Ontologie des Mesokosmos: Soziale Objekte und
Umwelten
Barry Smith
Preprint version of paper in Zeitschrift für philosophische Forschung, 52 (1998),
521-540.
Kurzfassung Erst in neuester Zeit haben sich analytische Philosophen
vorbehaltlos dem Bereich der Metaphysik gewidmet. Unter den
interessantesten Ergebnissen dieser ,analytischen Metaphysik” ist John
Searles neues Buch zur Ontologie der sozialen Gegenstände (Die
Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer
Tatsachen, Hamburg: Rowohlt, 1997). Was sind Staaten,
Gemeinschaften, Gesetze? Nach Searle sind diese Gegenstände Korrelate
einer ,kollektiven Intentionalität”. Searle vertritt m.a.W. eine kognitive
Theorie von sozialen Gegenständen. Ein Problem bei einer solchen
Theorie ist, daß wir Analogien zu bestimmten sozialen Gebilden auch bei
Tieren begegnen, die den begrifflichen Apparat einer kollektiven
Intentionalität nicht besitzen. Um dieses Problem zu umgehen, liegt es
nahe, die biologischen Lehren von tierischen Umwelten, die etwa durch
von Uexküll entwickelt wurden, auszunutzen. Von Uexkülls
Umweltlehre ist jedoch eine Art organische Monadologie: jedes Tier,
jeder Mensch, ist in seiner eigenen spezifischen Umwelt beheimatet, und
es wird also schwer verständlich, wie das Verhalten zwischen Tieren
überhaupt möglich ist. Der vorliegende Beitrag bietet eine Lösung dieses
Problems, durch die wir auch eine verbesserte Auffassung der Ontologie
sozialer Gegenstände überhaupt gewinnen. Als Grundlage dieser
Auffassung dient die realistische Theorie menschlicher Umwelten, die in
der ökologischen Psychologie J. J. Gibsons und Roger Barkers
entwickelt wurde.
Soziale Objekte
Die Philosophiegeschichte liefert verschiedene Ansatzpunkte für die
Behandlung der Frage nach dem Wesen von sozialen Objekten.
Auf der einen Seite gibt es holistische und realistische Ontologien des
Sozialen. Für Heidegger z. B. sind Menschen keine isolierten Individuen
sondern durch Andere, durch Werkzeuge, durch Traditionen verstrickt in eine
Mitwelt, die nur als Ganzes existiert. Eine holistische Auffassung des Sozialen
findet man auch bei Wittgenstein, der soziale Institutionen als Teile der
1
Naturgeschichte des Menschen auffassen wollte, verflochten mit unseren
Handlungen, vor allem sprachlichen Handlungen – allgemeiner mit unseren
Lebensformen, mit den bestimmenden Konformitäten des gemeinsamen
menschlichen Lebens.
Auf der anderen, nicht-holistischen Seite gibt es die unter analytischen
Philosophen heute weit verbreiteten atomistischen und reduktionistischen
Ontologien des Sozialen. Für Reduktionisten gibt es nur individuelle
Menschen mit ihren individuellen Handlungen und Gewohnheiten. Die Rede
von genuin sozialen Objekten gilt es zugunsten von Redewendungen zu
eliminieren, worin man nur von Entitäten spricht, die zum Individuenbereich
gehören. Wenn ich z. B. sage, daß eine Parade sich die Straße entlang bewegt,
ist das nur eine Abkürzung für eine viel längere Äußerung über die
Bewegungen der involvierten Einzelpersonen.
Ich gehe davon aus, daß sowohl extrem holistische als auch extrem
reduktionistische Auffassungen des Sozialen abzulehnen sind. Die heutige
Philosophie bietet eine Reihe von Vorschlägen, die zwischen diesen beiden
Polen liegen. Viele Philosophen des 20. Jahrhunderts haben z. B. behauptet,
daß wir das Soziale mit Hilfe einer Theorie sozialer Regeln verstehen sollen.
Der Unterschied zwischen einer Masse von Individuen, die sich zu einer
gewissen Zeit zufällig in einem Park befinden, und einem Fest oder
Fußballspiel besteht darin, sagen die Verfechter solcher Lehren, daß letztere
gewissen “Konventionen” oder “konstitutiven Regeln” unterworfen sind, die
bei einem zufälligen Beisammensein fehlen. Ein Fest ist allerdings etwas
Konkretes, ein räumlich-zeitliches Objekt, das wir sehen und das wir als
Teilnehmer miterleben können. Eine Regel dagegen ist etwas Abstraktes,
etwas ohne wohldefinierte räumlich-zeitliche Lage. Dürfen wir aber im
Bereich des Sozialen etwas Bekanntes mit Hilfe von etwas weniger
Bekanntem zu verstehen versuchen? Es ergibt sich für viele Arten sozialer
Regeln weiter die heikle Frage, wann sie zu existieren beginnen: mit der
ersten Formulierung oder Inkrafttretung? Mit dem ersten Fall eines
Regelfolgens? Und was heißt es genau, einer Regel zu folgen? Worin
unterscheidet sich das Regelfolgen von einem Handeln, das nur
zufälligerweise der Regel konform ist?
Einen interessanten und einflußreichen Versuch, diese äußerst schwierigen
Fragen zu beantworten, finden wir bei John Searle, und zwar in seinem
neuesten Buch: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur
Ontologie sozialer Tatsachen. Hierin bietet Searle eine kognitive Theoriedes
Sozialen. Für ihn existieren soziale Objekte und soziale Regeln als
Schöpfungen einer besonderen “kollektiven Intentionalität”. Letztere ist durch
spezielle Glaubenszustände konstituiert, die dadurch entstehen, daß
Individuen Projekte gemeinsam unternehmen, etwa da, wo die Mitglieder
2
eines Orchesters gemeinsam die dritte Symphonie Beethovens aufführen. Für
Searle ist diese kollektive Intentionalität ein “primitives Phänomen, das nicht
zugunsten von etwas Anderem reduziert oder eliminiert werden könnte.” (1)
Searles Ontologie des Sozialen hat den Vorteil, daß sie in der Lage ist,
eine unbeschränkte Palette sozialer und institutioneller Objekte im Rahmen
einer einheitlichen Theorie zu erklären, vom Aktienmarkt oder dem
Nobelpreis für Physik bis hin zu einem Begräbnis oder einer Sitzung des
Bundesrates. Mit seinem Begriff der kollektiven Intentionalität übernimmt
Searle gewisse Aspekte der holistischen Theorie sozialer Objekte. Er bietet
allerdings keine realistische Ontologie des Sozialen. Für ihn ist die ganze
Hierarchie von sozialen Objekten, die auf der Grundlage von “brute facts” der
Physik und der Psychologie aufgebaut sein soll, nur eine Scheinwelt, die im
Funktionieren der kollektiven Intentionalität völlig aufgeht. Wenn alle
glauben, daß gewisse grüne Scheine die Eigenschaften des Geldes haben,
dann sind diese Scheine “Geld”. Durch diesen kognitiven Ansatz werden
soziale Objekte effektiv vom Bereich des Mentalen absorbiert. Die Lehre
Searles bietet daher keine Möglichkeit zur Unterscheidung zwischen genuin
sozialen Objekten und den Scheinprodukten eines kollektiven Wahns.
Die phänomenologische Umweltlehre
Im folgenden möchte ich versuchen, eine realistische Ontologie von sozialen
Objekten zu entwickeln, die einige Vorteile sowohl der holistischen als auch
der reduktionistischen Theorien geniesst und die die Grundlage einer formalen
Ontologie sozialer Gebilde liefern wird. Sie beginnt mit gewissen organischen
oder gar ökologischen Aspekten unseres sozialen Lebens. Wo Wittgenstein
mit Lebensformen und Searle mit konstitutiven Regeln als Grundkategorien
oder Grundbausteine einer sozialen Ontologie beginnen, nehmen wir unseren
Ausgangspunkt in der Hypothese, daß die sozialen Objekte in unserer
Gesamtontologie im Bereich der Umwelten oder Milieus menschlichen Lebens
zu orten sind.
Die Idee einer besonderen menschlichen Umwelt, oder einer
“Lebenswelt”, hat tiefe Wurzeln, die bis auf Platons Höhlengleichnis und
Kants Begriff einer “phänomenalen” Welt zurückreichen. Auch innerhalb der
phänomenologischen Bewegung finden wir eine ähnliche Vorstellung, so z. B.
in Husserls Ontologie der Lebenswelt oder in Heideggers Lehre der
Alltäglichkeit. Das Grundaxiom der konstitutiven Phänomenologie lautet:
Gegenstände und Akte stehen in einer reziproken Abhängigkeitsbeziehung.
Alle Gegenstände sind Korrelate entsprechender Akte. Oder wie Husserl im
zweiten Buch seiner Ideen schreibt: “Als Person bin ich, was ich bin, als
3
Subjekt einer Umwelt. Die Begriffe Ich und Umwelt sind untrennbar
aufeinander bezogen.” (2)
Eine besonders aufschlußreiche Darstellung der phänomenologischen
Umweltlehre finden wir bei Max Scheler, dessen Bemerkungen uns auch auf
eine gewisse Unzulänglichkeit dieser Lehre aufmerksam machen werden:
Die “Dinge”, die für unser Handeln in Frage kommen, die wir
z. B. immer meinen, wenn wir bestimmte Handlungen von
Menschen (oder Dispositionen zu solchen) auf das “Milieu”
dieser Menschen zurückführen, haben mit … den in der
Wissenschaft gedachten Gegenständen (durch deren
Supposition sie die natürlichen Tatsachen “erklärt”)
selbstverständlich nicht das mindeste zu tun. Die Milieusonne
z. B. ist nicht die Sonne der Astronomie; das Fleisch, das
gestohlen, gekauft wird und so weiter, ist nicht eine Summe
von Zellen und Geweben mit den in ihnen stattfindenden
chemischen und physikalischen Prozessen. Die Milieusonne ist
am Nordpol, in der gemäßigten Zone und am Äquator eine
andere Sonne und ihr gespürter Strahl ein anderer Strahl. (3)
Das Problem mit solchen Behauptungen ist klar. Wie jedes Schulkind, das ein
Mikrosop besitzt, weiß, ist Fleisch, das gestohlen und gekauft wird, sehr wohl
eine Summe von Zellen und Geweben, die Sonne am Nordpol sehr wohl
dieselbe Sonne, die am Äquator erlebt wird. Es kann nicht der Fall sein, daß
die Dinge unserer praktischen Umwelt “nicht das mindeste” mit den
Gegenständen der Wissenschaften zu tun haben.
Für Scheler wie für andere Phänomenologen gehören Alltagsgegenstände
einem Zwischenreich an, welches zwischen unserem Wahrnehmungsinhalt
und den “objektiv gedachten” Gegenständen der Wissenschaft liegt. Das
zentrale Problem mit solchen relativistischen Auffassungen des Verhältnisses
zwischen Mensch und Umwelt besteht darin, daß sie die Existenz einer
gemeinsamen, einer intersubjektiven Umwelt kaum erklären können. Wenn
wir auf der anderen Seite die Existenz einer gemeinsamen Umwelt dadurch
garantieren, daß wir letztere als physisches Gebilde erklären, führt diese
Lösung zum weiteren Problem, daß wir die Alltagsdinge, die für unser
Weiterleben unerläßlich sind, nicht mehr erkennen können, da solche
mesoskopischen Objekte in den üblichen Theorien der Physik keinen Platz
haben. Wir fallen also zwischen die Skylla eines monadologischen
Relativismus fensterloser Umwelten und die Charybdis eines schlichten
Physikalismus ohne Umwelten und Umweltgegenstände.
Im folgenden werde ich versuchen, einen dritten Weg zu finden, der den
Gegenständen des Alltagslebens ihre eigene ontologische Berechtigung
zuweist, ohne in einen ontologischen Relativismus zu geraten.
4
Die ineinandergeschachtelte Struktur der Wirklichkeit
Die phänomenologische Auffassung der menschlichen Umwelt soll m. E.
ökologisch mit Hilfe des Begriffs einer Nische präzisiert werden. Eine Nische
ist etwas, in das ein Lebewesen paßt. Die Nische ist durch das biologische
Verhalten des entsprechenden Tiers bestimmt, dieses Verhalten selbst durch
die entsprechende Nische. Wie Jakob von Uexküll es formulierte: Jedes Tier,
von dem einfachsten bis zum komplexesten, ist an seine Umwelt mit gleicher
Vollständigkeit angepaßt. Einem einfachen Tier entspricht eine einfache
Umwelt, einem komplexen Tier eine artikulierte Umwelt. (4)
Zu einer Nische gehören zuerst gewisse physische Gegenstände sowie die
Oberflächen, Kanten und Ecken dieser Gegenstände und das Medium (z. B.
Wasser), worin sie existieren. Die Nische ist organisiert; sie hat eine gewisse
Maserung und ihr eigenes räumlich-zeitlich-dingliches Skelett, wodurch die
mehrdimensionale Vielfalt der durch das Tier erfaßbaren sinnlichen
Qualitäten (Farben, Töne, Wärme, Gerüche, usw.) zu einer sinnvollen Einheit
zusammengebunden werden. Vor allem aber gehört es zum Aufbau einer
Nische, daß sie durch Aufforderungen geprägt ist, die das Verhalten des
entsprechenden Lebewesens motivieren.
Die Wirklichkeit, auf die unsere Wahrnehmungsakte gerichtet sind, hat die
Struktur eines komplexen Schichtenbaus. Atome auf der Mikroebene sind in
Molekülen eingenistet, Moleküle in Zellen, Zellen in Blättern, Blätter in
Bäumen, Bäume in Wäldern. Zeitliche Vorgänge, von neuronalen Erregungen
auf der Mikro- bis hin zu geschichtlichen Ereignissen auf der Makroebene,
sind ebenfalls in dieser Weise hierarchisch ineinandergeschachtelt.
Jedes Lebewesen ist durch evolutionäre Anpassung auf Gegenstände und
Aufforderungen einer gewissen Größenordung oder Bandbreite innerhalb
dieser Hierarchie eingestimmt. (5) Es herrscht dann eine spontane Anpassung
zwischen
Tieren
und
den
mit
ihnen
zusammengewachsenen
Verhaltensnischen sowie mit assoziierten Nischgegenständen wie Gerüchen,
Stimmen und Gesichtsausdrücken. Nische und tierisches Verhalten sind im
Fall einer solchen spontanen Anpassung korrelativ.
Im menschlichen Fall umfaßt die Bandbreite der Einstimmung zusätzliche
Schichten komplexer kultureller Produkte, und die durch spontanes Verhalten
zugängliche Umwelt des Menschen ist daher viel größer, reicher und
vielfältiger als die des Tiers. Ihre Reichweite kann zuerst durch gewisse
Artefakte ausgedehnt werden, z. B. durch Instrumente. Der geübte Organist,
wie Merleau-Ponty ihn beschreibt, “setzt sich auf die Bank, bedient die
Pedale, zieht die Register, nimmt dem Instrument mit seinem Leibe Maß,
verleibt sich Richtungen und Dimensionen ein, richtet in der Orgel sich ein
5
wie man in einem Hause sich einrichtet.” (6) Oder auch: “Wenn der
Maschinenschreiber die notwendigen Bewegungen auf der Klaviatur ausführt,
so sind diese Bewegungen geführt von einer Intention, doch diese setzt die
Tasten der Klaviatur nicht als objektive Stellen an. Es ist buchstäblich wahr,
daß Maschinenschreiben lernen heißt, den Raum der Klaviatur seinem
Körperraum integrieren.”(7) Orgel und Tastatur, Zimmer und Gebäude, Türe
und Gänge, Messer und Gabel, Schwimmbäder und Fußballplätze sind
Artefakte, die zur Nische, zum Mesokosmos menschlichen Verhaltens
gehören und die die Eigenart dieses Verhaltens durch und durch bestimmen.
Die Reichweite der durch spontanes Verhalten zugänglichen Umwelt des
Menschen kann auch durch vielfache soziale (und vor allem sprachliche)
Praktiken weiter ausgedehnt werden. Die physische Seite des Mesokosmos
menschlichen Verhaltens ist dann mit dieser praktischen Seite und mit den
dazugehörigen Gewohnheiten und Konventionen engstens verbunden. Es gibt
spezifische Praktiken, die man z. B. mit Schwimmbädern assoziiert, andere,
die mit Spielbanken und mit Bahnhöfen, mit Baustellen und Imbißstuben und
wieder andere, die mit buddhistischen Tempeln und mit polynesischen
Haifischjagden assoziiert sind. Die verschiedenen Kulturen unterscheiden sich
dadurch, daß ihnen verschiedene Paletten von Artefakten und assoziierten
sozialen Praktiken zur Verfügung stehen. Jedes Volk, wie Husserl schreibt,
“hat seine Welt, in der für dasselbe alles gut zusammenstimmt”. (8) Husserl
betont auch, daß obwohl diese verschiedenen Welten des Zusammenstimmens
sich inhaltlich oder materiell unterscheiden, sie alle eine gemeinsame Struktur
aufweisen, die eine formal-ontologische Behandlung ermöglicht. (9)
Der Mesokosmos
Der Mesokosmos ist die ökologische Nische des Lebewesens Mensch. Seit
Platon ist die philosophische Tradition durch eine Privilegierung von
apodiktischem Wissen und durch eine entsprechende Geringschätzung
alltäglicher Meinungen gekennzeichnet. Episteme wurde auf Kosten von doxa
bevorzugt. Diese wohl vollkommen gerechtfertigte epistemologische
Privilegierung hatte, wie wir jetzt konstatieren können, bedauernswerte
Konsequenzen für die Ontologie. Werden die alltäglichen Meinungen des
Menschen für philosophisch unbedeutsam erklärt, wird auch das ontologische
Gegenstück dieser alltäglichen Meinungen, der Mesokosmos von alltäglichen
Dingen und menschlichen Handlungen, von sozialen Objekten und Artefakten
vernachläßigt. Im Gegensatz dazu versuche ich hier die Welt unseres
Alltagslebens als ein eigenständiges Objekt ontologischer Forschung
aufzufassen. Es bestehen natürlich vielfache Abhängigkeitsbeziehungen
zwischen Mesokosmos und physikalischem Mikrokosmos sowie zwischen
6
Mesokosmos und menschlichem Geist. Sowohl in der Wahrnehmung als auch
in unseren alltäglichen Handlungen sind wir mit den Dingen der uns
umliegenden Welt verflochten, weil wir sie zum Teil konstituieren. Die
Wahrnehmung soll dementsprechend nicht als eine Angelegenheit eines
passiv beobachtenden Subjekts aufgefaßt werden. Wahrnehmungsakte wie
Handlungen sind vielmehr, wenigstens im Normalfall, von zielstrebigen
Lebewesen vollzogen. Die Gegenstände unseres aktiven Suchens, Tastens,
Schmeckens, Fühlens sind Gegenstände – ein zerknittertes Hemd, ein leeres
Glas, ein neu gespitzter Speer -, die in unseren augenblicklichen Aufgaben
mitverwoben sind. Nach der ökologischen Auffassung vom menschlichen
Subjekt sind Subjekt und Umwelt hier durcheinander fundiert: das Eine
existiert nicht ohne das Andere. Wegen der evolutionären Anpassung
zwischen Umwelt und Mensch sind die Dinge dieser Umwelt wenigstens in
ihren groben Zügen stets so, wie sie uns in unseren Wahrnehmungsakten
erscheinen, und die überwiegende Mehrheit von Urteilen, die auf direkten
Wahrnehmungen beruhen (“dies ist ein Apfel”, “dies ist ein Baum”, “dies ist
gelb”, usw.), sind aus diesem Grund wahr.
Substanz und Akzidens
Die Gegenstände des Mesokosmos können zuerst in zwei grundlegende
Kategorien eingeteilt werden, die den aristotelischen Kategorien der
Substanzen und Akzidenzien entsprechen. Auf der einen Seite gibt es die in
der Zeit beharrenden Gegenstände, wie Menschen, Steine, Äpfel, Bäume,
Flaschen, Weinberge, Strände, usw. Auf der anderen Seite gibt es Ereignisse
und Vorgänge, wie Schneestürme, Kriege, Küssen, Trinken, Feste, usw. die in
beharrenden Gegenständen fundiert sind, und die sich in der Zeit entfalten.
Die Substanzen der Alltagswelt sind unabhängig von ihren jeweiligen
Akzidenzien. Qualitäten, Ereignisse und Vorgänge sind dagegen stets
abhängig von den ihnen zugrundeliegenden Substanzen: sie können ohne die
Substanzen, in denen (oder im Verhältnis zu denen) sie vorkommen, nicht
existieren.
Sowohl Substanzen als auch Akzidenzien können eine mehrschichtige
Zusammensetzung aufweisen: ein Mensch ist aus Atomen aufgebaut, die sich
zusammenbinden in Zellen, die sich in Organen binden, die sich den
Menschen selbst bilden. Ein Tennismatch ist aus Ballwechseln aufgebaut, die
Spiele formen, die in Sätze zusammengetragen werden, die aus sich das
Match selbst bilden. Die Teile einer Substanz sind räumliche Teile.
Akzidenzien dagegen haben auch zeitliche Teile: die ersten 3 Minuten des
Symphoniekonzerts sind ein Teil des Konzerts selbst.
7
Substanzen sind selbständig; sie existieren in und für sich. Akzidenzien
sind unselbständig; sie verlangen einen substantiellen Träger, der ihre
Existenz gewährleistet. Das Verhältnis zwischen Akzidens und Substanz
können wir also mit Hilfe des Begriffs der spezifischen Abhängigkeit
folgendermaßen definieren:
x ist spezifisch abhängig von y gdw. (1) x und y keine
gemeinsame Teile haben, und (2) x notwendigerweise von der
Art ist, daß es nicht existieren kann, ohne daß y existiert.
Es ist dies ein Verhältnis der spezifischen Abhängigkeit, weil Akzidenzien
immer eine spezifische Substanz (oder möglicherweise – im Fall eines
Küssens oder Befehlens – eine spezifische Vielfalt von Substanzen) als Träger
benötigen. Mein Kopfschmerz ist z. B. spezifisch von mir abhängig (kann
nicht ohne mich existieren). Akzidenzien, wie man im Mittelalter zu sagen
pflegte, können nicht auf ein anderes Inhärenz-Subjekt überwandern (das
Prinzip der “non migratio”). Soziale Objekte und Umwelten dagegen, wie wir
sehen werden, stehen zu ihren Trägern in einem Verhältnis der generischen
Abhängigkeit: wie ein Amt erlauben sie einen Wechsel ihrer Träger.
Die Gesamtheit der Substanzen und Akzidenzien des Mesokosmos ist
weiter dadurch gekennzeichnet, daß die Substanzen und Akzidenzien
verschiedenen, sich nicht überschneidenden Arten, Spezies und Genera von
verschiedenen Graden der Allgemeinheit zugeordnet sind. Es gibt immer
wieder Menschen, immer wieder Tische und Stühle, immer wieder Äpfel,
immer wieder den Spiegel. Es gibt immer wieder Kopfschmerzen, immer
wieder Grüße, immer wieder Donner und Blitze, immer wieder die
Tagesschau, immer wieder Tatort. Durch dieses Immer Wieder, durch die
Tatsache, daß wir in diese Welt des Immer-Wieders geboren werden, ist der
Mesokosmos alltäglicher Substanzen und Akzidenzien für uns ein intelligibles
Ganzes. Sie ist eine Welt, worin alles gut zusammenstimmt.
Seit Aristoteles hat die bikategoriale Ontologie von Substanzen und
Akzidenzien (oder allgemeiner: von beharrenden und sich ereignenden
Gegenständen) und ihren Spezies und Genera die Geschichte der Ontologie
dominiert. Für die Tradition waren diese zwei Kategorien sowohl ausreichend
als auch gegenseitig ausschließend: nichts könnte die Kluft zwischen beiden
überspannen. Hier werden wir allerdings behaupten, daß gerade Umwelten
diese Kluft überspannen können. Sie sind “transkategorial” in dem Sinn, daß
sie Teile enthalten und integrieren, die zu verschiedenen Kategorien gehören.
Erst vor diesem Hintergrund werden wir die Eigenart sozialer Objekte
verstehen können.
Artefakte wie Rechner und Schiffe sind Gegenstände, die substantielle
Teile haben, die aber selbst integrierte Ganze darstellen. Artefakte haben wie
einfache Substanzen scharfe Grenzen. Sie sind gut von ihren
8
Nachbargegenständen abgetrennt. Es gibt aber auch quasi-integrierte
Ganzheiten, die weder vollständige Integrität noch vollständige Abtrennung
genießen. Beispiele sind: Strände, Flußdelten, Gebüsche, Gebirgszüge. Eine
dritte Gruppe von Kollektivgegenständen mit substantiellen Teilen sind
soziale Kollektive. Beispiele sind: Familien, Stämme, Nationen, Orchester,
Schachclubs, Mannschaften, sowie auch solch mehr oder weniger kurzlebige
soziale Gruppierungen, die entstehen, wo Fremde sich formal vorstellen oder
auf der Tanzfläche zu Paaren zusammenstellen. (10)
Wie Soziologen erkannt haben, bilden solche sozialen Kollektive eine
neue Seinsdimension innerhalb des Mesokosmos menschlichen Verhaltens.
Sie sind in manchen Hinsichten Personen analog. Sie haben ihr eigenes
Leben, sie beharren in der Zeit, sie haben ihre eigenen Qualitäten und
Zustände und ihre eigene Arten des Funktionierens und des Interagierens.
Soziale Kollektive sind daher von beliebigen Aggregaten streng zu
unterscheiden.
Generische Abhängigkeit
Soziale Kollektive sind weiter generisch von ihren Mitgliedern oder Trägern
abhängig. Sie können Mitglieder gewinnen und verlieren, ohne daß ihre
Identität dadurch geändert wird.
x ist generisch abhängig von Gegenständen des Typs T gdw. x
notwendigerweise von der Art ist, daß es nicht existieren kann,
ohne daß irgendwelche Gegenstände des Typs T existieren.
Eine Nische ist ebenfalls generisch von den Tieren abhängig, die in ihr leben.
Städte, Universitäten, und Körperschaften generell haben die Fähigkeit, daß
sie in der Zeit beharren können trotz eines (manchmal beabsichtigten)
Wechsels ihrer Bestandteile. Sprachen, Religionen, Rechtssysteme und viele
institutionelle Objekte sind auch von der Art, daß ihre Existenz nicht von der
Existenz spezifischer Individuen oder Gruppen abhängt, sondern generisch
von der Existenz irgendwelcher befähigter Individuen oder Gruppen, die
gewisse Rollen innerhalb des Ganzen erfüllen. Die generische Abhängigkeit
ist dementsprechend charakteristisch für soziale Objekte vieler verschiedener
Typen.Ein König ist von seinen Subjekten abhängig, aber sie müssen nicht
diese Subjekte sein. Ein Richter muß den Fall entscheiden, aber es muß nicht
dieser Richter sein. Die Hauptstadt muß irgendwo liegen, aber sie muß nicht
an genau dieser Stelle liegen (und zu Kriegszeiten kann sie auch verlegt
werden).
Bestimmungsgegenstände (“Fiat Objects”)
9
Soziale Objekte sind durch Einzelpersonen als ihre Träger fundiert. Sie sind
existentiell von Einzelpersonen abhängig. In der ontologischen Behandlung
dieser Abhängigkeit müssen wir allerdings streng unterscheiden zwischen der
Frage nach dem Beginn der Existenz von sozialen Objekten und Fragen, die
mit der Weiterexistenz, mit dem Beharren von sozialen Objekten zu tun
haben. Was den existentiellen Anfang von sozialen Objekten angeht,
bemerken wir, das solche Objekte normalerweise Produkte von gewissen
menschlichen (rechtlichen, legislativen) Bestimmungen sind – ein
Wahrheitskörnchen der verschiedenen Vertragstheorien politischer
Institutionen, die wir seit Hobbes und Rousseau kennen. Soziale Objekte wie
politische Institutionen kommen in die Welt sehr oft nicht durch organische,
natürliche, graduelle Prozesse, sondern als voll ausgeformte Wesen, und die
Veränderungen, die sie danach erleben, sind sehr oft von einer nichtgraduellen Natur. Die Existenz des US-Bundesstaates Wyoming beginnt im
Jahre 1890 mit einen Erlaß der amerikanischen Regierung, und als soziales
Objekt existiert er auf unbestimmte Zeit unverändert fort.
In dieser Hinsicht ähneln einige soziale Objekte abstrakten Gegenständen wie
geometrischen Gebilden. Sie sind nicht wirkliche Gegenstände, die in
Kausalzusammenhänge direkt mitverwickelt wären und die kontinuierlichen
physischen Veränderungen unterworfen sind. Vielmehr sind sie sehr oft von
der Art, daß die einzigen Veränderungen, die sie erleben, darin bestehen, daß
sie zu existieren beginnen und daß sie zu existieren aufhören. Diese
Eigentümlichkeit der relativen Isoliertheit von konkreten kausal-energetischen
Geschehnissen findet sich am klarsten bei solchen sozialen Objekten wie
Ansprüchen, Verbindlichkeiten, Schulden, Besitzverhältnissen, Ämtern,
Titeln, udgl. In solchen Fällen haben wir es mit Objekten zu tun, “was – wenn
es wird – nicht gewirkt wird und wenn es vergeht, nicht direkt infolge des
Aufhörens eines Wirkens vergeht.” (11) Die in diesem Sinn nicht-wirklichen
Gegenstände des sozialen Bereichs sind aber nicht geschichtslos: sie
existieren in der Zeit, und zwar in derselben Zeit wie Menschen selbst. (Man
erinnert sich an Leibniz” Begriff eines Aggregats als eine nicht-wirkliche
phaenomena bene fundata, das weder unter den Substanzen noch unter den
Akzidenzien einzuordnen ist.)
Soziale Objekte sind also durch eine generische Abhängigkeit und wenigstens
in gewissen Fällen durch eine relative Isoliertheit von kausalen Geschehnissen
gekennzeichnet. Können wir demgemäß eine zwei-Schichten-Struktur der
Alltagswelt menschlichen Verhaltens annehmen, mit realen kontinuierlich
sich verändernden Dingen (vor allem Menschen) auf der unteren Ebene, und
sozialen Kollektivgegenständen auf der oberen Ebene (ein Fall von
“Supervenienz”). Eine derartige Auffassung finden wir bei Searle in seiner
10
Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, wo die obere, abstrakte
Schicht von “institutionellen Tatsachen” sozusagen über die konkrete Welt
von menschlichen Tätigkeiten, Gewohnheiten, Glaubenszuständen u. dgl.
schwebt. Das Problem einer solchen Auffassung ist, daß sie die Tatsache
schwer erklärbar macht, daß es Interaktionen zwischen den beiden Schichten
in beiden Richtungen gibt. Unser Verhalten als kausal-energetische Wesen ist
doch in vielfacher Hinsicht durch unsere Partizipation in sozialen Objekten in
einer Weise beeinflußt, die eine Auffassung letzterer als bloße abstrakte
Wiederspiegelungen der ihnen unterliegenden kausalen Geschehnisse
auszuschließen scheint. Wie können wir aber die Tatsache, daß soziale
Objekte durch rechtliche Bestimmungen, durch bloße Erlasse in die Welt
kommen, in Einklang mit der Tatsache bringen, daß sie die Fähigkeit haben,
unser Verhalten zu bestimmen und zu erzwingen (das Problem der
Normativität von Normen)?
Ontologie des Mesokosmos
Soziale Objekte sind Geschöpfe der mesoskopischen Wirklichkeit, die wir
auch die Welt des Common-sense nennen können. (12) Diese ist eine Welt in
der Menschen arbeiten, essen, schlafen, sprechen, beurteilen, bewerten, eine
Welt von Tieren, Tischen, Kleidern, von Süß und Sauer, von Rot und Grün,
Warm und Kalt. Diese Common-sense-Welt ist vor allem eine Welt von
Dingen, die wir in der Erfüllung verschiedener praktischer Zwecke
verwenden.
Zur Common-sense-Welt gehören auch die Medien (Wasser, Rauch), worin
die Dinge sich bewegen.(13) Zur Common-sense-Welt gehören aber vor allem
auch die Umwelten, die Nischen, in denen wir unsere alltäglichen Aufgaben
ausführen. Was ich jetzt behaupten möchte ist, daß genauso wie die
Gesamtheit von Substanzen und Akzidenzien in natürliche Arten und Spezies
eingeteilt ist, es auch bei den verschiedenen Nischen unseres alltäglichen
Verhaltens eine ähnliche Einteilung in Arten und Spezies von Nischen gibt.
Die Common-sense-Welt ist nicht nur in intelligibler Weise in Spezies und
Genera von Dingen, Qualitäten, Vorgängen eingeteilt, sondern auch in
Spezies und Genera von Nischen, von sozialen und institutionellen Kontexten,
von Verhaltensrahmen, Settings, worin wir Menschen als Teilnehmer
verflochten sind. Es gibt immer wieder Fußballspiele, immer wieder
Hochzeiten, immer wieder philosophische Vorträge. Es ist dann nicht so als
ob wir Menschen auf der einen Seite und dingliche Verhaltenskontexte auf der
anderen hätten, als ob die Kluft dazwischen etwa durch ein Verhältnis
“Intentionalität” zu überbrücken wäre. Vielmehr sind sowohl wir Menschen
selbst als auch die physischen Gegenstände unseres alltäglichen Tuns und
Lassens in solchen Verhaltenskontexten zusammengebunden.
11
Verhaltenskontexte sind Entitäten einer neuen Kategorie, die die Welt
mesoskopischer Dinge und Geschehnisse durch und durch prägen. Der
amerikanische Psychologe Roger Barker, wie Gibson Vertreter der
sogenannten “ökologischen Psychologie”, nennt sie “behavior settings” oder
auch “physical-behavioral units” (physisch-behaviorale Einheiten), um die
Tatsache in den Vordergrund zu rücken, daß Verhaltenskontexte sowohl eine
physische Seite haben (die Seite der Umweltgegenstände, Zimmer, Tische,
Stühle, Gänge, Zäune, usw.), wie auch eine Seite des menschlichen
Verhaltens.
Barker war Schüler des Gestaltpsychologen Kurt Lewin und arbeitete
zuerst als Assistent in der von Lewin gegründeten Child Welfare Station in
Iowa. Die Arten von physisch-behavioralen Einheiten, die durch Barker
besonders favorisiert wurden, waren dementsprechend: Wendys
Geometriestunde am Freitag Nachmittag, Franks tägliche Turnübung, das
wöchentliche Treffen des Schachclubs. Solche Verhaltenskontexte
wiederholen sich. Sie kommen immer wieder. Sie sind ferner, um mit Barker
zu sprechen, “ganz gewöhnliche phänomenale Entitäten, natürliche Einheiten,
die in keiner Weise durch einen Ermittler aufoktroyiert werden. Den Laien
sind sie genau so objektiv wie Flüsse und Wälder – sie sind Teile der
objektiven Umwelt, die direkt erlebt werden wie Regen und Strände.” (14)
Physisch-behaviorale Einheiten sind Teile der Wirklichkeit, die von
unüberschätzbarer Bedeutung für das Verständnis menschlichen Lebens sind,
da fast alle Formen menschlichen Verhaltens sich in ihrem Rahmen ereignen.
Alle Rollen werden in einem entsprechenden Verhaltenskontext gespielt.
Jedes Walten eines Amtes besteht nur im Rahmen eines solchen. Alle
Organisationen sind aus physisch-behavioralen Einheiten aufgebaut. Jede
künstlerische Tätigkeit existiert als solche nur mit und in einem durch sie
geschaffenen Setting. Jeder hermeneutische Umgang mit einem Text setzt die
Bezugnahme auf relevante Kontexte voraus, die ebenfalls mit Hilfe des
Begriffs einer physisch-behavioralen Einheit zu behandelbaren Gegenstände
der Forschung gemacht werden können. Alle Biographien sind als eine Folge
von physisch-behavioralen Einheiten geordnet. Auch das Gehen oder das
Fahren von einem Ort (Verhaltenskontext) zu einem anderen ist in die
Kategorie der physisch-behavioralen Einheiten einzuordnen. Nur in den ganz
seltenen Augenblicken der totalen Desorientiertheit kann es erscheinen, daß
wir von allen physisch-behavioralen Einheiten befreit sind. Das heißt aber,
daß wir uns gerade in bezug auf Entitäten dieser Kategorie in den normalen
Fällen orientieren.
Vorgeschichte der physisch-behavioralen Einheiten
12
Kurt Lewin, Fritz Heider, Karl Bühler, Egon Brunswik und andere
Gestaltpsychologen der zweiten Generation haben wichtige Fortschritte in
Richtung einer Ontologie der Umwelt des menschlichen Verhaltens gemacht.
Abgesehen von gewissen Passagen in den Schriften Heideggers und der von
ihm beeinflußten französischen Existentialisten waren Verhaltenskontexte
allerdings unter Philosophen fast völlig vernachlässigt – wieder eine
Konsequenz der Bevorzugung seitens der philosophischen Tradition von
episteme gegenüber doxa. Verhaltenskontexte wie: meine Abendsuppe,
Wolfgangs Besuch in der Autowerkstatt, gehören par excellence dem
(“uneigentlichen”) Bereich bloßer Meinungen an. Daher ist man zu dem
Schluß gekommen, daß Objekte dieses Typs entweder einer
wissenschaftlichen Behandlung nicht fähig sind (Heidegger), oder daß sie
überhaupt nicht existieren (Quine).
Die Philosophen der Tradition hatten desweiteren oftmals eine Vorliebe für
verhältnismäßig einfache ontologische Systeme gekennzeichnet, und sie
tendierten auch dazu, Ontologien zu entwickeln, die den Rahmen der
aristotelischen Kategorientafel nicht sprengen würden. Wie jetzt schon klar
sein wird, physisch-behaviorale Einheiten sind radikal transkategoriale
Einheiten: Sie überspringen die kategoriale Grenze zwischen Substanz und
Akzidens. Und weil sie in keine der beiden Seinsordnungen eingeordnet
werden konnten, wurden sie in der Tradition vernachlässigt. Auch die
sogenannten “Ordinary Language Philosophers” der Jahrhundertmitte, die den
Ehrgeiz hatten, den Common-sense Bereich in den Griff zu bekommen, haben
Auffassungen entwickelt, die die Gegenstände dieses transkategorialen
Bereichs im Rahmen einer monokategorialen Theorie zu verstehen versuchen,
die die Sprache als zentrales organisierendes Moment des Common-sense
Bereichs hinstellt. In der Tat allerdings, wie Wittgenstein bemerkt hat, ist die
Sprache ein Phänomen, das selbst kohärenterweise erst im Rahmen einer
Ontologie von Verhaltenskontexten erklärt werden könnte: “eine Sprache
vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.” “… das Sprechen der
Sprache [ist] ein Teil einer Tätigkeit, oder einer Lebensform” (15)
Verhaltenskontexte und der Mesokosmos sozialen Verhaltens sind viel älter
als die Sprache. Die Alltagswelt dieses Verhaltens unter ihrem linguistischen
Aspekt erklären zu wollen, heißt, das Ganze erklären zu wollen unter dem
Aspekt einer seiner verhältnismäßig spät entwickelten Teile.
Ontologie von physisch-behavioralen Einheiten
Jeder Verhaltenskontext hat zwei Sorten von Bestandteilen: Menschen, die
sich so und so verhalten (beim Vortragen, Zuhören, Essen, Fahren), und
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physische Gegenstände, die mit diesem Verhalten assoziiert werden (Stühle,
Wiesen, Angelruten, Skalpelle). Jeder Verhaltenskontext hat eine mehr oder
weniger wohldefinierte Grenze, die ein organisiertes internes
Vordergrundmuster von einem externen Hintergrund (einem “Horizont”, um
mit Husserl zu sprechen) trennt. Auch diese Grenze ist ein Teil der objektiven
Wirklichkeit. Die Grenze kann sowohl räumlich als auch zeitlich sein.
(Schüler und Lehrer sind im Klassenzimmer. Das Rennen beginnt um 10 Uhr
morgens, das Geschäft schließt um 8 Uhr abends.) Die Grenze eines
Verhaltenskontexts umfaßt physisch ein gewisses Stück Welt (einen
Fußballplatz, einen Tisch in der Mensa, ein Krankenbett). Auf der
Verhaltensseite umfaßt sie nur Verhalten gewisser Formen oder Muster und
schließt fremdes Verhalten aus, das nichts mit der gegebenen
Verhaltenseinheit zu tun hat. Ein Niesen seitens des Bräutigams gehört nicht
zum Verhaltenskontext einer Hochzeitszeremonie.
Die ökologischen Nischen der Tierwelt sind komplexe natürliche Gebilde,
Verhaltenskontexte wie politische Sitzungen oder Symphoniekonzerte sind
dagegen zum größeren Teil Artefakte. Wie Barker es formulierte:
Das Modell einer Maschine scheint eher geeignet als das
Modell eines Organismus oder einer Person, um das
Geschehen [im Bereich der Verhaltenskontexte] darzustellen.
Ein Verhaltenskontext kann z. B. “abgeschaltet” und
auseinandergenommen werden nach dem Willen des Leiters
oder des Vorsitzenden. Letzterer kann die Sitzung (für eine
Kaffeepause) unterbrechen und sie dann wieder zur Ordnung
rufen. Im auseinandergenommenen Zustand können einige
Teile reguliert werden (ein Teilnehmer ersetzt werden).
Individuen haben keine psychologischen Eigenschaften wie
diese. (16)
Die zeitlichen Gestalten vieler Verhaltenskontexte sind daher wesentlich
anders als die zeitlichen Gestalten individueller Leben und Erfahrungen.
Auf der anderen Seite zeigen Verhaltenskontexte eine Widerstands- und
Überlebensfähigkeit, die sehr ähnlich ist mit dem, welchem man im
biologischen Bereich begegnet. Verhaltenskontexte sind oft selbstregulierend.
Sie führen ihre Teilnehmer zu spezifischen charakteristischen Zuständen und
sie schützen diese Zustände innerhalb eines begrenzten Bereichs von
möglichen Änderungen vor externen Störungen. Kleine Änderungen innerhalb
gegebener Dimensionen können ohne Schaden für das Weiterbestehen eines
Verhaltenskontexts dieses Types verkraftet werden. Das Gesamtverhalten, das
die relevante Einheit ausmacht, z. B. eines akademischen Vortrags, kann nicht
grosso modo geändert werden, ohne daß es gänzlich zerstört wird. Der
Vortragende darf nicht singen oder sich selbst Beifall klatschen. Er darf nicht
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zu viele Witze erzählen. Die Sitzung muß eine Einleitung haben, die
möglichst vor dem Vortrag, eine Diskussion, die möglichst nach dem Vortrag
stattfinden sollte. Die Sitzung hat darüber hinaus eine hierarchische Struktur
ineinandergeschachtelter Subteile: es gibt verschiedene Teilnehmer mit
bestimmten Rollen: Vorsitzende, Vortragende, Zuhörer, usw.; es gibt
verschiedene Teile des Vortrags selbst: Sektionen, Absätze, einzelne Sätze,
Worte, usw. Wie im Bereich der Substanzen und Akzidenzien, so auch im
Bereich der Verhaltenskontexte bezeugen die Gebilde, mit denen wir zu tun
haben, die Struktur eines mehrschichtigen Montagebaus mehr oder weniger
ersetzbarer Bestandteile.
Die systematische reziproke Anpassung zwischen Verhalten und
Nische
Ein Verhaltenskontext ist eine Einheit. Seine Teile sind vereinigt, nicht aber
durch irgendwelche Ähnlichkeit oder substantielle Gemeinschaft, sondern
durch eine Verwobenheit der verschiedenen Teile ineinander, sowohl der
physischen als auch der behavioralen, in einer Weise, daß sie zusammen ein
bestimmtes Schema formen, das in keiner Hinsicht willkürlich ist. Es herrscht
wieder ein Verhältnis der gegenseitigen Anpassung zwischen den typischen
Verhaltensmustern, die sich im gegebenen Verhaltenskontext ereignen, und
der Anordnung seiner physischen Bestandteile. Die Sitzplätze in der Aula sind
in Richtung auf die Sprecherin angeordnet, die ihre Bemerkungen an die
Zuhörer richtet. Die Grenze des Fußballplatzes ist, abgesehen von einigen
vorgeschriebenen Ausnahmen, auch die Grenze des Spielverhaltens. Diese
gegenseitige Anpassung von Verhalten und physischer Umwelt bezieht sich
auf die feine innere Struktur des Verhaltens in einer Weise, die eine radikale
Nichttransponierbarkeit gewöhnlicher Verhaltensmuster von einer Umwelt in
eine andere mit sich bringt. Die physischen (historischen, zeremoniellen)
Bedingungen, die an gegebenen Orten verwirklicht werden, sind
darüberhinaus für gewisse Verhaltenstypen wesentlich, wie auch spezifische
Personen mit spezifischen Motivationen oder Fähigkeiten wesentlich sein
können.
Es gibt verschiedene Kräfte, die dazu beitragen, daß diese gegenseitige
Anpassung zustande kommt und sich in einer Weise bewahrt, die die Integrität
der physisch-behavioralen Einheit durch die Zeit aufrechterhält. Diese Kräfte
bestehen darin, daß der Verhaltenskontext als physische Struktur die in ihm
beheimateten Verhaltensabläufe bestimmt, etwa dadurch, daß Zäune oder
Gänge oder klimatische oder topographische Aspekte der gegebenen
Umgebung die möglichen Bewegungen seitens der Teilnehmer einschränken.
Die physische Welt liefert dadurch, daß sie die Nischen unserem Verhalten
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bereitstellt, ein System von Gleisen für die routinisierten Aspekte unseres
Lebens.
Hierarchische Struktur Transkategorialität und generische
Abhängigkeit physisch-behavioraler Einheiten
Viele physisch-behaviorale Einheiten treten in Montagebaustrukturen auf, wie
vergleichsweise ein Kükenembryo als eine eingenistete Hierachie von
Organen, Zellen, Kernen, Molekülen, Atomen, und subatomaren Teilchen
aufgebaut ist. Hier allerdings ist die Montagebaustruktur eine doppelte:
sowohl die physischen Teile einer gegebenen physisch-behavioralen Einheit
als auch die assoziierten stabilen Verhaltensmuster seitens der teilnehmenden
Personen sind in den Standardfällen Unterteilungen in weitere Einheiten fähig,
die ihre eigenen mehr oder weniger bestimmten Grenzen innerhalb des
Gesamtkontextes haben. Eine Einheit im Mittelbereich einer solchen
Montagebaustruktur ist sowohl Ganzes als auch Teil, sowohl Ding für die es
umschließende Nische als auch Umwelt für die Untereinheiten, die sie enthält.
Die erste Strophe ist Teil des ersten Satzes, der erste Satz Teil der ganzen
Symphonie, die Symphonie Teil des ganzen Konzerts. Ein lächelnder Mund
lächelt nur in einem menschlichen Gesicht.
Eine physisch-behaviorale Einheit ist eine transkategoriale Struktur.
Schon einfache Ereignisse können manchmal sehr komplex sein. Betrachten
wir z. B. einen Akt des Versprechens. Dieser enthält Teile von sprachlicher,
psychologischer, rechtlicher und ethischer Natur sowie rein physische Teile
(wie Luftschwingungen sowie chemische und elektrische Prozesse im
Gehirn). Eine physisch-behaviorale Einheit wie eine Messe, eine
Gemeinderatssitzung oder die Inthronisation eines Archiepiskopos ist eine viel
komplexere Zusammensetzung von Personen, Orten, Zeiten, Handlungen und
Gegenständen. Sie umschließt außerdem noch vielerlei nicht-physische
Bestandteile, wie z. B. sprachliche und rechtliche Elemente, Werte und
Normen, alle in ganz spezifischen Weisen mit den anderen Elementen
zusammenkombiniert. Die mitverwickelten Bestandteile sind dann nicht nur
in ihrer materiellen Konstitution vielfältig sondern auch in ihrer kategorischen
Form: sie beinhalten Substanzen, Ereignisse, Handlungen, Zustände, und
mannigfaltige Relationen zwischen diesen.Wie Barker schreibt:
Die begriffliche Inkommensurabilität der Phänomene, so sehr ein
Hindernis für die Vereinheitlichung der Wissenschaften, scheint die Einheiten
der Natur nicht zu stören. In den größeren Einheiten sind Dinge und
Ereignisse von begrifflich immer entfernteren Wissenschaften aufgenommen
und reguliert. (17)
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Was unser Verhalten angeht, muß also auch die radikalste Diversität der
Genera und Kategorien die Integration nicht verhindern.
Personen als soziale Objekte
Das Verhältnis zwischen Teilnehmer und Verhaltenskontext ist eines der
reziproken Kodetermination. Jede teilnehmende Person hat zwei Stellen
innerhalb des Ganzen: 1. ist sie ein Bestandteil, und erbringt dadurch einen
Beitrag zum Aufbau des Ganzen; 2. ist sie ein Individuum, dessen Verhalten
und dessen Eigenart als teilnehmendes soziales Objekt teilweise durch dieses
Ganze geformt ist. Die Person ist gefärbt und gestaltet, ist zutiefst geprägt
durch ihren augenblicklichen Verhaltenskontext. Und weil dieser Kontext sich
ständig ändert folgt auch, daß eine und dieselbe Person viele Stärken, viele
Intelligenzen,
viele
Grade
der
sozialen
Reife,
viele
Auffassungsgeschwindigkeiten, viele Grade der Liberalität und des
Konservatismus, viele Grade der Moralität aufweist, äbhängig zum großen
Teil vom jeweiligen Kontext ihres Verhaltens. Dieselbe Person, die eine
markante Einfältigkeit z. B. gegenüber einem mechanischen Problem hat, mag
eine beeindruckende Fertigkeit und Geschicklichkeit in gesellschaftlichen
Situationen zeigen. (18)
Eine menschliche Gesellschaft besteht schon aus diesem Grund nicht aus
Menschen als Einzelteilen, die wie Atome voneinander getrennt existieren
würden. Sie besteht vielmehr aus Menschen, die in verschiedenen Weisen
miteinander verwoben sind. Dasselbe Individuum tritt immer wieder in
verschiedenen Rollen auf, je nach seinen verschiedenen sozialen – religiösen,
politischen, familiären – Angliederungen.
Zusammenfassung
Unsere Theorie von sozialen Objekten können wir nun zusammenfassen. Es
gibt physisch-behaviorale Einheiten: bekannte, reguläre, sich immer
wiederholende Verhaltensmuster, die unser alltägliches Leben bestimmen.
Diese physisch-behavioralen Einheiten bilden die Schlüsselkategorie für ein
Verständnis sozialer Objekte insgesamt. Solche physisch-behavioralen
Einheiten sind genauso ein Teil der Wirklichkeit wie die mesoskopischen
Substanzen und Akzidenzien, die in ihnen eingenistet sind. Auch soziale
Objekte anderer Arten – gefällte Urteile, verliehene Auszeichungen,
beantwortete Fragen – existieren nur im Rahmen von physisch-behavioralen
Einheiten. In diesem Sinn, möchte ich behaupten, bildet die Kategorie
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physisch-behavioraler Einheiten das zentrale organisierende Prinzip des
Raums sozialer Phänomene.
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Fußnoten
1. Searle 1995, S. 24.
2. Husserl 1952, S. 185.
3. Scheler 1954, S. 158f.
4. Vgl. Uexküll 1928.
5. Vgl. Gibson 1986, S. 101.
6. Merleau-Ponty 1966, S. 175.
7. Merleau-Ponty, a.a.O.
8. Krisis, Beilage III, Hua VI, S. 382.
9. Vgl. Smith und Varzi 1998.
10. Vgl. Gilbert 1989, 1993.
11. Marty 1908, S. 321.
12. Vgl. Smith 1994, 1995.
13. Vgl. Heider 1926.
14. Barker 1968, S. 11.
19
15. Wittgenstein 1984, S. 241f., 250.
16. Barker 1978, S. 34f.
17. Barker 1968, S. 155.
18. Schoggen 1989, S. 7.
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