, registriert 1995)
gelang das nicht, obwohl ihr Parteichef Oleh Tjahnybok
aktiver Teilnehmer des Maidan war. Ohne das Feindbild
des ehemaligen Präsidenten Janukowytsch als Unterstützung blieb die Partei unter der Fünfprozenthürde.
In der am 27. November 2014 in der Rada gebildeten
Koalition »Europäische Ukraine« gab es nur eine einzige
neue Partei mit neuen Politikern – die Ende Dezember
2012 registrierte Selbsthilfe, die nach zunächst dürftigen
Umfragewerten von 2 Prozent überraschend mit 10,97
Prozent als drittstärkste Kraft in die Rada eingezogen
war. Die großen Parteien BPP und Volksfront waren, wie
viele Ukrainer sagen, »alter Wein in neuen Schläuchen«.
Die Entwicklung ab 2014: neue Politiker
Selbsthilfe startete zunächst als regionale Partei der
Westukraine, mit dem Oberbürgermeister der Vorzeigestadt Lemberg Andrij Sadowyj als Parteichef. Auf ihrer
Parteiliste standen auch die Mitglieder der Partei Wolja.
Seit 2011 verbietet das ukrainische Wahlrecht Blockbildung. Wollen sich kleinere Parteien in einer Art Vorwahlkoalition zusammenschließen, muss eine Partei
ihren Namen aufgeben und akzeptieren, dass ihre Kandidaten auf der Liste der anderen Partei geführt werden.
Dies tat 2014 die noch vor dem Maidan gegründete
reformorientierte Partei Demokratische Allianz (Dem-
Allianz): Ihre Kandidaten gingen in der Liste der Bürgerlichen Position auf, einer 2005 registrierten Partei
um den früheren Verteidigungsminister Anatolij Hryzenko. Allerdings fiel Bürgerliche Position nach einer
Kampagne durch den TV-Sender des Oligarchen Ihor
Kolomojskyj wegen angeblicher Korruption durch Parteichef Hryzenko aus dem in Vorwahlumfragen stabil
zweistellig prognostizierten Bereich bei der Wahl auf
nur 3,1 Prozent ab und zog nicht in die Rada ein. Als
Hryzenko die Korruptionsvorwürfe entkräften konnte,
war die Wahl vorbei.
Nach der Wahl bauten vor allem die kleinen reformorientierten Parteien wie etwa Kraft der Menschen
(registriert im August 2014) und die Bürgerbewegung
»Volkskontrolle« (registriert im März 2015) ihre lokalen
Strukturen weiter aus. Während die ehemaligen WoljaMitglieder inzwischen entweder in der Selbsthilfe oder
der neuen Saakaschwili-Partei sind, gelang es der DemAllianz, weiter eigenständig zu bestehen. Zu ihr stießen eine Reihe der sogenannten Eurooptimisten, die
sich als politische Kraft etablieren wollen, nachdem sie
2014 über verschiedene Parteilisten in die Rada gelangt
waren und bisher nur eine informelle Gruppe bilden.
Neugründungen sind auch die Antikorruptionspartei Bürgerbewegung »Welle« um den Rechtsanwalt
Wiktor Tschumak und den entlassenen Reformstaatsanwalt Witalij Kasko sowie die Partei Bewegung der
neuen Kräfte des ehemaligen georgischen Präsidenten
und Ex-Gouverneurs von Odessa Micheil Saakaschwili –
freilich ist diese Partei nach Saakaschwilis Abschiebung
aus der Ukraine wenig aktiv.
Naturgemäß ist es eine Herausforderung, in einem
großen Land wie der Ukraine neue politische Strukturen
aufzubauen und landesweit bekannt zu werden – und
zu bleiben. Laut Umfrage des Ilko-Kutscheriw-Instituts »Demokratische Initiativen« und des RasumkowZentrums vom Mai 2018 liegen all diese Kleinparteien
ungefähr gleichauf (siehe dazu und zu den folgenden
Prognosen die Tabellen und Grafiken am Ende des Textes). Vereinigt kämen sie sicher über die Fünfprozenthürde, doch erschwert ihnen das Gesetz zur Blockbildung den Zusammenschluss.
Die beiden stärksten Oppositionsparteien sind heute
Selbsthilfe (5,1 Prozent laut Umfrage im Mai 2018) und
Bürgerliche Position (10,7 Prozent laut Umfrage im Mai
2018). Der Vorsprung für die Bürgerliche Position dürfte
damit zusammenhängen, dass Selbsthilfe-Chef Sadowyj
unter massivem Medieneinsatz für einen Müllskandal in
Lemberg verantwortlich gemacht wurde. Davon abgesehen hat sich die Bürgerliche Position modernisiert, neue
aktive Mitglieder gewonnen und gezielt lokale Strukturen aufgebaut. Die Partei ist seit 2017 Mitglied der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE).
9
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
Parteichef Anatolij Hryzenko wird zwar von den großen
Fernsehsendern nicht eingeladen, ist aber auf den kleineren Sendern »112«, »NewsOne« und auf dem westukrainischen Kanal »ZIK« präsent. (NewsOne gehört
dem Rada-Abgeordneten Jewgenij Murajew, gegen den
der Generalstaatsanwalt wegen Landesverrats ermittelt. Wem 112 gehört, ist unklar. ZIK hat einen Lemberger Eigentümer.) Der Vorsitzende der Partei Bürgerliche Position Hryzenko hat eine gewisse Popularität
als früherer Verteidigungsminister, vor allem nachdem
er die 2014 gegen ihn vorgebrachten Korruptionsvorwürfe entkräften konnte. Zudem hilft sein im Vergleich
zu etlichen anderen Politikern bescheidener Lebensstil
und seine Ehe mit der Chefredakteurin der renommierten Wochenzeitung Serkalo Nedeli (Spiegel der Woche).
Insgesamt ist Bürgerliche Position vor allem für die
»alten« Akademikerschichten jenseits der vierzig und
für konservative Wähler attraktiv. Junge Ukrainer neigen eher etwa zu Kraft der Menschen, DemAllianz
oder der Saakaschwili-Partei. Vor diesem Hintergrund –
und um in dem schwierigen ukrainischen Politumfeld
schlagkräftiger zu sein – versucht Hryzenko in Vorbereitung auf 2019, die Bildung eines Blocks mit den
anderen kleinen Reformparteien zu erreichen. Ein Vertrag mit der Partei Bürgerbewegung »Volkskontrolle«,
die bei 1,2 Prozent liegt, ist unterzeichnet, Gespräche
mit der DemAllianz werden geführt. Kraft der Menschen dagegen will das Risiko, die eigene Parteiidentität
zumindest pro forma aufzugeben, nicht eingehen. Auch
Selbsthilfe ist trotz mäßiger eigener Umfragewerte bislang nicht zum Zusammenschluss bereit.
Ideologie als Mittel zum Zweck
In Zeiten einschneidender Reformen, deren Nachteile
vor allem arme Bevölkerungsgruppen unmittelbar zu
spüren bekommen und deren positive Wirkungen sich
erst langfristig oder mittelbar zeigen, sind eine Reihe
von kleineren Parteien entstanden, deren Gründer jene
Wähler ansprechen wollen, die Angst vor der Zukunft
haben. Neben den bereits genannten Nachfolgeparteien
der Partei der Regionen sind das Unser Land (registriert 2011), Wiedergeburt (registriert 2004), die Agrarpartei (registriert 2006) und – besonders erfolgreich in
aktuellen Umfragen – Für das Leben (registriert 1999)
des kleineren Oligarchen Wadim Rabinowitsch. Häufig geht es bei diesen Parteiprojekten nicht um programmatische Inhalte, sondern darum, die Bedürfnisse eines
bestimmten Wählerklientels zu bedienen, etwa mit kleineren Geldbeträgen die Lebensbedingungen unmittelbar zu verbessern. Die Tradition, ärmere Menschen in
der Abhängigkeit einzelner finanzieller Zuwendungen
zu belassen, anstatt sie Schritt für Schritt zur Selbsthilfe zu befähigen, wird so aufrechterhalten. Ideologie
ist nur Mittel zum Zweck. So steht der Oligarch Kolomojskyj sowohl hinter der sich patriotisch gebenden
Partei UKROP (Ukrainische Vereinigung der Patrioten) als auch hinter der Partei Wiedergeburt, die die
vermeintlich guten alten Zeiten betont.
Neue patriotische Parteiprojekte
Neben der UKROP treten vor allem die Bürgerliche
Plattform von Nadija Sawtschenko um die in der Vergangenheit in Russland inhaftierte ehemalige Kampfpilotin hervor, die von einigen als potentielle Protestführerin unterstützt, von der Generalstaatsanwaltschaft
jedoch inzwischen des Landesverrats bezichtigt wird
(zu Sawtschenko siehe <http://www.sueddeutsche.de/
politik/ukraine-demontage-einer-heldin-1.3916026>)
sowie der Nationale Korpus um Andrij Bilezkyj, der
Kommandeur des Bataillons Asow war (eines aus freiwilligen Kämpfern bestehenden Regiments). Auch die
Staatliche Initiative Jarosch gehört in diese Gruppe.
Die patriotische Karte spielen auch »alte« Parteien wie
die Radikale Partei von Oleh Ljaschko und die Partei Rechter Sektor. Es gibt zudem eine Erklärung der
rechtsradikalen Parteien Rechter Sektor, Freiheit (Swoboda) und Nationaler Korpus, sich zu vereinigen. Doch
deren aktuelle Umfragewerte sind so niedrig, dass sie
auch gemeinsam keine 5 Prozent erreichen dürften
(siehe Tabelle 1 am Ende des Textes). Nur ein sehr geringer Anteil der Ukrainer ist für die Ideologie dieser Parteien zu gewinnen, zu der wesentlich der Antisemitismus gehört (siehe dazu etwa <http://www.pewresearch.
org/fact-tank/2018/03/28/most-poles-accept-jews-asfellow-citizens-and-neighbors-but-a-minority-do-not/
ft_18-03-26_polandholocaustlaws_map/>).
Beobachter warnen davor, dass politische Parteien
Bataillone unterstützen. Im inzwischen dem Innenministerium unterstellten nationalistischen Regiment
Asow etwa sehen einige eine Schutztruppe der Partei
Volksfront. Zuletzt hatte der Oligarch Kolomojskyj
versucht, seine geschäftlichen Interessen mit Waffengewalt durch von ihm finanzierte Freiwillige abzusichern –
allerdings erfolglos (siehe <https://www.newyorker.com/
news/news-desk/watching-the-ukrainian-oligarchs>).
Schwache Opposition von links
Linke Parteien verloren nach dem Verbot der Kommunistischen Partei und dem Absturz der Partei der
Regionen massiv an Popularität. Nur zwei neue Parteien
mit ähnlicher Ausrichtung werden in aktuellen Umfragen überhaupt erwähnt: die Sozialdemokratische Partei mit 0,5 Prozent und die Partei Linke Opposition
(selbst ernannte Kommunistische Partei der Ukraine
und Progressive Sozialistische Partei der Ukraine) mit
1,3 Prozent.
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UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
Parteiarbeit vor Ort – schwierig aber
unabdingbar
Außer den großen Rada-Parteien verfügen die wenigstens Parteien über funktionierende lokale Strukturen.
Manche der neuen Parteien bemühen sich gezielt, diese
aufzubauen, etwa Kraft der Menschen und Bürgerliche Position, aber auch Unser Land (überwiegend im
Osten der Ukraine) und Nationaler Korpus (überwiegend im Westen). Freiheit (Swoboda) und die Agrarpartei können noch auf alte Strukturen zurückgreifen. Früher zeichnete sich auch die Partei der Regionen durch
funktionierende lokale Strukturen aus; bei Vaterland
ist das bis heute der Fall.
Neue Parteiprojekte für 2019 und
informelle Machtstrukturen
Eine weitere Kategorie besteht aus den Parteien, die speziell für die bevorstehenden Wahlen gegründet wurden –
oder noch gegründet werden. Diese Gruppe dürfte noch
anwachsen.
Die Stimmung der Ukrainer gegen Politiker, die
in erster Linie ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgen, greift die neue Partei Diener des Volkes erfolgreich auf: Sie kam in Umfragen aus dem
Stand auf rund 5 Prozent und ist wohl als erste Partei nach einer populären Satiresendung benannt. In
der Sendung parodiert der deklarierte Parteichef
einen der Wirklichkeit entrückten Präsidenten Poroschenko. Ab Herbst wird die erfolgreiche TV-Serie
fortgesetzt – mit finanzieller Unterstützung von Oligarch Kolomojskyj.
Interessant wird sein, welche politische Basis sich
der aktuelle Premierminister Wolodymyr Hrojsman
suchen wird, dessen eigene Partei Europäische Strategie aus Winnyzja (registriert 2015) nur regionale Bedeutung hat. Von Präsident Poroschenko distanziert er sich
merklich. Eine Theorie ist, dass er sich mit Arsenij Jazenjuk zusammenschließen und dessen Volksfront wieder
aktivieren wird. Die Partei kommt in aktuellen Umfragen nur noch auf 1 Prozent; es ist aber zu erwarten, dass
sich ihre bisher mächtigen Politiker rechtzeitig vor 2019
etwas einfallen lassen und ihre parteipolitische Basis
sichern werden. Hrojsman versucht sich als Politiker
der Zukunft darzustellen, etwa indem er kürzlich seinen Verbleib in der Regierung von der Zustimmung
der Rada zum neuen Antikorruptionsgericht abhängig
machte, das allerdings nur ein Gericht mit beschränkter Autonomie darstellt. Seit Beginn seiner Amtszeit
im April 2016 sucht er den Dialog mit der Zivilgesellschaft. Dennoch wächst ihm gegenüber das Misstrauen,
auch nach der aktuellen Entlassung von Finanzminister Oleksandr Daniljuk, der als Reformer innerhalb der
Regierung galt.
Und Petro Poroschenko und seine Partei? Im BPP
herrscht keine Einigkeit über die künftige Ausrichtung.
Ein ukrainisches Sprichwort sagt, rechtzeitig zu verraten, sei kein Verrat, sondern Voraussicht. Bislang werden wichtige Entscheidungen vermutlich sowieso über
Fraktionsgrenzen hinweg getroffen, etwa im Kreis der
»Strategischen Neun« oder (früher) der »Strategischen
Sieben«, einem informellen Zusammenschluss zentraler Persönlichkeiten der ukrainischen Politik (siehe
zum Beispiel <https://zik.ua/ru/news/2018/02/23/
strategycheskaya_devyatka__eto_lysh_konstruktsyya_
soznanyya__polytolog_1272501>).
Poroschenko scheint ein Wahlkampfthema gefunden zu haben – das in der Ukraine ähnlich emotional besetzt ist wie die Visaliberalisierung und das viele
Menschen im konservativen Lager mitreißen dürfte –,
auf das er sich konzentriert: das Ziel, die UkrainischOrthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats von Moskau unabhängig zu machen.
Populismus
Populismus spielt von jeher eine große Rolle in der ukrainischen Politik, auch bei oppositionellen Reformparteien wie Selbsthilfe und Bürgerliche Position. Beide
versuchen, Wähler in Zeiten von Krise und Krieg durch
konservativ-patriotische Töne emotional anzusprechen.
Den Populismus am weitesten treibt Julia Timoschenko.
Darunter leidet die programmatische Auseinandersetzung insgesamt. Ein Teufelskreis: Das niedrige Vertrauen in die Politiker fördert die Wiederwahl populistischer Parteien, welche – wie die Partei Vaterland
angesichts eigener wirtschaftlicher Interessen – die Probleme des Landes nicht lösen, sondern sie für ihre eigenen Ziele instrumentalisieren.
Ausblick – neue Politikerpersönlichkeiten
gefragt
Die Parteichefs der nach aktuellen Umfragen maßgeblichen Parteien bei der Rada-Wahl werden vermutlich alle bei der Präsidentschaftswahl antreten, und die
Umfragewerte für Präsidentschaftskandidat bzw. Partei sind aktuell spiegelbildlich (siehe Tabellen und Grafiken am Ende des Textes). Allerdings werden noch
viele Unentschlossene den Ausgang der Wahlen beeinflussen, ebenso wie neue Präsidentschaftskandidaten
ohne bisherige Parteistruktur, wie etwa der beliebte
Sänger Swjatoslaw Wakartschuk. Das Bedürfnis der
ukrainischen Bürger nach neuen politischen Kräften
ist derart ausgeprägt – 62,1 Prozent wünschen sich
laut einer Umfrage »neue politische Führer« und nur
26,9 Prozent sind der Ansicht, die bisherigen Politiker seien ausreichend –, dass einer der großen TV-Sender, ICTV, eine Art Castingshow mit dem Titel »Neue
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UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
Führer« geschaffen hat. Nach den jeweiligen Eigenschaften befragt, die »neue Führer« mitbringen müssten, nannten die Befragten an erster Stelle Unkorrumpierbarkeit (54,1 Prozent). Es folgten Ehrlichkeit (45,5
Prozent) und die Bereitschaft, die Interessen der »einfachen Menschen« zu vertreten (45,3 Prozent). Zusätzlich fanden die Befragten Patriotismus wichtig (21,5 Prozent) und einen genauen Handlungsplan (21,9 Prozent),
Bildung/Kultur/Erfahrung (16,4 Prozent) und Führungsqualitäten (15,1 Prozent) (Umfrageergebnisse zu
den neuen politischen Kräften siehe <https://dif.org.ua/
article/viborchi-reytingi-traven-2018408346>).
Die Wähler sehen unterschiedliche Bereiche, aus
denen diese »neuen Führer« rekrutiert werden könnten: aus neuen Parteien (33,5 Prozent), aus schon existierenden Parteien, in denen sie bisher keine führenden
Positionen innehatten (29,7 Prozent), aus zivilgesellschaftlichen Organisationen (28,1 Prozent) oder aus
der sogenannten technischen Intelligenzija (Ingenieure/
Ärzte 25,8 Prozent). Nur eine Minderheit ist der Ansicht,
dass die »neuen Führer« aus Großunternehmen kommen sollten (5,3 Prozent).
Im bevorstehenden Wahlkampf ist leider einmal
mehr damit zu rechnen, dass die Versuche der Staatsanwaltschaft zunehmen werden, politische Gegner
mit fabriziertem Belastungsmaterial auszuschalten;
sei es etwa mit dem Vorwurf, russische Propaganda
zu betreiben oder sich durch Korruption bereichert zu
haben. Auf ihrem Weg zu einem demokratischen Parteien- und Regierungssystem brauchen neue, reformorientierte Programmparteien einen langen Atem angesichts der fortwährenden Verflechtung wirtschaftlicher
und politischer Interessen. Zudem stehen dem starken
gesellschaftlichen und politischen Engagement vieler
aufgeklärter Bürger auf der einen Seite noch autoritärpatriarchale Traditionen auf der anderen Seite gegenüber.
Über die Autorin:
Miriam Kosmehl war von Juni 2012 bis August 2017 Büroleiterin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
in der Ukraine. Seit Oktober 2017 ist sie als Senior Expert bei der Bertelsmann Stiftung für die Länder der Östlichen
Partnerschaft zuständig.
Im Text zitierte Literatur:
• Benjamin Bidder: Der Oligarch, den Amerika jagt; in: SPIEGEL ONLINE, 25.02.2017, <http://www.spiegel.
de/wirtschaft/dmitrij-firtasch-warum-die-usa-jagd-auf-den-oligarchen-aus-der-ukraine-machen-a-1136210.html>
• Florian Hassel: Demontage einer Heldin, in: Süddeutsche Zeitung, 21.03.2018, <http://www.sueddeutsche.de/
politik/ukraine-demontage-einer-heldin-1.3916026>
• Pew Research Center: In some countries in Central and Eastern Europe, roughly one-in-five adults or
more say they would not accept Jews as fellow citizens, March 27 2018, <http://www.pewresearch.org/
fact-tank/2018/03/28/most-poles-accept-jews-as-fellow-citizens-and-neighbors-but-a-minority-do-not/
ft_18-03-26_polandholocaustlaws_map/>
• Sophie Pinkam: Watching the Ukrainian Oligarchs, in: The New Yorker, April 2 2015, <https://www.newyorker.
com/news/news-desk/watching-the-ukrainian-oligarchs>
• »Strategičeskaja devjatka« – ėto liš' konstrukcija soznanija, – politolog, in: zik, 23.02.2018, <https://zik.ua/ru/
news/2018/02/23/strategycheskaya_devyatka__eto_lysh_konstruktsyya_soznanyya__polytolog_1272501>
• Ilko-Kutscheriw-Institut »Demokratische Initiativen« und Rasumkow-Zentrum: Vyborči rejtyngy: traven' 2018,
<https://dif.org.ua/uploads/pdf/1804910575b1789f1b39525.84829047.pdf>
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UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
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TABELLEN UND GR AFIKEN ZUM TEX T
Aktuelle Wahltrends in der Ukraine
Grafik 1: Welche Partei würden Sie wählen, wenn kommenden Sonntag Wahlen zur Werchowna
Rada wären? (in Prozent derjenigen Befragten, die beabsichtigen, an der Wahl teilzunehmen; nur Parteien, die im Mai 2018 die Fünfprozenthürde überwunden hätten)
Dezember 2017
0
2
Allukrainische Vereinigung »Vaterland« (Julia Timoschenko)
12,1
12,6
Bürgerliche Position (Anatolij Hryzenko)
7,4
10,7
Oppositionsblock (Juri Boiko)
6
8,5
Für das Leben (Wadim Rabinowitsch, Jewgenij Murajew)
8,8
8,1
Radikale Partei von Oleh Ljaschko
6
7,9
Block Petro Poroschenko »Solidarität«
9,2
7,8
Selbsthilfe (Andrij Sadowyj)
7
5,1
Diener des Volkes (Iwan Bakanow, Wolodymyr Selenskyj)
Schwer zu sagen / Keine Antwort
Mai 2018
4
6
8
10
12
14
16
18
4
5
16,6
13,3
Quelle: Umfrage des Ilko-Kutscheriw-Instituts »Demokratische Initiativen« und des Rasumkow-Zentrums vom 19.–25. Mai 2018 in
allen Regionen der Ukraine mit Ausnahme der Krim und der besetzten Gebiete in den Regionen Donezk und Luhansk (2.019 Befragte); <https://dif.org.ua/article/viborchi-reytingi-traven-2018408346>
Tabelle 1: Welche Partei würden Sie wählen, wenn kommenden Sonntag Wahlen zur Werchowna
Rada wären? (in Prozent derjenigen Befragten, die beabsichtigen, an der Wahl teilzunehmen)
Dezember 2017
Mai 2018
12,1
12,6
Bürgerliche Position (Anatolij Hryzenko)
7,4
10,7
Oppositionsblock (Juri Boiko)
6,0
8,5
Für das Leben (Wadim Rabinowitsch,
Jewgenij Murajew)
8,8
8,1
Radikale Partei von Oleh Ljaschko
6,0
7,9
Allukrainische Vereinigung »Vaterland«
(Julia Timoschenko)
Block Petro Poroschenko »Solidarität«
9,2
7,8
Selbsthilfe (Andrij Sadowyj)
7,0
5,1
Diener des Volkes (Iwan Bakanow,
Wolodymyr Selenskyj)
4,0
5,0
Allukrainische Vereinigung »Freiheit«
(Swoboda) (Oleh Tjahnybok)
3,2
3,3
Fortsetzung auf der nächsten Seite
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
14
Tabelle 1: Welche Partei würden Sie wählen, wenn kommenden Sonntag Wahlen zur Werchowna
Rada wären? (in Prozent derjenigen Befragten, die beabsichtigen, an der Wahl teilzunehmen) (Fortsetzung)
Dezember 2017
Mai 2018
Linke Opposition (Kommunistische Partei
der Ukraine und Progressive Sozialistische
Partei der Ukraine) (Petro Simonenko,
Natalija Witrenko)
1,0
1,3
Bürgerbewegung »Volkskontrolle« (Dmytro
Dobrodomow)
1,3
1,2
Staatliche Initiative Jarosch (Dmytro
Jarosch)
1,0
1,2
Bürgerliche Plattform von Nadija
Sawtschenko (Nadija Sawtschenko)
0,7
1,1
Agrarpartei der Ukraine (Vitaly Skozyk)
1,5
0,9
Volksfront (Arsenij Jazenjuk)
1,6
0,8
Ukrainische Vereinigung der Patrioten
(UKROP) (Denys Borysenko, Boris
Filatow)
0,8
0,8
Nationaler Korpus (Andrij Bilezkyj)
0,5
0,6
Bewegung der neuen Kräfte (Micheil
Saakaschwili)
1,7
0,6
Rechter Sektor (Andrij Tarasenko)
0,3
0,5
Sozialdemokratische Partei (Sergej Kaplin)
1,2
0,5
Bürgerbewegung »Welle« (Wiktor
Tschumak u. a.)
0,6
0,4
Volksbewegung der Ukraine (Wiktor
Kriwenko)
0,0
0,2
Wiedergeburt (Wiktor Bondar)
0,9
0,2
Unser Land (Juri Hranaturow)
0,4
0,2
Kraft der Menschen (Juri Bowa)
0,1
0,2
Volkspartei (Wolodymyr Lytwyn)
0,1
0,2
Demokratische Allianz (Wasyl Gazko,
Wiktorija Ptaschnyk)
0,3
0,2
Starke Ukraine (Serhij Tihipko)
0,2
0,1
Weitere
5,7
6,3
16,6
13,3
Schwer zu sagen / Keine Antwort
Quelle: Umfrage des Ilko-Kutscheriw-Instituts »Demokratische Initiativen« und des Rasumkow-Zentrums vom 19.–25. Mai 2018 in
allen Regionen der Ukraine mit Ausnahme der Krim und der besetzten Gebiete in den Regionen Donezk und Luhansk (2.019 Befragte); <https://dif.org.ua/article/viborchi-reytingi-traven-2018408346>
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
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Grafik 2: Wenn kommenden Sonntag Präsidentschaftswahlen wären, wen würden Sie wählen?
(in Prozent derjenigen Befragten, die beabsichtigen, an der Wahl teilzunehmen)
0
2
Julia Timoschenko
13,6
Anatolij Hryzenko
11,2
Petro Poroschenko
9,7
Juri Boiko
8,7
Oleh Ljaschko
7,8
Wadim Rabinowitsch
5,4
Andrij Sadowyj
3,9
Oleh Tjahnybok
3
Dmytro Jarosch
1,5
Petro Simonenko
1
Arsenij Jazenjuk
0,7
Weitere
16
Schwer zu sagen
4
6
8
10
12
14
16
18
20
17,3
Quelle: Umfrage des Ilko-Kutscheriw-Instituts »Demokratische Initiativen« und des Rasumkow-Zentrums vom 19.–25. Mai 2018 in
allen Regionen der Ukraine mit Ausnahme der Krim und der besetzten Gebiete in den Regionen Donezk und Luhansk (2.019 Befragte); <https://dif.org.ua/article/viborchi-reytingi-traven-2018408346>
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
ANALYSE
Überraschende Entwicklung mit offenem Ausgang: die
Ukraine-USA-Beziehungen
Von Susan Stewart (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin)
Zusammenfassung
Als Präsident Trumps Amtszeit im Januar 2017 begann, gingen viele Beobachter von einer Verbesserung des
russisch-amerikanischen Verhältnisses aus, was vielschichtige Folgen für die Ukraine gehabt hätte. Anderthalb Jahre später ist das Verhältnis sehr angespannt, während die Beziehungen zwischen den USA und der
Ukraine weiter ausgebaut werden. Der vorliegende Beitrag erläutert die Faktoren, die für diese überraschende
Entwicklung verantwortlich sind, und fragt nach der Nachhaltigkeit des derzeitigen Modells der Beziehungen.
E
s hätte auch so aussehen können: Drei Wochen nach
seiner Inauguration trifft sich Donald Trump mit
dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die beiden haben auf Anhieb einen guten Draht zueinander. Putin gelingt es, Trump zu überzeugen, dass die
Ukraine historisch und kulturell gesehen zu Russland
gehört und deswegen in die russische Einflusssphäre
fällt. Dies bedeutet, dass Russland eine privilegierte
Stellung genießt und dass die USA sich im Wesentlichen heraushalten werden, was die Entwicklung im
Land sowie seine außen- und sicherheitspolitische Orientierung betrifft. Im Gegenzug wird Russland sein
Vorgehen im Nahen und Mittleren Osten mit den USA
abstimmen. Die beiden Länder werden einen gemeinsamen Ansatz im Bereich der Terrorismusbekämpfung
ausarbeiten. Eine Arbeitsgruppe zu diesem Zweck hat
sich bereits gebildet und erste Vorschläge erarbeitet.
Stattdessen wurden die Sanktionen gegen Russland
mehrmals verschärft, die Ukraine mit letalen Waffen
beliefert und die Zusammenarbeit mit ihr im Energiebereich intensiviert. Im Juli 2017 wurde ein Sonderbeauftragter für die Ukraine, Kurt Volker, ernannt. Zwei
Begegnungen zwischen Trump und Putin fanden im Juli
2017 im Rahmen des G20-Gipfels in Hamburg statt,
haben aber zu keinen greifbaren Ergebnissen geführt.
Ein Neustart der Beziehungen zu Russland kam nicht
zustande, geschweige denn ein »grand bargain«, wie
manche gehofft bzw. befürchtet hatten.
Welche Faktoren erklären die überraschend kooperative und intensive Entwicklung der Beziehungen zwischen den USA und der Ukraine seit dem Beginn der
Präsidentschaft von Donald Trump? Und wie wahrscheinlich ist es, dass diese Situation von Dauer sein
wird?
Erklärungsmuster für die Entwicklung der
USA-Ukraine-Beziehungen unter Trump
Vier Faktoren zusammengenommen liefern eine plausible Erklärung für den Verlauf der Beziehungen in
den letzten anderthalb Jahren. Diese hängen stark
vom Stand des russisch-amerikanischen Verhältnisses ab. Erstens haben zunehmende Indizien für russischen Einfluss bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2016 ein Klima geschaffen, in dem es
für Donald Trump fast unmöglich ist, die Beziehungen zu Russland voranzutreiben. Nicht nur haben russische Akteure versucht, über soziale Medien einen Teil
der öffentlichen Meinung in den USA im Wahlkampf
zu beeinflussen, sondern es gibt auch Vertraute von
Trump, die den Kontakt zu offiziellen russischen Stellen oder deren Vermittlern geleugnet bzw. nicht offengelegt haben. Hierzu gehören wohl Trumps Schwiegersohn Jared Kushner sowie der ehemalige Nationale
Sicherheitsberater Michael Flynn. Außerdem weist einiges darauf hin, dass Trump den ehemaligen Leiter des
FBI James Comey unter anderem deswegen entlassen
hat, weil Comey derartige Kontakte näher untersuchen
wollte. Auch in Bezug auf Robert Mueller, der die Untersuchung von Comey fortsetzt, gibt es Hinweise darauf,
dass Trump ihn abgesetzt sehen möchte. Mueller hat
inzwischen viel Material zur russischen Einmischung
in die Wahlen gesammelt. Vor diesem Hintergrund
sieht jede Parteinahme Trumps für Putin bzw. Russland suspekt aus. Dies öffnet wesentlich mehr Raum
für die Entwicklung der Beziehungen zur Ukraine, als
es ohne dieses Klima des Misstrauens gegenüber Russland gegeben hätte.
Zweitens ist es zu einer unüblichen Einigkeit von
Demokraten und Republikanern in Bezug auf Russland gekommen. Dies hängt eng mit dem ersten Punkt
zur russischen Einmischung zusammen. Die Demokraten sind sehr empört über die zahlreichen Indizien, dass
russische Akteure konsequent versucht haben, die Wahlen zu beeinflussen. Diese Empörung führt zu einer russlandfeindlichen Einstellung, die bei den Demokraten in
der Regel weniger präsent ist. Die Republikaner hingegen
sind traditionell eher russlandkritisch. Diese Kombination hat zur Folge, dass im Kongress eine seltene Einheit
im Hinblick auf die Ansicht zum Umgang mit Russland
(und dadurch auch weitgehend mit der Ukraine) herrscht.
16
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
Hinzu kommt drittens, dass viele Mitglieder des
Kongresses das Gefühl haben, ihre Prärogativen als
Gesetzgeber gegen die Interessen von Donald Trump
schützen zu müssen. Dies führt zu einem hohen Grad
von Solidarität innerhalb der beiden Kammern des
Kongresses. Diese Solidarität mischt sich mit der oben
angesprochenen Einheit in der Russlandfrage. Sie hat
klare Auswirkungen auf das Wahlverhalten der Abgeordneten bei Themen, die Russland und die Ukraine
betreffen. Dies wurde vor allem beim Thema Sanktionen deutlich. Da die Abgeordneten die Frage, ob
die Russlandsanktionen fortgesetzt werden, nicht
dem Präsidenten überlassen wollten, verabschiedeten
sie ein Gesetz, das die Kompetenzen des Gesetzgebers bei künftigen Entscheidungen in diesem Bereich
stärkt. Für Trump wäre es politisch schwierig gewesen,
in diesem Fall ein Veto einzulegen. Ein solches Veto
hätte auch keine Wirkung gehabt, da das Gesetz mit
der überwältigenden Mehrheit der Stimmen in beiden
Kammern angenommen wurde. Zu der Solidarität auf
inhaltlicher Ebene kommt also noch der Schutz der
Gewaltenteilung hinzu.
Viertens hat Trump zu Anfang seiner Präsidentschaft ein Team ausgewählt, das mit der Zeit eine kohärente Linie in Bezug auf Russland und die Ukraine
entwickelt hat, die eher der Haltung des Kongresses
entspricht als der, die von Trump in seinem Wahlkampf vertreten wurde. Zu Beginn bestand dieses Team
aus dem Außenminister Rex Tillerson, dem Verteidigungsminister James Mattis und dem Sicherheitsberater Herbert McMaster. Später kam Kurt Volker in
seiner Eigenschaft als Ukrainebeauftragter hinzu, der
von Tillerson ernannt wurde. Nach dem ersten Jahr
der Trump-Präsidentschaft hatte sich bei den Mitgliedern dieses Teams eine klare Position herausgebildet,
die die russische Annexion der Krim und die Destabilisierung des Donbas klar verurteilte und Sanktionen
diesbezüglich ausdrücklich unterstützte. Sie sah eine
Änderung der russischen Haltung zur Ukraine und entsprechende Handlungen als notwendige Voraussetzung
für eine grundsätzliche Besserung des US-amerikanischen Verhältnisses zu Russland an und war bereit, der
Ukraine substantielle Unterstützung, auch militärischer
Art, zukommen zu lassen.
Aus all diesen Gründen hat sich die Politik der USA
vis-à-vis Russland und der Ukraine seit Beginn der Präsidentschaft von Donald Trump wesentlich anders entwickelt als von den allermeisten Beobachterinnen und
Beobachtern erwartet. Unten wird der Frage nachgegangen, wie stabil diese Politik ist. Aber um diese Einschätzung vorzunehmen, ist es hilfreich, sich zwei Bereiche
des Verhältnisses zwischen der Ukraine und den USA
näher anzuschauen.
Zusammenarbeit in den Bereichen
Sicherheit und Energie
Die Ukraine-USA-Beziehungen sind aus nachvollziehbaren Gründen auf einige Bereiche begrenzt. Die geografische Distanz zwischen den beiden Ländern macht
bestimmte Arten der Zusammenarbeit schwierig, die für
die EU bzw. für einige ihrer Mitgliedstaaten möglich
und sinnvoll sind. Außerdem haben die USA insbesondere unter der Präsidentschaft von Barack Obama ihr
Interesse an und ihr Engagement in der Region heruntergefahren. Nach dem Euromaidan ab dem Herbst
2013 und vor allem nach der russischen Aggression
gegen die Ukraine ab Februar 2014 wurde die Zurückhaltung der USA allerdings wesentlich schwieriger zu
begründen. In der neuen geopolitischen Lage wurde die
Kooperation zwischen den beiden Ländern wesentlich
intensiver, und die Unterstützung für die Ukraine (auch
durch Sanktionen gegen Russland) hat erheblich zugenommen. Interessant sind vor allem der Sicherheitsbereich – wegen der heiklen geopolitischen Situation, in
der sich die Ukraine befindet – und der Energiebereich,
der sich dynamisch entwickelt und in dem sich Chancen für die USA eröffnen.
Im Sicherheitsbereich steht die Frage militärischer
Unterstützung für die Ukraine an erster Stelle. Am 24.
August 2017, dem ukrainischen Unabhängigkeitstag,
weilte der Verteidigungsminister James Mattis in Kiew
und erklärte Folgendes: »Have no doubt, the United
States stands with Ukraine. We support you in the face
of threats to sovereignty and territorial integrity, to international law, and to the international order writ large
[…] We do not, and we will not, accept Russia's seizure
of Crimea and despite Russia's denials, we know they
are seeking to redraw international borders by force,
undermining the sovereign and free nations of Europe.«
Diese Versicherung sei durch militärisches Gerät im
Wert von etwa 750 Millionen US-Dollar in den letzten Jahren untermauert worden, fügte Mattis hinzu.
Bei vielen Programmen handelt es sich um eine Fortsetzung bereits bestehender Unterstützung, sowohl im
Rahmen der NATO als auch im nationalen Kontext.
Aber die Lieferung letaler Waffen, die unter Obama
verweigert wurde, ist unter Trump erfolgt. Im April
2018 kamen die ersten Panzerabwehrraketensysteme
des Typs Javelin in der Ukraine an. Im Mai hat die
Nationalgarde 500 Panzerabwehr-Granatwerfer aus den
USA erhalten. Hinzu kommt, dass die USA die Sanktionen gegen Russland in den letzten Jahren deutlich
verschärft haben, vor allem mit dem oben erwähnten
Sanktionsgesetz von 2017, das auch Iran und Nordkorea betraf. Auch im Bereich Cybersicherheit wird die
Zusammenarbeit ausgebaut. Ein amerikanisch-ukrainischer Dialog auf diesem Gebiet hat im September
17
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
2017 begonnen, und ein Gesetzesentwurf über Kooperation in diesem Bereich wurde im Februar 2018 von
der unteren Kammer des Kongresses verabschiedet. Das
Gesetz steht momentan im Senat zur Debatte. Bemerkenswert ist, dass es in beiden Kammern auf Initiative
von jeweils einem Demokraten und einem Republikaner eingebracht wurde.
Die russische Aggression gegen die Ukraine seit 2014
hat in der Ukraine zu einem neuen Ansatz geführt, was
die Energiepolitik betrifft. Vor allem wird auf Direktimporte von Erdgas aus Russland fast völlig verzichtet,
auch wenn russisches Gas durch »reverse flow« aus einigen EU-Mitgliedsstaaten die Ukraine weiterhin erreicht.
Diese Entwicklung hat zu Überlegungen in den USA
geführt, ob die Ukraine ein Zukunftsmarkt für Flüssiggas (LNG) werden könnte. Bereits im März 2014
wurde diese Idee in einer Sitzung des Energieausschusses des Senats zum Thema »Importing Energy, Exporting Jobs. Can It Be Reversed?« geäußert. Trump hat
die Idee von LNG-Lieferungen nach Mittel- und Osteuropa in seiner Rede auf dem Gipfel der Drei-MeereInitiative in Warschau im Juli 2017 bekräftigt. Dagegen
spricht allerdings sowohl das Fehlen eines LNG-Terminals in der Ukraine als auch die Tatsache, dass laut existierenden Verträgen große Mengen von LNG aus den
USA in den kommenden Jahren an asiatische Länder
geliefert werden müssen. Dennoch kam es im Dezember 2017 zur ersten Lieferung von LNG in die Ukraine
über das polnischen Flüssiggasterminal in Świnoujście.
Das Geschäft wurde von der ERU Corporation abgewickelt, einer US-amerikanischen Firma, die durch eine
Agentur der US-Regierung mit einer Versicherung gegen
politische Risiken ausgestattet wurde.
Im Kohlesektor findet eine ähnliche Entwicklung
statt. Der Kontrollverlust der Ukraine über Teile des
Donbas bedeutet, dass der Zugang zu Anthrazitkohle,
die für bestimmte Kraftwerke in der Ukraine notwendig ist, fast vollständig verloren ging. Im August 2017
hat das Unternehmen XCoal Energy & Resources die
erste Lieferung von Anthrazitkohle auf den Weg in die
Ukraine gebracht, nachdem zwischen Poroschenko und
der Trump-Administration eine Einigung über diese
Geschäfte erzielt wurde. Der Kongress hat sich zudem
negativ über den Bau der Pipeline Nord Stream 2 geäußert und die Möglichkeit von Sanktionen gegen europäische Firmen, die an der Pipeline beteiligt sind, ins
Gesetz eingebaut. Dies kann unter anderem als Unterstützung für die Ukraine gesehen werden, der durch
den Pipelinebau wesentliche Transitgebühren für den
Transport von russischem Erdgas verloren gehen würden. Die entsprechenden Sanktionen können allerdings
nur von der Trump-Administration umgesetzt werden, die bislang davon abgesehen hat, mit dem Argu-
ment, dass das Gesetz an sich eine abschreckende Wirkung erzielt habe.
Die Nachhaltigkeit des derzeitigen
Verhältnisses
In Anbetracht der oben erläuterten Faktoren und Entwicklungen kann man sich fragen, inwiefern das derzeitige Modell der ukrainisch-amerikanischen Beziehungen nachhaltig ist. In Bezug auf die vier eingangs
genannten Faktoren, die das jetzige Modell erklären,
könnte sich einiges ändern. Erstens wird das Thema
russische Einmischung in die US-Wahlen nicht immer
hoch oben auf der politischen Agenda stehen. Spätestens nach Abschluss der Mueller-Untersuchung wird das
Thema wohl langsam aber sicher an Bedeutung verlieren.
Dies könnte die Einigkeit der Demokraten und Republikaner bezüglich der Russlandpolitik etwas abschwächen. Ob die Solidarität des Kongresses gegenüber dem
Präsidenten erhalten bleibt, wird von Trumps künftigem
Verhalten abhängen. Da es nicht zu erwarten ist, dass
seine Linie kohärenter wird oder dass er dem Kongress
generell entgegenkommt, könnte dieser Faktor relativ
stabil bleiben. Wenn man davon ausgeht, dass sowohl
Republikaner als auch Demokraten weiterhin an einer
Verteidigung der Kompetenzen des Kongresses interessiert sind, wird der Ausgang der sogenannten Midterm-Wahlen im November auf die Lage wenig Auswirkung haben.
Derjenige Faktor für die Beziehungen zwischen
den USA und der Ukraine, der sich bereits am meisten
verändert hat, ist die Zusammensetzung des TrumpTeams. Von den ursprünglichen drei Personen (Tillerson, Mattis, McMaster) ist lediglich noch eine vorhanden: der Verteidigungsminister James Mattis. Tillerson
wurde im März 2018 durch Mike Pompeo ersetzt, und
McMaster musste zur gleichen Zeit seine Position an
John Bolton abgeben. Kurt Volker hat seine Position
unter Pompeo behalten, aber es bleibt abzuwarten, ob
seine Stellung im Außenministerium durch die Änderung an der Spitze schwächer wird. Eine grundlegend
andere Linie als die bisherige ist von diesem erneuerten
Team nicht zu erwarten, da sowohl Pompeo als auch
Bolton eine harte Position gegenüber Russland vertreten. Wenn eine Änderung zu erwarten ist, dann eher
in Richtung einer harscheren Russlandpolitik, zumindest nach früheren Aussagen von Bolton und Pompeo
zu urteilen. Dennoch zeigen die Fluktuationen im Team
die Volatilität, mit der in Bezug auf solche Stellenbesetzungen zu rechnen ist.
Was das Potential für die Zusammenarbeit in den
geschilderten Bereichen betrifft, ist deren Beibehaltung
bzw. Ausbau wahrscheinlich. Eine Beibehaltung der
Kooperation im Sicherheitsbereich erscheint für beide
18
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
Seiten sinnvoll und wünschenswert. Trotz der Fortschritte im Militärsektor braucht die Ukraine weiterhin
Unterstützung, um der russischen Aggression effektiv
zu begegnen. Und diese Unterstützung ist für die USA
sowohl ein politisches Signal an Russland als auch ein
wirtschaftlicher Vorteil, da man damit die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Ukraine von US-amerikanischen Rüstungssystemen immer abhängiger wird. Der
Energiebereich kann sicherlich ausgebaut werden. Auch
wenn es erhebliche Hindernisse gibt, was den Export
von LNG an die Ukraine angeht, wird der Trend weg
von russischem Gas vermutlich länger anhalten und
dem US-amerikanischen Gasmarkt mittel- bis langfristig einige Chancen bieten. Der Kohle- sowie der Atomsektor können sogar kurzfristig ökonomische Möglichkeiten für US-amerikanische Firmen liefern. Allerdings
werden fehlende Reformen in der Ukraine die Entwicklungen im Energiebereich wahrscheinlich verlangsamen. Insbesondere im Gassektor hat das ursprüngliche
Reformtempo bereits erheblich nachgelassen.
Bislang hat die ukrainische Führung dem Verhältnis
zu den USA eine hohe Bedeutung zugeschrieben und
sich entsprechend verhalten. Sowohl die Symbolik der
Beziehung als auch die praktischen Ergebnisse genießen
einen hohen Stellenwert bei ukrainischen Politikerinnen
und Politikern. Dies wird sich in absehbarer Zukunft
vermutlich nicht ändern. Allerdings könnte sich nächstes Jahr eine neue politische Situation ergeben, da sowohl
Präsidentschafts- als auch Parlamentswahlen anstehen.
Für die Parlamentswahlen, die für den Herbst vorgesehen sind, wird das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen, die im März durchgeführt werden, eine große Rolle
spielen. Auch wenn die Kandidaten, denen momentan
die besten Chancen zugeschrieben werden (dem jetzigen Präsidenten Poroschenko bzw. der Vorsitzenden
der Vaterlandspartei Julia Timoschenko), im Prinzip
für unterschiedliche Ansätze vis-à-vis Russland stehen
könnten, ist es wenig wahrscheinlich, dass ein explizites
Zugehen auf Russland in der heutigen politischen Lage
möglich sein wird. Von daher bleibt eine starke Orientierung an den USA (und der EU) die wahrscheinlichste
außenpolitische Option. In dieser Situation hängt die
Entwicklung der Beziehungen mehr von der Haltung
der USA als von der der Ukraine ab.
Insgesamt gesehen deuten die oben analysierten Faktoren und Kooperationsbereiche eher auf einen nachhaltigen Ansatz der US-amerikanischen Politik gegenüber
der Ukraine. Auch wenn Donald Trump sprunghaft
bleibt und in der Grundtendenz zu einer Einigung mit
Russland neigt, über die Köpfe der ukrainischen Partner hinweg, sprechen sowohl politische als auch einige
wirtschaftliche Faktoren dagegen, dass es dazu kommen
wird. Der größte Unsicherheitsfaktor bleibt das Team,
das für die politischen Beziehungen zu Russland und
der Ukraine zuständig ist, da sich dieses bereits in den
ersten anderthalb Jahren der Trump-Präsidentschaft
erheblich verändert hat. Weitere derartige Veränderungen hängen von Trump ab und könnten die bisher eher
einheitliche Linie des Teams in Frage stellen. Auch Russlands Verhalten könnte einen Einfluss auf den Kurs des
Teams ausüben. Allerdings ist eine wesentliche Änderung von Russlands Politik unter dem Putin-Regime
unwahrscheinlich. Von daher wird die Überraschung,
die sich in Trumps Amtszeit in Bezug auf Russland und
die Ukraine eingestellt hat, vermutlich noch fortwähren. Dennoch deuten Trumps angebliche Äußerungen
bei den G7-Gesprächen in Kanada – die Krim sei russisch, weil ihre Einwohner Russisch sprächen – auf eine
mögliche Bedrohung der bisherigen US-amerikanischen
Position hin. Insbesondere im Hinblick darauf, dass sich
Putin und Trump am 16. Juli auf einem Gipfeltreffen
in Helsinki begegnen werden, bleibt eine gewisse Unsicherheit bestehen.
Über die Autorin:
Dr. Susan Stewart ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sie arbeitet zur Innen- und Außenpolitik der Ukraine und Russlands und zur Östlichen
Partnerschaft der EU.
Lesetipps:
• Susan Stewart: Die Beziehungen zwischen USA und Ukraine – besser als erwartet, SWP-Aktuell 17, Stiftung Wissenschaft und Politik, März 2018, <https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2018A17_stw.pdf>
• Katherine Baughman: Ukraine’s Energy Security: How the U.S. Can Help, Center on Global Interests, February
16 2018, <http://globalinterests.org/2018/02/16/ukraines-energy-security-how-the-u-s-can-help/#footnote>
• Mikhail Alexseev: Why Trump’s Bid to Improve U.S.-Russian Relations Backfired in Congress, PONARS Eurasia
Policy Memo No. 507, Elliott School of International Affairs, The George Washington University, February 2018,
<http://www.ponarseurasia.org/sites/default/files/policy-memos-pdf/Pepm507_Alexseev_Feb2018.pdf>
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UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
STATISTIK
Ukraine und USA – Warenexport und -import
Grafik 1: US-Warenexporte in die Ukraine im Jahr 2016 (in Mio. US-Dollar), Auswahl der
meistexportierten Waren
Fahrzeuge
176
16,0 %
Mineralische Brennstoffe
210
19,1 %
Maschinen
175
15,9 %
Flugzeuge
91
8,3 %
Eisen- und Stahlprodukte
55
5,0 %
Übrige Warenkategorien
393
35,7 %
Quelle: Office of the United States Trade Representative, <https://ustr.gov/countries-regions/europe-middle-east/russiaand-eurasia/ukraine>
Grafik 2: US-Warenimporte aus der Ukraine im Jahr 2016 (in Mio. US-Dollar), Auswahl der
meistimportierten Waren
Eisen/Stahl
258
44,6 %
Elektrische Maschinen
39
6,7 %
Anorganische Chemikalien
27
4,7 %
Eisen- und Stahlprodukte
27
4,7 %
Milchprodukte/Eier/Honig
24
4,2 %
Übrige Warenkategorien
203
35,1 %
Quelle: Office of the United States Trade Representative, <https://ustr.gov/countries-regions/europe-middle-east/russiaand-eurasia/ukraine>
20
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
21
UMFR AGE
Einstellung der ukrainischen Bevölkerung zu USA und NATO
Grafik 1: Wie ist Ihre Einstellung zu folgenden Ländern*? (Auswahl, Juni 2017)
Sehr positiv
0%
10 %
Positiv
20 %
Neutral
30 %
Negativ
40 %
50 %
Sehr negativ
60 %
Schwer zu sagen
70 %
80 %
90 %
100 %
1%
Polen
14 %
Europäische Union
13 %
3%
35 %
44 %
5%
35 %
41 %
2%
3%
1%
1%
Belarus
4% 3%
40 %
42 %
10 %
2%
USA
Russland
4%
15 %
26 %
7%
41 %
35 %
12 %
24 %
27 %
3%
3%
* Dies ist der Wortlaut der Frage, obwohl neben der Einstellung zu Ländern auch die Einstellung zu einer Staatengemeinschaft, der
Europäischen Union, abgefragt wurde.
Quelle: Umfrage des Center for Insights in Survey Research (International Republican Institute) vom 9.6. bis 7.7.2017 in allen Regionen der Ukraine mit Ausnahme der Krim und der besetzten Gebiete im Donbass (2.400 Befrage), <http://www.iri.org/sites/default/
files/2017-8-22_ukraine_poll-four_oversamples.pdf>
Grafik 2: Wenn es heute ein Referendum über einen möglichen NATO-Beitritt der Ukraine
geben würde, wie würden Sie abstimmen? (Juni 2017)
Gegen NATO-Beitritt
27 %
Für NATO-Beitritt
40 %
Würde nicht abstimmen
12 %
Schwer zu sagen
22 %
Quelle: Umfrage des Center for Insights in Survey Research (International Republican Institute) vom 9.6. bis 7.7.2017 in allen Regionen der Ukraine mit Ausnahme der Krim und der besetzten Gebiete im Donbass (2.400 Befrage), <http://www.iri.org/sites/default/
files/2017-8-22_ukraine_poll-four_oversamples.pdf>
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
ANALYSE
Landminen in der Konfliktregion im Donbass: Gefahren und Perspektiven
Von Elena Ostanina (IHS Markit, Berlin)
Zusammenfassung
In dem seit vier Jahren andauernden bewaffneten Konflikt zwischen der Ukraine und den von Russland
unterstützten Milizen im Donbass wurden bereits etwa 10.000 Zivilisten getötet und 25.000 Zivilisten verletzt. Mindestens 1.833 von ihnen kamen bei Detonationen von Blindgängern oder Minen ums Leben oder
wurden dabei verletzt. Zurzeit leben über zwei Millionen Zivilisten, unter ihnen 220.000 Kinder, in – oder
in der Nähe von – Gebieten, die mit Blindgängern und/oder Antipersonenminen verseucht sind. Die Landminen befinden sich vor allem auf landwirtschaftlich genutzten Flächen, in an Straßen angrenzenden und
in zivil genutzten Gebieten, ohne dass entsprechende Warnschilder angebracht wären. Obwohl die Konfliktparteien regelmäßig in begrenztem Umfang Minenräumaktionen durchführen, wird die Gesamtzahl
der Minen wahrscheinlich nicht sinken, da ständig neue eingesetzt werden. Die ukrainische Gesetzgebung
schafft außerdem zusätzliche bürokratische Hürden; sie schränkt die internationalen Organisationen bei
Minenräumungen erheblich ein.
Abkommen über das Verbot von
Antipersonenminen
Antipersonenminen sind vom Opfer ausgelöste Waffen, die, sobald einmal ausgelöst, zu schweren Verletzungen, vor allem zur Zertrümmerung der Gliedmaßen
und zu Amputationen, führen. Trotz der ursprünglich
vorgesehenen Hauptwirkung der Waffe – Verletzung,
nicht Tötung, des militärischen Gegners, um zusätzliche logistische und medizinische Belastungen zu schaffen – sind bis zu 80 Prozent der Opfer von Antipersonenminen Zivilisten. Im Jemen wurden im Jahr 2016
2.037 Menschen und in Libyen weitere 1.610 Menschen durch die explosiven Hinterlassenschaften des
Krieges verletzt, was bei den Opfern zu erheblichen
gesellschaftlichen, psychischen und wirtschaftlichen
Beeinträchtigungen führte. In erster Linie um Zivilisten zu schützen, wurde ab 1996 das Übereinkommen
über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen
und über deren Vernichtung (auch: Ottawa-Konvention oder Mine Ban Treaty) entwickelt.
Die freiwillige, rechtsverbindliche Ottawa-Konvention wurde seit 1997 von 164 Ländern ratifiziert und
von einem weiteren Land unterzeichnet. Dieses Instrument war das erste seiner Art, das eine Waffe verbot, die
auf der ganzen Welt weit verbreitet war. Das Dokument
verbietet außerdem nicht nur eine bestimmte Waffenart, sondern sieht für Vertragsstaaten auch drei Hauptbedingungen vor, um einen übergreifenden Ansatz
im Umgang mit vorhandenen Antipersonenminen
sicherzustellen:
• Verbot des Einsatzes, der Entwicklung, der Produktion, des Erwerbs, der Lagerung und der Weitergabe
von Antipersonenminen
• Vernichtung aller gelagerten Antipersonenminen
spätestens vier Jahre nach Ratifizierung des Vertrags
•
Vernichtung aller Antipersonenminen in verminten
Gebieten, die sich in der Zuständigkeit bzw. unter
der Kontrolle des jeweiligen Vertragsstaats befinden,
spätestens zehn Jahre nach Ratifizierung des Vertrags
Die Ukraine hat den Mine Ban Treaty am 27. Dezember 2005 ratifiziert. Dieser trat am 1. Juni 2006 in Kraft
und setzte somit eine Frist für die Minenvernichtung
bis 2016. Die Ukraine erfüllte ihre internationalen Verpflichtungen jedoch nicht rechtzeitig, angeblich wegen
der andauernden Kampfhandlungen, und verletzt zurzeit zwei Hauptartikel der Konvention zum Verbot von
Antipersonenminen:
• Artikel 4 über die Vernichtung der gelagerten Antipersonenminen: Die Ukraine ließ die vierjährige
Frist zur vollständigen Vernichtung der Antipersonenminen verstreichen, bis 2018 blieben 4,9 Millionen Minen zur Vernichtung übrig.
• Artikel 5 über die Vernichtung von Antipersonenminen in verminten Gebieten: Die Ukraine ließ die
Frist am 1. Juni 2016 verstreichen, ohne ihre Verlängerung beantragt zu haben.
Ausbruch des Konflikts
Der militärische Konflikt im ukrainischen Teil des
Donbass begann Anfang 2014, nach der Annexion
der ukrainischen Halbinsel Krim durch die russischen
Streitkräfte.
In den Regionen Donezk und Luhansk, die sich
beide im Donbass befinden, unterstützten lokale Separatisten, die Berichten zufolge finanziell und militärisch
von Russland unterstützt wurden, nicht nur die Annexion, sondern sie versuchten auch, ein Szenario wie auf
der Krim zu wiederholen, erklärten schon bald ihre
Unabhängigkeit von der Ukraine und begannen eine
militärische Konfrontation mit der ukrainischen Armee,
mit starkem Einsatz von Luftkriegsmitteln, Raketen-
22
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
werfern und gepanzerten Kampffahrzeugen. Auf dem
Höhepunkt des Konflikts nahmen Berichten zufolge
bis zu 60.000 Angehörige der ukrainischen Armee und
etwa 33.500 Milizsoldaten aus den Volksrepubliken
Donezk (DNR) und Luhansk (LNR) gemeinsam mit
bis zu 12.000 Angehörigen der russischen Armee am
bewaffneten Konflikt in der Ostukraine teil. Während
der aktiven Phase der Konfrontation verschob sich die
Kontaktlinie zwischen den Kampfteilnehmern immer
wieder, was zu einer starken Belastung des Gebiets
mit verschiedensten Arten der Munition sowohl von
der ukrainischen Armee als auch von den Separatisten führte. Die internationalen Friedensverhandlungen von Minsk im Jahr 2014 führten zu einem Ende
der weitreichenden Militäreinsätze in der Konfliktregion im Donbass. Dennoch geht die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen den abtrünnigen Republiken Donezk und Luhansk (die jeweils ein Teilstück der
namensgebenden Regionen Donezk und Luhansk darstellen) und dem ukrainischen Militär seitdem weiter,
mit täglichen Schusswechseln und einer ständig wachsenden Zahl von getöteten und verletzten Personen auf
beiden Seiten, einschließlich von Zivilisten.
Belastung der Böden mit
Antipersonenminen
Im Jahr 2014 verlor die Ukraine die Kontrolle über etwa
45.000 Quadratkilometer Land (ein Gebiet, das größer ist als die Schweiz), das nach der Besetzung durch
die Milizen als Volksrepublik Donezk und Volksrepublik Luhansk bezeichnet wurde. Die vielzähligen
Versuche hauptsächlich der ukrainischen Armee, die
Kontrolle über die Gebiete zurückzugewinnen, führten zu einer weiteren Zunahme der Belastung der
Böden mit verschiedenen nicht explodierten Kampfmitteln (unexploded ordnances) und mit Minen, darunter Antipersonenminen.
Das tatsächliche Ausmaß der Belastung der Konfliktregion im Donbass mit Antipersonenminen ist nicht
genau zu bestimmen, zum Teil wegen der anhaltenden
militärischen Auseinandersetzung. Selbst offizielle Stellen liefern sehr unterschiedliche Schätzungen. Im Jahr
2015 erklärte das Verteidigungsministerium, dass ein
Gebiet von etwa 37.000 Quadratkilometern Größe mit
nicht explodierten Kampfmitteln und Minen belastet
sei, hauptsächlich an der 457 Kilometer langen Kontaktlinie zwischen der ukrainischen Armee und den bewaffneten Kräften der Volksrepubliken. 21.000 Quadratkilometer davon seien von der Regierung kontrollierte
Gebiete, die restlichen 16.000 Quadratkilometer befänden sich in den besetzten Gebieten. Allerdings wurde die
mögliche Belastung im Jahr 2018 neu berechnet, und
das Verteidigungsministerium nahm jetzt an, dass ein
kleinere Fläche – nämlich 7.000 Quadratkilometer in
den von der Regierung kontrollierten Gebieten, und
9.000 Quadratkilometer in den besetzten Gebieten der
Regionen Donezk und Luhansk sowie auf der von Russland annektierten Krim – potentiell mit nicht explodierten Hinterlassenschaften des Krieges belastet sei.
Die Übernahme von Verantwortung beider Konfliktparteien für den Einsatz von Antipersonenminen ist
unwahrscheinlich, teilweise ebenfalls wegen der anhaltenden militärischen Auseinandersetzung. Offiziell hat
die Ukraine im Jahr 2005 den Mine Ban Treaty unterzeichnet, der sowohl den Einsatz als auch die Produktion, den Erwerb, die Lagerung und die Weitergabe
von Antipersonenminen verbietet. Die aktuelle ukrainische Regierung streitet den Einsatz von Antipersonenminen in der Konfliktregion im Donbass ab und wirft
den DNR- und LNR-Milizen vor, Minen zu verlegen.
Eine Reihe von internationalen NGOs hat derartige
Behauptungen bestätigt (der Landmine Monitor aus dem
Jahr 2017 schreibt den Einsatz von Antipersonenminen
auf ukrainischer Seite nur nichtstaatlichen bewaffneten
Gruppen zu); das widerspricht jedoch den Angaben des
Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen
für Menschenrechte. Im Jahr 2016 hatte das UN-Büro
berichtet, dass sowohl die ukrainischen Streitkräfte als
auch die Separatisten Landminen, darunter Antipersonenminen, verlegt hätten. Die OSZE-Sonderbeobachtermission (SMM) sagt in inoffiziellen Gesprächen
ebenfalls, dass alle Konfliktparteien weiter Minen entlang der Kontaktlinie verlegen würden, angeblich um
groß angelegte Offensiven vorzubereiten. Um mögliche
Explosionen und rechtliche Konsequenzen zu verhindern, entfernen beide Parteien Berichten zufolge sogar
regelmäßig Minen aus den verminten Gebieten, um die
OSZE-Sonderbeobachtermission für ihre Patrouille passieren zu lassen, nur um die Minen danach wieder zu
verlegen, sobald die Patrouille beendet ist.
Karten mit großem Maßstab, in denen die genaue
Lage der Minen, ihre Anzahl und ihre Art angegeben
sind, existieren jedoch nicht. Laut dem stellvertretenden Gouverneur der Region Donezk Wilinsky, haben
die einzelnen Einheiten der Separatisten, die eine große
Anzahl an Minen eingesetzt haben, häufig im Geheimen operiert, was regelmäßig zu Detonationen und so
zu Opfern unter den Milizsoldaten führte. Die ukrainische Armee hat ebenfalls zahlreiche ihrer Einsätze
in der Region für geheim erklärt. Die Situation hat
sich durch starke Verschiebungen der Kontaktlinie und
durch die ständige Bewegung der Oberflächenschichten durch Regen, Grundwasser und Schneeschmelzen
zusätzlich verschlechtert. Schätzungen zufolge sind die
am stärksten belasteten Gebiete zurzeit landwirtschaftlich genutzte Flächen, zivil genutzte und an Straßen
23
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
angrenzende Gebiete, einschließlich derjenigen in der
Nähe von Grenzübergängen. In der Nähe von Marinka
in der Region Donezk fuhr im Jahr 2016 ein Minibus
beim Versuch, am Straßenrand einen Stau zu umfahren, auf eine Mine auf, die explodierte und vier Menschen tötete. Es gab dort keine Minenwarnschilder, wie
nach wie vor in den meisten der betroffenen Gebiete.
Alle Antipersonenminen, die Berichten zufolge
in der Konfliktregion im Donbass eingesetzt wurden,
stammen aus der Sowjetunion oder Russland. Die
Ukraine findet und beschlagnahmt regelmäßig Minen
der folgenden in der Sowjetunion hergestellten Modelle:
MON-Minen mit Richtwirkung und Splittermunition,
OZM-Springminen mit Splitterwirkung, PMN-Sprengminen und fernverlegbare POM-Minen. Im Gegensatz zur Ukraine hat Russland die Konvention zum
Verbot von Antipersonenminen von 1997 nicht unterzeichnet und besitzt Berichten zufolge immer noch 26,5
Millionen Antipersonenminen. Außerdem schickt das
russische Katastrophenschutzministerium regelmäßig
humanitäre Hilfskonvois in die besetzten Gebiete von
Donezk und Luhansk, ohne dass internationale Beobachter sie kontrollieren dürfen. Am 24. Mai 2018 drang
der 77. russische Konvoi, der aus über 40 Lastwagen
mit 400 Tonnen Ladung – unter anderem angeblich
Babynahrung und Hilfsgüter – bestand, in die von den
Separatisten besetzten Gebiete ein. Im Februar 2018
erfolgte ein ähnlich umfangreicher, als humanitäre Lieferung bezeichneter russischer Transport in die besetzten Gebiete. Dieses Mal versuchten OSZE-Sonderbeobachter, beim Entladen von zehn Lastwagen des Konvois,
die in ein umzäuntes Gelände am Rande von Luhansk
einfuhren, dabei zu sein. Die Patrouille der OSZESonderbeobachtermission wurde jedoch von bewaffneten Milizsoldaten, die ihnen die Einfahrt verwehrten, aufgehalten.
Herausforderungen bei der Minenräumung
Selbst niedrigsten Schätzungen zufolge sind mindestens
16.000 Quadratkilometer der Konfliktregion im ukrainischen Donbass mit Antipersonenminen belastet. Bis
heute haben 50 Minenräumeinheiten bzw. 300 Minenräumer – Vertreter der ukrainischen Armee und der
internationalen Minenräumorganisationen – nur 260
Quadratkilometer (3,7 Prozent aller potentiell gefährlichen von der Regierung kontrollierten Gebiete) untersucht und über 340.000 Blindgänger und Landminen
gefunden und entschärft. Die meisten Minenräumungen wurden jedoch entlang der Kontaktlinie zwischen
den beiden sich bekämpfenden Parteien durchgeführt,
besonders in der Nähe von Infrastruktureinrichtungen
wie Wasser- und Gasleitungen, Stromübertragungsleitungen, Eisenbahnstrecken und so weiter. Die meisten
Landwirtschaftsflächen, auf denen Antipersonenminen
verlegt wurden und die jetzt von Anwohnern für landwirtschaftliche Zwecke genutzt werden, wurden dabei
außer Acht gelassen. Trotz regelmäßiger Explosion von
Überbleibseln des Krieges auf landwirtschaftlichen Flächen (die OSZE-Sonderbeobachtermission hat im April
2018 mindestens drei solcher Explosionen vermeldet),
beharren die Anwohner darauf, mit Minen belastete
Grundstücke weiter zu bewirtschaften.
Um weitreichende Minenräumarbeiten unter Beteiligung internationaler und supranationaler Organisationen in die Wege zu leiten, müsste die ukrainische Seite
folgende Herausforderungen bewältigen:
• den hohen finanziellen Aufwand; die Kosten für die
Entfernung einer Antipersonenmine liegen zwischen
300 und 1.000 Euro, je nach Gelände, Zugänglichkeit, Belastung des Bodens mit Industriemüll usw.
Das ukrainische Verteidigungsministerium schätzt
die erforderlichen Mittel grob auf über 650 Millionen Euro (die Berechnung basiert auf der Höhe der
eingesetzten Mittel für die Minenräumprogramme
in Kroatien). Da die Ukraine eine solche Summe
für die Minenräumung im Donbass wahrscheinlich
nicht aufbringen wird, haben bereits mehrere ausländische Regierungen und supranationale Organisationen wie die NATO, die EU, die OSZE und
die UNO ihre Bereitschaft erklärt, Minenräumaktivitäten zu finanzieren. Allerdings ist die finanzielle Unterstützung teilweise unvereinbar mit lokalen Gesetzen.
• Schaffung von Rechtsvorschriften; zurzeit gibt es
keine offizielle Stelle, die für alle Minenräumaktivitäten in der Konfliktregion im Donbass verantwortlich ist. Das ukrainische Verteidigungsministerium ist verantwortlich für die Minenräumung in
der fünf Kilometer breiten Pufferzone zwischen der
Kontaktlinie und den von der Regierung kontrollierten Gebieten. Das restliche Gebiet fällt in den
Zuständigkeitsbereich des staatlichen Notdiensts.
Aufgrund der Beschränkungen durch die
aktuelle ukrainische Gesetzgebung, insbesondere aufgrund fehlender Genehmigungsverfahren
für die Lagerung und den Transport von Minen
durch internationale nichtstaatliche Akteure, sind
den minenbezogenen Aktivitäten der internationalen Organisationen strenge Grenzen gesetzt. Drei
internationale Minenräumorganisationen, die zurzeit in der Ukraine arbeiten – die Fondation Suisse
de Déminage (FSD), die Danish Demining Group
(DDG) und der britische Hazardous Area Life-support Organization Trust (HALO Trust) –, dürfen
die potentiell belasteten Gebiete offiziell nur untersuchen. Bei der Entdeckung eines Blindgängers oder
24
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•
einer Mine müssen sie für die Entschärfung des
Sprengkörpers den staatlichen Notdienst rufen. Das
Parlament hat mit der Ausarbeitung der nationalen Rechtsvorschriften zur Minenräumung in der
Ukraine begonnen und sollte im Januar 2018 einen
entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Die Fertigstellung wurde jedoch verschoben, da Berichten
zufolge noch mehrere wichtige Bestimmungen diskutiert wurden, wie die Besteuerung der Ausrüstung
für die Minenräumung.
Es gibt keine Garantie für Sicherheit. Die Ukraine
beschuldigte die Milizen aus den Volksrepubliken
Donezk und Luhansk gelegentlich, Sabotage zu
begehen und neue Minen in den von der Ukraine
kontrollierten Gebieten zu verlegen. In der Nähe
von Talakiwka in der Region Donezk fuhr am 15.
November 2017 ein Polizeifahrzeug auf eine Landmine auf. Diese detonierte, tötete einen Polizisten
und verletzte zwei weitere Polizisten. Dieselbe Straße
war Berichten zufolge am Tag zuvor von der Polizei bzw. der Armee genutzt worden, ohne dass es zu
Zwischenfällen gekommen war.
Fazit
Der seit vier Jahren andauernde bewaffnete Konflikt in
der Konfliktregion im Donbass verringert die Wahrscheinlichkeit von Minenräumeinsätzen in den von der
Regierung kontrollierten Gebieten auf mittlere Sicht
(in den kommenden drei bis fünf Jahren) beträchtlich.
Die täglichen Kämpfe führen fast täglich zu verwundeten und regelmäßig zu getöteten Militärangehörigen;
daher wird die Situation von der Regierung wahrscheinlich zur zeitlichen Verschiebung der Minenräumung
genutzt werden. Die Regierung kann jedoch bereits
jetzt einige Maßnahmen ergreifen, um die Umsetzung
derartiger Programme in Zukunft zu erleichtern und
um ihre finanzielle Unterstützung sicherzustellen. Die
Erarbeitung von Rechtsvorschriften, welche die bürokratischen Hürden für internationale und supranationale Organisationen, an Minenräumprogrammen teilzunehmen, beseitigen, ist einer der wichtigsten Schritte.
Dieser kann und sollte selbst während der laufenden
bewaffneten Auseinandersetzung unternommen werden. Auch wenn es wahrscheinlich nicht innerhalb eines
Jahres zu diesen Veränderungen kommen wird – es gibt
eine Reihe von Gründen, warum die Veränderungen
sehnlichst erwartet werden:
1. Mindestens zwei Millionen Zivilisten, unter ihnen
220.000 Kinder, leben zurzeit in oder in der Nähe
von Gebieten, die mit Blindgängern und Landminen verseucht sind. Aus diesem Grund sollten
sich die Minenräumarbeiten in erster Linie auf
öffentlich genutzte Gebiete – wie Dörfer, landwirtschaftliche Flächen und an Straßen und
Grenzübergänge angrenzende Gebiete entlang der
Kontaktlinie – konzentrieren.
2. Belastete Gebiete könnten für die regionale wirtschaftliche Entwicklung genutzt werden, zum Beispiel im Bereich Landwirtschaft. Im Jahr 2017 hat
die Landwirtschaft über 40 Prozent der ukrainischen Exporte geliefert und 14 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausgemacht. Über fünf Prozent aller
Arbeitskräfte waren in der Landwirtschaft beschäftigt. Außerdem stellen laut dem ukrainischen Parlament private Haushalte durch Lebensmittelanbau
und -produktion die Versorgung des Landes mit
Milchprodukten zu über 75 Prozent, mit Fleischerzeugnissen zu 40 Prozent und mit Eiern zu etwa 40
Prozent sicher. Wenn Grundstücke entmint werden,
können die Anwohner sie für Selbstversorgung nutzen, was in einem Land mit einem Mindestlohn von
etwa 100 Euro von großer Bedeutung ist, insbesondere in den Regionen, die in der Nähe des bewaffneten Konfliktes liegen.
3. Ein frühzeitiger Beginn der Minenräumaktivitäten kann sowohl die finanzielle Unterstützung von
internationalen und supranationalen Organisationen gewährleisten als auch den Zugang zu den explosiven Hinterlassenschaften des bewaffneten Konflikts und eine gesicherte Entminung der Gebiete
erleichtern.
Übersetzung aus dem Englischen: Katharina Hinz
Über die Autorin:
Elena Ostanina ist External Political and Security Analyst bei IHS Markit. Ostanina erstellt Analysen zu Politik und
Sicherheitsrisiken in Russland, der Ukraine, Aserbaidschan, Armenien und Belarus.
Lesetipps:
• Convention on the Prohibition of the Use, Stockpiling, Production and Transfer of Anti-Personnel Mines and on
the Destruction, <http://www.un.org/Depts/mine/UNDocs/ban_trty.htm>
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•
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Monitoring and Research Committee, ICBL-CMC Governance Board (Danish Demining Group, Handicap International, Human Rights Watch, Mines Action Canada, research team leaders, ICBL-CMC staff experts): Landmine
Monitor 2017, <https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Landmine_Monitor_2017_Embargoed.pdf>
Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation
in Ukraine 16 February to 15 May 2016, <http://www.ohchr.org/Documents/Countries/UA/Ukraine_14th_
HRMMU_Report.pdf>
United Nations Ukraine: 2 million Ukrainians are affected by landmines in Ukraine’s eastern conflict regions,
<http://www.un.org.ua/en/information-centre/news/4317-2-million-ukrainians-are-affected-by-landmines-inukraine-s-eastern-conflict-regions>
Human Rights Watch: Landmines in Ukraine: Technical Briefing Note, April 2015, <https://reliefweb.int/sites/
reliefweb.int/files/resources/LM_Landmines%20in%20Ukraine-Technical%20Briefing%20Note_6April2015_
final.pdf>
Mine Actions Review (MAG, Norwegian People’s Aid, HALO Trust): Clearing the Mines 2017, <http://www.
mineactionreview.org/assets/downloads/Clearing-the-Mines-2017.pdf>
GR AFIK ZUM TEX T
Opfer von Minen und Blindgängern im Donbass
Grafik 1: Zivile Opfer von Minen und Blindgängern in den von der ukrainischen Regierung
kontrollierten Gebieten im Donbass (2014–2017)
Getötete oder verletzte Kinder
0
100
200
300
400
Getötete oder verletzte Erwachsene
500
600
700
800
900
26
2014
901
14
2015
628
13
2016
127
11
2017
113
Insgesamt: 1.833 getötete oder verletzte Personen
Quelle: UNICEF Ukraine, <https://twitter.com/UNICEF_ECA/status/981461629622767616>
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DOKUMENTATION
Menschenrechtssituation in den »Volksrepubliken« im Donbass
Zur Dokumentation der Menschenrechtssituation in den selbsternannten »Volksrepubliken Donezk und
Luhansk« veröffentlichen die Ukraine-Analysen hier den Newsletter Review of Human Rights Violations
in Occupied Donetsk and Luhansk Regions der ukrainischen NGO VOSTOK-SOS (press@vostok-sos.org).
Der Newsletter ist im Internet unter <http://www.civicmonitoring.org/wp-content/uploads/2018/06/HR_
May_2018_En.pdf> abrufbar. Er wird im Rahmen eines Kooperationsprojektes mit dem Deutsch-Russischen Austausch (DRA e. V.) ermöglicht und vom Auswärtigen Amt gefördert. Bei den im Newsletter vertretenen Ansichten handelt es sich nicht um die offizielle Position des Auswärtigen Amtes. Wir danken
VOSTOK-SOS und dem DRA für die Erlaubnis zum Nachdruck.
Die Redaktion der Ukraine-Analysen
Review of Human Rights Violations in Occupied Donetsk and Luhansk Regions
MAY, 2018
In May, 2018, the new facts of human rights violations were identified in certain districts of Luhansk and Donetsk
regions, controlled by the armed groups of so-called “LPR” and “DPR”: illegal detentions, restrictions of freedom of
movement of civilians, obstruction of the activities of international organizations, involvement of schoolchildren into
the events with propagandistic aims, coercion of the residents of so-called “LPR and DPR” to join “civil society organizations”, development of parallel legal system and violation of property rights. Unfortunately, all these human rights
violations have become a “norm” for residents of the territories of so-called “people’s republics”.
1. Illegal arrests, detentions and restriction of freedom of movement
The occupation government of the Russian Federation in the occupied Luhansk and Donetsk regions limits the freedom of movement via so-called “curfew” at night time. At the same time, raids are periodically conducted to identify
“offenders”. Thus, during the nights of May 25th–27th, the so-called “police” of the occupation administration detained
373 people for violating the curfew during the “Night city” police operation.
On May 3, 2018, it was reported by the occupation administration of the Russian Federation in the occupied
Donetsk region that Viktor Mykolayovych Dzytsyuk, a citizen of Ukraine, born in 1988, was detained “on suspicion of spying in favour of the Ukrainian special services”. It is reported that the detainee allegedly carried the explosives into the territory of the so-called “DPR” and “collected, analysed and passed data, that undermine the security
of DPR, to Ukrainian special services, and took part in organization of terrorist attacks in the territory of the DPR”.
The detainee faces a penalty from 12 to 20 years of imprisonment.
On May 3, 2018, Semen Kuzmenko, the “Minister of Transport of the DPR” in the occupation administration of
the Russian Federation in the occupied Donetsk region in 2014–2016, was detained by employees of the so-called “Ministry of Revenue and Dues” in the yard of his house. As he informed on his Facebook page, he was released a day after.
On May 5, 2018, an inhabitant of Luhansk was detained by the agents of the so-called “Ministry of State Security (MSS) of LPR” on the “Stanytsia-Luhanska” entry-exit checkpoint with a large party of amphetamine allegedly
obtained from the Ukrainian secret services in Kyiv. The name of the detainee is not specified.
On May 17, 2018, it was reported by a local inhabitant that the occupation administration of the Russian Federation
in the occupied Luhansk region forbade the employees of the so-called “district state administrations” and “city councils” to leave the territory of the “LPR”. The ban concerns the area over the control of Ukraine, as well as trips to Russia.
On May 28, 2018, two teenagers were detained by the so-called “patrol of MIA of the LPR” in the territory of
the occupied Luhansk region, controlled by the Russian occupation administration—in Luhansk near the “Okolitsya” market. It was stated in “vKontakte” social network, that the children had Ukrainian state symbols. The teenagers were sent over to the staff of the so-called “MSS of LPR”.
2. Development of parallel legal system, advocacy, notary, courts
Russian occupation administrations and controlled media continue to inform local residents of the occupied areas of
Donetsk and Luhansk regions, as well as the world public, about the “state bodies” activities and the results of such
“work”. It should be noted that this activity has no legal basis and the main aim is to demonstrate the so-called “sovereignity” of the “republics”.
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In these areas, the newly created so-called “Ukrainian People’s Tribunal for the Investigation of Poroshenko Regime
War Crimes Against the Citizens of Ukraine” (“UPT”) continued its activity in May.
On May 21, 2018, Sergei Kozhemyakin, the “prosecutor”, demanded “life imprisonment for the president of Ukraine
and his accomplices for crimes against the people of Donbass” at a meeting of the so-called “UPT”.The so-called
“Council of Ministers of the LPR” and the MPs of the “People’s Council of the LPR” reported their activities in May.
On May 5, 2018, two laws were adopted by the “MPs” of the so-called “People’s Council of the LPR”: “On Amendment to Certain Legislative Acts of the Luhansk People’s Republic” on the termless appointment of judges and the
extension of group of possible applicants for this post and “On Export Customs Duty”.
On May 15, 2018, the so-called “Council of Ministers of the LPR” amended the resolution “On Approval of Rules
for Market Trade”.
On May 25, 2018, the so-called “Council of Ministers of the DPR” adopted a resolution “On Amendments to
the Temporary Provisional Procedure for Providing the Land Plots on the Territory of Donetsk People’s Republic for
Permanent Usage and Rent, approved by Resolution of the Council of Ministers of the Donetsk People’s Republic of
September 2, 2015 No17-15” of November 6, 2017 No14-61.
On May 29, 2018, the “presentation of a license to international transportation of dangerous goods to the State
Innovation Company” took place in the so-called “Ministry of Transport of the DPR”.
3. Coercion for membership in “civil society” organizations and participation in “patriotic” and “social” actions
of “LNR” and “DNR”. Involvement of children in propaganda
Military-patriotic propaganda and involvement in participation in “civil society” organization are actively spread among
children, adolescents and youth on occupied areas of Donetsk and Luhansk regions, controlled by the Russian Federation’s occupation administrations. The employees of budget enterprises and enterprises with so-called “external management” are actively enlisted in “civil society” organizations.
Children of school and preschool age in the military uniform of the Red Army of 1941–1945 and modern periods
were involved in the events during the celebration of the USSR victory in the Great Patriotic War on areas under control of the Russian occupation administration in the occupied Luhansk and Donetsk regions.
Such an events took place on May 7, 2018, in Perevalsk, near the “Sorrowful Mother” monument, and during the
concert and the so-called “Immortal Regiment” march on May 9, 2018, in Luhansk.
Children are actively involved in sport “military-patriotic” games. Thus, more than 150 schoolchildren of Bryanka
schools took part in “Zarnitsa-2018” city military sport game in the middle of May. The “Victory” two-day military
sport game started in Stakhanov on May 17, 2018.
The dangerous items are available for children and cause injuries and deaths due to uncontrolled import of weapons
and ammunition into the territory controlled by the Russian occupation authorities of the occupied Luhansk and
Donetsk regions.
Thus, on May 22, 2018, the No1 bus exploded on Kurchatov street in Debaltseve. One person was killed and two
were wounded. A fourteener was carrying a grenade in his backpack, which fell out and exploded on the bus, according to local inhabitants.
On May 25, 2018, an RGD-5 grenade was found in a garbage dump by two teenagers, 12 and 11 years old, in
Horlivka. The children pulled a grenade pin while playing. After the specific sound, they realized that it will explode,
threw it aside and lay down. The children are alive. The splinter was removed from the cheek of one of the teenagers,
the boy is on the out-patient treatment. The second child is in the hospital, he has splinter wounds of the back and
sacrolumbal spine.
4. Violation of property rights
In May 2018, the process of so-called “nationalization” of enterprises that had previously operated under the jurisdiction of Ukraine or belonged to the citizens of Ukraine, who live in the territory controlled by Ukraine since the beginning of the conflict, continued in the territories of “LPR”. The process of “searching for the owners” is widespread.
In May 2018, 11 announcements on the search of real and personal property owners was posted by he so-called
“state revenue committee” of “LPR”.
It should be noted that applications from owners are accepted within 60 days from the date of the announcement.
Otherwise, the enterprises will pass under the control of the “republic”.
Quelle: <http://www.civicmonitoring.org/wp-content/uploads/2018/06/HR_May_2018_En.pdf>
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DEKODER
Sie waren dort
Von Irina Tumakowa (Nowaja Gaseta)
Der folgende Beitrag der russischen Journalistin Irina Tumakowa erschien ursprünglich am 25.06.2018 in
der Zeitung Nowaja Gaseta und wurde von dekoder ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht.
Einleitung von dekoder
Im August 2014 hat die Beerdigung mehrerer Soldaten in Pskow für mediales Aufsehen gesorgt: Die Lokalzeitung Pskowskaja Gubernija, die damals von dem dortigen oppositionellen Politiker Lew Schlossberg
herausgegeben wurde, berichtete über das Begräbnis zweier Soldaten der Luftlandetruppen. Sie seien in der
Ostukraine ums Leben gekommen. Die 76. Gardedivision der russischen Luftlandetruppen ist in Pskow
stationiert, sie gilt als Eliteeinheit.
Ein Major der Einheit, Vater eines Getöteten, behauptete damals, sein Sohn sei im Kampf bei Luhansk
ums Leben gekommen. Auf Anfrage von Lew Schlossberg antwortete die Obermilitärstaatsanwaltschaft
schlicht, die Soldaten seien außerhalb des Dienstortes, also außerhalb der Oblast Pskow, ums Leben gekommen. Im Weiteren sollen Verwandte der Getöteten laut unterschiedlichen Medienberichten eingeschüchtert worden sein, einzelne hätten bereits gemachte Aussagen wieder zurückgezogen. Lew Schlossberg wurde
nur vier Tage nach der Veröffentlichung in der Pskowskaja Gubernija brutal zusammengeschlagen, erlitt
ein Schädel-Hirn-Trauma.
Vier Jahre später hat Irina Tumakowa von der Nowaja Gaseta die Gräber nun noch einmal besucht. Und
nicht schlecht gestaunt.
Die sprechenden Grabsteine
Der Friedhof im Dorf Wybuty bei Pskow hat sich verändert. Im August 2014 war ich öfter dort. Damals
fielen einem die frischen namenlosen Gräber ins Auge,
als lägen sie jenseits der Friedhofsmauern (so werden Selbstmörder bestattet). Wortkarge Menschen
in Camouflage und blauen Baretts nahmen auf
Befehl des Kommandeurs die Schilder mit Namen
und Daten von den Kreuzen und rissen die Schleifen von den Kränzen [die zum Teil mit Kondolenzbekundungen der Luftlandetruppen beschriftet waren –
Anmerkung der Redaktion]. Damit niemand darauf
kommt, dass sie unter diesen Sandhügeln heimlich
ihre Regimentskameraden begraben. »Wir sind da
nicht.« Und Punkt.
»In unserer Fallschirmjägerbrigade sind alle wohlauf und am Leben«, bestätigte der Kommandierende
der Luftlandetruppen und heutige Duma-Abgeordnete
General Wladimir Schamanow.
Die Fallschirmjäger knirschten mit den Zähnen,
tranken Wodka, aßen dazu Weißbrot und Tomaten,
aber führten den Befehl aus – gruben, rissen die Schleifen ab und versteckten die »gesunden und munteren«
erschossenen Freunde.
»Wir waren alle fest davon überzeugt gewesen, dass
die Fallschirmjäger auf dem großen Friedhof in Orlezy
feierlich bestattet würden«, erinnert sich der Korrespondent der Pskowskaja Gubernija Alexej Semjonow. »Dort
gibt es eine Allee der Fallschirmjäger, in der die Angehörigen der berühmten 6. Kompanie [die im Tschetsche-
nienkrieg gekämpft hatte – Anmerkung der Redaktion]
begraben wurden. Aber wir bekamen heraus, dass die
Bestattung nicht dort stattfinden würde.«
Als würde niemand mehr irgendwas
verstecken
Nun sind fast vier Jahre vergangen, und ich komme wieder auf den Friedhof in Wybuty.
An Stelle der einstigen Sandhügel und namenlosen Kreuze stehen monumentale Stelen aus schwarzem
Granit mit schwülstiger Gravur: Namen, Daten, Portraits in Lebensgröße, Gedichte, Fallschirmjägersymbolik. Als würde niemand mehr irgendwas verstecken.
Das größte Denkmal steht auf dem Grab von Leonid Kitschatkin.
Die Familie Kitschatkin hätte ein Symbol für den
Wahnsinn werden können, den die Regierung vor vier
Jahren um den Tod der Fallschirmjäger gestartet hat. Und
den Alptraum, den ihre Familien durchleben mussten.
Von der Beerdigung ihres Mannes schrieb Oxana
Kitschatkina damals auf ihrer Social-Media-Profilseite.
Sie nannte das Datum, den Ort und ihre Telefonnummer. Den Post machte sie am 23. August 2014. Und
schon am nächsten Tag antwortete mir unter Oxanas
Nummer eine laut lachende Frauenstimme: »Leonid
Juritsch lebt, neben mir sitzt er und trinkt Kaffee. Zum
Mittag gibt’s Buletten mit Kartoffelpüree. Wir feiern
die Taufe unserer Tochter. Meine Seite wurde gehackt.«
Ohne aufzuhören fröhlich zu lachen, gab »Oxana«
den Hörer freudig weiter an »ihren Mann«. Eine nicht
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UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
mehr ganz nüchterne Männerstimme bestätigte, ja er
sei Ljonja Kitschatkin, gesund und munter und am
Leben …
Zwei Tage später stand ich auf dem Friedhof in
Wybuty, wo sie noch nicht geschafft hatten, die Schilder zu entfernen, und schaute auf das Todesdatum von
Kitschatkin: der 20. August.
Oxana Kitschatkina hat in den letzten vier Jahren
ihre Telefonnummer nicht geändert. Nur antwortete
mir jetzt eine völlig andere Stimme. Tief, leicht brüchig.
»Rufen Sie mich bitte nicht mehr an, ich möchte
nicht mehr darüber sprechen«, sagte Oxana langsam
und legte auf.
Sie hat vor vier Jahren nicht gelogen oder sich verstellt. Da haben ihr einfach Leute das Telefon abgenommen, damit statt der Witwe eine kreuzfidele Frau
mit ihrem betrunkenen Mann den Anruf entgegennehmen konnte.
Laut der Pskower Abteilung für Kriegsopfer wurde
der Grabstein, der inzwischen auf dem Grab ihres
Mannes steht, vom Verteidigungsministerium bezahlt.
Erstattet werden den Familien ehemaliger Soldaten
gewöhnlich nicht mehr als 32.000 Rubel [etwa 450
Euro – Anmerkung der Redaktion], doch eine solche
Riesenwand mit Gravuren von beiden Seiten kostet
laut den Mitarbeitern des Bestattungsinstituts ungefähr 100.000 Rubel [etwa 1360 Euro – Anmerkung
der Redaktion].
Aber eines bestätigt die Beteiligung des Verteidigungsministeriums indirekt auf jeden Fall: Leonid Kitschatkin, gefallen im August 2014, ist von der Behörde
als »einer von ihnen« anerkannt. Denn Versorgungsgelder stehen nur Veteranen mit 20-jähriger Berufszugehörigkeit und Teilnehmern an Kampfhandlungen zu.
Kitschatkin ist 1984 geboren. An welchen Kampfhandlungen er auf Befehl des Vaterlandes teilnehmen konnte,
das kann man nur raten.
Ein Himmel mit Fallschirmen
Auch auf den Gräbern von Alexander Ossipow und Sergej Wolkow, die in Wybuty neben Leonid Kitschatkin
begraben liegen, stehen keine namenlosen Kreuze mehr,
sondern Grabsteine aus Granit. Mit Portraits, auf denen
akkurat ihre Dienstabzeichen eingraviert sind.
Ossipows Todesdatum ist das gleiche wie Kitschatkins: der 20. August 2014. Er war 20 Jahre alt. Auf dem
Porträt ist er ebenfalls in Fallschirmjägeruniform vor
einem Himmel mit Fallschirmen. Auf einem Steinbrocken liegt das blaue Barett.
An welchen Kampfhandlungen, wenn nicht im
Donbass, hätte dieser Junge beteiligt sein können, sodass
seine Familie eine Entschädigung vom Verteidigungsministerium erhielt?
Sowohl in Wybuty als auch auf dem KrestowskiFriedhof sind inzwischen neue Soldatengräber aufgetaucht: Wsewolod Smirnow starb im Dezember 2016,
er war 26 Jahre alt. Auf dem Foto ist er in Camouflage
vor einem dunkelblauen Meer. Und was ist im Januar
2017 mit Wladimir Stezenko passiert? Es gibt vorerst
nur ein Foto des Soldaten, in einer Klarsichthülle und
mit blauen Reißzwecken an ein Holzkreuz gepinnt.
Auf einem dritten Kreuz ist die Aufschrift zur Hälfte
verblichen, auch wenn diese ganz frisch ist: »Grigorow
Nikolaj Michailowitsch, 10.01.1985–06.03.2018«. Und
wieder ein Foto des Fallschirmjägers, oben drauf wieder ein blaues Barett.
Wo sind Pskower Fallschirmjäger im März
diesen Jahres umgekommen?
Wo sind Pskower Fallschirmjäger im März diesen Jahres umgekommen? Am Grab lehnen Kränze mit Wappen, Sternen und schwarzen Bändern. Auf einem steht:
»Fähnrich Grigorow Nikolaj Michailowitsch, heldenhaft gestorben beim Flugzeugunglück vom 6. März
2018«. An diesem Tag stürzte der Frachter An-26 über
der russischen Militärbasis in Hmeimim in Syrien ab.
39 Menschen kamen ums Leben.
Doch im August 2015 gab es noch keine russischen
Soldaten in Syrien. Jedenfalls offiziell nicht. Auf dem
Grab von Roman Michailow [Todesdatum 15.08.2015 –
Anmerkung der Redaktion] ist ein Gedicht eingraviert:
»Du starbst für die Heimat, darum bist du ein Held.
Wir lieben dich, gedenken deiner und sind stolz auf
dich.«
Im Forum für Einberufene findet sich Michailow
als Befehlshaber des zweiten Sturmlandungsbataillons
der Luftlandetruppen. Er war 38 Jahre alt.
Tod unter falschem Namen
Leonid Kitschatkin, Sergej Wolkow, Alexander Ossipow, Wassili Gerassimtschuk und andere Soldaten, die
im August/September 2014 gestorben sind, konnten
posthume Militärehrungen erhalten und ihre Familien
zumindest irgendwelche Entschädigungen vom Verteidigungsministerium. Aber über die, die danach im
Donbass umgekommen sind, können wir gar nichts in
Erfahrung bringen. Ihre Angehörigen erhalten selbst
die »Beerdigungs«-Summe von 32.000 Rubel [etwa 450
Euro – Anmerkung der Redaktion] nicht.
Ab Herbst 2014 änderte die Regierung ihre Taktik: Aus offiziellen Militärangehörigen wurden sogenannte DNR- und LNR-Streitkräfte und Kosakeneinheiten gebildet, die Noworossija verteidigten. Russland
ist diesen Menschen und ihren Familien nichts schuldig, formal sind sie Freiwillige und unterstehen nicht
dem Verteidigungsministerium.
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UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
Der Jabloko-Abgeordnete Lew Schlossberg ist fast
der Einzige in dieser militärpatriotischen Stadt, der versucht, für die Rechte der Familien von Verstorbenen
einzutreten. »Die Verträge mit militärischem Personal
wurden auf unterschiedliche Weise, entweder bei Ablauf
ihrer Laufzeit oder vorfristig ausgesetzt«, erzählt Lew
Schlossberg. »Das war alles gesetzeskonform. Aber im
Weiteren überschritten die Militärs gleichzeitig die Landes- und die Gesetzesgrenzen und begannen, sich an
Kampfhandlungen außerhalb der Russischen Föderation zu beteiligen. Das heißt, sie verübten ein Verbrechen, das nach dem Strafrechtsparagraphen zum Söldnerdienst geahndet wird.«
Um mehr Sicherheit und Geheimhaltung zu erreichen, mussten die Identitäten dieser Soldaten geschreddert werden.
Identitäten geschreddert
»Verträge wurden unter Pseudonymen geschlossen, die
Namen dieser Menschen waren fiktiv«, erklärt Schlossberg. »Der einzige materielle Beweis der Identität des
Menschen war seine Erkennungsmarke. Der echte
Name des Menschen, der mit der Erkennungsmarke
verbunden ist – das ist Verschlusssache, die sich in den
Händen der wirklichen Truppenführung befindet. Das
heißt, dieser Mensch hat eine Erkennungsmarke und
zwei Namen: einen echten und einen fiktiven.«
Unter den fiktiven Namen ließen sich diese Menschen in Militärkrankenhäusern behandeln, sowohl in
Sankt Petersburg als auch in Rostow am Don. Wenn
sich jemand plötzlich für die Verzeichnisse von den
Militärangehörigen interessierte, die in Behandlung
waren in konkreten Militärkrankenhäusern, dann findet er dort keine Namen von echten Bürgern der Russischen Föderation. Er findet dort das Geburtsdatum
und die Art der Verletzung, die man nicht verheimlichen kann. Der Mensch selbst ist in diesem Verzeichnis aber ein Phantom.
Übersetzung aus dem Russischen (gekürzt) von der
dekoder-Redaktion
Über die Autorin:
Irina Tumakowa ist eine russische Journalistin und seit 2018 als Special Correspondent bei der Nowaja Gaseta beschäftigt. Bereits seit 2006 schreibt sie außerdem für die Petersburger Onlinezeitung fontanka.ru. Für ihre Reportage Der
Fallschirmspringer von Pskow über die umstrittene Beerdigung von Soldaten in Pskow wurde sie 2014 mit dem Preis
Solotoje Pero (»Die goldene Feder«) des unabhängigen Sankt Petersburger Journalistenverbands ausgezeichnet.
Das russischsprachige Original des vorliegenden Beitrags ist online verfügbar unter <https://www.novayagazeta.ru/
articles/2018/06/24/76916-oni-tam-byli>, die Übersetzung ins Deutsche durch dekoder unter <https://www.dekoder.
org/de/article/donbass-krieg-soldaten-pskow>.
Die Redaktion der Ukraine-Analysen freut sich, dekoder.org als langfristigen Partner gewonnen zu haben. Auf diesem Wege möchten wir helfen, die Zukunft eines wichtigen Projektes zu sichern und dem russischen Qualitätsjournalismus eine breitere Leserschaft zu ermöglichen. Wir danken unserem Partner dekoder, der Nowaja Gaseta und Irina
Tumakowa für die Erlaubnis zum Nachdruck.
Die Redaktion der Ukraine-Analysen
[RUSSLAND ENTSCHLÜSSELN]
31
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
DOKUMENTATION
Verlängerung der Krim-Sanktionen durch die EU
Europäischer Rat:
Rechtswidrige Annexion der Krim und Sewastopols – EU verlängert Sanktionen um ein Jahr
18.06.2018
Am 18. Juni 2018 hat der Rat die als Reaktion auf die rechtswidrige Annexion der Krim und Sewastopols durch Russland verhängten restriktiven Maßnahmen bis zum 23. Juni 2019 verlängert.
Die Maßnahmen gelten für in der EU ansässige Personen und Unternehmen. Sie beschränken sich auf das Gebiet
der Krim und Sewastopols. Die Sanktionen umfassen Verbote für
• die Einfuhr von Waren mit Ursprung auf der Krim oder in Sewastopol in die Union,
• Investitionen auf der Krim oder in Sewastopol, was bedeutet, dass weder Europäer noch Unternehmen mit Sitz in
der EU Immobilien oder Einrichtungen auf der Krim erwerben, Unternehmen mit Sitz auf der Krim finanzieren
oder damit in Zusammenhang stehende Dienstleistungen erbringen dürfen,
• Tourismusdienstleistungen auf der Krim oder in Sewastopol, wobei insbesondere europäische Kreuzfahrtschiffe
keine Häfen auf der Halbinsel Krim anlaufen dürfen, es sei denn, es handelt sich um einen Notfall und
• die Ausfuhr bestimmter Güter und Technologien in den Bereichen Verkehr, Telekommunikation und Energie oder
im Zusammenhang mit der Prospektion, Exploration und Förderung von Öl-, Gas- und Mineralressourcen, wenn
diese für Unternehmen mit Sitz auf der Krim oder zur Nutzung auf der Krim bestimmt sind. Technische Hilfe
sowie Vermittlungs-, Bau- oder Ingenieurdienstleistungen, die mit der Infrastruktur in den genannten Bereichen
in Zusammenhang stehen, sind ebenfalls untersagt.
Wie die Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik am 16. März 2018 im Namen der EU erklärt hat, tritt
die Europäische Union weiter entschlossen für die Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine ein. Auch
vier Jahre nach der rechtswidrigen Annexion der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol durch die Russische Föderation hat die EU bekräftigt, dass sie diesen Verstoß gegen das Völkerrecht nicht anerkennt und ihn weiterhin verurteilt.
Quelle: Europäischer Rat, <http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2018/06/18/illegal-annexation-of-crimea-andsevastopol-eu-extends-sanctions-by-one-year/>
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UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
CHRONIK
11. Juni – 1. Juli 2018
11.06.2018
Pawlo Scherbizkyj, der Gouverneur des Teils der Region Donezk, der von der Ukraine kontrolliert wird, reicht
seinen Rücktritt ein. Er macht keine Angaben zu den Gründen für seine Entscheidung.
11.06.2018
Nach einer Untersuchung der Firma Factum Group Ukraine liegt das russische soziale Medium Vkontakte auf
Platz vier der meistbesuchten Internetseiten in der Ukraine. Im Mai 2017 hatte Präsident Petro Poroschenko
Sanktionen gegen russische Unternehmen erlassen, etwa gegen den Online-Dienstleister Yandex und gegen
Vkontakte. In dem Erlass werden Internetprovider angewiesen, den Zugang zu den entsprechenden Seiten zu
blockieren. Aufgrund zahlreicher Möglichkeiten, die Blockade zu umgehen, werden die Dienste jedoch weiterhin genutzt. Seit Erlass der Sanktionen ist die Zahl der Nutzer von Vkontakte nach Angaben der Zeitung Ekonomitschna Prawda etwa um die Hälfte auf rund fünf Millionen Nutzer pro Monat gefallen.
12.06.2018
In Berlin kommen die Außenminister der Staaten des Normandie-Formates – Russland, Frankreich, Deutschland und die Ukraine – zu Gesprächen zusammen. Nach Angaben des ukrainischen Außenministers Pawlo
Klimkin gibt es während des Treffens Differenzen zwischen der Ukraine und Russland über den Umfang des
Mandats einer potentiellen UN-Friedensmission im Donbass. Die russische Seite habe gefordert, dass Blauhelme lediglich die OSZE-Beobachter begleiten und schützen sollten. Die ukrainische Position sehe ein umfassendes Mandat der Truppen vor, das sie dazu befähigt, eigenständige Kontrollen durchzuführen und den Abzug
der schweren Waffen zu überwachen.
12.06.2018
Ein Kiewer Gericht veranlasst, dass der Bürgermeister Odessas, Gennadi Truchanow, seinen Reisepass zurückerhält, und hebt das Verbot von Auslandsreisen auf. Truchanow wird der Veruntreuung verdächtigt, gegen ihn
wird ermittelt. Ein Versuch der Anklage, ihn seines Amtes zu entheben, ist abgewiesen worden.
13.06.2018
Die Nationalbank warnt, dass das Risiko eines Anstiegs der Staatsverschuldung im Jahr 2018 über die anvisierten 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts seit Anfang des Jahres erheblich gestiegen sei. Die Einnahmen
des Staates wüchsen weniger schnell als angenommen.
13.06.2018
Nach Recherchen des Radiosenders Hromadske Radio haben Projekte von Mitgliedern der rechtsradikalen
Vereinigung S14 und der rechtsradikalen Partei Freiheit (Swoboda) Staatsmittel in Höhe von über einer Million Hrywnja (etwa 32.000 Euro) erhalten. Die Mittel seien von der staatlichen Kommission für Projekte zur
nationalpatriotischen Erziehung ausgezahlt worden.
13.06.2018
Ein Kiewer Berufungsgericht gibt der Berufung der Staatsanwaltschaft statt und verurteilt Juri Krysin zu einer
Freiheitsstrafe von fünf Jahren wegen Beteiligung am Mord an dem Journalisten Wjatscheslaw Weremij während der Maidan-Proteste in Kiew im Februar 2014. Das vorangegangene Urteil hatte auf vier Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung gelautet.
14.06.2018
Mehrere internationale Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International und Human Rights
Watch, fordern in einem offenen Brief an Innenminister Arsen Awakow und Generalstaatsanwalt Juri Luzenko
ein stärkeres Engagement der ukrainischen Behörden gegen Gewalt und Einschüchterungsversuche vonseiten
rechtsradikaler Gruppen. In der Mehrheit dieser Vorfälle sei eine Reaktion des Staates vollständig ausgeblieben. Der Staat sende damit das Signal, dass solche Aktionen legitim seien.
14.06.2018
Das Europäische Parlament verabschiedet eine Resolution, in der es Russland auffordert, den ukrainischen
Regisseur Oleg Senzow sowie alle weiteren unrechtmäßig in Russland und auf der Krim festgehaltenen ukrainischen Staatsbürger freizulassen. In der Resolution wird außerdem gefordert, Senzow, der sich zurzeit im Hungerstreik befindet, unverzüglich die nötige medizinische Versorgung zuteilwerden zu lassen.
15.06.2018
Nach Angaben der ukrainischen Armee verschärft sich die Gefechtssituation im Donbass erheblich.
17.06.2018
Im Zentrum von Kiew findet ein »Marsch der Gleichheit« für Rechte und Anerkennung von LGBT statt. Nach
Angaben des Innenministeriums nehmen etwa 3.500 Menschen teil. Gleichzeitig werden 2.500 Polizisten zum
Schutz der Veranstaltung eingesetzt.
17.06.2018
Nils Melzer, der UN-Sonderberichterstatter über Folter, erklärt in einem Interview, dass die Zahl der Fälle von
Folter und unmenschlicher Behandlung seit dem Jahr 2016 verglichen mit den drei Vorjahren auf dem von der
Ukraine kontrollierten Territorium stark abgenommen habe.
18.06.2018
Außenminister Pawlo Klimkin erklärt, er halte den »Plan der kleinen Schritte«, den Innenminister Arsen
Awakow im April 2018 zur »Deokkupation« des Donbass vorgelegt hat, für unrealistisch. Der Plan sieht vor,
zunächst Wahlen in einigen grenznahen Orten abzuhalten und diese zurück unter ukrainische Kontrolle zu
bringen. Zugleich müsste ein Amnestiegesetz erlassen werden. Klimkin erklärt, Russland werde dieses Vorgehen nicht dulden.
33
UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
18.06.2018
Der Hohe Justizrat billigt das Gesetzesprojekt zur Einrichtung eines Korruptionsgerichtshofes
(»Antikorruptionsgericht«).
19.06.2018
Vor dem Gebäude des Parlaments demonstrieren einige Tausend Teilnehmer am sowjetischen Krieg in Afghanistan, Teilnehmer an den Aufräumarbeiten nach der Havarie des Atomreaktors bei Tschernobyl sowie Bergleute. Sie fordern die Beibehaltung ihrer Vergünstigungen, die ihnen vom Staat etwa für kommunale Dienstleistungen gewährt werden. Es kommt zu Zusammenstößen mit Sicherheitskräften, die den Zugang zum Parlamentsgebäude absperren.
19.06.2018
In einer Stellungnahme fordert die Direktorin des Internationalen Währungsfonds Christine Lagarde, im
Gesetz zur Schaffung eines Korruptionsgerichtshofs (»Antikorruptionsgericht«) einen Passus zu ändern, der
Berufungsverfahren an andere Gerichte auslagert.
20.06.2018
In der Lobby des Stadtparlaments von Charkiw kommt es während einer Sitzung zu Ausschreitungen: Unbekannte setzen Tränengas frei und entzünden bengalisches Feuer. Auf Twitter verbreitet sich die Nachricht, es
handle sich um Angehörige nationalistischer Gruppen. Die Sitzung wird währenddessen fortgeführt.
20.06.2018
Die Abgeordnete der Partei Vaterland Julia Timoschenko erklärt offiziell ihre Absicht, sich bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2019 zur Wahl zu stellen.
21.06.2018
Das Parlament verabschiedet ein Gesetz zur nationalen Sicherheit. Nach Angaben des Parlamentssprechers
Andrij Parubij ist das Gesetz ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die »russische Aggression«, für die Reform
des Sicherheitssektors sowie ein Schritt in Richtung NATO-Beitritt. Das Gesetz sieht unter anderem vor, die
Positionen des Oberkommandeurs der Streitkräfte und des Generalstabsvorsitzenden zu trennen.
21.06.2018
Das Parlament verabschiedet ein Gesetz, das den Handel mit Devisen umfassend liberalisiert.
22.06.2018
Präsident Petro Poroschenko setzt einen Beschluss des Nationalen Sicherheitsrates in Kraft, mit dem Sanktionen gegen weitere 14 natürliche und 30 juristische Personen aus Russland verhängt werden. Darunter sind
staatliche Organisationen, die die russischen Präsidentschaftswahlen auf der von Russland annektierten Krim
organisiert und durchgeführt haben, sowie Parteien, die an ihnen teilgenommen haben.
23.06.2018
Serhij Horbatjuk, ein hochrangiger Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft, erhebt schwere Vorwürfe gegen
Generalstaatsanwalt Juri Luzenko. Dieser habe sich mehrfach in Ermittlungen eingemischt. Er habe Fälle an
sich gezogen und zur Begründung unwahre Angaben gemacht.
23.06.2018
Maskierte Unbekannte überfallen in der Nacht zum 24.06.2018 ein Lager von Roma außerhalb der westukrainischen Stadt Lwiw. Dabei kommt ein junger Roma ums Leben, weitere Roma werden durch Messerstiche verletzt. Die Polizei nimmt sieben Jugendliche zwischen 16 und 17 Jahren sowie den 20-jährigen mutmaßlichen
Anführer der Gruppe fest und eröffnet ein Verfahren wegen gemeinschaftlich verabredeten Mordes. Am Abend
erklären die Festgenommenen, zur nationalistischen Jugendgruppe »Nüchterne und wütende Jugend« zu gehören. Ein Pressesprecher des Europarates verurteilt den Angriff.
25.06.2018
Im Zusammenhang mit dem Überfall auf ein Lager von Roma außerhalb der westukrainischen Stadt Lwiw
vom 23. Juni 2018 werden zwei jugendliche Verdächtige für zunächst 60 Tage in Untersuchungshaft genommen. Bei dem Überfall war eine Person ums Leben gekommen, weitere waren verletzt worden.
26.06.2018
Das Ministerium für regionale Entwicklung ändert eine Norm für den Straßenbau. Diese schreibt nun vor,
beim Neubau und der Instandhaltung von innerstädtischen Straßen Fahrradwege anzulegen.
27.06.2018
Drew Sullivan von der Nichtregierungsorganisation Organized Crime and Corruption Reporting Project beschuldigt Präsident Petro Poroschenko und seine Juristen, seit Jahren die Unwahrheit über Poroschenkos wirtschaftliche Aktivitäten zu sagen. Der Vorwurf bezieht sich auf Poroschenkos Versuche, seinen Roshen-Konzern zu
kontrollieren, und auf angebliche Anstrengungen, über Offshore-Firmen Steuern zu sparen.
27.06.2018
Die trilaterale Kontaktgruppe aus Vertretern Russlands, der Ukraine und der OSZE einigt sich auf einen weiteren unbefristeten Waffenstillstand im Donbass, der am 1. Juli 2018 in Kraft treten soll. Bei dem Treffen in
Minsk sind auch Unterhändler der Separatisten der »Volksrepubliken« aus Luhansk und Donezk zugegen.
28.06.2018
Das Gesetz zur Einrichtung eines Korruptionsgerichtshofs (»Antikorruptionsgericht«) tritt in Kraft. Zwei Tage
zuvor hatte Präsident Petro Poroschenko das Gesetz vor Studenten des Kiewer Instituts für Internationale Beziehungen unterzeichnet.
29.06.2018
Ljudmila Denissowa, die Beauftragte für Menschenrechte des ukrainischen Parlaments, erklärt, die Ukraine
sei bereit, 23 wegen der Vorbereitung von Terroranschlägen, Spionage und »kriegerischen Handlungen« verurteilte russische Staatsbürger an Russland auszuliefern und gegen 23 ukrainische Staatsbürger, die in russischer
Haft sitzen, auszutauschen. Auf der Liste der ukrainischen Häftlinge befinde sich auch der Regisseur Oleg Senzow. Die Liste sei den Unterhändlern des Minsker Prozesses zugeleitet worden.
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UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018
29.06.2018
Andryj Rewa, Minister für Sozialpolitik, erklärt, zurzeit sei im Budget kein Spielraum vorhanden, um den
Mindestlohn zu erhöhen. Dies könne in Betracht kommen, wenn sich die Staatseinkünfte im Laufe des Jahres positiv entwickelten. Präsident Petro Poroschenko hatte zuvor bis Mitte des Jahres 2018 die Erhöhung des
monatlichen Mindestlohns von zurzeit 3700 Hrywnja (etwa 115 Euro, seit 1. Januar 2018) auf 4100 Hrywnja
(etwa 128 Euro) in Aussicht gestellt.
30.06.2018
Ein Mitarbeiter der Pressestelle der »Armee« der »Volksrepublik Donezk« erklärt, man sei bereit zur vollständigen Umsetzung des am 27. Juni 2018 in Minsk vereinbarten Waffenstillstands, der zum 1. Juli 2018 in Kraft
treten soll. Zuvor hatte bereits die ukrainische Armee ihre Bereitschaft dazu erklärt.
01.07.2018
In Krywyj Rih wird der Vorsitzende des Organisationskomitees eines Festivals für Rechte und Anerkennung von LGBT, in dessen Rahmen auch ein »Marsch für Gleichheit« stattfinden soll, von zehn Unbekannten zusammengeschlagen.
Die Chronik wird zeitnah erstellt und basiert ausschließlich auf im Internet frei zugänglichen Quellen. Die Redaktion bemüht sich, bei
jeder Meldung die ursprüngliche Quelle eindeutig zu nennen. Aufgrund der großen Zahl von manipulierten und falschen Meldungen
kann die Redaktion der Ukraine-Analysen keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben übernehmen.
Zusammengestellt von Jan Matti Dollbaum
Sie können die gesamte Chronik seit Februar 2006 auch auf <http://www.laender-analysen.de/ukraine/> unter dem Link »Chronik« lesen.
Herausgeber:
Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen
Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e.V.
Deutsches Polen-Institut
Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung
Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) gGmbH
Redaktion:
Prof. Dr. Heiko Pleines (verantwortlich) und Katharina Hinz
Sprachredaktion und Übersetzungen: Sophie Hellgardt
Chronik: Jan Matti Dollbaum
Satz: Matthias Neumann
Wissenschaftlicher Beirat:
Dr. Kseniia Gatskova, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
Prof. Dr. Guido Hausmann, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
Dr. Susan Stewart, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin
Dr. Susann Worschech, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/O.
Die Meinungen, die in den Ukraine-Analysen geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassung der Autoren wieder.
Abdruck und sonstige publizistische Nutzung sind nach Rücksprache mit der Redaktion gestattet.
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ISSN 1862-555X © 2018 by Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e.V., Deutsches Polen-Institut, Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in
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