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NR. 204 06.07.2018 ukraineanalysen www.laender-analysen.de/ukraine WAHLRECHTSREFORM UND PARTEIEN VERHÄLTNIS ZU DEN USA BEWAFFNETER KONFLIKT IN DER OSTUKRAINE ■ ANALYSE ■ UMFRAGE Die Wahlrechtsreform in der Ukraine – quo vadis? Von Steffen Halling (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen) 2 Landminen in der Konfliktregion im Donbass: Gefahren und Perspektiven 22 Von Elena Ostanina (IHS Markit, Berlin) 7 ■ GRAFIK ZUM TEXT Opfer von Minen und Blindgängern im Donbass ■ ANALYSE Die politischen Parteien vor dem Wahlmarathon 2019/2020 8 Von Miriam Kosmehl (Bertelsmann Stiftung, Berlin) ■ TABELLEN UND GRAFIKEN ZUM TEXT Aktuelle Wahltrends in der Ukraine 13 ■ ANALYSE Überraschende Entwicklung mit offenem Ausgang: die Ukraine-USA-Beziehungen Von Susan Stewart (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin) 21 ■ ANALYSE ■ GRAFIKEN ZUM TEXT Einstellung der ukrainischen Bevölkerung zum Wahlsystem und zu Parteien Einstellung der ukrainischen Bevölkerung zu USA und NATO 26 ■ DOKUMENTATION Menschenrechtssituation in den »Volksrepubliken« im Donbass 27 ■ DEKODER Sie waren dort Von Irina Tumakowa (Nowaja Gaseta) 29 ■ DOKUMENTATION 16 Verlängerung der Krim-Sanktionen durch die EU ■ CHRONIK 11. Juni – 1. Juli 2018 ■ STATISTIK 32 33 Ukraine und USA – Warenexport und -import 20 Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde Deutsches Polen-Institut Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) gGmbH UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 ANALYSE Die Wahlrechtsreform in der Ukraine – quo vadis? Von Steffen Halling (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen) Zusammenfassung Ein wesentliches Reformanliegen, das von der ukrainischen Zivilgesellschaft, reformorientierten Politikern und internationalen Akteuren seit Jahren unterstützt wird, stellt die Veränderung des Wahlsystems dar, mit dem die Abgeordneten des ukrainischen Parlaments gewählt werden. Geht es nach den Befürwortern einer Wahlrechtsreform, soll das Parlament zukünftig nach einem reinen Verhältniswahlsystem auf der Grundlage lose gebundener regionaler Parteilisten, die in der Ukraine als »offene« Listen bezeichnet werden, gewählt werden. Die Reform des ukrainischen Wahlrechts stellt zwar gewiss kein Allheilmittel dar, allerdings könnte sie den Kampf gegen politische Korruption unterstützen, zu einer besseren Abbildung des Wählerwillens führen und somit die Institution freie und faire Wahlen als wesentlichen Bestandteil der Demokratisierung der Ukraine stärken. Ob die Reform rechtzeitig vor den Parlamentswahlen im Oktober 2019 umgesetzt wird, ist jedoch ungewiss. S eit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion wurden in der Ukraine bisher sieben Parlamentswahlen abgehalten. Die jeweilige Wahlgesetzgebung hat dabei dutzendfach Änderungen erfahren, und es kamen seit 1994 drei unterschiedliche Wahlsysteme zum Einsatz. Änderungen und Neufassungen von Einzelwahlgesetzen im Vorfeld von Wahlen gelten in der Ukraine in der Regel als Versuch der jeweils regierenden politischen Kraft, sich Vorteile zu verschaffen. Es steht außer Frage, dass sich häufige Änderungen der Wahlgesetzgebung sowohl in der Bevölkerung als auch bei politischen Akteuren negativ auf das Vertrauen in die Institution Wahlen auswirken. Bei den ersten freien Parlamentswahlen 1994 wurden alle Abgeordneten der Werchowna Rada zunächst per direktem Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen gewählt. Um in das Parlament einzuziehen, musste ein Kandidat (entweder im ersten Wahlgang oder in einer Stichwahl) mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen erhalten. Die Wahlbeteiligung musste dabei mehr als 50 Prozent betragen. Diese Bestimmungen führten dazu, dass die Wahlen in manchen Wahlkreisen mehrfach wiederholt werden mussten und auch nach der Konstituierung des neu gewählten Parlaments nicht alle Wahlkreise durch einen Abgeordneten im Parlament vertreten waren. 1998 und 2002 erfolgte die Wahl der Abgeordneten dann durch ein gemischtes Wahlsystem, bei dem die Hälfte der Parlamentssitze per Verhältniswahl nach landeseinheitlichen und starren Parteilisten, die andere Hälfte per Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen besetzt wurde. Für die Parlamentswahlen 2006 sowie die vorzeitigen Neuwahlen 2007 sah die Gesetzgebung dann eine reine Verhältniswahl auf der Grundlage von landesweiten Kandidatenlisten vor, die von Parteien und Wahlbündnissen aufgestellt wurden. Die bisher letzte Metamorphose des Wahlsystems erfolgte 2011 durch Verabschiedung eines neuen Par- lamentswahlgesetzes im Vorfeld der Parlamentswahlen 2012. Dieses Wahlgesetz sah eine Rückkehr zum gemischten Wahlsystem der Jahre 1998 und 2002 vor und kam zuletzt 2014 zur Anwendung. Defizite des aktuellen Wahlsystems Das zu den Parlamentswahlen 2012 erlassene Parlamentswahlgesetz, das bis heute Gültigkeit besitzt, sorgte bereits bei seiner Verabschiedung für harsche Kritik. Kritisiert wurde damals unter anderem, dass das Gesetz von der damaligen Regierungskoalition unter Führung der Partei der Regionen und mit der Mehrheit der Stimmen der Opposition in einem intransparenten und äußerst eiligen Verfahren verabschiedet wurde (siehe dazu auch die Ukraine-Analysen Nr. 99 vom 24.1.2012, <http://www.laender-analysen.de/ukraine/ pdf/UkraineAnalysen99.pdf>). Darüber hinaus hatten sich auf Wahlgesetzgebung spezialisierte ukrainische Nichtregierungsorganisationen – wie das Komitee der Wähler der Ukraine (Komitet Wyborziw Ukrajiny/KWU) und OPORA – ebenso wie die Europäische Union und die Venedig-Kommission des Europarats bereits im Vorfeld gegen die Wiedereinführung des gemischten Wahlsystems ausgesprochen. Die Beanstandung dieses Wahlsystems hat im Kontext des politischen Systems der Ukraine mehrere Gründe. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstens führt das in der Ukraine bestehende gemischte Wahlsystem dazu, dass etliche Stimmen der ukrainischen Wählerinnen und Wähler bei der Mehrheitswahl, durch die die eine Hälfte der Abgeordneten gewählt wird, keine Berücksichtigung finden. Anders als beispielsweise in Deutschland, werden Direktmandate in der Ukraine nämlich nicht auf Listenmandate angerechnet. Das heißt, Mehrheitswahl und Verhältniswahl stehen in der Ukraine nebeneinander und wer- 2 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 den ohne Verrechnung miteinander angewandt. Dieses Wahlsystem wird daher auch als »Grabenwahlsystem« bezeichnet. Neben der Nichtberücksichtigung all jener Stimmen, die in der einfachen Mehrheitswahl auf unterlegene Direktkandidaten entfallen, führt das Wahlsystem zweitens dazu, dass einzelne Fraktionen, insbesondere die der jeweiligen »Partei der Macht«, sowohl durch Direktkandidaten, die von einer Partei aufgestellt werden, als auch vermeintlich unabhängige Kandidaten im Vergleich zum Landesergebnis stark überrepräsentiert werden können. Im Kontext eines von Korruption geprägten politischen Systems kommt das schwerwiegende Problem hinzu, dass durch die Direktwahl von Abgeordneten in Einerwahlkreisen der Einsatz administrativer Ressourcen sowie der Kauf von Wählerstimmen begünstigt werden, weil sie effektiver betrieben werden können als in einer Verhältniswahl. Hiervon können vor allem Oligarchen und andere finanzstarke Geschäftsleute profitieren, die durch den Einsatz finanzieller Ressourcen und den »Kauf eines Wahlkreises« den politischen Wettbewerb verzerren und sich selbst oder persönliche Vertreter ins Parlament wählen lassen. Dies erfolgt vor allem über Träger von Direktmandaten, die häufig eine »unabhängige« Kandidatur deklarieren, sich nach der Wahl zur Sicherung ökonomischer Interessen aber der Regierungsmehrheit anschließen. Für die Demokratie schädliche Praktiken wie Korruption und Klientelismus werden dadurch verstetigt. Schließlich steht drittens auch die derzeitige Verhältniswahl, durch die die andere Hälfte der Abgeordneten gewählt wird, seit Jahren in der Kritik. Zu berücksichtigen sind hierbei die mangelnde Konsolidierung des ukrainischen Parteiensystems sowie unzulängliche demokratische Strukturen innerhalb der Parteien. Die Zusammenstellung der landesweiten Parteilisten erfolgt in der Regel hochgradig intransparent. Da die Wähler nur eine landesweite Parteiliste en bloc wählen können, muss davon ausgegangen werden, dass insbesondere jene Listenplätze, die unterhalb des Radars der öffentlichen und medialen Aufmerksamkeit liegen, gleichzeitig aber aussichtsreich genug sind, um einen Einzug ins Parlament zu ermöglichen, gehandelt werden. Auch das System der starren Parteilisten stellt somit ein Vehikel der Einflussnahme durch Oligarchen und Geschäftsleuten dar und leistet der politischen Korruption Vorschub. Der Reformprozess nach dem Euromaidan Um den Defiziten des gegenwärtigen Parlamentswahlsystems zu begegnen, fordern vor allem Wahlrechtsexperten aus ukrainischen Nichtregierungsorganisationen wie OPORA und KWU sowie internationale Organisationen – wie die Venedig-Kommission des Euro- parats und das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE (ODIHR) – die Einführung einer reinen Verhältniswahl auf der Grundlage lose gebundener regionaler Listen (in der Ukraine als »offene« Listen bezeichnet). Im Unterschied zu starren Listen, bei denen die Reihenfolge der Kandidaten durch Parteigremien festgelegt wird, überlassen lose gebundene Listen dem Wähler die Entscheidung über die Wahl eines Kandidaten beziehungsweise einer Kandidatin einer Partei. Die somit von den Wählern zum Ausdruck gebrachten Präferenzen sind für die schlussendliche Kandidatenreihenfolge bei der Besetzung der Parlamentssitze maßgeblich. Die Idee einer entsprechenden Reform besteht darin, dass das reine Verhältniswahlsystem den Wählerwillen besser abbilden und gleichzeitig den Einsatz administrativer Ressourcen sowie den Kauf von Wählerstimmen erschweren könnte. Ferner könnten regionale Wahllisten, die den Wählerinnen und Wählern die Möglichkeit geben, bestimmte Kandidaten zu präferieren, die innerparteiliche Konkurrenz stärken, die Transparenz erhöhen und die Attraktivität des Verkaufs von Listenplätzen schmälern. Ein derartiges Wahlsystem findet auch in der Bevölkerung Rückhalt. Laut einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums vom Dezember 2017 sprechen sich 34,5 Prozent der Befragten für die Einführung einer reinen Verhältniswahl mit »offenen« Parteilisten aus (siehe Grafik 1 am Ende des Textes). Die Beibehaltung des gemischten Wahlsystems präferieren indes 17,2 Prozent. Eine reine Mehrheitswahl von Direktkandidaten in Einerwahlkreisen, wie sie 1994 erfolgte, unterstützen 16,1 Prozent und eine reine Verhältniswahl mit starren beziehungsweise »geschlossenen« Parteilisten nach dem Beispiel der Parlamentswahlen 2006 und 2007 nur 5,2 Prozent. Die Forderung nach der Einführung eines reinen Verhältniswahlsystems für Parlamentswahlen ist nicht neu. Die Venedig-Kommission wies bereits im Nachgang der vorzeitigen Parlamentsneuwahlen 2007 sowie im Zuge der Wahlrechtsreform 2011 darauf hin, dass die Einführung einer reinen Verhältniswahl in regionalen Wahlkreisen jene Nachteile abbauen könnte, die sowohl mit dem gemischten Wahlsystem als auch mit der Verhältniswahl in einem landesweiten Wahlkreis einhergehen. Unter der Administration von Präsident Janukowytsch fehlte allerdings der politische Wille, das gemischte Wahlsystem wieder abzuschaffen. Schließlich hatte sich dieses bei den Parlamentswahlen 2012 zur Sicherung der Regierungsmehrheit der Partei der Regionen bewährt. Zuvor war dieses System von der Partei der Regionen bei den Lokalwahlen 2010 durch eine kurzfristige Anpassung des entsprechenden Lokalwahlgesetzes erfolgreich erprobt worden (siehe dazu auch die 3 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 Ukraine-Analysen Nr. 82 vom 9.11.2010, <http://www. laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen82. pdf>). Durch den Euromaidan, den Sturz Janukowytschs und den Zerfall der Partei der Regionen schienen sich die Aussichten für eine Veränderung des ukrainischen Wahlrechts vor allem im Hinblick auf das Wahlsystem für Parlamentswahlen verbessert zu haben, auch weil die Reform hin zu einer reinen Verhältniswahl mit »offenen« regionalen Listen im Koalitionsabkommen von 2014 als Ziel ausgegeben wurde. Gleichzeitig offenbarte sich jedoch auch recht früh das Dilemma, dass die Wahlgesetzgebung letztlich von jenen Abgeordneten reformiert werden muss, die 2014 durch das bestehende Wahlgesetz in die Werchowna Rada gewählt worden sind und von diesem entsprechend profitiert haben. Dies trifft insbesondere auf die Direktkandidaten zu. Erst drei Jahre nach den Parlamentswahlen von 2014, im Oktober 2017, als ein Bündnis aus verschiedenen Oppositionsparteien, einzelnen Abgeordneten und Vertretern der Zivilgesellschaft zu Großdemonstrationen vor dem Parlament aufgerufen hatte und – neben der Schaffung eines Antikorruptionsgerichts sowie der Abschaffung der Immunität von Abgeordneten – die Änderung des Wahlsystems als eine zentrale Reform einforderte, kam das Thema der Wahlrechtsreform überhaupt auf die Agenda des Parlaments. Zwei Tage nach dieser Demonstration wurden drei Gesetzesvorschläge, die bereits im Dezember 2014 registriert worden waren, auf die Tagesordnung des Parlaments genommen. Alle drei Gesetzesinitiativen, darunter eine, die die Einführung einer reinen Verhältniswahl mit »offenen« Listen vorsah, wurden jedoch zugleich in erster Lesung abgelehnt. Umso überraschender erschien es, dass kurze Zeit später, am 7. November 2017, der Entwurf eines umfassenden einheitlichen Wahlgesetzbuches (siehe <http://w1.c1. rada.gov.ua/pls/zweb2/webproc4_1?pf3511=56671>) in erster Lesung angenommen wurde. Im Unterschied zu den zuvor verabschiedeten Neufassungen von Einzelwahlgesetzen handelt es sich hierbei um eine einheitliche Kodifikation, die nicht nur den Gesetzesrahmen für Parlamentswahlen, sondern auch für Kommunalwahlen und Präsidentschaftswahlen sowie für die Arbeit der Zentralen Wahlkommission und für das zentrale Wählerregister absteckt. Die Wahlgesetzgebung soll somit insgesamt harmonisiert werden. Die Annahme des von den Abgeordneten Andrij Parubij, Leonid Jemez (beide von der Partei Volksfront) und Oleksandr Tschernenko (Block Petro Poroschenko) eingebrachten Wahlgesetzentwurfs, der für Parlamentswahlen eine Verhältniswahl und die Einführung »offener« Listen in regionalen Wahlkreisen vorsieht, kam vor allem deshalb überraschend, weil nur 124 der insgesamt 226 Stimmen für den Entwurf von der Regierungskoalition kamen (siehe <http://w1.c1.rada.gov.ua/pls/radan_gs09/ns_golos?g_ id=15333>). Skeptische Beobachter des Prozesses gingen aufgrund des untypischen Abstimmungsverhaltens der Abgeordneten davon aus, dass es sich beim Votum des Parlaments um einen »Unfall« gehandelt habe und dass vor allem Abgeordnete des Oppositionsblocks sowie Träger von Direktmandaten nur deshalb für den Entwurf gestimmt hätten, weil sie davon überzeugt gewesen seien, dass dieser ohnehin nicht angenommen werde. Gleichzeitig machte sich schnell auch Ernüchterung breit, nachdem bekannt wurde, dass nach der Annahme in erster Lesung mehr als 4000 Änderungsanträge zum Entwurf des Wahlgesetzbuchs eingebracht wurden. Diese Änderungsanträge werden nun von einer Arbeitsgruppe bearbeitet, die der zuständige Ausschuss für Rechtspolitik und Justiz im April 2018 eingesetzt hat. Bis Ende Mai hatte diese Arbeitsgruppe etwa 300 Änderungsanträge bearbeitet. Erst wenn die Arbeitsgruppe alle Änderungsanträge geprüft und dem Ausschuss eine entsprechend überarbeitete Version des Entwurfs vorgelegt hat, wird dieser über den überarbeiteten Entwurf abstimmen müssen, bevor eine Vorlage im Parlament für die zweite Lesung erfolgen kann. Die parlamentarische Geschäftsordnung der Werchowna Rada sieht dabei keine Fristen vor, bis wann eine Befassung im Ausschuss oder auch im Parlamentsplenum erfolgen muss. Strittige Punkte im Entwurf des Wahlgesetzbuchs Die hohe Anzahl an Änderungsanträgen, die nach der ersten Lesung zum Entwurf des Wahlgesetzbuches eingebracht wurden, kann als taktische Maßnahme interpretiert werden, die den Gegnern der Reform dazu dient, den Reformprozess auszubremsen. Gleichzeitig muss jedoch auch konstatiert werden, dass der Entwurf des Wahlgesetzbuches bereits 2010 verfasst worden ist und somit in vielen Bestimmungen änderungsbedürftig ist, da diese nicht mehr im Einklang mit der aktuellen Gesetzgebung und dem politischen Kontext stehen, in dem sich die Ukraine mittlerweile befindet. Hierzu gehören zum Beispiel Bestimmungen zu Beschwerdeverfahren, zum Prozedere der Wählerregistrierung sowie zur Frage, wie Binnenflüchtlinge von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen sollen. Darüber hinaus gibt es mit Blick auf die im Entwurf des Wahlgesetzbuchs angeführten Bestimmungen zur Wahl des Parlaments mehrere zentrale Streit- beziehungsweise Kritikpunkte. Hierzu gehört unter anderem die Frage nach der Höhe der Sperrklausel und der Möglichkeit von unabhängigen Kandidaten, an Parlamentswahlen teilzunehmen. Im Zuge der Parlamentswahlgesetzgebung von 4 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 2011 wurde die Sperrklausel von 3 auf 5 Prozent erhöht. Höhere Sperrklauseln lassen größere Parteien profitieren und verringern die Chancen von kleinen Parteien. Der Entwurf des Wahlgesetzbuches sieht nun eine Sperrklausel von 4 Prozent vor. Gleichzeitig sieht der Entwurf keine Möglichkeiten für unabhängige Kandidaten vor, an den Wahlen teilzunehmen. Letztlich würden somit vor allem die etablierten Parteien mit gut entwickelten Strukturen in den Regionen gestärkt. Ein weiterer strittiger Punkt stellt die Frage nach den Möglichkeiten von Frauen dar, ins Parlament gewählt zu werden. Der gegenwärtige Frauenanteil in der Werchowna Rada von nur etwa 12 Prozent gehört zu den niedrigsten in Europa. Eine Änderung des Wahlsystems könnte durch die Abschaffung der Mehrheitswahl von Direktkandidaten positive Effekte auf ein ausgeglicheneres Geschlechterverhältnis im Parlament haben. Gleichzeitig führen »offene« Listen aber tendenziell auch dazu, dass die Wahlchancen von Frauen geschmälert werden. Gleiches trifft auf Minderheiten oder auch auf Technokraten zu. Die aktuelle Gesetzgebung hat nur sehr schwache Bestimmungen, um die Wahlchancen von Frauen zu erhöhen. Parteilisten müssen demnach zu mindestens 30 Prozent aus Männern und Frauen bestehen. Sanktionsmechanismen bei Verstößen gibt es nicht. Zudem gibt es keine Vorschriften darüber, auf welchen Listenplätzen Frauen beziehungsweise Männer platziert werden müssen. Der Entwurf des Wahlgesetzbuches verspricht hier Besserung, indem er vorsieht, dass nur drei von fünf Kandidaten auf den »offenen« regionalen Parteilisten das gleiche Geschlecht haben dürfen. Daraus würde sich eine Frauenquote von mindesten 40 Prozent für die regionalen Parteilisten ergeben. Nichtsdestotrotz ergeben Simulationen, die auf der Basis der Wahlergebnisse von 2014 erstellt wurden, dass auch diese Bestimmungen den tatsächlichen Frauenanteil in der Werchowna Rada im ungünstigsten Fall lediglich auf 20 Prozent erhöhen würden (siehe dazu <https:// gallery.mailchimp.com/8a39d40b8b64140d1e69644f5/ files/ab763f52-22e3-41ef-8f73-a462fb9b5a4b/IFES_ Ukraine_Reynolds_and_Kovryzhenko_Report_on_ Open_List_PR_v1_2018_04_18_Eng.pdf>). Umstritten ist drittens das vorgesehene Verfahren, nach dem Stimmen in Parlamentssitze umgewandelt werden. Im Unterschied zu den meisten Parlamentswahlsystemen sieht der Entwurf des ukrainischen Wahlgesetzbuches nicht vor, dass die Anzahl der Sitze, die eine Partei in einer Region gewinnen kann, von der dortigen Anzahl der Wahlberechtigten abhängt. Vielmehr spricht sich der Entwurf dafür aus, dass sich die Anzahl der Parlamentsmandate, die einer Partei in einer Region zusteht, an der Anzahl der abgegebenen Stimmen in der Region bemisst. Dies würde Landesteile mit hoher Wahlbeteiligung über- und Landesteile mit niedrigerer Wahlbeteiligung unterrepräsentieren. In der gegenwärtigen Situation negativ betroffen wären dementsprechend vor allem die Oblaste Donezk und Luhansk sowie die Oblast Cherson, der im Entwurf des Wahlgesetzbuches die Autonome Republik Krim zugeordnet wird. In diesen drei Regionen wäre aufgrund von Binnenflucht im Zusammenhang mit dem Krieg im Donbas sowie mit der Annexion der Krim die Anzahl der registrierten Wahlberechtigten deutlich höher als die Zahl derer, die derzeit tatsächlich an einer Parlamentswahl teilnehmen könnten. Ausblick Die Einführung einer reinen Verhältniswahl mit »offenen« Parteilisten in regionalen Wahlkreisen bei Parlamentswahlen ist nach wie vor eine der entscheidenden Reformen, die zu einer nachhaltigen Demokratisierung der Ukraine führen können. Ob rechtzeitig vor den nächsten regulären Parlamentswahlen im Oktober 2019 eine Änderung des Wahlsystems erfolgen wird, ist sehr ungewiss. Die Venedig-Kommission des Europarats empfiehlt, dass Änderungen des Wahlsystems spätestens ein Jahr vor einer Wahl vorgenommen werden sollten. Dadurch, dass ein entsprechendes Einzelwahlgesetz für Parlamentswahlen vom Parlament im Oktober 2017 abgelehnt worden ist, gleichzeitig jedoch ein komplexes Wahlgesetzbuch in erster Lesung angenommen wurde, hat sich die Wahrscheinlichkeit verringert, dass eine entsprechende Änderung des Wahlsystems noch in diesem Jahr verabschiedet wird. Gleichwohl bietet das Wahlgesetzbuch die Möglichkeit, die bisherigen gesetzlichen Rahmenbedingungen zu harmonisieren. Mit Blick auf die vorgesehene Abschaffung des gemischten Wahlsystems bleibt dabei festzuhalten, dass diese Abschaffung zu einer besseren Abbildung des Wählerwillens führen und gleichzeitig den Spielraum für politische Korruption und den Einsatz administrativer Ressourcen einschränken kann. Allerdings stellt die bloße Veränderung des Wahlsystems kein Allheilmittel dar, um den Schwächen und Problemen des politischen Systems der Ukraine zu begegnen. Schließlich muss jedes Wahlsystem immer auch in seinem politischen Gesamtkontext betrachtet werden. Damit eine Veränderung des Wahlsystems hin zu einer reinen Verhältniswahl in regionalen Wahlkreisen letzten Endes nicht lediglich zu einer stärkeren Verlagerung der politischen Korruption von der nationalen auf die regionale Ebene führt und damit nicht administrative Ressourcen zukünftig genutzt werden, um bestimmten Kandidaten (dann nicht mehr als Direktkandidaten, sondern als Kandidaten in »offenen« Parteilisten) Vorteile zu verschaffen, bedarf es vor allem 5 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 auch einer stärkeren gesetzlichen Reglementierung des Wahlkampfes und der Wahlkampffinanzierung. Ebenso sind bessere gesetzliche Rahmenbedingungen notwendig, um Verstöße gegen die Wahlgesetzgebung strafrechtlich verfolgen und bestrafen zu können. Ein entsprechender Gesetzentwurf mit der Nummer 8270 (siehe <http://w1.c1.rada.gov.ua/pls/zweb2/webproc4_1?pf3511=63864>), an dem Wahlrechtsexperten der ukrainischen Nichtregierungsorganisation OPORA mitgearbeitet haben, wurde kürzlich im Parlament registriert. Er sieht vor, bisherige Gesetzeslücken zu schließen, und soll der bislang bestehenden faktischen Straflosigkeit von schwerwiegenden Wahlrechtsverstößen begegnen. Wichtig für die Institution freie und faire Wahlen wird darüber hinaus die Zusammensetzung und Arbeitsweise der Zentralen Wahlkommission sein. Bereits seit Juni 2014 sind die an sich auf sieben Jahre festgesetzten Amtszeiten von 13 der insgesamt 15 Mitglieder der Zentralen Wahlkommission abgelaufen. Zwar hat Präsident Poroschenko im Februar 2018 eine Liste mit Neunominierungen eingereicht, die im April 2018 vom zuständigen Parlamentsausschuss zur Abstimmung in der Werchowna Rada gebilligt wurde. Diese Liste schafft allerdings nicht die Voraussetzungen für eine politisch balancierte Zusammensetzung der Kommission, die für eine ordnungsgemäße Durchführung von Wahlen eine Schlüsselrolle spielt: Erstens enthält die Vorschlagsliste des Präsidenten keinen Vertreter des Oppositionsblocks, der derzeit drittstärksten Fraktion im Parlament. Zweitens sind zwar alle anderen Fraktionen und Gruppen in der Vorschlagsliste Poroschenkos vertreten, allerdings könnte die Präsidentenpartei am Ende dennoch sieben der 15 Mitglieder der Zentralen Wahlkommission kontrollieren. Die Vorschlagsliste des Präsidenten ist bislang allerdings selbst innerhalb der Regierungskoalition nicht mehrheitsfähig: Anfang Juli weigerte sich Poroschenkos Koalitionspartner Volksfront, die Neubesetzung der Zentralen Wahlkommission im Parlament zu unterstützen. Da die Vorschlagsliste Poroschenkos einen Kandidaten zu viel enthält, fürchtet die Partei von Arsenij Jazenjuk, dass einer ihrer insgesamt drei Kandidaten in einer Kampfabstimmung im Parlament das Nachsehen haben könnte. Wie dieser Konflikt um die Neubesetzung der Zentralen Wahlkommission aufgelöst wird, ist unklar. Eine in Bezug auf die Parteien einseitig zusammengesetzte Zentrale Wahlkommission würde die Zweifel an der Institution Wahlen in der Bevölkerung sowie das Misstrauen zwischen den politischen Akteuren verstärken. Über den Autor: Steffen Halling ist Doktorand an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Er forscht zu Oligarchen in der Ukraine und ihren Legitimationsstrategien. Für die »European Platform for Democratic Elections« (EPDE) beobachtet er die ukrainische Wahlrechtsreform (<https://www.epde.org/en/documents/category/ ukraine.html>). Lesetipps: • Wilfried Jilge: Das neue ukrainische Parlamentswahlgesetz, in: Ukraine-Analysen 99, 24.01.2012, <http://www. laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen99.pdf> • Andrew Reynolds und Denys Kovryzhenko: Electoral System Reform in Ukraine, April 2018, <https://gallery. mailchimp.com/8a39d40b8b64140d1e69644f5/files/ab763f52-22e3-41ef-8f73-a462fb9b5a4b/IFES_Ukraine_ Reynolds_and_Kovryzhenko_Report_on_Open_List_PR_v1_2018_04_18_Eng.pdf> • Steffen Halling und Serhiy Tkachenko: Electoral Reform in Ukraine. Challenges and Prospects, EPDE Policy Paper, June 2017, <https://www.epde.org/en/documents/category/ukraine.html?file=files/EPDE/RESSOURCES/2017%20 Ukraine%20electoral%20law/_Challenges%20and%20Prospects%20of%20Electoral%20Reform%20in%20 Ukraine_fin_EN.pdf> Websites wichtiger NGOs: • The International Foundation for Electoral Systems (IFES ), <www.ifes.org> • Civil Network OPORA, <http://www.opora.org.ua/> • Komitee der Wähler der Ukraine (Komitet Wyborziw Ukrajiny/KWU), <http://www.cvu.org.ua> 6 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 7 GR AFIKEN ZUM TEX T Einstellung der ukrainischen Bevölkerung zum Wahlsystem und zu Parteien Grafik 1: Welches Parlamentswahlsystem halten Sie für das beste für die Ukraine? Gemischtes Wahlsystems mit »geschlossenen« Listen – wie es jetzt ist (ein Teils der Abgeordneten über geschlossene Listen, der andere Teil über Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen) 17,2 % Verhältniswahlsystem mit »offenen« Parteilisten (Wahl einer bestimmten Partei und Auswahl der besten Kandidaten dieser Partei) 34,5 % Mehrheitswahlsystem (Wahl von Direktkandidaten in Einerwahlkreisen) 16,1 % Verhältniswahlsystem mit »geschlossenen« Parteilisten 5,2 % Weitere 3,4 % Schwer zu sagen 23,6 % Quelle: Rasumkow-Zentrum, Dezember 2017, <http://www.razumkov.org.ua/uploads/socio/2017_Politychna_kultura.pdf> Grafik 2: Auf einer Skala von 0 bis 10: In welchem Maße vertrauen Sie Politikern, Parteien und der Werchowna Rada der Ukraine? (0 = gar kein Vertrauen, 10 = volles Vertrauen) volles Vertrauen gar kein Vertrauen 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Politikern Parteien Werchowna Rada Quelle: Rasumkow-Zentrum, Dezember 2017, <http://www.razumkov.org.ua/uploads/socio/2017_Politychna_kultura.pdf> UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 ANALYSE Die politischen Parteien vor dem Wahlmarathon 2019/2020 Von Miriam Kosmehl (Bertelsmann Stiftung, Berlin) Zusammenfassung Am 31. März 2019 wählen die Ukrainer den zweiten Präsidenten nach dem Euromaidan und wenige Monate später die Parlamentsabgeordneten der neunten Werchowna Rada seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991. 2020 folgen landesweit Kommunalwahlen. Die Präsidentschaftswahl wird die darauffolgenden Wahlen maßgeblich beeinflussen, vor allem die Parlamentswahl. Wer auch immer nächster Präsident wird, er wird in den folgenden Wahlkämpfen seine Mediendominanz nutzen. Die großen TV-Sender, die in der Ukraine die Meinungsbildung beeinflussen, gehören noch immer denselben alten Oligarchen, die mit ihren Sendern zwar rein betriebswirtschaftlich rote Zahlen schreiben, die aber politisch Einfluss nehmen und oft ihre milliardenschweren Interessen auf anderen Feldern befördern. Der vorliegende Beitrag stellt die politischen Parteien der Ukraine vor. A uch fünf Jahre nach dem Euromaidan verdienen die politischen Parteien der Ukraine diesen Namen oft nicht, weil sie meist Instrument in den Händen einzelner Mächtiger sind, die eigene wirtschaftliche Interessen absichern oder durchsetzen wollen. In einem Land, in dem Eigentum weniger durch den Rechtsstaat als vor allem über Beziehungen geschützt wird, sind Einfluss und ein Platz in der Politik – sprich in Regierung oder Parlamenten auf allen Ebenen – eine teure doch wirkungsmächtige Investition. Vor den landesweiten Kommunalwahlen 2015 etwa starteten Geschäftsleute eine Vielzahl lokaler politischer Projekte. 141 Parteien traten an – wie man zum Beispiel der offiziellen Seite der Zentralen Wahlkommission entnehmen kann (<http://www. cvk.gov.ua/pls/vm2015/PVM109?PT001F01=100>). Insgesamt gibt es über 300 politische Parteien in der Ukraine. Größtenteils sind sie nicht aktiv, werden aber bei Bedarf als Hülle verkauft, um zügig ein politisches Projekt zu verwirklichen. Bei Wahlen sind sie nützlich, wenn sie Mitglieder von Wahlkommissionen stellen dürfen. Diese Plätze sind mitunter ein wertvolles Gut, wenn wirtschaftliche und politische Interessen eng verflochten sind. Nachfolgeparteien der Partei der Regionen des ehemaligen Präsidenten Janukowytsch Nach dem Euromaidan vertraten zunächst folgende Parteien das frühere Regierungslager: der Oppositionsblock, Nachfolger der Partei der Regionen, die Partei Starke Ukraine von Serhij Tihipko und die Kommunistische Partei der Ukraine (inzwischen durch die Dekommunisierungsgesetze verboten). In die nächste Rada dürfte allein der Oppositionsblock einziehen. Das heißt freilich nicht, dass sich mit der Parteienlandschaft auch die Politik maßgeblich verändert hätte. Neue Parteien mit alten Gesichtern Seit 2014 gibt es zwar viele neue Parteien – doch mit altgedienten Politikern. Im Verlauf des Euromaidan schlossen sie sich den Vertretern der Zivilgesellschaft an, die die Proteste zunächst organisierten (es hatte 2013 zuerst zwei Protestorte gegeben: den der Zivilgesellschaft am Platz der Unabhängigkeit und den der damaligen Oppositionspolitiker auf dem Europaplatz). Nur eine einzige der heute im Parlament vertretenen Parteien, die 1999 registrierte Partei Vaterland, war bereits im Vorgängerparlament vertreten. Parteichefin Julia Timoschenko sprang gerade noch rechtzeitig auf den Postmaidan-Zug auf, und die Partei schaffte es knapp über die Fünfprozenthürde (zu den Wahlergebnissen von 2014 siehe <http://www.cvk.gov.ua/pls/ vnd2014/wp300?PT001F01=910>). Fast alle anderen Parteien, die 2014 in die Rada einzogen, wurden erst zur Wahl 2014 gegründet: Der Block Petro Poroschenko »Solidarität« (BPP) übernahm die Strukturen der Partei UDAR Vitali Klitschkos. Poroschenko und Klitschko einigten sich, dass Poroschenko als Präsident und Klitschko als Oberbürgermeister von Kiew kandidieren würde. Die neue Partei wurde nach anfänglich hoher Zustimmung nur zweitstärkste Fraktion, was die Listenwahl angeht (21,82 Prozent). Dafür erreichte der BPP die meisten direkt gewählten Abgeordneten in Mehrheitswahlkreisen. Das Listenergebnis und das Ergebnis für die einzelnen Wahlkreise zusammengenommen ist die BPP-Fraktion die größte in der Rada. Dass die anfänglich hohe Zustimmung für den BPP abnahm, lag vermutlich unter anderem an der erwähnten Absprache zwischen Poroschenko und Klitschko, die der in Wien lebende Oligarch und Gasmilliardär Dmytro Firtasch beeinflusst haben soll, der von den USA mit internationalem Haftbefehl gesucht wird und gegen den ein Auslieferungsverfahren läuft (<http://www.spiegel. de/wirtschaft/dmitrij-firtasch-warum-die-usa-jagd-aufden-oligarchen-aus-der-ukraine-machen-a-1136210. html>). Heute ist der BPP die Präsidentenpartei. Der erste stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ihor Kononenko ist ein enger Verbündeter Poroschenkos, ebenso wie der BPP-Abgeordnete Oleksandr Hranovsky. Beide 8 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 Abgeordnete nehmen über die Rada hinaus Einfluss; von Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive kann faktisch nicht die Rede sein. Die Partei Volksfront unter Arsenij Jazenjuk, dem ersten Premierminister nach dem Euromaidan, wurde erst am 31. März 2014 registriert – und kam aus dem Stand auf das beste Listenwahlergebnis von 22,14 Prozent. Jazenjuk, früher Nationalbankchef, machte mit der Volksfront-Gründung den Anschluss seiner früheren Partei Front für Wandel an die Partei Vaterland rückgängig, nachdem Timoschenko wieder in Freiheit und der gemeinsame Gegner Janukowytsch nicht mehr im Land war. Zur Volksfront gehören auch Innenminister Arsen Awakow, einer der mächtigsten Männer der Ukraine, und der Übergangspräsident und heutige Sekretär des Sicherheits- und Verteidigungsrats Oleksandr Turtschynow, früher ein Verbündeter Timoschenkos. Die entscheidenden Politiker blieben in beiden Parteien dieselben. Sie präsentierten sich nur anders. Beide Parteien luden bekannte Maidan-Aktivisten oder ehemalige Freiwilligenkämpfer auf ihre Parteilisten ein, um ihre Verbundenheit mit dem Euromaidan zu unterstreichen. In die Gruppe der Altpolitiker gehört auch Oleh Ljaschko, der seit 2011 Vorsitzender der Radikalen Partei von Oleh Ljaschko ist. Die Partei war ebenfalls auf dem Maidan sichtbar und kam mit 7,44 Prozent ins Parlament. Der im Vorgängerparlament vertretenen nationalistischen Partei Freiheit (Swoboda, registriert 1995) gelang das nicht, obwohl ihr Parteichef Oleh Tjahnybok aktiver Teilnehmer des Maidan war. Ohne das Feindbild des ehemaligen Präsidenten Janukowytsch als Unterstützung blieb die Partei unter der Fünfprozenthürde. In der am 27. November 2014 in der Rada gebildeten Koalition »Europäische Ukraine« gab es nur eine einzige neue Partei mit neuen Politikern – die Ende Dezember 2012 registrierte Selbsthilfe, die nach zunächst dürftigen Umfragewerten von 2 Prozent überraschend mit 10,97 Prozent als drittstärkste Kraft in die Rada eingezogen war. Die großen Parteien BPP und Volksfront waren, wie viele Ukrainer sagen, »alter Wein in neuen Schläuchen«. Die Entwicklung ab 2014: neue Politiker Selbsthilfe startete zunächst als regionale Partei der Westukraine, mit dem Oberbürgermeister der Vorzeigestadt Lemberg Andrij Sadowyj als Parteichef. Auf ihrer Parteiliste standen auch die Mitglieder der Partei Wolja. Seit 2011 verbietet das ukrainische Wahlrecht Blockbildung. Wollen sich kleinere Parteien in einer Art Vorwahlkoalition zusammenschließen, muss eine Partei ihren Namen aufgeben und akzeptieren, dass ihre Kandidaten auf der Liste der anderen Partei geführt werden. Dies tat 2014 die noch vor dem Maidan gegründete reformorientierte Partei Demokratische Allianz (Dem- Allianz): Ihre Kandidaten gingen in der Liste der Bürgerlichen Position auf, einer 2005 registrierten Partei um den früheren Verteidigungsminister Anatolij Hryzenko. Allerdings fiel Bürgerliche Position nach einer Kampagne durch den TV-Sender des Oligarchen Ihor Kolomojskyj wegen angeblicher Korruption durch Parteichef Hryzenko aus dem in Vorwahlumfragen stabil zweistellig prognostizierten Bereich bei der Wahl auf nur 3,1 Prozent ab und zog nicht in die Rada ein. Als Hryzenko die Korruptionsvorwürfe entkräften konnte, war die Wahl vorbei. Nach der Wahl bauten vor allem die kleinen reformorientierten Parteien wie etwa Kraft der Menschen (registriert im August 2014) und die Bürgerbewegung »Volkskontrolle« (registriert im März 2015) ihre lokalen Strukturen weiter aus. Während die ehemaligen WoljaMitglieder inzwischen entweder in der Selbsthilfe oder der neuen Saakaschwili-Partei sind, gelang es der DemAllianz, weiter eigenständig zu bestehen. Zu ihr stießen eine Reihe der sogenannten Eurooptimisten, die sich als politische Kraft etablieren wollen, nachdem sie 2014 über verschiedene Parteilisten in die Rada gelangt waren und bisher nur eine informelle Gruppe bilden. Neugründungen sind auch die Antikorruptionspartei Bürgerbewegung »Welle« um den Rechtsanwalt Wiktor Tschumak und den entlassenen Reformstaatsanwalt Witalij Kasko sowie die Partei Bewegung der neuen Kräfte des ehemaligen georgischen Präsidenten und Ex-Gouverneurs von Odessa Micheil Saakaschwili – freilich ist diese Partei nach Saakaschwilis Abschiebung aus der Ukraine wenig aktiv. Naturgemäß ist es eine Herausforderung, in einem großen Land wie der Ukraine neue politische Strukturen aufzubauen und landesweit bekannt zu werden – und zu bleiben. Laut Umfrage des Ilko-Kutscheriw-Instituts »Demokratische Initiativen« und des RasumkowZentrums vom Mai 2018 liegen all diese Kleinparteien ungefähr gleichauf (siehe dazu und zu den folgenden Prognosen die Tabellen und Grafiken am Ende des Textes). Vereinigt kämen sie sicher über die Fünfprozenthürde, doch erschwert ihnen das Gesetz zur Blockbildung den Zusammenschluss. Die beiden stärksten Oppositionsparteien sind heute Selbsthilfe (5,1 Prozent laut Umfrage im Mai 2018) und Bürgerliche Position (10,7 Prozent laut Umfrage im Mai 2018). Der Vorsprung für die Bürgerliche Position dürfte damit zusammenhängen, dass Selbsthilfe-Chef Sadowyj unter massivem Medieneinsatz für einen Müllskandal in Lemberg verantwortlich gemacht wurde. Davon abgesehen hat sich die Bürgerliche Position modernisiert, neue aktive Mitglieder gewonnen und gezielt lokale Strukturen aufgebaut. Die Partei ist seit 2017 Mitglied der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE). 9 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 Parteichef Anatolij Hryzenko wird zwar von den großen Fernsehsendern nicht eingeladen, ist aber auf den kleineren Sendern »112«, »NewsOne« und auf dem westukrainischen Kanal »ZIK« präsent. (NewsOne gehört dem Rada-Abgeordneten Jewgenij Murajew, gegen den der Generalstaatsanwalt wegen Landesverrats ermittelt. Wem 112 gehört, ist unklar. ZIK hat einen Lemberger Eigentümer.) Der Vorsitzende der Partei Bürgerliche Position Hryzenko hat eine gewisse Popularität als früherer Verteidigungsminister, vor allem nachdem er die 2014 gegen ihn vorgebrachten Korruptionsvorwürfe entkräften konnte. Zudem hilft sein im Vergleich zu etlichen anderen Politikern bescheidener Lebensstil und seine Ehe mit der Chefredakteurin der renommierten Wochenzeitung Serkalo Nedeli (Spiegel der Woche). Insgesamt ist Bürgerliche Position vor allem für die »alten« Akademikerschichten jenseits der vierzig und für konservative Wähler attraktiv. Junge Ukrainer neigen eher etwa zu Kraft der Menschen, DemAllianz oder der Saakaschwili-Partei. Vor diesem Hintergrund – und um in dem schwierigen ukrainischen Politumfeld schlagkräftiger zu sein – versucht Hryzenko in Vorbereitung auf 2019, die Bildung eines Blocks mit den anderen kleinen Reformparteien zu erreichen. Ein Vertrag mit der Partei Bürgerbewegung »Volkskontrolle«, die bei 1,2 Prozent liegt, ist unterzeichnet, Gespräche mit der DemAllianz werden geführt. Kraft der Menschen dagegen will das Risiko, die eigene Parteiidentität zumindest pro forma aufzugeben, nicht eingehen. Auch Selbsthilfe ist trotz mäßiger eigener Umfragewerte bislang nicht zum Zusammenschluss bereit. Ideologie als Mittel zum Zweck In Zeiten einschneidender Reformen, deren Nachteile vor allem arme Bevölkerungsgruppen unmittelbar zu spüren bekommen und deren positive Wirkungen sich erst langfristig oder mittelbar zeigen, sind eine Reihe von kleineren Parteien entstanden, deren Gründer jene Wähler ansprechen wollen, die Angst vor der Zukunft haben. Neben den bereits genannten Nachfolgeparteien der Partei der Regionen sind das Unser Land (registriert 2011), Wiedergeburt (registriert 2004), die Agrarpartei (registriert 2006) und – besonders erfolgreich in aktuellen Umfragen – Für das Leben (registriert 1999) des kleineren Oligarchen Wadim Rabinowitsch. Häufig geht es bei diesen Parteiprojekten nicht um programmatische Inhalte, sondern darum, die Bedürfnisse eines bestimmten Wählerklientels zu bedienen, etwa mit kleineren Geldbeträgen die Lebensbedingungen unmittelbar zu verbessern. Die Tradition, ärmere Menschen in der Abhängigkeit einzelner finanzieller Zuwendungen zu belassen, anstatt sie Schritt für Schritt zur Selbsthilfe zu befähigen, wird so aufrechterhalten. Ideologie ist nur Mittel zum Zweck. So steht der Oligarch Kolomojskyj sowohl hinter der sich patriotisch gebenden Partei UKROP (Ukrainische Vereinigung der Patrioten) als auch hinter der Partei Wiedergeburt, die die vermeintlich guten alten Zeiten betont. Neue patriotische Parteiprojekte Neben der UKROP treten vor allem die Bürgerliche Plattform von Nadija Sawtschenko um die in der Vergangenheit in Russland inhaftierte ehemalige Kampfpilotin hervor, die von einigen als potentielle Protestführerin unterstützt, von der Generalstaatsanwaltschaft jedoch inzwischen des Landesverrats bezichtigt wird (zu Sawtschenko siehe <http://www.sueddeutsche.de/ politik/ukraine-demontage-einer-heldin-1.3916026>) sowie der Nationale Korpus um Andrij Bilezkyj, der Kommandeur des Bataillons Asow war (eines aus freiwilligen Kämpfern bestehenden Regiments). Auch die Staatliche Initiative Jarosch gehört in diese Gruppe. Die patriotische Karte spielen auch »alte« Parteien wie die Radikale Partei von Oleh Ljaschko und die Partei Rechter Sektor. Es gibt zudem eine Erklärung der rechtsradikalen Parteien Rechter Sektor, Freiheit (Swoboda) und Nationaler Korpus, sich zu vereinigen. Doch deren aktuelle Umfragewerte sind so niedrig, dass sie auch gemeinsam keine 5 Prozent erreichen dürften (siehe Tabelle 1 am Ende des Textes). Nur ein sehr geringer Anteil der Ukrainer ist für die Ideologie dieser Parteien zu gewinnen, zu der wesentlich der Antisemitismus gehört (siehe dazu etwa <http://www.pewresearch. org/fact-tank/2018/03/28/most-poles-accept-jews-asfellow-citizens-and-neighbors-but-a-minority-do-not/ ft_18-03-26_polandholocaustlaws_map/>). Beobachter warnen davor, dass politische Parteien Bataillone unterstützen. Im inzwischen dem Innenministerium unterstellten nationalistischen Regiment Asow etwa sehen einige eine Schutztruppe der Partei Volksfront. Zuletzt hatte der Oligarch Kolomojskyj versucht, seine geschäftlichen Interessen mit Waffengewalt durch von ihm finanzierte Freiwillige abzusichern – allerdings erfolglos (siehe <https://www.newyorker.com/ news/news-desk/watching-the-ukrainian-oligarchs>). Schwache Opposition von links Linke Parteien verloren nach dem Verbot der Kommunistischen Partei und dem Absturz der Partei der Regionen massiv an Popularität. Nur zwei neue Parteien mit ähnlicher Ausrichtung werden in aktuellen Umfragen überhaupt erwähnt: die Sozialdemokratische Partei mit 0,5 Prozent und die Partei Linke Opposition (selbst ernannte Kommunistische Partei der Ukraine und Progressive Sozialistische Partei der Ukraine) mit 1,3 Prozent. 10 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 Parteiarbeit vor Ort – schwierig aber unabdingbar Außer den großen Rada-Parteien verfügen die wenigstens Parteien über funktionierende lokale Strukturen. Manche der neuen Parteien bemühen sich gezielt, diese aufzubauen, etwa Kraft der Menschen und Bürgerliche Position, aber auch Unser Land (überwiegend im Osten der Ukraine) und Nationaler Korpus (überwiegend im Westen). Freiheit (Swoboda) und die Agrarpartei können noch auf alte Strukturen zurückgreifen. Früher zeichnete sich auch die Partei der Regionen durch funktionierende lokale Strukturen aus; bei Vaterland ist das bis heute der Fall. Neue Parteiprojekte für 2019 und informelle Machtstrukturen Eine weitere Kategorie besteht aus den Parteien, die speziell für die bevorstehenden Wahlen gegründet wurden – oder noch gegründet werden. Diese Gruppe dürfte noch anwachsen. Die Stimmung der Ukrainer gegen Politiker, die in erster Linie ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgen, greift die neue Partei Diener des Volkes erfolgreich auf: Sie kam in Umfragen aus dem Stand auf rund 5 Prozent und ist wohl als erste Partei nach einer populären Satiresendung benannt. In der Sendung parodiert der deklarierte Parteichef einen der Wirklichkeit entrückten Präsidenten Poroschenko. Ab Herbst wird die erfolgreiche TV-Serie fortgesetzt – mit finanzieller Unterstützung von Oligarch Kolomojskyj. Interessant wird sein, welche politische Basis sich der aktuelle Premierminister Wolodymyr Hrojsman suchen wird, dessen eigene Partei Europäische Strategie aus Winnyzja (registriert 2015) nur regionale Bedeutung hat. Von Präsident Poroschenko distanziert er sich merklich. Eine Theorie ist, dass er sich mit Arsenij Jazenjuk zusammenschließen und dessen Volksfront wieder aktivieren wird. Die Partei kommt in aktuellen Umfragen nur noch auf 1 Prozent; es ist aber zu erwarten, dass sich ihre bisher mächtigen Politiker rechtzeitig vor 2019 etwas einfallen lassen und ihre parteipolitische Basis sichern werden. Hrojsman versucht sich als Politiker der Zukunft darzustellen, etwa indem er kürzlich seinen Verbleib in der Regierung von der Zustimmung der Rada zum neuen Antikorruptionsgericht abhängig machte, das allerdings nur ein Gericht mit beschränkter Autonomie darstellt. Seit Beginn seiner Amtszeit im April 2016 sucht er den Dialog mit der Zivilgesellschaft. Dennoch wächst ihm gegenüber das Misstrauen, auch nach der aktuellen Entlassung von Finanzminister Oleksandr Daniljuk, der als Reformer innerhalb der Regierung galt. Und Petro Poroschenko und seine Partei? Im BPP herrscht keine Einigkeit über die künftige Ausrichtung. Ein ukrainisches Sprichwort sagt, rechtzeitig zu verraten, sei kein Verrat, sondern Voraussicht. Bislang werden wichtige Entscheidungen vermutlich sowieso über Fraktionsgrenzen hinweg getroffen, etwa im Kreis der »Strategischen Neun« oder (früher) der »Strategischen Sieben«, einem informellen Zusammenschluss zentraler Persönlichkeiten der ukrainischen Politik (siehe zum Beispiel <https://zik.ua/ru/news/2018/02/23/ strategycheskaya_devyatka__eto_lysh_konstruktsyya_ soznanyya__polytolog_1272501>). Poroschenko scheint ein Wahlkampfthema gefunden zu haben – das in der Ukraine ähnlich emotional besetzt ist wie die Visaliberalisierung und das viele Menschen im konservativen Lager mitreißen dürfte –, auf das er sich konzentriert: das Ziel, die UkrainischOrthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats von Moskau unabhängig zu machen. Populismus Populismus spielt von jeher eine große Rolle in der ukrainischen Politik, auch bei oppositionellen Reformparteien wie Selbsthilfe und Bürgerliche Position. Beide versuchen, Wähler in Zeiten von Krise und Krieg durch konservativ-patriotische Töne emotional anzusprechen. Den Populismus am weitesten treibt Julia Timoschenko. Darunter leidet die programmatische Auseinandersetzung insgesamt. Ein Teufelskreis: Das niedrige Vertrauen in die Politiker fördert die Wiederwahl populistischer Parteien, welche – wie die Partei Vaterland angesichts eigener wirtschaftlicher Interessen – die Probleme des Landes nicht lösen, sondern sie für ihre eigenen Ziele instrumentalisieren. Ausblick – neue Politikerpersönlichkeiten gefragt Die Parteichefs der nach aktuellen Umfragen maßgeblichen Parteien bei der Rada-Wahl werden vermutlich alle bei der Präsidentschaftswahl antreten, und die Umfragewerte für Präsidentschaftskandidat bzw. Partei sind aktuell spiegelbildlich (siehe Tabellen und Grafiken am Ende des Textes). Allerdings werden noch viele Unentschlossene den Ausgang der Wahlen beeinflussen, ebenso wie neue Präsidentschaftskandidaten ohne bisherige Parteistruktur, wie etwa der beliebte Sänger Swjatoslaw Wakartschuk. Das Bedürfnis der ukrainischen Bürger nach neuen politischen Kräften ist derart ausgeprägt – 62,1 Prozent wünschen sich laut einer Umfrage »neue politische Führer« und nur 26,9 Prozent sind der Ansicht, die bisherigen Politiker seien ausreichend –, dass einer der großen TV-Sender, ICTV, eine Art Castingshow mit dem Titel »Neue 11 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 Führer« geschaffen hat. Nach den jeweiligen Eigenschaften befragt, die »neue Führer« mitbringen müssten, nannten die Befragten an erster Stelle Unkorrumpierbarkeit (54,1 Prozent). Es folgten Ehrlichkeit (45,5 Prozent) und die Bereitschaft, die Interessen der »einfachen Menschen« zu vertreten (45,3 Prozent). Zusätzlich fanden die Befragten Patriotismus wichtig (21,5 Prozent) und einen genauen Handlungsplan (21,9 Prozent), Bildung/Kultur/Erfahrung (16,4 Prozent) und Führungsqualitäten (15,1 Prozent) (Umfrageergebnisse zu den neuen politischen Kräften siehe <https://dif.org.ua/ article/viborchi-reytingi-traven-2018408346>). Die Wähler sehen unterschiedliche Bereiche, aus denen diese »neuen Führer« rekrutiert werden könnten: aus neuen Parteien (33,5 Prozent), aus schon existierenden Parteien, in denen sie bisher keine führenden Positionen innehatten (29,7 Prozent), aus zivilgesellschaftlichen Organisationen (28,1 Prozent) oder aus der sogenannten technischen Intelligenzija (Ingenieure/ Ärzte 25,8 Prozent). Nur eine Minderheit ist der Ansicht, dass die »neuen Führer« aus Großunternehmen kommen sollten (5,3 Prozent). Im bevorstehenden Wahlkampf ist leider einmal mehr damit zu rechnen, dass die Versuche der Staatsanwaltschaft zunehmen werden, politische Gegner mit fabriziertem Belastungsmaterial auszuschalten; sei es etwa mit dem Vorwurf, russische Propaganda zu betreiben oder sich durch Korruption bereichert zu haben. Auf ihrem Weg zu einem demokratischen Parteien- und Regierungssystem brauchen neue, reformorientierte Programmparteien einen langen Atem angesichts der fortwährenden Verflechtung wirtschaftlicher und politischer Interessen. Zudem stehen dem starken gesellschaftlichen und politischen Engagement vieler aufgeklärter Bürger auf der einen Seite noch autoritärpatriarchale Traditionen auf der anderen Seite gegenüber. Über die Autorin: Miriam Kosmehl war von Juni 2012 bis August 2017 Büroleiterin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in der Ukraine. Seit Oktober 2017 ist sie als Senior Expert bei der Bertelsmann Stiftung für die Länder der Östlichen Partnerschaft zuständig. Im Text zitierte Literatur: • Benjamin Bidder: Der Oligarch, den Amerika jagt; in: SPIEGEL ONLINE, 25.02.2017, <http://www.spiegel. de/wirtschaft/dmitrij-firtasch-warum-die-usa-jagd-auf-den-oligarchen-aus-der-ukraine-machen-a-1136210.html> • Florian Hassel: Demontage einer Heldin, in: Süddeutsche Zeitung, 21.03.2018, <http://www.sueddeutsche.de/ politik/ukraine-demontage-einer-heldin-1.3916026> • Pew Research Center: In some countries in Central and Eastern Europe, roughly one-in-five adults or more say they would not accept Jews as fellow citizens, March 27 2018, <http://www.pewresearch.org/ fact-tank/2018/03/28/most-poles-accept-jews-as-fellow-citizens-and-neighbors-but-a-minority-do-not/ ft_18-03-26_polandholocaustlaws_map/> • Sophie Pinkam: Watching the Ukrainian Oligarchs, in: The New Yorker, April 2 2015, <https://www.newyorker. com/news/news-desk/watching-the-ukrainian-oligarchs> • »Strategičeskaja devjatka« – ėto liš' konstrukcija soznanija, – politolog, in: zik, 23.02.2018, <https://zik.ua/ru/ news/2018/02/23/strategycheskaya_devyatka__eto_lysh_konstruktsyya_soznanyya__polytolog_1272501> • Ilko-Kutscheriw-Institut »Demokratische Initiativen« und Rasumkow-Zentrum: Vyborči rejtyngy: traven' 2018, <https://dif.org.ua/uploads/pdf/1804910575b1789f1b39525.84829047.pdf> 12 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 13 TABELLEN UND GR AFIKEN ZUM TEX T Aktuelle Wahltrends in der Ukraine Grafik 1: Welche Partei würden Sie wählen, wenn kommenden Sonntag Wahlen zur Werchowna Rada wären? (in Prozent derjenigen Befragten, die beabsichtigen, an der Wahl teilzunehmen; nur Parteien, die im Mai 2018 die Fünfprozenthürde überwunden hätten) Dezember 2017 0 2 Allukrainische Vereinigung »Vaterland« (Julia Timoschenko) 12,1 12,6 Bürgerliche Position (Anatolij Hryzenko) 7,4 10,7 Oppositionsblock (Juri Boiko) 6 8,5 Für das Leben (Wadim Rabinowitsch, Jewgenij Murajew) 8,8 8,1 Radikale Partei von Oleh Ljaschko 6 7,9 Block Petro Poroschenko »Solidarität« 9,2 7,8 Selbsthilfe (Andrij Sadowyj) 7 5,1 Diener des Volkes (Iwan Bakanow, Wolodymyr Selenskyj) Schwer zu sagen / Keine Antwort Mai 2018 4 6 8 10 12 14 16 18 4 5 16,6 13,3 Quelle: Umfrage des Ilko-Kutscheriw-Instituts »Demokratische Initiativen« und des Rasumkow-Zentrums vom 19.–25. Mai 2018 in allen Regionen der Ukraine mit Ausnahme der Krim und der besetzten Gebiete in den Regionen Donezk und Luhansk (2.019 Befragte); <https://dif.org.ua/article/viborchi-reytingi-traven-2018408346> Tabelle 1: Welche Partei würden Sie wählen, wenn kommenden Sonntag Wahlen zur Werchowna Rada wären? (in Prozent derjenigen Befragten, die beabsichtigen, an der Wahl teilzunehmen) Dezember 2017 Mai 2018 12,1 12,6 Bürgerliche Position (Anatolij Hryzenko) 7,4 10,7 Oppositionsblock (Juri Boiko) 6,0 8,5 Für das Leben (Wadim Rabinowitsch, Jewgenij Murajew) 8,8 8,1 Radikale Partei von Oleh Ljaschko 6,0 7,9 Allukrainische Vereinigung »Vaterland« (Julia Timoschenko) Block Petro Poroschenko »Solidarität« 9,2 7,8 Selbsthilfe (Andrij Sadowyj) 7,0 5,1 Diener des Volkes (Iwan Bakanow, Wolodymyr Selenskyj) 4,0 5,0 Allukrainische Vereinigung »Freiheit« (Swoboda) (Oleh Tjahnybok) 3,2 3,3 Fortsetzung auf der nächsten Seite UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 14 Tabelle 1: Welche Partei würden Sie wählen, wenn kommenden Sonntag Wahlen zur Werchowna Rada wären? (in Prozent derjenigen Befragten, die beabsichtigen, an der Wahl teilzunehmen) (Fortsetzung) Dezember 2017 Mai 2018 Linke Opposition (Kommunistische Partei der Ukraine und Progressive Sozialistische Partei der Ukraine) (Petro Simonenko, Natalija Witrenko) 1,0 1,3 Bürgerbewegung »Volkskontrolle« (Dmytro Dobrodomow) 1,3 1,2 Staatliche Initiative Jarosch (Dmytro Jarosch) 1,0 1,2 Bürgerliche Plattform von Nadija Sawtschenko (Nadija Sawtschenko) 0,7 1,1 Agrarpartei der Ukraine (Vitaly Skozyk) 1,5 0,9 Volksfront (Arsenij Jazenjuk) 1,6 0,8 Ukrainische Vereinigung der Patrioten (UKROP) (Denys Borysenko, Boris Filatow) 0,8 0,8 Nationaler Korpus (Andrij Bilezkyj) 0,5 0,6 Bewegung der neuen Kräfte (Micheil Saakaschwili) 1,7 0,6 Rechter Sektor (Andrij Tarasenko) 0,3 0,5 Sozialdemokratische Partei (Sergej Kaplin) 1,2 0,5 Bürgerbewegung »Welle« (Wiktor Tschumak u. a.) 0,6 0,4 Volksbewegung der Ukraine (Wiktor Kriwenko) 0,0 0,2 Wiedergeburt (Wiktor Bondar) 0,9 0,2 Unser Land (Juri Hranaturow) 0,4 0,2 Kraft der Menschen (Juri Bowa) 0,1 0,2 Volkspartei (Wolodymyr Lytwyn) 0,1 0,2 Demokratische Allianz (Wasyl Gazko, Wiktorija Ptaschnyk) 0,3 0,2 Starke Ukraine (Serhij Tihipko) 0,2 0,1 Weitere 5,7 6,3 16,6 13,3 Schwer zu sagen / Keine Antwort Quelle: Umfrage des Ilko-Kutscheriw-Instituts »Demokratische Initiativen« und des Rasumkow-Zentrums vom 19.–25. Mai 2018 in allen Regionen der Ukraine mit Ausnahme der Krim und der besetzten Gebiete in den Regionen Donezk und Luhansk (2.019 Befragte); <https://dif.org.ua/article/viborchi-reytingi-traven-2018408346> UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 15 Grafik 2: Wenn kommenden Sonntag Präsidentschaftswahlen wären, wen würden Sie wählen? (in Prozent derjenigen Befragten, die beabsichtigen, an der Wahl teilzunehmen) 0 2 Julia Timoschenko 13,6 Anatolij Hryzenko 11,2 Petro Poroschenko 9,7 Juri Boiko 8,7 Oleh Ljaschko 7,8 Wadim Rabinowitsch 5,4 Andrij Sadowyj 3,9 Oleh Tjahnybok 3 Dmytro Jarosch 1,5 Petro Simonenko 1 Arsenij Jazenjuk 0,7 Weitere 16 Schwer zu sagen 4 6 8 10 12 14 16 18 20 17,3 Quelle: Umfrage des Ilko-Kutscheriw-Instituts »Demokratische Initiativen« und des Rasumkow-Zentrums vom 19.–25. Mai 2018 in allen Regionen der Ukraine mit Ausnahme der Krim und der besetzten Gebiete in den Regionen Donezk und Luhansk (2.019 Befragte); <https://dif.org.ua/article/viborchi-reytingi-traven-2018408346> UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 ANALYSE Überraschende Entwicklung mit offenem Ausgang: die Ukraine-USA-Beziehungen Von Susan Stewart (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin) Zusammenfassung Als Präsident Trumps Amtszeit im Januar 2017 begann, gingen viele Beobachter von einer Verbesserung des russisch-amerikanischen Verhältnisses aus, was vielschichtige Folgen für die Ukraine gehabt hätte. Anderthalb Jahre später ist das Verhältnis sehr angespannt, während die Beziehungen zwischen den USA und der Ukraine weiter ausgebaut werden. Der vorliegende Beitrag erläutert die Faktoren, die für diese überraschende Entwicklung verantwortlich sind, und fragt nach der Nachhaltigkeit des derzeitigen Modells der Beziehungen. E s hätte auch so aussehen können: Drei Wochen nach seiner Inauguration trifft sich Donald Trump mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die beiden haben auf Anhieb einen guten Draht zueinander. Putin gelingt es, Trump zu überzeugen, dass die Ukraine historisch und kulturell gesehen zu Russland gehört und deswegen in die russische Einflusssphäre fällt. Dies bedeutet, dass Russland eine privilegierte Stellung genießt und dass die USA sich im Wesentlichen heraushalten werden, was die Entwicklung im Land sowie seine außen- und sicherheitspolitische Orientierung betrifft. Im Gegenzug wird Russland sein Vorgehen im Nahen und Mittleren Osten mit den USA abstimmen. Die beiden Länder werden einen gemeinsamen Ansatz im Bereich der Terrorismusbekämpfung ausarbeiten. Eine Arbeitsgruppe zu diesem Zweck hat sich bereits gebildet und erste Vorschläge erarbeitet. Stattdessen wurden die Sanktionen gegen Russland mehrmals verschärft, die Ukraine mit letalen Waffen beliefert und die Zusammenarbeit mit ihr im Energiebereich intensiviert. Im Juli 2017 wurde ein Sonderbeauftragter für die Ukraine, Kurt Volker, ernannt. Zwei Begegnungen zwischen Trump und Putin fanden im Juli 2017 im Rahmen des G20-Gipfels in Hamburg statt, haben aber zu keinen greifbaren Ergebnissen geführt. Ein Neustart der Beziehungen zu Russland kam nicht zustande, geschweige denn ein »grand bargain«, wie manche gehofft bzw. befürchtet hatten. Welche Faktoren erklären die überraschend kooperative und intensive Entwicklung der Beziehungen zwischen den USA und der Ukraine seit dem Beginn der Präsidentschaft von Donald Trump? Und wie wahrscheinlich ist es, dass diese Situation von Dauer sein wird? Erklärungsmuster für die Entwicklung der USA-Ukraine-Beziehungen unter Trump Vier Faktoren zusammengenommen liefern eine plausible Erklärung für den Verlauf der Beziehungen in den letzten anderthalb Jahren. Diese hängen stark vom Stand des russisch-amerikanischen Verhältnisses ab. Erstens haben zunehmende Indizien für russischen Einfluss bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2016 ein Klima geschaffen, in dem es für Donald Trump fast unmöglich ist, die Beziehungen zu Russland voranzutreiben. Nicht nur haben russische Akteure versucht, über soziale Medien einen Teil der öffentlichen Meinung in den USA im Wahlkampf zu beeinflussen, sondern es gibt auch Vertraute von Trump, die den Kontakt zu offiziellen russischen Stellen oder deren Vermittlern geleugnet bzw. nicht offengelegt haben. Hierzu gehören wohl Trumps Schwiegersohn Jared Kushner sowie der ehemalige Nationale Sicherheitsberater Michael Flynn. Außerdem weist einiges darauf hin, dass Trump den ehemaligen Leiter des FBI James Comey unter anderem deswegen entlassen hat, weil Comey derartige Kontakte näher untersuchen wollte. Auch in Bezug auf Robert Mueller, der die Untersuchung von Comey fortsetzt, gibt es Hinweise darauf, dass Trump ihn abgesetzt sehen möchte. Mueller hat inzwischen viel Material zur russischen Einmischung in die Wahlen gesammelt. Vor diesem Hintergrund sieht jede Parteinahme Trumps für Putin bzw. Russland suspekt aus. Dies öffnet wesentlich mehr Raum für die Entwicklung der Beziehungen zur Ukraine, als es ohne dieses Klima des Misstrauens gegenüber Russland gegeben hätte. Zweitens ist es zu einer unüblichen Einigkeit von Demokraten und Republikanern in Bezug auf Russland gekommen. Dies hängt eng mit dem ersten Punkt zur russischen Einmischung zusammen. Die Demokraten sind sehr empört über die zahlreichen Indizien, dass russische Akteure konsequent versucht haben, die Wahlen zu beeinflussen. Diese Empörung führt zu einer russlandfeindlichen Einstellung, die bei den Demokraten in der Regel weniger präsent ist. Die Republikaner hingegen sind traditionell eher russlandkritisch. Diese Kombination hat zur Folge, dass im Kongress eine seltene Einheit im Hinblick auf die Ansicht zum Umgang mit Russland (und dadurch auch weitgehend mit der Ukraine) herrscht. 16 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 Hinzu kommt drittens, dass viele Mitglieder des Kongresses das Gefühl haben, ihre Prärogativen als Gesetzgeber gegen die Interessen von Donald Trump schützen zu müssen. Dies führt zu einem hohen Grad von Solidarität innerhalb der beiden Kammern des Kongresses. Diese Solidarität mischt sich mit der oben angesprochenen Einheit in der Russlandfrage. Sie hat klare Auswirkungen auf das Wahlverhalten der Abgeordneten bei Themen, die Russland und die Ukraine betreffen. Dies wurde vor allem beim Thema Sanktionen deutlich. Da die Abgeordneten die Frage, ob die Russlandsanktionen fortgesetzt werden, nicht dem Präsidenten überlassen wollten, verabschiedeten sie ein Gesetz, das die Kompetenzen des Gesetzgebers bei künftigen Entscheidungen in diesem Bereich stärkt. Für Trump wäre es politisch schwierig gewesen, in diesem Fall ein Veto einzulegen. Ein solches Veto hätte auch keine Wirkung gehabt, da das Gesetz mit der überwältigenden Mehrheit der Stimmen in beiden Kammern angenommen wurde. Zu der Solidarität auf inhaltlicher Ebene kommt also noch der Schutz der Gewaltenteilung hinzu. Viertens hat Trump zu Anfang seiner Präsidentschaft ein Team ausgewählt, das mit der Zeit eine kohärente Linie in Bezug auf Russland und die Ukraine entwickelt hat, die eher der Haltung des Kongresses entspricht als der, die von Trump in seinem Wahlkampf vertreten wurde. Zu Beginn bestand dieses Team aus dem Außenminister Rex Tillerson, dem Verteidigungsminister James Mattis und dem Sicherheitsberater Herbert McMaster. Später kam Kurt Volker in seiner Eigenschaft als Ukrainebeauftragter hinzu, der von Tillerson ernannt wurde. Nach dem ersten Jahr der Trump-Präsidentschaft hatte sich bei den Mitgliedern dieses Teams eine klare Position herausgebildet, die die russische Annexion der Krim und die Destabilisierung des Donbas klar verurteilte und Sanktionen diesbezüglich ausdrücklich unterstützte. Sie sah eine Änderung der russischen Haltung zur Ukraine und entsprechende Handlungen als notwendige Voraussetzung für eine grundsätzliche Besserung des US-amerikanischen Verhältnisses zu Russland an und war bereit, der Ukraine substantielle Unterstützung, auch militärischer Art, zukommen zu lassen. Aus all diesen Gründen hat sich die Politik der USA vis-à-vis Russland und der Ukraine seit Beginn der Präsidentschaft von Donald Trump wesentlich anders entwickelt als von den allermeisten Beobachterinnen und Beobachtern erwartet. Unten wird der Frage nachgegangen, wie stabil diese Politik ist. Aber um diese Einschätzung vorzunehmen, ist es hilfreich, sich zwei Bereiche des Verhältnisses zwischen der Ukraine und den USA näher anzuschauen. Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit und Energie Die Ukraine-USA-Beziehungen sind aus nachvollziehbaren Gründen auf einige Bereiche begrenzt. Die geografische Distanz zwischen den beiden Ländern macht bestimmte Arten der Zusammenarbeit schwierig, die für die EU bzw. für einige ihrer Mitgliedstaaten möglich und sinnvoll sind. Außerdem haben die USA insbesondere unter der Präsidentschaft von Barack Obama ihr Interesse an und ihr Engagement in der Region heruntergefahren. Nach dem Euromaidan ab dem Herbst 2013 und vor allem nach der russischen Aggression gegen die Ukraine ab Februar 2014 wurde die Zurückhaltung der USA allerdings wesentlich schwieriger zu begründen. In der neuen geopolitischen Lage wurde die Kooperation zwischen den beiden Ländern wesentlich intensiver, und die Unterstützung für die Ukraine (auch durch Sanktionen gegen Russland) hat erheblich zugenommen. Interessant sind vor allem der Sicherheitsbereich – wegen der heiklen geopolitischen Situation, in der sich die Ukraine befindet – und der Energiebereich, der sich dynamisch entwickelt und in dem sich Chancen für die USA eröffnen. Im Sicherheitsbereich steht die Frage militärischer Unterstützung für die Ukraine an erster Stelle. Am 24. August 2017, dem ukrainischen Unabhängigkeitstag, weilte der Verteidigungsminister James Mattis in Kiew und erklärte Folgendes: »Have no doubt, the United States stands with Ukraine. We support you in the face of threats to sovereignty and territorial integrity, to international law, and to the international order writ large […] We do not, and we will not, accept Russia's seizure of Crimea and despite Russia's denials, we know they are seeking to redraw international borders by force, undermining the sovereign and free nations of Europe.« Diese Versicherung sei durch militärisches Gerät im Wert von etwa 750 Millionen US-Dollar in den letzten Jahren untermauert worden, fügte Mattis hinzu. Bei vielen Programmen handelt es sich um eine Fortsetzung bereits bestehender Unterstützung, sowohl im Rahmen der NATO als auch im nationalen Kontext. Aber die Lieferung letaler Waffen, die unter Obama verweigert wurde, ist unter Trump erfolgt. Im April 2018 kamen die ersten Panzerabwehrraketensysteme des Typs Javelin in der Ukraine an. Im Mai hat die Nationalgarde 500 Panzerabwehr-Granatwerfer aus den USA erhalten. Hinzu kommt, dass die USA die Sanktionen gegen Russland in den letzten Jahren deutlich verschärft haben, vor allem mit dem oben erwähnten Sanktionsgesetz von 2017, das auch Iran und Nordkorea betraf. Auch im Bereich Cybersicherheit wird die Zusammenarbeit ausgebaut. Ein amerikanisch-ukrainischer Dialog auf diesem Gebiet hat im September 17 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 2017 begonnen, und ein Gesetzesentwurf über Kooperation in diesem Bereich wurde im Februar 2018 von der unteren Kammer des Kongresses verabschiedet. Das Gesetz steht momentan im Senat zur Debatte. Bemerkenswert ist, dass es in beiden Kammern auf Initiative von jeweils einem Demokraten und einem Republikaner eingebracht wurde. Die russische Aggression gegen die Ukraine seit 2014 hat in der Ukraine zu einem neuen Ansatz geführt, was die Energiepolitik betrifft. Vor allem wird auf Direktimporte von Erdgas aus Russland fast völlig verzichtet, auch wenn russisches Gas durch »reverse flow« aus einigen EU-Mitgliedsstaaten die Ukraine weiterhin erreicht. Diese Entwicklung hat zu Überlegungen in den USA geführt, ob die Ukraine ein Zukunftsmarkt für Flüssiggas (LNG) werden könnte. Bereits im März 2014 wurde diese Idee in einer Sitzung des Energieausschusses des Senats zum Thema »Importing Energy, Exporting Jobs. Can It Be Reversed?« geäußert. Trump hat die Idee von LNG-Lieferungen nach Mittel- und Osteuropa in seiner Rede auf dem Gipfel der Drei-MeereInitiative in Warschau im Juli 2017 bekräftigt. Dagegen spricht allerdings sowohl das Fehlen eines LNG-Terminals in der Ukraine als auch die Tatsache, dass laut existierenden Verträgen große Mengen von LNG aus den USA in den kommenden Jahren an asiatische Länder geliefert werden müssen. Dennoch kam es im Dezember 2017 zur ersten Lieferung von LNG in die Ukraine über das polnischen Flüssiggasterminal in Świnoujście. Das Geschäft wurde von der ERU Corporation abgewickelt, einer US-amerikanischen Firma, die durch eine Agentur der US-Regierung mit einer Versicherung gegen politische Risiken ausgestattet wurde. Im Kohlesektor findet eine ähnliche Entwicklung statt. Der Kontrollverlust der Ukraine über Teile des Donbas bedeutet, dass der Zugang zu Anthrazitkohle, die für bestimmte Kraftwerke in der Ukraine notwendig ist, fast vollständig verloren ging. Im August 2017 hat das Unternehmen XCoal Energy & Resources die erste Lieferung von Anthrazitkohle auf den Weg in die Ukraine gebracht, nachdem zwischen Poroschenko und der Trump-Administration eine Einigung über diese Geschäfte erzielt wurde. Der Kongress hat sich zudem negativ über den Bau der Pipeline Nord Stream 2 geäußert und die Möglichkeit von Sanktionen gegen europäische Firmen, die an der Pipeline beteiligt sind, ins Gesetz eingebaut. Dies kann unter anderem als Unterstützung für die Ukraine gesehen werden, der durch den Pipelinebau wesentliche Transitgebühren für den Transport von russischem Erdgas verloren gehen würden. Die entsprechenden Sanktionen können allerdings nur von der Trump-Administration umgesetzt werden, die bislang davon abgesehen hat, mit dem Argu- ment, dass das Gesetz an sich eine abschreckende Wirkung erzielt habe. Die Nachhaltigkeit des derzeitigen Verhältnisses In Anbetracht der oben erläuterten Faktoren und Entwicklungen kann man sich fragen, inwiefern das derzeitige Modell der ukrainisch-amerikanischen Beziehungen nachhaltig ist. In Bezug auf die vier eingangs genannten Faktoren, die das jetzige Modell erklären, könnte sich einiges ändern. Erstens wird das Thema russische Einmischung in die US-Wahlen nicht immer hoch oben auf der politischen Agenda stehen. Spätestens nach Abschluss der Mueller-Untersuchung wird das Thema wohl langsam aber sicher an Bedeutung verlieren. Dies könnte die Einigkeit der Demokraten und Republikaner bezüglich der Russlandpolitik etwas abschwächen. Ob die Solidarität des Kongresses gegenüber dem Präsidenten erhalten bleibt, wird von Trumps künftigem Verhalten abhängen. Da es nicht zu erwarten ist, dass seine Linie kohärenter wird oder dass er dem Kongress generell entgegenkommt, könnte dieser Faktor relativ stabil bleiben. Wenn man davon ausgeht, dass sowohl Republikaner als auch Demokraten weiterhin an einer Verteidigung der Kompetenzen des Kongresses interessiert sind, wird der Ausgang der sogenannten Midterm-Wahlen im November auf die Lage wenig Auswirkung haben. Derjenige Faktor für die Beziehungen zwischen den USA und der Ukraine, der sich bereits am meisten verändert hat, ist die Zusammensetzung des TrumpTeams. Von den ursprünglichen drei Personen (Tillerson, Mattis, McMaster) ist lediglich noch eine vorhanden: der Verteidigungsminister James Mattis. Tillerson wurde im März 2018 durch Mike Pompeo ersetzt, und McMaster musste zur gleichen Zeit seine Position an John Bolton abgeben. Kurt Volker hat seine Position unter Pompeo behalten, aber es bleibt abzuwarten, ob seine Stellung im Außenministerium durch die Änderung an der Spitze schwächer wird. Eine grundlegend andere Linie als die bisherige ist von diesem erneuerten Team nicht zu erwarten, da sowohl Pompeo als auch Bolton eine harte Position gegenüber Russland vertreten. Wenn eine Änderung zu erwarten ist, dann eher in Richtung einer harscheren Russlandpolitik, zumindest nach früheren Aussagen von Bolton und Pompeo zu urteilen. Dennoch zeigen die Fluktuationen im Team die Volatilität, mit der in Bezug auf solche Stellenbesetzungen zu rechnen ist. Was das Potential für die Zusammenarbeit in den geschilderten Bereichen betrifft, ist deren Beibehaltung bzw. Ausbau wahrscheinlich. Eine Beibehaltung der Kooperation im Sicherheitsbereich erscheint für beide 18 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 Seiten sinnvoll und wünschenswert. Trotz der Fortschritte im Militärsektor braucht die Ukraine weiterhin Unterstützung, um der russischen Aggression effektiv zu begegnen. Und diese Unterstützung ist für die USA sowohl ein politisches Signal an Russland als auch ein wirtschaftlicher Vorteil, da man damit die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Ukraine von US-amerikanischen Rüstungssystemen immer abhängiger wird. Der Energiebereich kann sicherlich ausgebaut werden. Auch wenn es erhebliche Hindernisse gibt, was den Export von LNG an die Ukraine angeht, wird der Trend weg von russischem Gas vermutlich länger anhalten und dem US-amerikanischen Gasmarkt mittel- bis langfristig einige Chancen bieten. Der Kohle- sowie der Atomsektor können sogar kurzfristig ökonomische Möglichkeiten für US-amerikanische Firmen liefern. Allerdings werden fehlende Reformen in der Ukraine die Entwicklungen im Energiebereich wahrscheinlich verlangsamen. Insbesondere im Gassektor hat das ursprüngliche Reformtempo bereits erheblich nachgelassen. Bislang hat die ukrainische Führung dem Verhältnis zu den USA eine hohe Bedeutung zugeschrieben und sich entsprechend verhalten. Sowohl die Symbolik der Beziehung als auch die praktischen Ergebnisse genießen einen hohen Stellenwert bei ukrainischen Politikerinnen und Politikern. Dies wird sich in absehbarer Zukunft vermutlich nicht ändern. Allerdings könnte sich nächstes Jahr eine neue politische Situation ergeben, da sowohl Präsidentschafts- als auch Parlamentswahlen anstehen. Für die Parlamentswahlen, die für den Herbst vorgesehen sind, wird das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen, die im März durchgeführt werden, eine große Rolle spielen. Auch wenn die Kandidaten, denen momentan die besten Chancen zugeschrieben werden (dem jetzigen Präsidenten Poroschenko bzw. der Vorsitzenden der Vaterlandspartei Julia Timoschenko), im Prinzip für unterschiedliche Ansätze vis-à-vis Russland stehen könnten, ist es wenig wahrscheinlich, dass ein explizites Zugehen auf Russland in der heutigen politischen Lage möglich sein wird. Von daher bleibt eine starke Orientierung an den USA (und der EU) die wahrscheinlichste außenpolitische Option. In dieser Situation hängt die Entwicklung der Beziehungen mehr von der Haltung der USA als von der der Ukraine ab. Insgesamt gesehen deuten die oben analysierten Faktoren und Kooperationsbereiche eher auf einen nachhaltigen Ansatz der US-amerikanischen Politik gegenüber der Ukraine. Auch wenn Donald Trump sprunghaft bleibt und in der Grundtendenz zu einer Einigung mit Russland neigt, über die Köpfe der ukrainischen Partner hinweg, sprechen sowohl politische als auch einige wirtschaftliche Faktoren dagegen, dass es dazu kommen wird. Der größte Unsicherheitsfaktor bleibt das Team, das für die politischen Beziehungen zu Russland und der Ukraine zuständig ist, da sich dieses bereits in den ersten anderthalb Jahren der Trump-Präsidentschaft erheblich verändert hat. Weitere derartige Veränderungen hängen von Trump ab und könnten die bisher eher einheitliche Linie des Teams in Frage stellen. Auch Russlands Verhalten könnte einen Einfluss auf den Kurs des Teams ausüben. Allerdings ist eine wesentliche Änderung von Russlands Politik unter dem Putin-Regime unwahrscheinlich. Von daher wird die Überraschung, die sich in Trumps Amtszeit in Bezug auf Russland und die Ukraine eingestellt hat, vermutlich noch fortwähren. Dennoch deuten Trumps angebliche Äußerungen bei den G7-Gesprächen in Kanada – die Krim sei russisch, weil ihre Einwohner Russisch sprächen – auf eine mögliche Bedrohung der bisherigen US-amerikanischen Position hin. Insbesondere im Hinblick darauf, dass sich Putin und Trump am 16. Juli auf einem Gipfeltreffen in Helsinki begegnen werden, bleibt eine gewisse Unsicherheit bestehen. Über die Autorin: Dr. Susan Stewart ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sie arbeitet zur Innen- und Außenpolitik der Ukraine und Russlands und zur Östlichen Partnerschaft der EU. Lesetipps: • Susan Stewart: Die Beziehungen zwischen USA und Ukraine – besser als erwartet, SWP-Aktuell 17, Stiftung Wissenschaft und Politik, März 2018, <https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2018A17_stw.pdf> • Katherine Baughman: Ukraine’s Energy Security: How the U.S. Can Help, Center on Global Interests, February 16 2018, <http://globalinterests.org/2018/02/16/ukraines-energy-security-how-the-u-s-can-help/#footnote> • Mikhail Alexseev: Why Trump’s Bid to Improve U.S.-Russian Relations Backfired in Congress, PONARS Eurasia Policy Memo No. 507, Elliott School of International Affairs, The George Washington University, February 2018, <http://www.ponarseurasia.org/sites/default/files/policy-memos-pdf/Pepm507_Alexseev_Feb2018.pdf> 19 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 STATISTIK Ukraine und USA – Warenexport und -import Grafik 1: US-Warenexporte in die Ukraine im Jahr 2016 (in Mio. US-Dollar), Auswahl der meistexportierten Waren Fahrzeuge 176 16,0 % Mineralische Brennstoffe 210 19,1 % Maschinen 175 15,9 % Flugzeuge 91 8,3 % Eisen- und Stahlprodukte 55 5,0 % Übrige Warenkategorien 393 35,7 % Quelle: Office of the United States Trade Representative, <https://ustr.gov/countries-regions/europe-middle-east/russiaand-eurasia/ukraine> Grafik 2: US-Warenimporte aus der Ukraine im Jahr 2016 (in Mio. US-Dollar), Auswahl der meistimportierten Waren Eisen/Stahl 258 44,6 % Elektrische Maschinen 39 6,7 % Anorganische Chemikalien 27 4,7 % Eisen- und Stahlprodukte 27 4,7 % Milchprodukte/Eier/Honig 24 4,2 % Übrige Warenkategorien 203 35,1 % Quelle: Office of the United States Trade Representative, <https://ustr.gov/countries-regions/europe-middle-east/russiaand-eurasia/ukraine> 20 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 21 UMFR AGE Einstellung der ukrainischen Bevölkerung zu USA und NATO Grafik 1: Wie ist Ihre Einstellung zu folgenden Ländern*? (Auswahl, Juni 2017) Sehr positiv 0% 10 % Positiv 20 % Neutral 30 % Negativ 40 % 50 % Sehr negativ 60 % Schwer zu sagen 70 % 80 % 90 % 100 % 1% Polen 14 % Europäische Union 13 % 3% 35 % 44 % 5% 35 % 41 % 2% 3% 1% 1% Belarus 4% 3% 40 % 42 % 10 % 2% USA Russland 4% 15 % 26 % 7% 41 % 35 % 12 % 24 % 27 % 3% 3% * Dies ist der Wortlaut der Frage, obwohl neben der Einstellung zu Ländern auch die Einstellung zu einer Staatengemeinschaft, der Europäischen Union, abgefragt wurde. Quelle: Umfrage des Center for Insights in Survey Research (International Republican Institute) vom 9.6. bis 7.7.2017 in allen Regionen der Ukraine mit Ausnahme der Krim und der besetzten Gebiete im Donbass (2.400 Befrage), <http://www.iri.org/sites/default/ files/2017-8-22_ukraine_poll-four_oversamples.pdf> Grafik 2: Wenn es heute ein Referendum über einen möglichen NATO-Beitritt der Ukraine geben würde, wie würden Sie abstimmen? (Juni 2017) Gegen NATO-Beitritt 27 % Für NATO-Beitritt 40 % Würde nicht abstimmen 12 % Schwer zu sagen 22 % Quelle: Umfrage des Center for Insights in Survey Research (International Republican Institute) vom 9.6. bis 7.7.2017 in allen Regionen der Ukraine mit Ausnahme der Krim und der besetzten Gebiete im Donbass (2.400 Befrage), <http://www.iri.org/sites/default/ files/2017-8-22_ukraine_poll-four_oversamples.pdf> UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 ANALYSE Landminen in der Konfliktregion im Donbass: Gefahren und Perspektiven Von Elena Ostanina (IHS Markit, Berlin) Zusammenfassung In dem seit vier Jahren andauernden bewaffneten Konflikt zwischen der Ukraine und den von Russland unterstützten Milizen im Donbass wurden bereits etwa 10.000 Zivilisten getötet und 25.000 Zivilisten verletzt. Mindestens 1.833 von ihnen kamen bei Detonationen von Blindgängern oder Minen ums Leben oder wurden dabei verletzt. Zurzeit leben über zwei Millionen Zivilisten, unter ihnen 220.000 Kinder, in – oder in der Nähe von – Gebieten, die mit Blindgängern und/oder Antipersonenminen verseucht sind. Die Landminen befinden sich vor allem auf landwirtschaftlich genutzten Flächen, in an Straßen angrenzenden und in zivil genutzten Gebieten, ohne dass entsprechende Warnschilder angebracht wären. Obwohl die Konfliktparteien regelmäßig in begrenztem Umfang Minenräumaktionen durchführen, wird die Gesamtzahl der Minen wahrscheinlich nicht sinken, da ständig neue eingesetzt werden. Die ukrainische Gesetzgebung schafft außerdem zusätzliche bürokratische Hürden; sie schränkt die internationalen Organisationen bei Minenräumungen erheblich ein. Abkommen über das Verbot von Antipersonenminen Antipersonenminen sind vom Opfer ausgelöste Waffen, die, sobald einmal ausgelöst, zu schweren Verletzungen, vor allem zur Zertrümmerung der Gliedmaßen und zu Amputationen, führen. Trotz der ursprünglich vorgesehenen Hauptwirkung der Waffe – Verletzung, nicht Tötung, des militärischen Gegners, um zusätzliche logistische und medizinische Belastungen zu schaffen – sind bis zu 80 Prozent der Opfer von Antipersonenminen Zivilisten. Im Jemen wurden im Jahr 2016 2.037 Menschen und in Libyen weitere 1.610 Menschen durch die explosiven Hinterlassenschaften des Krieges verletzt, was bei den Opfern zu erheblichen gesellschaftlichen, psychischen und wirtschaftlichen Beeinträchtigungen führte. In erster Linie um Zivilisten zu schützen, wurde ab 1996 das Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung (auch: Ottawa-Konvention oder Mine Ban Treaty) entwickelt. Die freiwillige, rechtsverbindliche Ottawa-Konvention wurde seit 1997 von 164 Ländern ratifiziert und von einem weiteren Land unterzeichnet. Dieses Instrument war das erste seiner Art, das eine Waffe verbot, die auf der ganzen Welt weit verbreitet war. Das Dokument verbietet außerdem nicht nur eine bestimmte Waffenart, sondern sieht für Vertragsstaaten auch drei Hauptbedingungen vor, um einen übergreifenden Ansatz im Umgang mit vorhandenen Antipersonenminen sicherzustellen: • Verbot des Einsatzes, der Entwicklung, der Produktion, des Erwerbs, der Lagerung und der Weitergabe von Antipersonenminen • Vernichtung aller gelagerten Antipersonenminen spätestens vier Jahre nach Ratifizierung des Vertrags • Vernichtung aller Antipersonenminen in verminten Gebieten, die sich in der Zuständigkeit bzw. unter der Kontrolle des jeweiligen Vertragsstaats befinden, spätestens zehn Jahre nach Ratifizierung des Vertrags Die Ukraine hat den Mine Ban Treaty am 27. Dezember 2005 ratifiziert. Dieser trat am 1. Juni 2006 in Kraft und setzte somit eine Frist für die Minenvernichtung bis 2016. Die Ukraine erfüllte ihre internationalen Verpflichtungen jedoch nicht rechtzeitig, angeblich wegen der andauernden Kampfhandlungen, und verletzt zurzeit zwei Hauptartikel der Konvention zum Verbot von Antipersonenminen: • Artikel 4 über die Vernichtung der gelagerten Antipersonenminen: Die Ukraine ließ die vierjährige Frist zur vollständigen Vernichtung der Antipersonenminen verstreichen, bis 2018 blieben 4,9 Millionen Minen zur Vernichtung übrig. • Artikel 5 über die Vernichtung von Antipersonenminen in verminten Gebieten: Die Ukraine ließ die Frist am 1. Juni 2016 verstreichen, ohne ihre Verlängerung beantragt zu haben. Ausbruch des Konflikts Der militärische Konflikt im ukrainischen Teil des Donbass begann Anfang 2014, nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch die russischen Streitkräfte. In den Regionen Donezk und Luhansk, die sich beide im Donbass befinden, unterstützten lokale Separatisten, die Berichten zufolge finanziell und militärisch von Russland unterstützt wurden, nicht nur die Annexion, sondern sie versuchten auch, ein Szenario wie auf der Krim zu wiederholen, erklärten schon bald ihre Unabhängigkeit von der Ukraine und begannen eine militärische Konfrontation mit der ukrainischen Armee, mit starkem Einsatz von Luftkriegsmitteln, Raketen- 22 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 werfern und gepanzerten Kampffahrzeugen. Auf dem Höhepunkt des Konflikts nahmen Berichten zufolge bis zu 60.000 Angehörige der ukrainischen Armee und etwa 33.500 Milizsoldaten aus den Volksrepubliken Donezk (DNR) und Luhansk (LNR) gemeinsam mit bis zu 12.000 Angehörigen der russischen Armee am bewaffneten Konflikt in der Ostukraine teil. Während der aktiven Phase der Konfrontation verschob sich die Kontaktlinie zwischen den Kampfteilnehmern immer wieder, was zu einer starken Belastung des Gebiets mit verschiedensten Arten der Munition sowohl von der ukrainischen Armee als auch von den Separatisten führte. Die internationalen Friedensverhandlungen von Minsk im Jahr 2014 führten zu einem Ende der weitreichenden Militäreinsätze in der Konfliktregion im Donbass. Dennoch geht die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen den abtrünnigen Republiken Donezk und Luhansk (die jeweils ein Teilstück der namensgebenden Regionen Donezk und Luhansk darstellen) und dem ukrainischen Militär seitdem weiter, mit täglichen Schusswechseln und einer ständig wachsenden Zahl von getöteten und verletzten Personen auf beiden Seiten, einschließlich von Zivilisten. Belastung der Böden mit Antipersonenminen Im Jahr 2014 verlor die Ukraine die Kontrolle über etwa 45.000 Quadratkilometer Land (ein Gebiet, das größer ist als die Schweiz), das nach der Besetzung durch die Milizen als Volksrepublik Donezk und Volksrepublik Luhansk bezeichnet wurde. Die vielzähligen Versuche hauptsächlich der ukrainischen Armee, die Kontrolle über die Gebiete zurückzugewinnen, führten zu einer weiteren Zunahme der Belastung der Böden mit verschiedenen nicht explodierten Kampfmitteln (unexploded ordnances) und mit Minen, darunter Antipersonenminen. Das tatsächliche Ausmaß der Belastung der Konfliktregion im Donbass mit Antipersonenminen ist nicht genau zu bestimmen, zum Teil wegen der anhaltenden militärischen Auseinandersetzung. Selbst offizielle Stellen liefern sehr unterschiedliche Schätzungen. Im Jahr 2015 erklärte das Verteidigungsministerium, dass ein Gebiet von etwa 37.000 Quadratkilometern Größe mit nicht explodierten Kampfmitteln und Minen belastet sei, hauptsächlich an der 457 Kilometer langen Kontaktlinie zwischen der ukrainischen Armee und den bewaffneten Kräften der Volksrepubliken. 21.000 Quadratkilometer davon seien von der Regierung kontrollierte Gebiete, die restlichen 16.000 Quadratkilometer befänden sich in den besetzten Gebieten. Allerdings wurde die mögliche Belastung im Jahr 2018 neu berechnet, und das Verteidigungsministerium nahm jetzt an, dass ein kleinere Fläche – nämlich 7.000 Quadratkilometer in den von der Regierung kontrollierten Gebieten, und 9.000 Quadratkilometer in den besetzten Gebieten der Regionen Donezk und Luhansk sowie auf der von Russland annektierten Krim – potentiell mit nicht explodierten Hinterlassenschaften des Krieges belastet sei. Die Übernahme von Verantwortung beider Konfliktparteien für den Einsatz von Antipersonenminen ist unwahrscheinlich, teilweise ebenfalls wegen der anhaltenden militärischen Auseinandersetzung. Offiziell hat die Ukraine im Jahr 2005 den Mine Ban Treaty unterzeichnet, der sowohl den Einsatz als auch die Produktion, den Erwerb, die Lagerung und die Weitergabe von Antipersonenminen verbietet. Die aktuelle ukrainische Regierung streitet den Einsatz von Antipersonenminen in der Konfliktregion im Donbass ab und wirft den DNR- und LNR-Milizen vor, Minen zu verlegen. Eine Reihe von internationalen NGOs hat derartige Behauptungen bestätigt (der Landmine Monitor aus dem Jahr 2017 schreibt den Einsatz von Antipersonenminen auf ukrainischer Seite nur nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen zu); das widerspricht jedoch den Angaben des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte. Im Jahr 2016 hatte das UN-Büro berichtet, dass sowohl die ukrainischen Streitkräfte als auch die Separatisten Landminen, darunter Antipersonenminen, verlegt hätten. Die OSZE-Sonderbeobachtermission (SMM) sagt in inoffiziellen Gesprächen ebenfalls, dass alle Konfliktparteien weiter Minen entlang der Kontaktlinie verlegen würden, angeblich um groß angelegte Offensiven vorzubereiten. Um mögliche Explosionen und rechtliche Konsequenzen zu verhindern, entfernen beide Parteien Berichten zufolge sogar regelmäßig Minen aus den verminten Gebieten, um die OSZE-Sonderbeobachtermission für ihre Patrouille passieren zu lassen, nur um die Minen danach wieder zu verlegen, sobald die Patrouille beendet ist. Karten mit großem Maßstab, in denen die genaue Lage der Minen, ihre Anzahl und ihre Art angegeben sind, existieren jedoch nicht. Laut dem stellvertretenden Gouverneur der Region Donezk Wilinsky, haben die einzelnen Einheiten der Separatisten, die eine große Anzahl an Minen eingesetzt haben, häufig im Geheimen operiert, was regelmäßig zu Detonationen und so zu Opfern unter den Milizsoldaten führte. Die ukrainische Armee hat ebenfalls zahlreiche ihrer Einsätze in der Region für geheim erklärt. Die Situation hat sich durch starke Verschiebungen der Kontaktlinie und durch die ständige Bewegung der Oberflächenschichten durch Regen, Grundwasser und Schneeschmelzen zusätzlich verschlechtert. Schätzungen zufolge sind die am stärksten belasteten Gebiete zurzeit landwirtschaftlich genutzte Flächen, zivil genutzte und an Straßen 23 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 angrenzende Gebiete, einschließlich derjenigen in der Nähe von Grenzübergängen. In der Nähe von Marinka in der Region Donezk fuhr im Jahr 2016 ein Minibus beim Versuch, am Straßenrand einen Stau zu umfahren, auf eine Mine auf, die explodierte und vier Menschen tötete. Es gab dort keine Minenwarnschilder, wie nach wie vor in den meisten der betroffenen Gebiete. Alle Antipersonenminen, die Berichten zufolge in der Konfliktregion im Donbass eingesetzt wurden, stammen aus der Sowjetunion oder Russland. Die Ukraine findet und beschlagnahmt regelmäßig Minen der folgenden in der Sowjetunion hergestellten Modelle: MON-Minen mit Richtwirkung und Splittermunition, OZM-Springminen mit Splitterwirkung, PMN-Sprengminen und fernverlegbare POM-Minen. Im Gegensatz zur Ukraine hat Russland die Konvention zum Verbot von Antipersonenminen von 1997 nicht unterzeichnet und besitzt Berichten zufolge immer noch 26,5 Millionen Antipersonenminen. Außerdem schickt das russische Katastrophenschutzministerium regelmäßig humanitäre Hilfskonvois in die besetzten Gebiete von Donezk und Luhansk, ohne dass internationale Beobachter sie kontrollieren dürfen. Am 24. Mai 2018 drang der 77. russische Konvoi, der aus über 40 Lastwagen mit 400 Tonnen Ladung – unter anderem angeblich Babynahrung und Hilfsgüter – bestand, in die von den Separatisten besetzten Gebiete ein. Im Februar 2018 erfolgte ein ähnlich umfangreicher, als humanitäre Lieferung bezeichneter russischer Transport in die besetzten Gebiete. Dieses Mal versuchten OSZE-Sonderbeobachter, beim Entladen von zehn Lastwagen des Konvois, die in ein umzäuntes Gelände am Rande von Luhansk einfuhren, dabei zu sein. Die Patrouille der OSZESonderbeobachtermission wurde jedoch von bewaffneten Milizsoldaten, die ihnen die Einfahrt verwehrten, aufgehalten. Herausforderungen bei der Minenräumung Selbst niedrigsten Schätzungen zufolge sind mindestens 16.000 Quadratkilometer der Konfliktregion im ukrainischen Donbass mit Antipersonenminen belastet. Bis heute haben 50 Minenräumeinheiten bzw. 300 Minenräumer – Vertreter der ukrainischen Armee und der internationalen Minenräumorganisationen – nur 260 Quadratkilometer (3,7 Prozent aller potentiell gefährlichen von der Regierung kontrollierten Gebiete) untersucht und über 340.000 Blindgänger und Landminen gefunden und entschärft. Die meisten Minenräumungen wurden jedoch entlang der Kontaktlinie zwischen den beiden sich bekämpfenden Parteien durchgeführt, besonders in der Nähe von Infrastruktureinrichtungen wie Wasser- und Gasleitungen, Stromübertragungsleitungen, Eisenbahnstrecken und so weiter. Die meisten Landwirtschaftsflächen, auf denen Antipersonenminen verlegt wurden und die jetzt von Anwohnern für landwirtschaftliche Zwecke genutzt werden, wurden dabei außer Acht gelassen. Trotz regelmäßiger Explosion von Überbleibseln des Krieges auf landwirtschaftlichen Flächen (die OSZE-Sonderbeobachtermission hat im April 2018 mindestens drei solcher Explosionen vermeldet), beharren die Anwohner darauf, mit Minen belastete Grundstücke weiter zu bewirtschaften. Um weitreichende Minenräumarbeiten unter Beteiligung internationaler und supranationaler Organisationen in die Wege zu leiten, müsste die ukrainische Seite folgende Herausforderungen bewältigen: • den hohen finanziellen Aufwand; die Kosten für die Entfernung einer Antipersonenmine liegen zwischen 300 und 1.000 Euro, je nach Gelände, Zugänglichkeit, Belastung des Bodens mit Industriemüll usw. Das ukrainische Verteidigungsministerium schätzt die erforderlichen Mittel grob auf über 650 Millionen Euro (die Berechnung basiert auf der Höhe der eingesetzten Mittel für die Minenräumprogramme in Kroatien). Da die Ukraine eine solche Summe für die Minenräumung im Donbass wahrscheinlich nicht aufbringen wird, haben bereits mehrere ausländische Regierungen und supranationale Organisationen wie die NATO, die EU, die OSZE und die UNO ihre Bereitschaft erklärt, Minenräumaktivitäten zu finanzieren. Allerdings ist die finanzielle Unterstützung teilweise unvereinbar mit lokalen Gesetzen. • Schaffung von Rechtsvorschriften; zurzeit gibt es keine offizielle Stelle, die für alle Minenräumaktivitäten in der Konfliktregion im Donbass verantwortlich ist. Das ukrainische Verteidigungsministerium ist verantwortlich für die Minenräumung in der fünf Kilometer breiten Pufferzone zwischen der Kontaktlinie und den von der Regierung kontrollierten Gebieten. Das restliche Gebiet fällt in den Zuständigkeitsbereich des staatlichen Notdiensts. Aufgrund der Beschränkungen durch die aktuelle ukrainische Gesetzgebung, insbesondere aufgrund fehlender Genehmigungsverfahren für die Lagerung und den Transport von Minen durch internationale nichtstaatliche Akteure, sind den minenbezogenen Aktivitäten der internationalen Organisationen strenge Grenzen gesetzt. Drei internationale Minenräumorganisationen, die zurzeit in der Ukraine arbeiten – die Fondation Suisse de Déminage (FSD), die Danish Demining Group (DDG) und der britische Hazardous Area Life-support Organization Trust (HALO Trust) –, dürfen die potentiell belasteten Gebiete offiziell nur untersuchen. Bei der Entdeckung eines Blindgängers oder 24 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 • einer Mine müssen sie für die Entschärfung des Sprengkörpers den staatlichen Notdienst rufen. Das Parlament hat mit der Ausarbeitung der nationalen Rechtsvorschriften zur Minenräumung in der Ukraine begonnen und sollte im Januar 2018 einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Die Fertigstellung wurde jedoch verschoben, da Berichten zufolge noch mehrere wichtige Bestimmungen diskutiert wurden, wie die Besteuerung der Ausrüstung für die Minenräumung. Es gibt keine Garantie für Sicherheit. Die Ukraine beschuldigte die Milizen aus den Volksrepubliken Donezk und Luhansk gelegentlich, Sabotage zu begehen und neue Minen in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten zu verlegen. In der Nähe von Talakiwka in der Region Donezk fuhr am 15. November 2017 ein Polizeifahrzeug auf eine Landmine auf. Diese detonierte, tötete einen Polizisten und verletzte zwei weitere Polizisten. Dieselbe Straße war Berichten zufolge am Tag zuvor von der Polizei bzw. der Armee genutzt worden, ohne dass es zu Zwischenfällen gekommen war. Fazit Der seit vier Jahren andauernde bewaffnete Konflikt in der Konfliktregion im Donbass verringert die Wahrscheinlichkeit von Minenräumeinsätzen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten auf mittlere Sicht (in den kommenden drei bis fünf Jahren) beträchtlich. Die täglichen Kämpfe führen fast täglich zu verwundeten und regelmäßig zu getöteten Militärangehörigen; daher wird die Situation von der Regierung wahrscheinlich zur zeitlichen Verschiebung der Minenräumung genutzt werden. Die Regierung kann jedoch bereits jetzt einige Maßnahmen ergreifen, um die Umsetzung derartiger Programme in Zukunft zu erleichtern und um ihre finanzielle Unterstützung sicherzustellen. Die Erarbeitung von Rechtsvorschriften, welche die bürokratischen Hürden für internationale und supranationale Organisationen, an Minenräumprogrammen teilzunehmen, beseitigen, ist einer der wichtigsten Schritte. Dieser kann und sollte selbst während der laufenden bewaffneten Auseinandersetzung unternommen werden. Auch wenn es wahrscheinlich nicht innerhalb eines Jahres zu diesen Veränderungen kommen wird – es gibt eine Reihe von Gründen, warum die Veränderungen sehnlichst erwartet werden: 1. Mindestens zwei Millionen Zivilisten, unter ihnen 220.000 Kinder, leben zurzeit in oder in der Nähe von Gebieten, die mit Blindgängern und Landminen verseucht sind. Aus diesem Grund sollten sich die Minenräumarbeiten in erster Linie auf öffentlich genutzte Gebiete – wie Dörfer, landwirtschaftliche Flächen und an Straßen und Grenzübergänge angrenzende Gebiete entlang der Kontaktlinie – konzentrieren. 2. Belastete Gebiete könnten für die regionale wirtschaftliche Entwicklung genutzt werden, zum Beispiel im Bereich Landwirtschaft. Im Jahr 2017 hat die Landwirtschaft über 40 Prozent der ukrainischen Exporte geliefert und 14 Prozent des Bruttoinlandprodukts ausgemacht. Über fünf Prozent aller Arbeitskräfte waren in der Landwirtschaft beschäftigt. Außerdem stellen laut dem ukrainischen Parlament private Haushalte durch Lebensmittelanbau und -produktion die Versorgung des Landes mit Milchprodukten zu über 75 Prozent, mit Fleischerzeugnissen zu 40 Prozent und mit Eiern zu etwa 40 Prozent sicher. Wenn Grundstücke entmint werden, können die Anwohner sie für Selbstversorgung nutzen, was in einem Land mit einem Mindestlohn von etwa 100 Euro von großer Bedeutung ist, insbesondere in den Regionen, die in der Nähe des bewaffneten Konfliktes liegen. 3. Ein frühzeitiger Beginn der Minenräumaktivitäten kann sowohl die finanzielle Unterstützung von internationalen und supranationalen Organisationen gewährleisten als auch den Zugang zu den explosiven Hinterlassenschaften des bewaffneten Konflikts und eine gesicherte Entminung der Gebiete erleichtern. Übersetzung aus dem Englischen: Katharina Hinz Über die Autorin: Elena Ostanina ist External Political and Security Analyst bei IHS Markit. Ostanina erstellt Analysen zu Politik und Sicherheitsrisiken in Russland, der Ukraine, Aserbaidschan, Armenien und Belarus. Lesetipps: • Convention on the Prohibition of the Use, Stockpiling, Production and Transfer of Anti-Personnel Mines and on the Destruction, <http://www.un.org/Depts/mine/UNDocs/ban_trty.htm> 25 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 • • • • • 26 Monitoring and Research Committee, ICBL-CMC Governance Board (Danish Demining Group, Handicap International, Human Rights Watch, Mines Action Canada, research team leaders, ICBL-CMC staff experts): Landmine Monitor 2017, <https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Landmine_Monitor_2017_Embargoed.pdf> Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine 16 February to 15 May 2016, <http://www.ohchr.org/Documents/Countries/UA/Ukraine_14th_ HRMMU_Report.pdf> United Nations Ukraine: 2 million Ukrainians are affected by landmines in Ukraine’s eastern conflict regions, <http://www.un.org.ua/en/information-centre/news/4317-2-million-ukrainians-are-affected-by-landmines-inukraine-s-eastern-conflict-regions> Human Rights Watch: Landmines in Ukraine: Technical Briefing Note, April 2015, <https://reliefweb.int/sites/ reliefweb.int/files/resources/LM_Landmines%20in%20Ukraine-Technical%20Briefing%20Note_6April2015_ final.pdf> Mine Actions Review (MAG, Norwegian People’s Aid, HALO Trust): Clearing the Mines 2017, <http://www. mineactionreview.org/assets/downloads/Clearing-the-Mines-2017.pdf> GR AFIK ZUM TEX T Opfer von Minen und Blindgängern im Donbass Grafik 1: Zivile Opfer von Minen und Blindgängern in den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten im Donbass (2014–2017) Getötete oder verletzte Kinder 0 100 200 300 400 Getötete oder verletzte Erwachsene 500 600 700 800 900 26 2014 901 14 2015 628 13 2016 127 11 2017 113 Insgesamt: 1.833 getötete oder verletzte Personen Quelle: UNICEF Ukraine, <https://twitter.com/UNICEF_ECA/status/981461629622767616> 1000 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 DOKUMENTATION Menschenrechtssituation in den »Volksrepubliken« im Donbass Zur Dokumentation der Menschenrechtssituation in den selbsternannten »Volksrepubliken Donezk und Luhansk« veröffentlichen die Ukraine-Analysen hier den Newsletter Review of Human Rights Violations in Occupied Donetsk and Luhansk Regions der ukrainischen NGO VOSTOK-SOS (press@vostok-sos.org). Der Newsletter ist im Internet unter <http://www.civicmonitoring.org/wp-content/uploads/2018/06/HR_ May_2018_En.pdf> abrufbar. Er wird im Rahmen eines Kooperationsprojektes mit dem Deutsch-Russischen Austausch (DRA e. V.) ermöglicht und vom Auswärtigen Amt gefördert. Bei den im Newsletter vertretenen Ansichten handelt es sich nicht um die offizielle Position des Auswärtigen Amtes. Wir danken VOSTOK-SOS und dem DRA für die Erlaubnis zum Nachdruck. Die Redaktion der Ukraine-Analysen Review of Human Rights Violations in Occupied Donetsk and Luhansk Regions MAY, 2018 In May, 2018, the new facts of human rights violations were identified in certain districts of Luhansk and Donetsk regions, controlled by the armed groups of so-called “LPR” and “DPR”: illegal detentions, restrictions of freedom of movement of civilians, obstruction of the activities of international organizations, involvement of schoolchildren into the events with propagandistic aims, coercion of the residents of so-called “LPR and DPR” to join “civil society organizations”, development of parallel legal system and violation of property rights. Unfortunately, all these human rights violations have become a “norm” for residents of the territories of so-called “people’s republics”. 1. Illegal arrests, detentions and restriction of freedom of movement The occupation government of the Russian Federation in the occupied Luhansk and Donetsk regions limits the freedom of movement via so-called “curfew” at night time. At the same time, raids are periodically conducted to identify “offenders”. Thus, during the nights of May 25th–27th, the so-called “police” of the occupation administration detained 373 people for violating the curfew during the “Night city” police operation. On May 3, 2018, it was reported by the occupation administration of the Russian Federation in the occupied Donetsk region that Viktor Mykolayovych Dzytsyuk, a citizen of Ukraine, born in 1988, was detained “on suspicion of spying in favour of the Ukrainian special services”. It is reported that the detainee allegedly carried the explosives into the territory of the so-called “DPR” and “collected, analysed and passed data, that undermine the security of DPR, to Ukrainian special services, and took part in organization of terrorist attacks in the territory of the DPR”. The detainee faces a penalty from 12 to 20 years of imprisonment. On May 3, 2018, Semen Kuzmenko, the “Minister of Transport of the DPR” in the occupation administration of the Russian Federation in the occupied Donetsk region in 2014–2016, was detained by employees of the so-called “Ministry of Revenue and Dues” in the yard of his house. As he informed on his Facebook page, he was released a day after. On May 5, 2018, an inhabitant of Luhansk was detained by the agents of the so-called “Ministry of State Security (MSS) of LPR” on the “Stanytsia-Luhanska” entry-exit checkpoint with a large party of amphetamine allegedly obtained from the Ukrainian secret services in Kyiv. The name of the detainee is not specified. On May 17, 2018, it was reported by a local inhabitant that the occupation administration of the Russian Federation in the occupied Luhansk region forbade the employees of the so-called “district state administrations” and “city councils” to leave the territory of the “LPR”. The ban concerns the area over the control of Ukraine, as well as trips to Russia. On May 28, 2018, two teenagers were detained by the so-called “patrol of MIA of the LPR” in the territory of the occupied Luhansk region, controlled by the Russian occupation administration—in Luhansk near the “Okolitsya” market. It was stated in “vKontakte” social network, that the children had Ukrainian state symbols. The teenagers were sent over to the staff of the so-called “MSS of LPR”. 2. Development of parallel legal system, advocacy, notary, courts Russian occupation administrations and controlled media continue to inform local residents of the occupied areas of Donetsk and Luhansk regions, as well as the world public, about the “state bodies” activities and the results of such “work”. It should be noted that this activity has no legal basis and the main aim is to demonstrate the so-called “sovereignity” of the “republics”. 27 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 In these areas, the newly created so-called “Ukrainian People’s Tribunal for the Investigation of Poroshenko Regime War Crimes Against the Citizens of Ukraine” (“UPT”) continued its activity in May. On May 21, 2018, Sergei Kozhemyakin, the “prosecutor”, demanded “life imprisonment for the president of Ukraine and his accomplices for crimes against the people of Donbass” at a meeting of the so-called “UPT”.The so-called “Council of Ministers of the LPR” and the MPs of the “People’s Council of the LPR” reported their activities in May. On May 5, 2018, two laws were adopted by the “MPs” of the so-called “People’s Council of the LPR”: “On Amendment to Certain Legislative Acts of the Luhansk People’s Republic” on the termless appointment of judges and the extension of group of possible applicants for this post and “On Export Customs Duty”. On May 15, 2018, the so-called “Council of Ministers of the LPR” amended the resolution “On Approval of Rules for Market Trade”. On May 25, 2018, the so-called “Council of Ministers of the DPR” adopted a resolution “On Amendments to the Temporary Provisional Procedure for Providing the Land Plots on the Territory of Donetsk People’s Republic for Permanent Usage and Rent, approved by Resolution of the Council of Ministers of the Donetsk People’s Republic of September 2, 2015 No17-15” of November 6, 2017 No14-61. On May 29, 2018, the “presentation of a license to international transportation of dangerous goods to the State Innovation Company” took place in the so-called “Ministry of Transport of the DPR”. 3. Coercion for membership in “civil society” organizations and participation in “patriotic” and “social” actions of “LNR” and “DNR”. Involvement of children in propaganda Military-patriotic propaganda and involvement in participation in “civil society” organization are actively spread among children, adolescents and youth on occupied areas of Donetsk and Luhansk regions, controlled by the Russian Federation’s occupation administrations. The employees of budget enterprises and enterprises with so-called “external management” are actively enlisted in “civil society” organizations. Children of school and preschool age in the military uniform of the Red Army of 1941–1945 and modern periods were involved in the events during the celebration of the USSR victory in the Great Patriotic War on areas under control of the Russian occupation administration in the occupied Luhansk and Donetsk regions. Such an events took place on May 7, 2018, in Perevalsk, near the “Sorrowful Mother” monument, and during the concert and the so-called “Immortal Regiment” march on May 9, 2018, in Luhansk. Children are actively involved in sport “military-patriotic” games. Thus, more than 150 schoolchildren of Bryanka schools took part in “Zarnitsa-2018” city military sport game in the middle of May. The “Victory” two-day military sport game started in Stakhanov on May 17, 2018. The dangerous items are available for children and cause injuries and deaths due to uncontrolled import of weapons and ammunition into the territory controlled by the Russian occupation authorities of the occupied Luhansk and Donetsk regions. Thus, on May 22, 2018, the No1 bus exploded on Kurchatov street in Debaltseve. One person was killed and two were wounded. A fourteener was carrying a grenade in his backpack, which fell out and exploded on the bus, according to local inhabitants. On May 25, 2018, an RGD-5 grenade was found in a garbage dump by two teenagers, 12 and 11 years old, in Horlivka. The children pulled a grenade pin while playing. After the specific sound, they realized that it will explode, threw it aside and lay down. The children are alive. The splinter was removed from the cheek of one of the teenagers, the boy is on the out-patient treatment. The second child is in the hospital, he has splinter wounds of the back and sacrolumbal spine. 4. Violation of property rights In May 2018, the process of so-called “nationalization” of enterprises that had previously operated under the jurisdiction of Ukraine or belonged to the citizens of Ukraine, who live in the territory controlled by Ukraine since the beginning of the conflict, continued in the territories of “LPR”. The process of “searching for the owners” is widespread. In May 2018, 11 announcements on the search of real and personal property owners was posted by he so-called “state revenue committee” of “LPR”. It should be noted that applications from owners are accepted within 60 days from the date of the announcement. Otherwise, the enterprises will pass under the control of the “republic”. Quelle: <http://www.civicmonitoring.org/wp-content/uploads/2018/06/HR_May_2018_En.pdf> 28 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 DEKODER Sie waren dort Von Irina Tumakowa (Nowaja Gaseta) Der folgende Beitrag der russischen Journalistin Irina Tumakowa erschien ursprünglich am 25.06.2018 in der Zeitung Nowaja Gaseta und wurde von dekoder ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht. Einleitung von dekoder Im August 2014 hat die Beerdigung mehrerer Soldaten in Pskow für mediales Aufsehen gesorgt: Die Lokalzeitung Pskowskaja Gubernija, die damals von dem dortigen oppositionellen Politiker Lew Schlossberg herausgegeben wurde, berichtete über das Begräbnis zweier Soldaten der Luftlandetruppen. Sie seien in der Ostukraine ums Leben gekommen. Die 76. Gardedivision der russischen Luftlandetruppen ist in Pskow stationiert, sie gilt als Eliteeinheit. Ein Major der Einheit, Vater eines Getöteten, behauptete damals, sein Sohn sei im Kampf bei Luhansk ums Leben gekommen. Auf Anfrage von Lew Schlossberg antwortete die Obermilitärstaatsanwaltschaft schlicht, die Soldaten seien außerhalb des Dienstortes, also außerhalb der Oblast Pskow, ums Leben gekommen. Im Weiteren sollen Verwandte der Getöteten laut unterschiedlichen Medienberichten eingeschüchtert worden sein, einzelne hätten bereits gemachte Aussagen wieder zurückgezogen. Lew Schlossberg wurde nur vier Tage nach der Veröffentlichung in der Pskowskaja Gubernija brutal zusammengeschlagen, erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma. Vier Jahre später hat Irina Tumakowa von der Nowaja Gaseta die Gräber nun noch einmal besucht. Und nicht schlecht gestaunt. Die sprechenden Grabsteine Der Friedhof im Dorf Wybuty bei Pskow hat sich verändert. Im August 2014 war ich öfter dort. Damals fielen einem die frischen namenlosen Gräber ins Auge, als lägen sie jenseits der Friedhofsmauern (so werden Selbstmörder bestattet). Wortkarge Menschen in Camouflage und blauen Baretts nahmen auf Befehl des Kommandeurs die Schilder mit Namen und Daten von den Kreuzen und rissen die Schleifen von den Kränzen [die zum Teil mit Kondolenzbekundungen der Luftlandetruppen beschriftet waren – Anmerkung der Redaktion]. Damit niemand darauf kommt, dass sie unter diesen Sandhügeln heimlich ihre Regimentskameraden begraben. »Wir sind da nicht.« Und Punkt. »In unserer Fallschirmjägerbrigade sind alle wohlauf und am Leben«, bestätigte der Kommandierende der Luftlandetruppen und heutige Duma-Abgeordnete General Wladimir Schamanow. Die Fallschirmjäger knirschten mit den Zähnen, tranken Wodka, aßen dazu Weißbrot und Tomaten, aber führten den Befehl aus – gruben, rissen die Schleifen ab und versteckten die »gesunden und munteren« erschossenen Freunde. »Wir waren alle fest davon überzeugt gewesen, dass die Fallschirmjäger auf dem großen Friedhof in Orlezy feierlich bestattet würden«, erinnert sich der Korrespondent der Pskowskaja Gubernija Alexej Semjonow. »Dort gibt es eine Allee der Fallschirmjäger, in der die Angehörigen der berühmten 6. Kompanie [die im Tschetsche- nienkrieg gekämpft hatte – Anmerkung der Redaktion] begraben wurden. Aber wir bekamen heraus, dass die Bestattung nicht dort stattfinden würde.« Als würde niemand mehr irgendwas verstecken Nun sind fast vier Jahre vergangen, und ich komme wieder auf den Friedhof in Wybuty. An Stelle der einstigen Sandhügel und namenlosen Kreuze stehen monumentale Stelen aus schwarzem Granit mit schwülstiger Gravur: Namen, Daten, Portraits in Lebensgröße, Gedichte, Fallschirmjägersymbolik. Als würde niemand mehr irgendwas verstecken. Das größte Denkmal steht auf dem Grab von Leonid Kitschatkin. Die Familie Kitschatkin hätte ein Symbol für den Wahnsinn werden können, den die Regierung vor vier Jahren um den Tod der Fallschirmjäger gestartet hat. Und den Alptraum, den ihre Familien durchleben mussten. Von der Beerdigung ihres Mannes schrieb Oxana Kitschatkina damals auf ihrer Social-Media-Profilseite. Sie nannte das Datum, den Ort und ihre Telefonnummer. Den Post machte sie am 23. August 2014. Und schon am nächsten Tag antwortete mir unter Oxanas Nummer eine laut lachende Frauenstimme: »Leonid Juritsch lebt, neben mir sitzt er und trinkt Kaffee. Zum Mittag gibt’s Buletten mit Kartoffelpüree. Wir feiern die Taufe unserer Tochter. Meine Seite wurde gehackt.« Ohne aufzuhören fröhlich zu lachen, gab »Oxana« den Hörer freudig weiter an »ihren Mann«. Eine nicht 29 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 mehr ganz nüchterne Männerstimme bestätigte, ja er sei Ljonja Kitschatkin, gesund und munter und am Leben … Zwei Tage später stand ich auf dem Friedhof in Wybuty, wo sie noch nicht geschafft hatten, die Schilder zu entfernen, und schaute auf das Todesdatum von Kitschatkin: der 20. August. Oxana Kitschatkina hat in den letzten vier Jahren ihre Telefonnummer nicht geändert. Nur antwortete mir jetzt eine völlig andere Stimme. Tief, leicht brüchig. »Rufen Sie mich bitte nicht mehr an, ich möchte nicht mehr darüber sprechen«, sagte Oxana langsam und legte auf. Sie hat vor vier Jahren nicht gelogen oder sich verstellt. Da haben ihr einfach Leute das Telefon abgenommen, damit statt der Witwe eine kreuzfidele Frau mit ihrem betrunkenen Mann den Anruf entgegennehmen konnte. Laut der Pskower Abteilung für Kriegsopfer wurde der Grabstein, der inzwischen auf dem Grab ihres Mannes steht, vom Verteidigungsministerium bezahlt. Erstattet werden den Familien ehemaliger Soldaten gewöhnlich nicht mehr als 32.000 Rubel [etwa 450 Euro – Anmerkung der Redaktion], doch eine solche Riesenwand mit Gravuren von beiden Seiten kostet laut den Mitarbeitern des Bestattungsinstituts ungefähr 100.000 Rubel [etwa 1360 Euro – Anmerkung der Redaktion]. Aber eines bestätigt die Beteiligung des Verteidigungsministeriums indirekt auf jeden Fall: Leonid Kitschatkin, gefallen im August 2014, ist von der Behörde als »einer von ihnen« anerkannt. Denn Versorgungsgelder stehen nur Veteranen mit 20-jähriger Berufszugehörigkeit und Teilnehmern an Kampfhandlungen zu. Kitschatkin ist 1984 geboren. An welchen Kampfhandlungen er auf Befehl des Vaterlandes teilnehmen konnte, das kann man nur raten. Ein Himmel mit Fallschirmen Auch auf den Gräbern von Alexander Ossipow und Sergej Wolkow, die in Wybuty neben Leonid Kitschatkin begraben liegen, stehen keine namenlosen Kreuze mehr, sondern Grabsteine aus Granit. Mit Portraits, auf denen akkurat ihre Dienstabzeichen eingraviert sind. Ossipows Todesdatum ist das gleiche wie Kitschatkins: der 20. August 2014. Er war 20 Jahre alt. Auf dem Porträt ist er ebenfalls in Fallschirmjägeruniform vor einem Himmel mit Fallschirmen. Auf einem Steinbrocken liegt das blaue Barett. An welchen Kampfhandlungen, wenn nicht im Donbass, hätte dieser Junge beteiligt sein können, sodass seine Familie eine Entschädigung vom Verteidigungsministerium erhielt? Sowohl in Wybuty als auch auf dem KrestowskiFriedhof sind inzwischen neue Soldatengräber aufgetaucht: Wsewolod Smirnow starb im Dezember 2016, er war 26 Jahre alt. Auf dem Foto ist er in Camouflage vor einem dunkelblauen Meer. Und was ist im Januar 2017 mit Wladimir Stezenko passiert? Es gibt vorerst nur ein Foto des Soldaten, in einer Klarsichthülle und mit blauen Reißzwecken an ein Holzkreuz gepinnt. Auf einem dritten Kreuz ist die Aufschrift zur Hälfte verblichen, auch wenn diese ganz frisch ist: »Grigorow Nikolaj Michailowitsch, 10.01.1985–06.03.2018«. Und wieder ein Foto des Fallschirmjägers, oben drauf wieder ein blaues Barett. Wo sind Pskower Fallschirmjäger im März diesen Jahres umgekommen? Wo sind Pskower Fallschirmjäger im März diesen Jahres umgekommen? Am Grab lehnen Kränze mit Wappen, Sternen und schwarzen Bändern. Auf einem steht: »Fähnrich Grigorow Nikolaj Michailowitsch, heldenhaft gestorben beim Flugzeugunglück vom 6. März 2018«. An diesem Tag stürzte der Frachter An-26 über der russischen Militärbasis in Hmeimim in Syrien ab. 39 Menschen kamen ums Leben. Doch im August 2015 gab es noch keine russischen Soldaten in Syrien. Jedenfalls offiziell nicht. Auf dem Grab von Roman Michailow [Todesdatum 15.08.2015 – Anmerkung der Redaktion] ist ein Gedicht eingraviert: »Du starbst für die Heimat, darum bist du ein Held. Wir lieben dich, gedenken deiner und sind stolz auf dich.« Im Forum für Einberufene findet sich Michailow als Befehlshaber des zweiten Sturmlandungsbataillons der Luftlandetruppen. Er war 38 Jahre alt. Tod unter falschem Namen Leonid Kitschatkin, Sergej Wolkow, Alexander Ossipow, Wassili Gerassimtschuk und andere Soldaten, die im August/September 2014 gestorben sind, konnten posthume Militärehrungen erhalten und ihre Familien zumindest irgendwelche Entschädigungen vom Verteidigungsministerium. Aber über die, die danach im Donbass umgekommen sind, können wir gar nichts in Erfahrung bringen. Ihre Angehörigen erhalten selbst die »Beerdigungs«-Summe von 32.000 Rubel [etwa 450 Euro – Anmerkung der Redaktion] nicht. Ab Herbst 2014 änderte die Regierung ihre Taktik: Aus offiziellen Militärangehörigen wurden sogenannte DNR- und LNR-Streitkräfte und Kosakeneinheiten gebildet, die Noworossija verteidigten. Russland ist diesen Menschen und ihren Familien nichts schuldig, formal sind sie Freiwillige und unterstehen nicht dem Verteidigungsministerium. 30 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 Der Jabloko-Abgeordnete Lew Schlossberg ist fast der Einzige in dieser militärpatriotischen Stadt, der versucht, für die Rechte der Familien von Verstorbenen einzutreten. »Die Verträge mit militärischem Personal wurden auf unterschiedliche Weise, entweder bei Ablauf ihrer Laufzeit oder vorfristig ausgesetzt«, erzählt Lew Schlossberg. »Das war alles gesetzeskonform. Aber im Weiteren überschritten die Militärs gleichzeitig die Landes- und die Gesetzesgrenzen und begannen, sich an Kampfhandlungen außerhalb der Russischen Föderation zu beteiligen. Das heißt, sie verübten ein Verbrechen, das nach dem Strafrechtsparagraphen zum Söldnerdienst geahndet wird.« Um mehr Sicherheit und Geheimhaltung zu erreichen, mussten die Identitäten dieser Soldaten geschreddert werden. Identitäten geschreddert »Verträge wurden unter Pseudonymen geschlossen, die Namen dieser Menschen waren fiktiv«, erklärt Schlossberg. »Der einzige materielle Beweis der Identität des Menschen war seine Erkennungsmarke. Der echte Name des Menschen, der mit der Erkennungsmarke verbunden ist – das ist Verschlusssache, die sich in den Händen der wirklichen Truppenführung befindet. Das heißt, dieser Mensch hat eine Erkennungsmarke und zwei Namen: einen echten und einen fiktiven.« Unter den fiktiven Namen ließen sich diese Menschen in Militärkrankenhäusern behandeln, sowohl in Sankt Petersburg als auch in Rostow am Don. Wenn sich jemand plötzlich für die Verzeichnisse von den Militärangehörigen interessierte, die in Behandlung waren in konkreten Militärkrankenhäusern, dann findet er dort keine Namen von echten Bürgern der Russischen Föderation. Er findet dort das Geburtsdatum und die Art der Verletzung, die man nicht verheimlichen kann. Der Mensch selbst ist in diesem Verzeichnis aber ein Phantom. Übersetzung aus dem Russischen (gekürzt) von der dekoder-Redaktion Über die Autorin: Irina Tumakowa ist eine russische Journalistin und seit 2018 als Special Correspondent bei der Nowaja Gaseta beschäftigt. Bereits seit 2006 schreibt sie außerdem für die Petersburger Onlinezeitung fontanka.ru. Für ihre Reportage Der Fallschirmspringer von Pskow über die umstrittene Beerdigung von Soldaten in Pskow wurde sie 2014 mit dem Preis Solotoje Pero (»Die goldene Feder«) des unabhängigen Sankt Petersburger Journalistenverbands ausgezeichnet. Das russischsprachige Original des vorliegenden Beitrags ist online verfügbar unter <https://www.novayagazeta.ru/ articles/2018/06/24/76916-oni-tam-byli>, die Übersetzung ins Deutsche durch dekoder unter <https://www.dekoder. org/de/article/donbass-krieg-soldaten-pskow>. Die Redaktion der Ukraine-Analysen freut sich, dekoder.org als langfristigen Partner gewonnen zu haben. Auf diesem Wege möchten wir helfen, die Zukunft eines wichtigen Projektes zu sichern und dem russischen Qualitätsjournalismus eine breitere Leserschaft zu ermöglichen. Wir danken unserem Partner dekoder, der Nowaja Gaseta und Irina Tumakowa für die Erlaubnis zum Nachdruck. Die Redaktion der Ukraine-Analysen [RUSSLAND ENTSCHLÜSSELN] 31 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 DOKUMENTATION Verlängerung der Krim-Sanktionen durch die EU Europäischer Rat: Rechtswidrige Annexion der Krim und Sewastopols – EU verlängert Sanktionen um ein Jahr 18.06.2018 Am 18. Juni 2018 hat der Rat die als Reaktion auf die rechtswidrige Annexion der Krim und Sewastopols durch Russland verhängten restriktiven Maßnahmen bis zum 23. Juni 2019 verlängert. Die Maßnahmen gelten für in der EU ansässige Personen und Unternehmen. Sie beschränken sich auf das Gebiet der Krim und Sewastopols. Die Sanktionen umfassen Verbote für • die Einfuhr von Waren mit Ursprung auf der Krim oder in Sewastopol in die Union, • Investitionen auf der Krim oder in Sewastopol, was bedeutet, dass weder Europäer noch Unternehmen mit Sitz in der EU Immobilien oder Einrichtungen auf der Krim erwerben, Unternehmen mit Sitz auf der Krim finanzieren oder damit in Zusammenhang stehende Dienstleistungen erbringen dürfen, • Tourismusdienstleistungen auf der Krim oder in Sewastopol, wobei insbesondere europäische Kreuzfahrtschiffe keine Häfen auf der Halbinsel Krim anlaufen dürfen, es sei denn, es handelt sich um einen Notfall und • die Ausfuhr bestimmter Güter und Technologien in den Bereichen Verkehr, Telekommunikation und Energie oder im Zusammenhang mit der Prospektion, Exploration und Förderung von Öl-, Gas- und Mineralressourcen, wenn diese für Unternehmen mit Sitz auf der Krim oder zur Nutzung auf der Krim bestimmt sind. Technische Hilfe sowie Vermittlungs-, Bau- oder Ingenieurdienstleistungen, die mit der Infrastruktur in den genannten Bereichen in Zusammenhang stehen, sind ebenfalls untersagt. Wie die Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik am 16. März 2018 im Namen der EU erklärt hat, tritt die Europäische Union weiter entschlossen für die Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine ein. Auch vier Jahre nach der rechtswidrigen Annexion der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol durch die Russische Föderation hat die EU bekräftigt, dass sie diesen Verstoß gegen das Völkerrecht nicht anerkennt und ihn weiterhin verurteilt. Quelle: Europäischer Rat, <http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2018/06/18/illegal-annexation-of-crimea-andsevastopol-eu-extends-sanctions-by-one-year/> 32 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 CHRONIK 11. Juni – 1. Juli 2018 11.06.2018 Pawlo Scherbizkyj, der Gouverneur des Teils der Region Donezk, der von der Ukraine kontrolliert wird, reicht seinen Rücktritt ein. Er macht keine Angaben zu den Gründen für seine Entscheidung. 11.06.2018 Nach einer Untersuchung der Firma Factum Group Ukraine liegt das russische soziale Medium Vkontakte auf Platz vier der meistbesuchten Internetseiten in der Ukraine. Im Mai 2017 hatte Präsident Petro Poroschenko Sanktionen gegen russische Unternehmen erlassen, etwa gegen den Online-Dienstleister Yandex und gegen Vkontakte. In dem Erlass werden Internetprovider angewiesen, den Zugang zu den entsprechenden Seiten zu blockieren. Aufgrund zahlreicher Möglichkeiten, die Blockade zu umgehen, werden die Dienste jedoch weiterhin genutzt. Seit Erlass der Sanktionen ist die Zahl der Nutzer von Vkontakte nach Angaben der Zeitung Ekonomitschna Prawda etwa um die Hälfte auf rund fünf Millionen Nutzer pro Monat gefallen. 12.06.2018 In Berlin kommen die Außenminister der Staaten des Normandie-Formates – Russland, Frankreich, Deutschland und die Ukraine – zu Gesprächen zusammen. Nach Angaben des ukrainischen Außenministers Pawlo Klimkin gibt es während des Treffens Differenzen zwischen der Ukraine und Russland über den Umfang des Mandats einer potentiellen UN-Friedensmission im Donbass. Die russische Seite habe gefordert, dass Blauhelme lediglich die OSZE-Beobachter begleiten und schützen sollten. Die ukrainische Position sehe ein umfassendes Mandat der Truppen vor, das sie dazu befähigt, eigenständige Kontrollen durchzuführen und den Abzug der schweren Waffen zu überwachen. 12.06.2018 Ein Kiewer Gericht veranlasst, dass der Bürgermeister Odessas, Gennadi Truchanow, seinen Reisepass zurückerhält, und hebt das Verbot von Auslandsreisen auf. Truchanow wird der Veruntreuung verdächtigt, gegen ihn wird ermittelt. Ein Versuch der Anklage, ihn seines Amtes zu entheben, ist abgewiesen worden. 13.06.2018 Die Nationalbank warnt, dass das Risiko eines Anstiegs der Staatsverschuldung im Jahr 2018 über die anvisierten 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts seit Anfang des Jahres erheblich gestiegen sei. Die Einnahmen des Staates wüchsen weniger schnell als angenommen. 13.06.2018 Nach Recherchen des Radiosenders Hromadske Radio haben Projekte von Mitgliedern der rechtsradikalen Vereinigung S14 und der rechtsradikalen Partei Freiheit (Swoboda) Staatsmittel in Höhe von über einer Million Hrywnja (etwa 32.000 Euro) erhalten. Die Mittel seien von der staatlichen Kommission für Projekte zur nationalpatriotischen Erziehung ausgezahlt worden. 13.06.2018 Ein Kiewer Berufungsgericht gibt der Berufung der Staatsanwaltschaft statt und verurteilt Juri Krysin zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren wegen Beteiligung am Mord an dem Journalisten Wjatscheslaw Weremij während der Maidan-Proteste in Kiew im Februar 2014. Das vorangegangene Urteil hatte auf vier Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung gelautet. 14.06.2018 Mehrere internationale Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International und Human Rights Watch, fordern in einem offenen Brief an Innenminister Arsen Awakow und Generalstaatsanwalt Juri Luzenko ein stärkeres Engagement der ukrainischen Behörden gegen Gewalt und Einschüchterungsversuche vonseiten rechtsradikaler Gruppen. In der Mehrheit dieser Vorfälle sei eine Reaktion des Staates vollständig ausgeblieben. Der Staat sende damit das Signal, dass solche Aktionen legitim seien. 14.06.2018 Das Europäische Parlament verabschiedet eine Resolution, in der es Russland auffordert, den ukrainischen Regisseur Oleg Senzow sowie alle weiteren unrechtmäßig in Russland und auf der Krim festgehaltenen ukrainischen Staatsbürger freizulassen. In der Resolution wird außerdem gefordert, Senzow, der sich zurzeit im Hungerstreik befindet, unverzüglich die nötige medizinische Versorgung zuteilwerden zu lassen. 15.06.2018 Nach Angaben der ukrainischen Armee verschärft sich die Gefechtssituation im Donbass erheblich. 17.06.2018 Im Zentrum von Kiew findet ein »Marsch der Gleichheit« für Rechte und Anerkennung von LGBT statt. Nach Angaben des Innenministeriums nehmen etwa 3.500 Menschen teil. Gleichzeitig werden 2.500 Polizisten zum Schutz der Veranstaltung eingesetzt. 17.06.2018 Nils Melzer, der UN-Sonderberichterstatter über Folter, erklärt in einem Interview, dass die Zahl der Fälle von Folter und unmenschlicher Behandlung seit dem Jahr 2016 verglichen mit den drei Vorjahren auf dem von der Ukraine kontrollierten Territorium stark abgenommen habe. 18.06.2018 Außenminister Pawlo Klimkin erklärt, er halte den »Plan der kleinen Schritte«, den Innenminister Arsen Awakow im April 2018 zur »Deokkupation« des Donbass vorgelegt hat, für unrealistisch. Der Plan sieht vor, zunächst Wahlen in einigen grenznahen Orten abzuhalten und diese zurück unter ukrainische Kontrolle zu bringen. Zugleich müsste ein Amnestiegesetz erlassen werden. Klimkin erklärt, Russland werde dieses Vorgehen nicht dulden. 33 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 18.06.2018 Der Hohe Justizrat billigt das Gesetzesprojekt zur Einrichtung eines Korruptionsgerichtshofes (»Antikorruptionsgericht«). 19.06.2018 Vor dem Gebäude des Parlaments demonstrieren einige Tausend Teilnehmer am sowjetischen Krieg in Afghanistan, Teilnehmer an den Aufräumarbeiten nach der Havarie des Atomreaktors bei Tschernobyl sowie Bergleute. Sie fordern die Beibehaltung ihrer Vergünstigungen, die ihnen vom Staat etwa für kommunale Dienstleistungen gewährt werden. Es kommt zu Zusammenstößen mit Sicherheitskräften, die den Zugang zum Parlamentsgebäude absperren. 19.06.2018 In einer Stellungnahme fordert die Direktorin des Internationalen Währungsfonds Christine Lagarde, im Gesetz zur Schaffung eines Korruptionsgerichtshofs (»Antikorruptionsgericht«) einen Passus zu ändern, der Berufungsverfahren an andere Gerichte auslagert. 20.06.2018 In der Lobby des Stadtparlaments von Charkiw kommt es während einer Sitzung zu Ausschreitungen: Unbekannte setzen Tränengas frei und entzünden bengalisches Feuer. Auf Twitter verbreitet sich die Nachricht, es handle sich um Angehörige nationalistischer Gruppen. Die Sitzung wird währenddessen fortgeführt. 20.06.2018 Die Abgeordnete der Partei Vaterland Julia Timoschenko erklärt offiziell ihre Absicht, sich bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2019 zur Wahl zu stellen. 21.06.2018 Das Parlament verabschiedet ein Gesetz zur nationalen Sicherheit. Nach Angaben des Parlamentssprechers Andrij Parubij ist das Gesetz ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die »russische Aggression«, für die Reform des Sicherheitssektors sowie ein Schritt in Richtung NATO-Beitritt. Das Gesetz sieht unter anderem vor, die Positionen des Oberkommandeurs der Streitkräfte und des Generalstabsvorsitzenden zu trennen. 21.06.2018 Das Parlament verabschiedet ein Gesetz, das den Handel mit Devisen umfassend liberalisiert. 22.06.2018 Präsident Petro Poroschenko setzt einen Beschluss des Nationalen Sicherheitsrates in Kraft, mit dem Sanktionen gegen weitere 14 natürliche und 30 juristische Personen aus Russland verhängt werden. Darunter sind staatliche Organisationen, die die russischen Präsidentschaftswahlen auf der von Russland annektierten Krim organisiert und durchgeführt haben, sowie Parteien, die an ihnen teilgenommen haben. 23.06.2018 Serhij Horbatjuk, ein hochrangiger Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft, erhebt schwere Vorwürfe gegen Generalstaatsanwalt Juri Luzenko. Dieser habe sich mehrfach in Ermittlungen eingemischt. Er habe Fälle an sich gezogen und zur Begründung unwahre Angaben gemacht. 23.06.2018 Maskierte Unbekannte überfallen in der Nacht zum 24.06.2018 ein Lager von Roma außerhalb der westukrainischen Stadt Lwiw. Dabei kommt ein junger Roma ums Leben, weitere Roma werden durch Messerstiche verletzt. Die Polizei nimmt sieben Jugendliche zwischen 16 und 17 Jahren sowie den 20-jährigen mutmaßlichen Anführer der Gruppe fest und eröffnet ein Verfahren wegen gemeinschaftlich verabredeten Mordes. Am Abend erklären die Festgenommenen, zur nationalistischen Jugendgruppe »Nüchterne und wütende Jugend« zu gehören. Ein Pressesprecher des Europarates verurteilt den Angriff. 25.06.2018 Im Zusammenhang mit dem Überfall auf ein Lager von Roma außerhalb der westukrainischen Stadt Lwiw vom 23. Juni 2018 werden zwei jugendliche Verdächtige für zunächst 60 Tage in Untersuchungshaft genommen. Bei dem Überfall war eine Person ums Leben gekommen, weitere waren verletzt worden. 26.06.2018 Das Ministerium für regionale Entwicklung ändert eine Norm für den Straßenbau. Diese schreibt nun vor, beim Neubau und der Instandhaltung von innerstädtischen Straßen Fahrradwege anzulegen. 27.06.2018 Drew Sullivan von der Nichtregierungsorganisation Organized Crime and Corruption Reporting Project beschuldigt Präsident Petro Poroschenko und seine Juristen, seit Jahren die Unwahrheit über Poroschenkos wirtschaftliche Aktivitäten zu sagen. Der Vorwurf bezieht sich auf Poroschenkos Versuche, seinen Roshen-Konzern zu kontrollieren, und auf angebliche Anstrengungen, über Offshore-Firmen Steuern zu sparen. 27.06.2018 Die trilaterale Kontaktgruppe aus Vertretern Russlands, der Ukraine und der OSZE einigt sich auf einen weiteren unbefristeten Waffenstillstand im Donbass, der am 1. Juli 2018 in Kraft treten soll. Bei dem Treffen in Minsk sind auch Unterhändler der Separatisten der »Volksrepubliken« aus Luhansk und Donezk zugegen. 28.06.2018 Das Gesetz zur Einrichtung eines Korruptionsgerichtshofs (»Antikorruptionsgericht«) tritt in Kraft. Zwei Tage zuvor hatte Präsident Petro Poroschenko das Gesetz vor Studenten des Kiewer Instituts für Internationale Beziehungen unterzeichnet. 29.06.2018 Ljudmila Denissowa, die Beauftragte für Menschenrechte des ukrainischen Parlaments, erklärt, die Ukraine sei bereit, 23 wegen der Vorbereitung von Terroranschlägen, Spionage und »kriegerischen Handlungen« verurteilte russische Staatsbürger an Russland auszuliefern und gegen 23 ukrainische Staatsbürger, die in russischer Haft sitzen, auszutauschen. Auf der Liste der ukrainischen Häftlinge befinde sich auch der Regisseur Oleg Senzow. Die Liste sei den Unterhändlern des Minsker Prozesses zugeleitet worden. 34 UKRAINE-ANALYSEN NR. 204, 06.07.2018 29.06.2018 Andryj Rewa, Minister für Sozialpolitik, erklärt, zurzeit sei im Budget kein Spielraum vorhanden, um den Mindestlohn zu erhöhen. Dies könne in Betracht kommen, wenn sich die Staatseinkünfte im Laufe des Jahres positiv entwickelten. Präsident Petro Poroschenko hatte zuvor bis Mitte des Jahres 2018 die Erhöhung des monatlichen Mindestlohns von zurzeit 3700 Hrywnja (etwa 115 Euro, seit 1. Januar 2018) auf 4100 Hrywnja (etwa 128 Euro) in Aussicht gestellt. 30.06.2018 Ein Mitarbeiter der Pressestelle der »Armee« der »Volksrepublik Donezk« erklärt, man sei bereit zur vollständigen Umsetzung des am 27. Juni 2018 in Minsk vereinbarten Waffenstillstands, der zum 1. Juli 2018 in Kraft treten soll. Zuvor hatte bereits die ukrainische Armee ihre Bereitschaft dazu erklärt. 01.07.2018 In Krywyj Rih wird der Vorsitzende des Organisationskomitees eines Festivals für Rechte und Anerkennung von LGBT, in dessen Rahmen auch ein »Marsch für Gleichheit« stattfinden soll, von zehn Unbekannten zusammengeschlagen. Die Chronik wird zeitnah erstellt und basiert ausschließlich auf im Internet frei zugänglichen Quellen. Die Redaktion bemüht sich, bei jeder Meldung die ursprüngliche Quelle eindeutig zu nennen. Aufgrund der großen Zahl von manipulierten und falschen Meldungen kann die Redaktion der Ukraine-Analysen keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben übernehmen. Zusammengestellt von Jan Matti Dollbaum Sie können die gesamte Chronik seit Februar 2006 auch auf <http://www.laender-analysen.de/ukraine/> unter dem Link »Chronik« lesen. Herausgeber: Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e.V. Deutsches Polen-Institut Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) gGmbH Redaktion: Prof. Dr. Heiko Pleines (verantwortlich) und Katharina Hinz Sprachredaktion und Übersetzungen: Sophie Hellgardt Chronik: Jan Matti Dollbaum Satz: Matthias Neumann Wissenschaftlicher Beirat: Dr. Kseniia Gatskova, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Prof. Dr. Guido Hausmann, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Dr. Susan Stewart, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin Dr. Susann Worschech, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/O. Die Meinungen, die in den Ukraine-Analysen geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassung der Autoren wieder. Abdruck und sonstige publizistische Nutzung sind nach Rücksprache mit der Redaktion gestattet. Ukraine-Analysen-Layout: Cengiz Kibaroglu, Matthias Neumann und Michael Clemens Alle Ausgaben der Ukraine-Analysen sind mit Themen- und Autorenindex archiviert unter www.laender-analysen.de Die Ukraine-Analysen werden im Rahmen eines Lizenzvertrages in das Internetangebot der Bundeszentrale für politische Bildung (www.bpb.de) aufgenommen. ISSN 1862-555X © 2018 by Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde e.V., Deutsches Polen-Institut, Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) gGmbH Forschungsstelle Osteuropa • Länder-Analysen • Klagenfurter Str. 8 • 28359 Bremen • Telefon: +49 421-218-69600 • Telefax: +49 421-218-69607 e-mail: laender-analysen@uni-bremen.de • Internet-Adresse: http://www.laender-analysen.de/ukraine/ 35 Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen Kostenlose E-Mail-Dienste auf www.laender-analysen.de @laenderanalysen Die Länder-Analysen bieten regelmäßig im kostenlosen Abonnement kompetente Einschätzungen aktueller politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Entwicklungen in Ostmitteleuropa und der GUS. Alle Länder-Analysen verstehen sich als Teil eines gemeinsamen Projektes, das der wissenschaftlich fundierten, allgemeinverständlich formulierten Analyse der Entwicklungen im östlichen Europa, der Offenheit für verschiedene inhaltliche Positionen und der kostenlosen und nicht-kommerziellen Information einer breit verstandenen interessierten Öffentlichkeit verpflichtet ist. Autor/innen sind internationale Fachwissenschaftler/innen und Expert/innen. Die Redaktionen der Länder-Analysen bestehen aus Wissenschaftler/innen mit langjähriger Forschungserfahrung. Die deutschsprachigen Länder-Analysen werden gemeinsam von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, dem Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, dem Deutschen Polen-Institut, dem Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien und dem Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung herausgegeben. Die englischsprachigen Länder-Analysen erscheinen in Kooperation der Forschungsstelle Osteuropa mit dem Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. Die Länder-Analysen bieten regelmäßig Kurzanalysen zu aktuellen Themen, ergänzt um Grafiken und Tabellen sowie Dokumentationen. Zusätzlich gibt es eine Chronik aktueller Ereignisse. Alle Länder-Analysen sind auch mit Archiv und Indizes online verfügbar unter <www.laender-analysen.de>. Belarus-Analysen Erscheinungsweise: zweimonatlich Abonnement unter: <http://www.laender-analysen.de/belarus/> Caucasus Analytical Digest In englischer Sprache. Erscheinungsweise: monatlich Abonnement unter: <http://www.css.ethz.ch/en/publications/cad.html> Polen-Analysen Erscheinungsweise: zweimal monatlich Abonnement unter: <http://www.deutsches-polen-institut.de/newsletter/polen-analysen/> Auch als App für Android™ (ab Januar 2016) kostenlos auf Google Play™. 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