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Das" Land" Schwaben im späten Mittelalter

1992

See discussions, stats, and author profiles for this publication at: https://www.researchgate.net/publication/29759487 Das "Land" Schwaben im späten Mittelalter Article · January 1992 Source: OAI CITATIONS READS 0 11 1 author: Klaus Graf RWTH Aachen University 81 PUBLICATIONS 36 CITATIONS SEE PROFILE All content following this page was uploaded by Klaus Graf on 28 October 2015. The user has requested enhancement of the downloaded file. Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter Von Klaus Graf, Koblenz Am Ende des Mittelalters war Schwaben bekanntlich alles andere als ein Territorialstaat. Muß man somit das „Land" Schwaben, von dem im späten Mittelalter in den unterschiedlichsten Zusammenhängen die Rede war, als bloße Fiktion betrachten, der reale Bedeutung nicht zukam? War diese im Vergleich zu wirklichen Ländern doch eher merkwürdige Größe Schwaben „nur eine archaisierende Reminiszenz"1, sozusagen ein Relikt aus der „Rumpelkammer der Majestät"2, oder das Produkt eines „Wunschdenkens", das an die Stelle der politischen Wirklichkeit getreten war3? Oder ist eine am Idealtyp des neuzeitlichen Fürstenstaates und seiner „Machtpolitik" orientierte Betrachtungsweise womöglich gar nicht geeignet, den Stellenwert der von verschiedenen politischen Kräften und gesellschaftlichen Trägergruppen im Blick auf die alte gentile Einheit Schwaben entworfenen „Landes"Modelle angemessen zu würdigen? Drei gewichtige neuere Arbeiten zum Thema „Schwaben" lassen die Notwendigkeit und die Tragfähigkeit eines alternativen Ansatzes erkennen. 1983 hat Dieter Mertens die Frage gestellt, was die Formulierung des Nikolaus Basellius über den Tübinger Poeten Heinrich Bebel, er habe das Vaterland Schwaben ("patriam Sueviam") durch Ahnenlob in geistiger Leistung wiederhergestellt, zu besagen habe. Seine Antwort lautet: „Ein Land zu schaffen, eine patria wiederherzustellen, bedarf es offenbar nicht nur eines politischen Prozesses, durch Herrschaft oder Einung bewerkstelligt, sondern auch eines intellektuellen, indem Selbstverständnis und Selbstvergewisserung, ideelle und ideologische Momente der Bewußtseinsbildung als komplementäre Kräfte der politischen Entwicklung begriffen und gefördert werden"4. Anläßlich des gleichen Basellius-Zitats hat Klaus Schreiner die 1 Heinrich Mitteis, Land und Herrschaft (1941), in: Ders., Die Rechtsidee in der Geschichte. Gesammelte Abhandlungen und Vorträge, Weimar 1957, 370 hinsichtlich der Nennung der vier Länder Sachsen, Franken, Schwaben und Baiern im Sachsenspiegel. 2 Ernst Bock, Der Schwäbische Bund und seine Verfassungen 1488 - 1534. Ein Beitrag zur Geschichte der Zeit der Reichsreform (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte 137), Breslau 1927, Nachdruck Aalen 1968, 8. 3 So die an Mitteis (Anm. 1) anknüpfende Interpretation von Josef Köhler, Studien zum Problem des Regionalismus im späten Mittelalter, Diss. Würzburg 1971, 51. 4 Dieter Mertens, „Bebelius ... patriam Sueviam . . . restituit". Der poeta laureatus zwischen Reich"~und Territorium, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 42 (1983), 145 - 173, hier 149 f. 128 Klaus Graf Bedeutung der Traditionsbildung für die Stammes-Identität hervorgehoben: „Basellius wollte zum Ausdruck bringen: Erinnerung verbindet mit dem Strom der Generationen, begründet Zusammengehörigkeit und Heimat. Erst durch Erinnerung nimmt herrschaftlich geordnetes Land menschliche Züge an" 5 . Einen Traditionstatbestand, nämlich die schwäbische Herzogswürde, hat auch Hans-Georg Hofacker in den Mittelpunkt seines 1988 erschienenen Aufsatzes gestellt, der die Auseinandersetzungen um das „Land Schwaben" in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts grundlegend aus den gedruckten und archivalischen Quellen aufgearbeitet hat 6 . Vermag so die Geschichte der politischen Ideen und der Traditionsbildung die gängige verfassungsgeschichtliche Fragestellung der Landesgeschichte erfolgreich auszuweiten, so ergibt sich eine weitere Veränderung des Blickfeldes, wenn man literarische Texte und ihre Landes-Entwürfe berücksichtigt. Meine Interpretation der spätmittelalterlichen Verserzählung „Friedrich von Schwaben"7 und der fiktiven Erzählungen eines sich Thomas Lirer nennenden Autors über das Land Schwaben und seine Herzöge machte eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Landesbegriff Otto Brunners erforderlich8. Den daran anschließenden Versuch, die Funktionen des Schwaben-Diskurses für verschiedene Trägergruppen zu skizzieren und dem oberrheinischen „Regionalismus" gegenüberzustellen9, gilt es im folgenden mit Beschränkung auf das „Land" Schwaben wieder aufzunehmen und fortzuführen. I. Gruppenübergreifende Aspekte Auszugehen ist von einem Ensemble von Zeugnissen, in denen von „Schwaben" die Rede ist und das man deshalb auch als Schwaben-Diskurs 5 Klaus Schreiner, Alemannisch-schwäbische Stammesgeschichte als Faktor regionaler Traditionsbildung, in: Die historische Landschaft zwischen Lech und Vogesen. Forschungen und Fragen zur gesamtalemannischen Geschichte, hrsg. von Pankraz Fried und Wolf-Dieter Sick (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg i.Br. 59), Augsburg 1988, 15 - 37, hier 19. 6 Hans-Georg Hofacker, Die schwäbische Herzogswürde. Untersuchungen zur landesfürstlichen und kaiserlichen Politik im deutschen Südwesten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 47 (1988), 71 - 148. 7 Klaus Graf, Gmünder Chroniken im 16. Jahrhundert. Texte und Untersuchungen zur Geschichtsschreibung der Reichsstadt Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd 1984,17-21. 8 Klaus Graf, Exemplarische Geschichten. Thomas Lirers „Schwäbische Chronik" und die „Gmünder Kaiserchronik" (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 7), München 1987, 99 - 115. 9 Klaus Graf, Aspekte zum Regionalismus in Schwaben und am Oberrhein im Spätmittelalter, in: Historiographie am Oberrhein im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hrsg. von Kurt Andermann (Oberrheinische Studien 7), Sigmaringen 1988, 165 - 192. Vgl. dazu Otto Herding, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 49 (1990), 531 f. Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 129 bezeichnen könnte10. Die Fragestellung zielt auf Semantik und Pragmatik dieses Regionalbegriffs in spätmittelalterlichen Texten, auf seinen Gebrauch in unterschiedlichen Kontexten und durch unterschiedliche Träger. Eine „realistische" Interpretation des Begriffs erscheint dabei nicht sinnvoll. Es darf also nicht vorausgesetzt werden, daß sich die Verwendung der Gebiets- oder Personengruppenbezeichnung „Schwaben" auf einen „Gegenstand" bezieht, den man heute juristisch als „Gebietskörperschaft" bezeichnen könnte. Die Frage, welches Gebiet oder welche „Vorstellung" Schwaben im späten Mittelalter „wirklich" war, erweist sich als sinnlos, da die Entscheidung, welcher Kontext und welche Gruppe die Bedeutung des Begriffs bestimmen darf, als „essentialistische" Festlegung das Ergebnis der Untersuchung präjudizieren würde. Ein Teil der zu besprechenden Zeugnisse bringt eine Zugehörigkeit von Personen und Personengruppen zu dieser Bezugsgröße Schwaben zur Sprache, für die sich die Begriffe „Landesbewußtsein", „Wir-Gefühl", „Selbstverständnis", „Stammespatriotismus", „Heimatliebe" usw. eingebürgert haben. Jeder dieser Begriffe besitzt eine eigene Färbung, einen eigenen philosophischen oder psychologischen Verständnishintergrund. Aus grundsätzlichen Erwägungen sehe ich davon ab, mich auf einen dieser Begriffe oder eine nähere Kennzeichnung der mentalen Daten, die hinter den sprachlichen Ausdrucksformen vermutet werden, festzulegen11. Insbesondere jene Zeugnisse, die Schwaben mit dem Quellenbegriff „Land" bezeichnen, bilden das Material für die Konstruktion von LandesModellen, mit denen zeitgenössische Konzeptionen vornehmlich im Feld des Politischen beschrieben werden sollen. Die verschiedenen Landes-Modelle lassen sich als Netz verstehen, in dem es zahlreiche Übergänge und starke Übereinstimmungen ("Familienähnlichkeiten" im Sinne Ludwig Wittgensteins12) gibt, das aber auch innere Widersprüche aufweisen kann. Trotzdem geht der Titel dieses Beitrags von „dem" Land Schwaben aus und zielt dabei auf eine gruppenübergreifend verbindliche Lebensordnung, die „ganzheitlich" die politischen mit den vermeintlich „unpolitischen" 10 Terminologische und theoretische Voraussetzungen sind begründet bei Graf (Anm. 8), 9 - 24; Ders. (Anm. 9), 168 -170. Vgl. die Stellungnahmen von Helmut Maurer, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees 107 (1989), 286 - 288 (zum Begriff „Landesbewußtsein") und Jan Dirk Müller, in: Daphnis 18 (1989), 717 - 722 (zum Begriff „Diskurs"). 11 Zu dieser auf Wittgenstein zurückgehenden Skepsis vgl. jüngst etwa aus juristischer Sicht Walter Grasnick, Der Strafprozeß als mentaler Diskurs und Sprachspiel. Überlegungen aus Anlaß der erweiterten Neuausgabe der Schriften Ludwig Wittgensteins zur Philosophie der Psychologie, in: Juristen-Zeitung 1991, 285 - 295. 12 Zur Anwendung dieses Begriffs in der Geschichtswissenschaft vgl. etwa Carlo Ginzburg, Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte, Berlin 1989, 24; Klaus Graf, Thesen zur Verabschiedung des Begriffs der ,historischen Sage', in: Fabula 29 (1988), 21 - 47, hier 30 f.; Graf (Anm. 8), 18 mit Anm. 51. 130 Klaus Graf Aspekten verbindet. „Verfassung" und „Mentalität" wirken aufeinander ein, ohne daß etwa dem „Politischen" stets der Primat zukäme. Verbergen sich etwa hinter den Konflikten an den (variablen) Grenzen Schwabens machtpolitische Konkurrenzen oder verbergen sich umgekehrt hinter den politischen Konflikten landsmannschaftliche Gegensätze? Das gegenseitige Versteckspiel erübrigt sich, wenn man die „Offenheit" des Begriffs Schwaben für unterschiedliche Bedeutungen und die Existenz von „Übergängen" zwischen unterschiedlichen Modellen ernstzunehmen gewillt ist13. Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen die Landes-Modelle der Fürsten, Adeligen, Städter, Bauern und Humanisten. Vorauszuschicken sind einige Bemerkungen zu den sachlichen Aspekten und gesellschaftlichen Segmenten, an denen sich die Konstruktion von Landes-Modellen orientiert. Jedes Landes-Modell impliziert spezifische Werte, mit denen die Verbundenheit der institutionellen oder persönlichen Mitglieder des Landes untereinander und zum Land beschrieben werden können. Wird das Land als „Nation" oder „Vaterland" bzw. „patria" bezeichnet, so wird damit eine normative Festlegung über das Verhältnis zum Land getroffen. Der Patriot ist zum Stolz auf sein Land berechtigt und zur Vaterlandsliebe verpflichtet. Den „Kompatrioten" schuldet er Solidarität. Die soeben verwendeten Begriffe gehören teilweise der Quellensprache, teilweise der Sprache der Forschung an. Heilbronn und Wimpfen schrieben 1493 den Städten im Schwäbischen Bund: was den erbern stetten auch gemeiner swebischen nacion zu eren, nutz und gut dienen macht, wem wir [... ] zu furdern [ ... ] geneigt14. Darf die „schwäbische Nation" in gleicher Weise wie die in der gleichen Zeit erwähnte „deutsche Nation" als „politisch-herrschaftlicher Verband, als handlungsfähige politische Einheit der politisch berechtigten Stände, als strukturiertes Gemeinwesen und als verpflichtende politische Wertgröße"15 aufgefaßt werden? Unverkennbar sind jedenfalls die Übereinstimmungen in den zugrundeliegenden Konzeptionen. Solche Deckungsgleichheiten ("Isomorphismen") bestehen nicht nur zwischen den Modellen „Nation" (als Quellenbegriff für das „Reich") und „Nation" = „Land Schwaben", sondern 13 Vgl. dazu auch Heinz Gollwitzer, Die politische Landschaft in der deutschen Geschichte des 19.720. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27 (1964), 523 - 552, hier 539: „Der Regionalismus, der sich unbequem und eigenwillig in die Politik einführte, ging teils von der Landschaft als historischer Größe und Inbegriff heimatlicher Tradition aus, teils diente sie ihm nur als Gehäuse einer besonders entschiedenen politischen Gesinnung". 14 Urkundenbuch der Stadt Heilbronn, Bd. 2, bearb. von Moritz von Rauch (Württembergische Geschichtsquellen 15), Stuttgart 1913, 544 Nr. 1676. 15 Eberhard Isenmann, Kaiser, Reich und deutsche Nation am Ausgang des 15. Jahrhunderts, in: Ansätze und Diskontinuität deutscher Nationsbildung im Mittelalter, hrsg. von Joachim Ehlers (Nationes 8), Sigmaringen 1989, 145 - 246, hier 157. Auf Bedeutungsdifferenzen zwischen „patria" und „natio" macht aufmerksam Dieter Mertens, Reich und Elsaß zur Zeit Kaiser Maximilian L, masch. Habilitationsschrift Freiburg i.Br. 1977, 65. Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 131 auch zwischen den zahlreichen, von der Forschung erarbeiteten „ Staats "Modellen, die in Betracht zu ziehen sind: Landgemeinde, Gau, Region, Landschaft, Stamm, landesherrschaftliches Amt, Territorium usw. Gefragt ist somit eine differenzierende Beschreibung, die über den spezifischen historisch-regionalen Konstellationen die zugrundeliegenden begriffsgeschichtlichen Zusammenhänge und politischen Modelle nicht aus dem Auge verliert — und umgekehrt. Die Forderung, bei Quellen- und Forschungsbegriffen den jeweiligen begriffsgeschichtlichen Kontext nicht zu vernachlässigen, vermag auch die vorhin angemahnte Vorsicht beim Gebrauch von Begriffen der Zugehörigkeit zu rechtfertigen. Es macht beispielsweise einen Unterschied, ob von „Solidarität", „Loyalität", „Heimatgefühl" oder „Treue" die Rede ist. Wenn 1331 der didaktische Autor Konrad von Ammenhausen den Rückgang der Treue in Schwaben beklagt, so hat der Grundwert der „Treue" hier einen anderen Bedeutungshintergrund16 als etwa der „Patriotismus" der Humanisten anderthalb Jahrhunderte später. Mit der Vermutung, diese Bezeichnungen bezögen sich auf ein- und dasselbe, eine psychologische oder gar soziobiologische „Grundgegebenheit", die jeglicher „Territorialität" zugrundeliege, ist in Wirklichkeit nichts gewonnen. Jedes Landes-Modell bestimmt den personalen und räumlichen Geltungsbereich des Landes auf eigene Weise. Wird das Land als Personenverband aufgefaßt, so sind Hierarchien, Mitglieds- und Vertretungsrechte zu regeln. Der Raumbezug läßt hingegen räumliche Beziehungen wie die Nachbarschaft, Untergliederungen (z. B. Ober-, Niederschwaben) oder das Phänomen zentraler Orte ("Vororte") in den Vordergrund treten. Es handelt sich dabei um eine Fragestellung, die im Rahmen einer neu orientierten „historischen Geographie" von Geographen in Zusammenarbeit mit Historikern erörtert werden müßte17. Auf den Befund, daß an den Grenzen Schwabens Konfliktzonen liegen, wird im nächsten Abschnitt eingegangen werden. Personen, die einem Land angehören, können ihre personale Identität durch die Angabe der Landeszugehörigkeit bestimmen: Indem sie den Lan16 Das Schachzabelbuch Kunrats von Ammenhausen, hrsg. von Ferdinand Vetter (Bibliothek der älteren Schriftwerke der deutschen Schweiz. Ergänzungsbd.), Frauenfeld 1892, Vers 14053. Zur „triuwe" bei Konrad von Ammenhausen vgl. Hubert Hoffmann, Die geistigen Bindungen an Diesseits und Jenseits in der spätmittelalterlichen Didaktik (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 22), Freiburg i. B. 1969,106-113. 17 Soweit ich sehe, ist von der deutschsprachigen Geographie derzeit wenig Hilfe zu erwarten, was das Mittelalter betrifft. Aus historischer Perspektive haben sich des Themas z. B. angenommen: Michael Mitterauer, Markt und Stadt im Mittelalter (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 21), Stuttgart 1980; Helmut Maurer, Der Herzog von Schwaben. Grundlagen, Wirkungen und Wesen seiner Herrschaft in ottonischer, salischer und staufischer Zeit, Sigmaringen 1978, 33 - 127: Die „Vororte" des Herzogs. Zur Frage „symbolischer" Vororte vgl. etwa Graf (Anm. 7), 23. 132 Klaus Graf desnamen nennen, weisen sie sich aus. Wird einer als Schwabe identifiziert, so weiß man bereits in einer wichtigen Hinsicht, mit wem man es zu tun hat18. Schwaben sind Leute, die nach Schwabenrecht leben. Ein „ganzheitliches" Verständnis des Begriffes „Recht" als Inbegriff gesellschaftlicher Normen vermag die Einsicht nahezulegen, daß dieser Satz nicht nur für das Früh-und Hochmittelalter und die Gerichtsverfassung gültig ist. Das LandRecht bestimmt somit, in welcher Weise der Einzelne Berechtigter und Verpflichteter, in welcher Hinsicht er „frei" ist. Ist das Land somit Friedens- und Rechtsgemeinschaft19, so ist es auch Kriegergemeinschaft, da der Land-Frieden den Schutz der Waffen erfordert. In der Kriegergemeinschaft des Landes leben gefolgschaftliche Werte weiter, allen voran die Tapferkeit. Mit Blick auf das städtische und das bäuerliche Wehrwesen wird man sich davor hüten, das Kriegertum exklusiv für den Adel zu beanspruchen, mag auch der Bezug auf Schwaben in ritterschaftlichen Kreisen besondere Bedeutung gewonnen haben, wie zu zeigen sein wird. Als Kulturgemeinschaft verbindet das Land Leute, die an sich gemeinsame Verhaltensformen und Eigenschaften wahrzunehmen vermeinen oder denen solche „Stereotypen" von außen zugeschrieben werden20. Es handelt sich dabei um eine Gemeinsamkeit, die nach allem nicht entscheidend durch Standes- oder Bildungsschranken bestimmt wird. Als Variante der Kulturgemeinschaft mag man den „Wirtschaftsraum Schwaben" ansehen. Inwieweit etwa Kaufleute den Begriff Schwaben zur Beschreibung ihres Erfahrungsraums oder bei landsmannschaftlichen Zusammenschlüssen in der Fremde verwendet haben, muß hier freilich offengelassen werden21. War der Stamm eine „Kultgemeinschaft", so kann das spätmittelalterliche Land als „Sakralgemeinschaft" bezeichnet werden. Jedes Land habe seinen Heiligen, weiß Sebastian Franck: Franken den hl. Kilian, Schwaben den hl. Ulrich22. Eine einheitliche und spezifische Frömmigkeitspraxis, wie 18 Belege bei Graf(Anm. 9), 184. Die im folgenden gebrauchten Gemeinschaftsbegriffe orientieren sich bewußt an dem Abschnitt „Hauptmerkmale des Stammesbegriffes" bei Hans K. Schulze, Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, Bd. l, 2. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln 1990, 14-30. 20 Die materialreichste und beste Zusammenstellung bietet nach wie vor: Albrecht Keller, Die Schwaben in der Geschichte des Volkshumors, Freiburg 1907. 21 Nachdem Johannes Bohemus in dem Abschnitt „De Suevia Suevorumque moribus et priscis et recentibus" seines Hauptwerkes „Omnium gentium mores" (1520) die Sitten der Schwaben nach Caesar und Tacitus beschrieben hat, widmet er den Schlußteil fast ganz der Kaufmannschaft und dem Tuchhandel (Ulms): Erich Ludwig Schmidt, Johannes Bohemus: Das Deutsche Volk (1520) (Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht des Kgl. Luisen-Gymnasiums zu Berlin. Ostern 1910), Berlin 1910, 45 - 48. Vgl. auch Erich Schmidt, Deutsche Volkskunde im Zeitalter des Humanismus und der Reformation (Historische Studien 47), Berlin 1904, Nachdruck Vaduz 1965, 92 f. 19 Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 133 sie sich in Ländern der Eidgenossenschaft ausgebildet hat23, wird man in Schwaben jedoch vergeblich suchen. Dies schließt nicht aus, daß Regionalheilige wie der Augsburger Bischof Ulrich als „schwäbische" Heilige interpretiert werden konnten. Legenden von Regionalheiligen, die als „RegionalHerkommen", als Medien zur Präsentation regionaler Identität, zu verstehen sind24, finden sich nicht von ungefähr in historiographischen Werken zitiert. Das Gewicht, das Geschichtsschreiber der Bekehrung der Schwaben zum Christentum beigemessen haben, vermag ebenfalls den Stellenwert der Frömmigkeit im Gefüge „schwäbischer" Werte zu bezeugen25. Wird die Identität des Landes durch Geschichte(n) präsentiert26, so ist damit das Land als Herkommens-, Traditions- und Erinnerungsgemeinschaft erfaßt. Nicht nur in Schwaben sollte man über der Suche nach „der" Stammessage nicht die Vielzahl anderer Erzählungen und Überlieferungen übersehen, in denen die eigene Geschichte, das „Herkommen" Schwabens, zum Thema wurde27. Bei der Frage nach der Traditionsbildung kann die sich aus zahlreichen Traditionsströmen speisende Staufertradition nicht ganz ausgeklammert werden, mit der eben auch die Erinnerung an die „Herzöge von Schwaben" wachgehalten wurde. Im 16. Jahrhundert bezeugte Überlieferungen im Raum um den Hohenstaufen lassen den Schluß zu, daß die Stauferzeit ihren Glanz auch auf die Anfänge von Landgemeinden warf und Herzogstraditionen auch im ländlichen Raum verbreitet waren und zumindest von den dörflichen Oberschichten getragen wurden28. Zum „gemein22 Sebastian Franck, Weltbuch [ . . . ] , Tübingen 1535, Bl. 129b. Vgl. Peter Ochsenbein, Das Große Gebet der Eidgenossen. Überlieferung - Text - Form und Gehalt (Bibliotheca Germanica 24), Bern 1989, bes. 322 - 339. 24 Klaus Graf, Heiligenleben. Forschungsbericht zur Legendenforschung, in: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 89 (1989), 341 - 356, hier 356. Zu dem ebd. behandelten Regionalheiligen St. Fridolin, dem Patron des Landes Glarus, vgl. jetzt auch Konrad Kunze, Fridolins Weg in die Legendensammlungen bis zur Reformation, in: Frühe Kultur in Säckingen, hrsg. von Walter Berschin, Sigmaringen 1991, 77 - 104. Zu Landespatronen ist nachzutragen: Arno Borst, Schutzheilige mittelalterlicher Gemeinschaften, in: Ders., Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters, München 1988, 289 - 311. 25 Vgl. auch die Hinweise bei Graf (Anm. 9), Anm. 72, 98 -100; Graf (Anm. 8), 90, 95 f. 26 Zur „Präsentation der Identität" vgl. grundlegend Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel/Stuttgart 1977, 168ff. 27 Für Sachsen vgl. Hilkert Weddige, Heldensage und Stammessage. Iring und der Untergang des Thüringerreiches in Historiographie und heroischer Dichtung (Hermaea NF 61), Tübingen 1989, und meine Rezension, in: Fabula 31 (1990), 374 - 377, mit Hinweis auf die Position von Frantisek Graus. Zu Fragen der Traditionsbildung ist nach wie vor unersetzt: F. Graus, Lebendige Vergangenheit. Überlieferungen im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Köln/Wien 1975; vgl. auch Ders., Nationale Deutungsmuster der Vergangenheit in spätmittelalterlichen Chroniken, in: Nationalismus in vorindustrieller Zeit, hrsg. von Otto Dann, München 1986, 35 - 53. 28 Das Herkommen des Markts Hohenstaufen von 1535, eine ätiologische Erzählung zum Herzogswappen, ist abgedruckt bei Jürgen Kettenmann, Sagen im Kreis 23 134 Klaus Graf schwäbischen Symbol"29 hat sich im späten 15. Jahrhundert das staufische Dreilöwenwappen entwickelt. Führt man die Abstraktion weiter, so gelangt man über den Begriff der „Erzählgemeinschaft" zum Diskursbegriff und damit zum Ausgangspunkt zurück. Das Land wird in der Verständigung über das Land und in Auseinandersetzung mit den verschiedenen Landes-Modellen konstituiert. Was „Schwaben" bedeutet, wird in einem Gespräch, mit Rede und Gegenrede, Frage und Antwort, ausgehandelt. Auch das politische Handeln läßt sich nach dem dialogischen Prinzip des Sprachspiels begreifen: „Zug um Zug" werden Interessengegensätze zum Ausdruck gebracht und Ansprüche geltend gemacht. Was es mit den gelehrten Diskussionen der Humanisten über „Schwaben" auf sich hat, wird in einem eigenen Abschnitt zu besprechen sein. Ihr Entwurf einer „Gelehrtengemeinschaft" mit dem Zentralwert „Bildung" läßt sich teilweise als besondere Ausprägung der „Sprachgemeinschaft" begreifen. Das Kriterium der gemeinsamen Sprache30 liegt noch den modernen Versuchen, das „wirkliche" Stammesgebiet der Alemannen zu ermitteln, zugrunde31. Der - notwendigerweise kursorische - Überblick hat gezeigt, daß die einzelnen Aspekte in vielfältiger Weise miteinander verflochten sind und daß darüber hinaus zahlreiche Verbindungslinien und kommunikative „Brükken" zu anderen Konzepten und Bedeutungszusammenhängen führen. Damit liegt die Notwendigkeit einer „integrierten" Sicht, die auch die moderne disziplinäre Parzellierung des Themas rückgängig zu machen hätte, auf der Hand. Deutlich dürfte ebenfalls geworden sein, daß nicht alle „schwäbischen" Werte gruppenspezifisch gebunden waren. So wichtig es ist, die einzelnen Trägergruppen in den Blick zu nehmen, so sollte man nicht übersehen, daß es „gemeinschwäbische" Positionen gab, mit denen sich Konsens zwischen den Gruppen herstellen ließ. Wer die Berufung auf das Land Schwaben einGöppingen, 3. Aufl. 1989, 83. Zur möglichen Quelle (Lirer) vgl. Graf ( A n m . 8), 77. Zu den regionalen Staufertraditionen im Gmünder Raum vgl. Graf (Anm. 7), 103 - 106. 29 Hofacker (Anm. 6), 75 mit weiteren Hinweisen (ebd., 74 f.). 30 Zum Schwäbischen vgl. etwa die Belege bei Adolf Socin, Schriftsprache und Dialekte im Deutschen nach Zeugnissen alter und neuer Zeit, Heilbronn 1888, 76 - 79, 109, 180, 266 f. Zu den spätmittelalterlichen lantsprachen vgl. Peter Wiesinger, Regionale und überregionale Sprachausformung im Deutschen vom 12. bis 15. Jahrhunderte unter dem Aspekt der Nationsbildung, in: Ansätze (Anm. 15), 321 - 334; vgl. auch Rüdiger Schnell, Deutsche Literatur und deutsches Nationalbewußtsein in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, ebd., 247 - 319, hier 297 f. 31 Kritisch dazu vgl. Dieter Geuenich, Zur Kontinuität und zu den Grenzen des Alemannischen im Frühmittelalter, in: Die historische Landschaft (Anm. 5), 115 135, hier 117 mit zutreffendem Hinweis auf die „romantische Vorstellung von der inneren Identität eines Volkes über den geschichtlichen Wandel hinweg". Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 135 seitig auf eine kleine Oberschicht beschränken will, verkennt die allgemeine Verbindlichkeit „des" Landes-Modells. Zu einer Entmündigung der meisten Männer und Frauen, die sich als Schwaben verstanden haben, besteht kein Anlaß. Man darf hierzu vielleicht daran erinnern, daß auf die mündlich bestimmte vorreformatorische „Öffentlichkeit" des „gemeinen Mannes" nur äußerst selten das Licht der Quellen fällt. II. Konflikte an den Grenzen Helmut Maurer hat das Auseinanderleben von Schweizern und Schwaben am Hochrhein und die Ausbildung einer bis heute nachwirkenden Feindschaft im Laufe des 15. Jahrhunderts mustergültig nachgezeichnet32. In Konstanz, das so etwas wie eine „Hauptstadt" des alten, ungeteilten Schwaben war33, läßt sich beobachten, wie sich die Leute aus der Innerschweiz und die Menschen am See zunehmend fremd wurden. Bemerkenswert erscheint die Verschränkung „politischer" und „kultureller" Faktoren. Immer weniger kamen die Konstanzer Bürger mit der alpinen Mentalität der Innerschweizer, deren „bäurisches" Wesen sie mit dem Symbol der „Kuh" verspotteten, zurecht. Hinzu kamen kriegerische Konfrontationen, in denen sich Angehörige der Eidgenossenschaft und Seeschwaben als Feinde gegenüberstanden. Maurer will die am Ende des 15. Jahrhunderts an Heftigkeit zunehmende Feindseligkeit zwischen Schweizern und Schwaben auf die „Auseinander-Entwicklung des alten Schwaben in zwei völlig verschiedene soziale Systeme"34 zurückführen: Eine vom Adel bestimmte Stadt, Konstanz, und eine vom Adel beherrschte Landschaft, der Hegau, standen einer sich formierenden „Nation" gegenüber, deren Angehörige sich bewußt als „Bauern" verstanden35. Doch ist diese Gegenüberstellung des „adeligen" Landes Schwaben und der „bäuerlichen" Eidgenossenschaft das Resultat eines längeren historischen Prozesses, der von einer Fülle von sozialen und politischen Faktoren bestimmt wurde36. Eine umfassende Darstellung der allmählichen Distanzierung der Schweiz vom „Land Schwaben" bleibt ein Desiderat37. 32 Helmut Maurer, Schweizer und Schwaben. Ihre Begegnung und ihr Auseinanderleben am Bodensee im Spätmittelalter (Konstanzer Universitätsreden 136), Konstanz 1983. 33 Vgl. ebd., 12. 34 Ebd., 41. 35 Vgl. dazu Guy P. Marchal, Die Antwort der Bauern. Elemente und Schichtungen des eidgenössischen Selbstbewußtseins am Ausgang des Mittelalters, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, hrsg. von Hans Patze (Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987, 757 - 790, hier 764ff. 36 Vgl. Maurer (Anm. 32), 44 mit Anm. 220. 37 Hier nur wenige Hinweise. Zahlreiche Belege zu Zugehörigkeit und Distanzierung in dem nach wie vor wichtigen Aufsatz von Franz Ludwig Baumann, Schwaben 136 Klaus Graf Während sich die „Grenze" zwischen Schwaben und Schweizern nicht vor dem 15. Jahrhundert zu entwickeln begann, haben sich Elsässer, Breisgauer und Ortenauer im gesamten Spätmittelalter nicht als Schwaben verstanden38. 1488 lehnte die Reichsstadt Schlettstadt die Aufforderung des Kaisers zum Eintritt in den Schwäbischen Bund ab, angesehen wie die Lande Schwaben und Elsas mit witem Begriff zwischen böden Landen unterscheiden sint39. Bezeichnend ist, daß der emphatische Regionalismus in der Reichsreformschrift des „Oberrheinischen Anonymus" sich ganz am Rhein und am Elsaß orientiert, nicht jedoch an einer Bezugsgröße Schwaben oder Alemannien40. Auf den Streit zwischen elsässischen und schwäbischen Humanisten wird noch zurückzukommen sein. Für den Kraichgau liegt die ausdrückliche Stellungnahme von Gustav Kolb zum Verhältnis zwischen landsmannschaftlichen und politischen Konund Alemannen, ihre Herkunft und Identität (1876), in: Ders., Forschungen zur schwäbischen Geschichte, Kempten 1899, 500 - 585, hier 557 - 564. Zeugnisse zum gegenseitigen Spott bei Keller (Anna. 20), 46 - 52. Die Klingenberger Chronik wirft aus adeliger Sicht dem Appenzeller Bund vor, er wolle kainen Herren in allem Swabenland bleiben lassen, vgl. Eckart Conrad Lutz, Spiritualis Fornicatio. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein ,Ring' (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 32), Sigmaringen 1990, 144. Den Schutzvertrag des Abtes von St. Gallen mit den Eidgenossen 1479 kritisierte ein Reimspruch aus dem Umkreis der adeligen Lehensleute mit dem Argument, die Vogtei stünde nicht den Eidgenossen zu: Dan das soll sin das ramsche rieh l und die edlen herzog von Schwaben glich, vgl. Immo Eberl, Abt Ulrich Rösch als Landesherr, in: Ulrich Rösch, St. Gallener Fürstabt und Landesherr, hrsg. von Werner Vogler, St. Gallen 1987, 97 - 114, hier 106. In der eidgenössischen Historiographie trennt erst Brennwald „hin und wieder die Eidgenossenschaft von Schwaben", Karl Mommsen, Eidgenossen, Kaiser und Reich. Studien zur Stellung der Eidgenossenschaft innerhalb des heiligen römischen Reiches (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 72), Basel und Stuttgart 1958, 92. Daß der Berner Jetzerhandel „als einzig großes vergiftetes Kompliment der Schwaben an die Eidgenossen" aufgefaßt wurde, erwägt Kathrin Tremp-Utz, Welche Sprache spricht die Jungfrau Maria? Sprachgrenzen und Sprachkenntnisse im bernischen Jetzerhandel (1507 1509), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 38 (1988), 221 - 249, hier 246. 38 Vgl. etwa die Belege bei Baumann (Anm. 37), 555 f. Wenn Straßburger Chronisten ein historisches Bündnis zwischen Schwaben und dem Elsaß ansprachen, so würde ich das nicht wie Schreiner (Anm. 5), 20, als „Bewußtsein stammesmäßiger Zusammengehörigkeit" in Anspruch nehmen. Die Trennung der Elsässer als „auf regionaler Basis erwachsene Untergruppe" der Alemannen vom Hauptvolk geht immerhin auf die Merowingerzeit zurück, Eugen Ewig, Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften, hrsg. von Hartmut Atsma (Beihefte der Francia 3/1), Bd. l, München 1976, 244. 39 Joseph Geny, Die Reichsstadt Schlettstadt und ihr Antheil an den socialpolitischen und religiösen Bewegungen der Jahre 1490 - 1536 (Erläuterungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes I, 5 - 6 ) , Freiburg i. Br. 1900, 4 f. 40 Vgl. dazu Graf (Anm. 9), 178 - 180, und Klaus H. Lauterbach, Der Oberrheinische Revolutionär und Mathias Wurm von Geudertheim. Neue Untersuchungen zur Verfasserfrage, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 45 (1989), 109 -172, hier 118 f., 171 mit Anm. 311. Von der Verfasserschaft des Mathias Wurm bin ich nach wie vor nicht überzeugt: Wurm war nun einmal - anders als der Oberrheiner kein graduierter Jurist. Wenn Schreiner (Anm. 5), 20, behauptet, der Oberrheiner habe nach den „Ursprüngen des schwäbischen Stammes" gesucht, so wird damit ein moderner Schwabenbegriff in den Text zurückprojiziert. Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 137 flikten vor. Er weist auf die „Verschärfung des Stammesgegensatzes durch politische Vorgänge"41 hin und schreibt über den Kraichgau: „Es bildete sich allmählich hüben und drüben im Volk eine feindselige Stimmung heraus. Ihr Untergrund war der alte Stammesgegensatz zwischen Franken und Schwaben, der in unzähligen Neckereien, Schwanken und Geschichten zutage tritt. Die Verschiebung der Landvogteigrenzen, welcher die Francia orientalis zum Opfer fiel, das schroffe Vorgehen Württembergs, des zeitweiligen Inhabers der Landvogtei und seine Verdrängung aus diesem Paradies territorialer Wachstumsmöglichkeit hatte das feindliche Gefühl gewiß nicht gemildert. Besonders heftig mußte es werden, als es nicht mehr ins Allgemeine sich zu verlieren brauchte, sondern in dem Zwist der Pfalz und Württembergs die konkreten Vorgänge fand, an die es Tag um Tag anknüpfen konnte"42. Als Teile des pfälzischen „Satellitensystems" wehrten sich sowohl die Kraichgauer Ritterschaft als auch die Städte Heilbronn und Wimpfen gegen den kaiserlichen Befehl, dem gegen die Wittelsbacher gerichteten Schwäbischen Bund beizutreten43. So sehr die Kraichgauer Adeligen auch mit guten Gründen darauf beharrten, keine Schwaben zu sein, so wenig änderte dies an der Überzeugung der kaiserlichen Partei: Dann wißentlich ist, daß die [ ... ] Kreckgawer und Mortenawer Schwaben und auf swebischem erderich und gezirckh gesessen44. Konnte die Kraichgauer Ritterschaft darauf verweisen, daß ihre Turniergesellschaft „Esel" im System der „vier Lande" Rheinland, Franken, Baiern und Schwaben nie zu Schwaben, sondern stets zum Rheinland gezählt hatte45, so ließ sich die kaiserliche Position mit dem Umfang der Landvogtei Niederschwaben legitimieren. Das Land Schwaben erweist sich in den Auseinandersetzungen um den Umfang des Schwäbischen Bundes somit als politische „Anspruchsgröße", als das Resultat verschiedener Vorverständnisse in Auseinandersetzung mit politischen Zielen46. 41 A. Gustav Kolb, Die Kraichgauer Ritterschaft unter der Regierung des Kurfürsten Philipp von der Pfalz, Diss. Freiburg i.Br. 1909, 34 Anm. 9. 42 Ebd., 34. 43 Das Material ist ausgewertet bei Kolb (Anm. 41), die Quellen für Heilbronn und Wimpfen im Urkundenbuch der Stadt Heilbronn, Bd. 2 (Anm. 14). Vgl. zum Kraichgau jüngst auch Gerhard Fouquet, Ritterschaft, Hoch- und Domstift Speyer, Kurpfalz: Zu den Formen politischer, sozialer und wirtschaftlicher Verflechtung in einer spätmittelalterlichen Landschaft an Mittel- und Oberrhein, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 137 (1989), 224 - 240, hier: 238 f. 44 Kolb (Anm. 41), 115 Anm. 64. 45 Kolb (Anm. 41), 68 Anm. 77 läßt sich z. B. bestätigen durch die Zugehörigkeit des Esel-Mitglieds Pleikart Landschad zum Reinlannd auf dem Heidelberger Turnier 1481, Heide Stamm, Das Turnierbuch des Ludwig von Eyb (cgm 961). Edition und Untersuchung (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 166), Stuttgart 1986, 156 f. 46 Die Spannung zwischen der Konzeption des Schwäbischen Bundes als „Territorium", das alle „Insassen" in seiner Fläche umfaßte, und dem darüber hinausgehenden Bündnis, das „Verwandte" einbezog, ist in den Argumentationen über den Beitritt verschiedener Stände deutlich abzulesen, vgl. nur das Material im Urkundenbuch der Stadt Heilbronn (Anm. 14), Nr. 1469, 1501, 1529 d, 1586, 1682, 1839. 138 Klaus Graf In seinen Sammlungen für eine Landesbeschreibung Oberdeutschlands bemerkt der Oberschwabe Ladislaus Sunthaim am Anfang des 16. Jahrhunderts, Heilbronner und Wimpfener wellen nit Swabenn sein, seien es als Kraichgauer aber doch47. Alle politischen Konnotationen sind in diesem Zeugnis, das sich als „ethnographischer" Befund gibt, getilgt. Das Stadtregiment der zur Landvogtei Niederschwaben gehörenden fränkischen Reichsstadt Hall wählte im 15. Jahrhundert den Namenszusatz „Schwäbisch". Nach Ansicht von Gerd Wunder geschah dies, um die Ansprüche fränkischer Landgerichte abzuwehren48. Die „wahre" Landeszugehörigkeit, die — Sunthaim zufolge - den Nachbarreichsstädten Heilbronn und Wimpfen so teuer war, wurde in Hall also zur politischen Disposition gestellt. An der Lechgrenze gegen Baiern wurden im 15. Jahrhundert die Nachbarschaftskonflikte von Dörfern, die durch die Lech getrennt waren, als Gegensätze von Schwaben und Baiern begriffen. Ein Zeugenverhör von 1449 (?) gewährt aus bairischer Sicht einen Einblick in die Nutzungsstreitigkeiten zwischen den Gemeinden Ostendorf' und Westendorf (nördlich von Meitingen), den Schwaben, und der Gemeinde Thierhaupten, den Bairen*9. Ein Zeuge betonte, er könne sich an nichts anderes erinnern, dann das die von Ostendorff und die von Tierhäpten albeg mit einander haben gezangt umb vichwaid holtz und zain. Bemerkenswert ist, daß mehrere Befragte vom Hörensagen eine angebliche Entscheidung Kaiser Ludwigs (des Bayern) über die Lechanschwemmungen kannten: was der Lech herüber lege gen Bairen das sol gen Bairen gehören, und was er gen Schwaben lege das sol gen Schwaben gehören. In den Aussagen wurden auch Grundherren und Städte zur schwäbischen „Partei" gezählt. Ein Zeuge wußte von einer Gerichtsverhandlung vor einer bairischen Schranne, wobei die Zuständigkeit mit dem Umstand begründet wurde, daß der fragliche grund leit auf pairischem ertreich. Das aufschlußreiche Aktenstück legt den Schluß nahe, daß zwischen Schwaben und Baiern am Lech über mehrere Generationen 47 Landesbibliothek Stuttgart Cod. hist. fol. 250, Bl. 39. Weitere Belege zur Diskussion über die Zugehörigkeit des Kraichgaus zu Schwaben bei Klaus Graf, Der Kraichgau, Bemerkungen zur historischen Identität einer Region, in: Die Kraichgauer Ritterschaft in der frühen Neuzeit, hrsg. von Stefan Rhein, erscheint Sigmaringen 1992. 48 So Gerd Wunder, in: Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Bd. 6: Baden-Württemberg, hrsg. von Max Miller und Gerhard Taddey, 2. Aufl., Stuttgart 1980, 723; Ders., Bauer, Bürger, Edelmann. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Kuno Ulshöfer (Forschungen aus Württembergisch Franken 25), Sigmaringen 1984, 33, 180, 219. 49 Die Quelle ist abgedruckt bei Christian Häutle, Entscheidung des Kaisers Ludwig des Bayers über die Zugehörigkeit von Lechanschwemmungen an Bayern und Schwaben, in: Archivalische Zeitschrift NF 5 (1894), 286 - 289 (hiernach die folgenden Zitate). Zur Lechgrenze vgl. auch Pankraz Fried, Zur Entstehung und frühen Geschichte der alamannisch-baierischen Stammesgrenze am Lech, in: Bayerischschwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg 1975 - 1977, hrsg. von Pankraz Fried (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 1), Sigmaringen 1 9 7 9 , 4 7 - 6 7 (ohne dieses Zeugnis). Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 139 hinweg so tiefe landsmannschaftliche Gegensätze bestanden haben, daß sogar der Kaiser eingreifen mußte, um den Streit beizulegen. Zusammenfassend muß festgestellt werden, daß sich die besprochenen Konflikte nicht auf ein einheitliches Schema reduzieren lassen. Der Gegensatz Schwaben-Nichtschwaben betraf sowohl die hohe Reichspolitik (im Kraichgau) als auch die Bauern (am Lech), sowohl eine sehr „alte" Grenze (am Lech) wie eine relativ „junge" (zur Schweiz). Es erscheint mir fraglich, ob die nicht gegebene Einheitlichkeit der Auseinandersetzungen mit dem sich in eine vermeintliche „mentale" Realität flüchtenden Begriff des „Kontrastbewußtseins" hergestellt werden kann. III. Das Land der Fürsten Mit dem Tode Konradins 1266 endete das staufische Herzogtum Schwaben. Die wiederholten Versuche, das Herzogtum Schwaben wiederherzustellen, blieben im Spätmittelalter erfolglos, da sich der König und der schwäbische Adel nicht auf eine Herzogsdynastie einigen konnten50. Exemplarisch hat Helmut Maurer den Versuch Herzog Rudolfs IV. von Österreich behandelt, in den Jahren nach 1358 den Titel eines Herzogs von Schwaben für sich zu beanspruchen51. Kaiser Karl IV. stand der Wiederherstellung der Herzogswürde zugunsten Rudolfs, der als Reichslandvogt in Schwaben wirkte, zunächst positiv gegenüber. Als aber Rudolf in Schwaben sich auf einem Lehentag 1361 mit herzoglichen Insignien zeigte, wurde er von Karl zur Aufgabe seiner Ansprüche gezwungen. Eine Zwischengewalt in Schwaben, die ein voll funktionsfähiges Land Schwaben mit hochadeligen Landleuten geschaffen hätte, konnte nicht im Interesse des Kaisers liegen, da sie die Reichsrechte im deutschen Südwesten geschwächt hätte. Hundert Jahre später rivalisierten Habsburg und Württemberg um die schwäbische Herzogswürde. Es braucht hier nicht wiederholt werden, was Hofacker ausführlich dargestellt hat. 1474 bat Herzog Sigmund von Tirol, der Herr der habsburgischen Herrschaften in Schwaben und den Vorlanden, Kaiser Friedrich III., ihm das Herzogtum Schwaben zu verleihen. Das vor allem von den Grafen getragene „interterritoriale System" zwischen den Hegemonialmächten sollte mit Hilfe der erneuerten Herzogswürde aufgelöst und die Grafen ausschließlich an Habsburg gebunden werden52. Bündnisse mit Herren und Städten sowie der Versuch, die territorialen Befugnisse 50 Vgl. die Hinweise bei Maurer (Anm. 27), 298 - 300. Helmut Maurer, Karl IV. und die Erneuerung des Herzogtums Schwaben, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 114 (1978), 645 - 657. Auf Maurers Überschätzung des Lehenrechts kann hier nicht eingegangen werden. 52 Fürstenbergisches Urkundenbuch, Bd. 7, Tübingen 1891, 102 f. Nr. 49; vgl. Hofacker (Anm. 6), 84. 51 140 Klaus Graf Habsburgs in Oberschwaben auszubauen, dienten ebenfalls dem vorrangigen Ziel Sigmunds, dem Plan eines Landesfürstentums Schwaben. Kaiser Friedrich III. war jedoch nicht gewillt, die Konsequenzen der Politik seines Vetters zu tragen und die kleinen Stände Schwabens auf Dauer dem Einfluß des Reichs zu entziehen. Hinzu kam, daß die Schwäche Württembergs und die damit verbundene Stärkung der Position Sigmunds lebhafte bündische Aktivitäten der schwäbischen Stände auslösten. Resultat dieser Vorgänge war ein Bündnis der Herren und Städte im Jahr 1485, das von Württemberg und Habsburg gemeinsam angeführt wurde53. Als Herzog Sigmund 1486/87 seine Position in Schwaben den Wittelsbachern überlassen wollte, verstärkte der Kaiser seine Bemühungen um eine allgemeine Einung in Schwaben. Das Gründungsmandat des Schwäbischen Bundes vom 4. Oktober 1487 formulierte kompromißlos den kaiserlichen Anspruch: Da das Land zu Schwaben dem Reich on alles mittel unterworfen und außer dem Kaiser keinen eigenen Fürsten habe, sei er verpflichtet, dafür zu sorgen, daß die schwäbischen Stände nicht ihrem rechten Herrn und dem Reich entfremdet würden. Das Mandat bezeichnet Schwaben als das recht vatterland der Stände, dem sie nach göttlichem und natürlichem Recht treuepflichtig seien54. Die konkrete Gestalt, die das Bündnis schließlich gewann, war jedoch ein Kompromiß zwischen allen Beteiligten, kein Diktat des Kaisers. Was das „Land zu Schwaben" bedeutete, wurde in zähen Verhandlungen ausgehandelt - erinnert sei nur an die oben erwähnten Auseinandersetzungen mit der Kraichgauer Ritterschaft. Hier nicht mehr zu verfolgen ist die Schwabenpolitik Maximilians, der Reichspolitik und habsburgische Territorialpolitik in Schwaben in Personalunion betreiben konnte. Seit 1500 nannte er sich in seinem Herrschertitel „Fürst in Schwaben". Besondere Bedeutung kam dabei im frühen 16. Jahrhundert der Aufnahme welfisch-staufischer Herrschaftstraditionen in Oberschwaben zu55. Deutlich wird am Ringen um die schwäbische Herzogswürde, daß es sich nicht um einen leeren Titel gehandelt haben kann. Der Anspruch bezog sich auf die Geltung eines Landes-Modells, das auch die hochadeligen Landleute, die Landherren, auf land- und lehensrechtlicher Grundlage einem herzogsgleichen Landesherrn unterstellte. Diese Unterordnung basierte auf dem Konsensprinzip, auf dem Einverständnis der so „Mediatisierten". Eine doppelte Hürde hatte Sigmund zu nehmen: Er brauchte den Kaiser für die Verleihung des Herzogtums Schwaben, und er brauchte den Konsens der Stände. Auch Machtpolitiker können weltfremd sein - der vermeintlich so 53 54 55 Hofacker (Anm. 6), 103. Ebd., 109. Vgl. ebd., 114 - 147. Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 141 kühl kalkulierende Sigmund hätte in Rechnung stellen müssen, daß die zu mediatisierenden „ungehorsamen" Grafen mit allen diplomatischen und rechtlichen Mitteln versuchen würden, ihre Selbständigkeit zu behalten. Was sich auf den ersten Blick als machtpolitische Interessenwahrung darstellt, ist bei näherem Zusehen durchsetzt mit traditionellen Werten aus Landes-Modellen, die nicht als „modernstaatlich" beschrieben werden können. Dieser Befund betrifft natürlich auch die Stellung Schwabens in der Reichsverfassung. Der Herzog von Schwaben war eine der vier Säulen, auf denen das Reich ruhte - das behauptete jedenfalls das im frühen 15. Jahrhundert entstandene Quaternionensystem, jene Deutung der Reichsverfassung, die am weitesten verbreitet war, zugleich aber am wenigsten der politischen „Wirklichkeit" entsprach56. Überprüfen läßt sich die Hypothese, daß traditionelle Modelle wie das „Land Schwaben" wichtige Bausteine für die noch „brüchige" und ungesicherte Staatlichkeit der werdenden Territorien liefern konnten, an der anderen Hegemonialmacht in Schwaben, der Grafschaft Württemberg. Graf Ulrich V. von Württemberg-Stuttgart wollte 1463 das kaiserliche Hofgericht Rottweil, das beispielsweise der Reichsstadt Buchau als obrist lantgericht des Landes Schwaben galt57, nach Stuttgart verlegen lassen58. Ein nach 1477 entstandener Plan des Kaisers, die Württemberger zu Herzögen „in" Schwaben zu machen, blieb ein nur kurzfristig betriebenes Projekt 59 . Daß es weitere Versuch der Grafen gegeben hat, ihre fürstengleiche Stellung reichsrechtlich mit einem Bezug auf Schwaben zu sanktionieren, darf man wohl einem Schreiben Kaiser Friedrichs III. aus dem Jahr 1487 entnehmen, in dem es über den widerspenstigen Grafen Eberhard im Bart heißt, er und seine Vorgänger hätten seit langem nach dem lannde zu Swaben gestanden60. Der Wunsch ging selbst 1495 nicht in Erfüllung, denn Eberhard wurde zum Herzog von Württemberg und nicht von Schwaben erhoben81. Im ältesten württembergischen Geschichtswerk in deutscher Sprache, der „Stuttgarter Stiftschronik vom Hause Wirtemberg" (entstanden nach 1463) heißt es von Graf Eberhard dem Milden, zu seiner Zeit sei quoter fryden in Swaben gewesen, wan er gar ain fridlich Herr was62. Der Württemberger ist 56 Vgl. die Nachweise ebd., 74 und allgemein Rainer A. Müller, Quaternionenlehre und Reichsstädte, in: Reichsstädte in Franken, München 1987, 7(5 - 97. Vgl. auch den Hinweis von Hofacker, 116, Anm. 208, auf eine Auskunft des Unterherolds Jörg Rugen an Graf Eberhard im Bart. 57 Hofacker (Anm. 6), 73. 58 Ebd., 79 f. 59 Ebd., 93. 60 Ebd., 112. 61 Vgl. ebd., 115. 62 Ediert bei Christoph Friedrich von Stälin, Zu den Annales Stuttgartienses, in: Württembergische Jahrbücher 1864, 251 - 261, hier 259; zu den Anfängen der würt- 142 Klaus Graf also für den Landfrieden der „alten" Einheit Schwaben verantwortlich, sein Handlungsraum wird mit Schwaben gleichgesetzt. Von der Mutter Eberhards des Erlauchten berichtet der Text, sie habe nach der durch einen Kaiserschnitt vorgenommenen Geburt prophezeit, das Kind werde zeit seines Lebens allem Swabenland mit Kriegen zu schaffen machen63. Diese Zeugnisse mag man als Indiz dafür werten, daß die werdende Landesherrschaft Württemberg, die sich erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verstärkt als „Land Württemberg" und nicht mehr nur als „Herrschaft Württemberg" verstanden hat64, sich nur in Auseinandersetzung mit dem „alten" Land Schwaben entwickeln konnte, das im deutschen Südwesten als Geltungsraum des schwäbischen Landrechtes und als Reichsfürstentum traditionell das Landes-Modell bestimmte85. Von außen betrachtet waren die Begriffe Schwaben und Württemberg tatsächlich weitgehend austauschbar. Dafür nur zwei Belege pfälzischer Provenienz: In Michel Beheims „Pfälzischer Reimchronik" ist die Niederlage gegen die Württemberger bei Beilstein eine solche gegen die Schwaben66, und als Pfalzgraf Philipp 1479 die Heilbronner vor falschen Münzen in Schwaben warnte, tat er dies aufgrund einer Mitteilung Graf Ulrichs von Württemberg und seines Sohnes über die Ausgabe gefälschter Münzen in ihrem Land67. Bezeichnend ist auch ein Schreiben der Stadt Widdern bei Heilbronn, die sich 1458 an die herrschaft und ritterschaft und landschaft zu Schwaben unsers gnädigen Herrn von Württemberg wandte68. Auf die Konflikte zwischen Württemberg und der Pfalz im Kraichgau, die zugleich Aus- tembergischen Landesgeschichtsschreibung vgl. Graf (Anm. 8), 209 - 224, zum Text ebd., 213 - 220. Zu den dort behandelten Texten ist zu ergänzen Universitätsbibliothek Bonn S 310, fol. 163 - 164 vom Ende des 15. Jahrhunderts (Nikolaus Basellius), eine kurze Chronik der Grafen von Württemberg, die bezeichnenderweise mit dem Ende des staufischen Herzogtums einsetzt. 63 Stälin (Anm. 62), 259. In der lateinischen Vorlage (Annalenreihe A 2 nach 1419): non eritpax in terra ipsius, Franz Joseph Mone, Annales Stutgardini. 1265 - 1422, in: Anzeiger für Kunde des deutschen Mittelalters 3 (1834), 137 - 140, hier 139. 64 Vgl. Dieter Stievermann, Landesherrschaft und Klosterwesen im spätmittelalterlichen Württemberg, Sigmaringen 1989, 159 f. Seiner Behauptung, daß „Land" und „Herrschaft" als Quellenbegriffe austauschbar seien (ebd., 159), möchte ich widersprechen. Auf breiterer Quellenbasis wäre zu fragen, wann und in welchen Kontexten man beginnt, das Territorium in gleicher Weise wie Schwaben als „Land Württemberg" zu bezeichnen. Das frühe Vorkommen von mit „Land" zusammengesetzten Termini oder die Verwendung von Formeln wie „Land und Leute" sind keine Gegenargumente. 65 So Graf (Anm. 8), 216. 66 Quellen und Erörterungen zur Bayerischen und Deutschen Geschichte, Bd. 3, München 1863, 77 Str. 439; vgl. auch ebd., 82 Str. 470; 133 Str. 762; 177 Str. 1012; 232 Str. 1334. 67 Urkundenbuch der Stadt Heilbronn (Anm. 14), 129 f. Nr. 1053 f. es Württembergische Landtagsakten, Bd. I, 1: 1498 - 1515, bearb. von Wilhelm Ohr und Erich Kober, Stuttgart 1913, XXV. Vgl. auch Württemberg im Spätmittelalter, Stuttgart 1985, 186 Abb. 84. Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 143 einandersetzungen zwischen Schwaben und Franken waren, wurde bereits hingewiesen. Nicht erst seit dem 18. Jahrhundert wurde von „schwäbischer Art gesprochen [ . . . ] , wo württembergische gemeint ist" 69 . Den Ruhm der Schwaben verband in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein Marbacher Dichter Michael Mehrer mit dem Lob der württembergischen Dynastie70, und der württembergische Chronist Sebastian Küng belegte wenig später das Herkommen des Herrschergeschlechts als rechte eingesessne Schwaben11 mit einem Exkurs über das ursprüngliche Siedlungsgebiet der Schwaben. Württemberger mußten sich als Schwaben bezeichnen lassen und haben sich selbst als Schwaben bezeichnet. Wenn die Herren Württembergs Schwaben als ihren Handlungs- und Erfahrungsraum ansahen und ebenso wie die Habsburger die schwäbische Herzogswürde anstrebten, so wollten sie personale und territoriale Identität wieder zur Deckung bringen. IV. Das Land der Ritter und des Niederadels In stärkerem Maße als Fürsten, Städte und Bauern beriefen sich die Mitglieder der schwäbischen Ritterschaft und des Niederadels auf das Land Schwaben und die mit ihm verbundenen Herzogstraditionen. Als „freie Schwaben" konnten sie den unmittelbaren Bezug zu Kaiser und Reich wahren und sich gegen die Versuche der Landesfürsten, sie zu „Landsassen" zu machen, auf Dauer wirksam behaupten. Zu den Quellen der folgenden Ausführungen ist anzumerken, daß die Einbeziehung fiktionaler literarischer 69 Adolf Rapp, Die Ausbildung der württembergischen Eigenart, in: Archiv für Kulturgeschichte 11 (1914), 196 - 240, hier 200. Für das 18. Jahrhundert vgl. Gunter Volz, Schwabens streitbare Musen. Schwäbische Literatur des 18. Jahrhunderts im Wettstreit der deutschen Stämme (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 107), Stuttgart 1986, der freilich die Ausführungen von Keller (Anm. 20), 256 - 287 ebensowenig kennt wie die maßgeblichen Überlegungen von Hugo Moser, Schwäbische Vorromantik, in: Ders., Kleine Schriften, Bd. 2: Studien zur deutschen Dichtung des Mittelalters und der Romantik, Berlin 1984, 231 - 244. Vgl. auch Moser, ebd., 257: „Für die Württemberger war die Suevia [ . . . ] ein rhetorisch schwungvoller, panegyrischer, die schwäbische Vergangenheit beschwörender Beiname für das eigene Territorium". 70 Gustav Bossert, Ein unbekannter Marbacher Dichter, in: Württembergische Jahrbücher 1911, 79 - 83, hier 82 f. 71 Ingrid Karin Sommer, Die Chronik des Stuttgarter Ratsherrn Sebastian Küng. Edition und Kommentar (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart 24), Stuttgart 1971, 27. Zum - zunächst wohl eher geringen - Stellenwert der württembergischen Staufertradition vgl. Hofacker (Anm. 6), 115, Anm. 208; Mertens (Anm. 4), 171 f.; Ders., Zur frühen Geschichte der Herren von Württemberg. Traditionsbildung - Forschungsgeschichte - neue Ansätze, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 49 (1990), 11 - 95, hier 54; Friedrich Weigend, Bodo M. Baumunk, Thomas Brune, Keine Ruhe im Kyffhäuser. Das Nachleben der Staufer. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte, Stuttgart und Aalen 1978, 14 f. 144 Klaus Graf Texte, die man als „Adelsliteratur" verstehen kann, sich zugleich als Plädoyer gegen eine beschränkte Sicht der Adelsgeschichte versteht, die adelige Werte ausschließlich aus Urkunden und Akten erheben will. Vielleicht am Anfang des 15. Jahrhunderts, jedenfalls zwischen 1314 und 1464 entstanden ist der in sieben Handschriften überlieferte Abenteuerroman „Friedrich von Schwaben". Er besaß „offenbar die Funktion, ein auf das staufische Stammesherzogtum zurückbezogenes Landesbewußtsein zu propagieren"72. Durch die märchenhafte Verbindung des Titelhelden Herzog Friedrich von Schwaben mit der feenartigen Königstochter Angelburg erhielt das zur Abfassungszeit nicht mehr existierende Haus der Herzöge von Schwaben eine geheimnisvolle Ahnfrau zugeschrieben. Da die Dynastie nicht mehr bestand, kam das so erwirtschaftete „symbolische Kapital" des Herzogsherkommens dem schwäbischen Adel des Spätmittelalters zugute, der sich in den Medien episch-höfischer Idealität über sein eigenes Herkommen und seine Identität verständigen konnte73. Das vom Text entworfene Landes-Modell war das der höfischen Epik: Die Landesherren handelten im Konsens mit den Landherren, den Grafen, Rittern und Dienstmannen74. Ein Reflex spätmittelalterlicher Verhältnisse mag die nachdrückliche Warnung vor Landesteilungen sein, die arm fürsten75 entstehen lasse. Wiederholt lobt der Text Von Schwauben die edel ritterschaff6 und ihren Mut im Kampf. Von der auch sonst in literarischen Texten wiederholt überlieferten Erzählung, wie Gerold von Schwaben das Vorstreitrecht für die Schwaben als ältester Fürst im Tal Runtzifal von Karl dem Großen erworben habe77, darf wohl behauptet werden, daß sie, indem sie die Stiftung des Landes Schwaben als ritterlicher Kriegergemeinschaft beschrieb, dem schwäbischen Adel die „Stammessage" ersetzen konnte78. Die Schwaben sollten aufgrund von Gerolds Sieg über die Heiden gefreit sein ymmer, daß niemand vor ihnen fechten solle79. 72 Paul Sappler, ,Friedrich von Schwaben', in: Positionen des Romans im späten Mittelalter, hrsg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1991, 136 145, hier 136 im Anschluß an Graf (Anm. 7), 17 - 21. Zur Datierung ins 15. Jahrhundert vgl. Sappler, 144, Anm. 6. Auch Frau Brigitte Schöning (Berlin), der ich für die Auskunft danke, will den Text „eher um 1400 als um 1300" ansetzen, vgl. jetzt B. Schöning, „Friedrich von Schwaben". Aspekte des Erzählens im spätmittelalterlichen Versroman (Erlanger Studien 90), Erlangen 1991. 73 Klaus Graf, Genealogisches Herkommen bei Konrad von Würzburg und im .Friedrich von Schwaben', in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 5 (1988/1989), 285 - 295, hier 295. 74 Vgl. Graf (Anm. 7), 20. 75 Friedrich von Schwaben aus der Stuttgarter Handschrift, hrsg. von Max Hermann Jellinek (Deutsche Texte des Mittelalters 1), Berlin 1904, Vers 1641. 76 Ebd., Vers 5673. 77 Ebd., Vers 5741 - 5761. 78 Zum Vorstreitrecht vgl. die bei Maurer (Anm. 178), 151, Anm. 150 zusammengestellte Literatur sowie Keller (Anm. 20), 28 - 35 und Schöning (Anm. 72), 142. 79 Friedrich von Schwaben (Anm. 75), Vers 5759. Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 145 Als ein gelehrter Jurist im Streit um die Grafschaft Heiligenberg 1430 über schwäbisches Erbrecht zu gutachten hatte, bezog er sein Wissen vermutlich ganz aus Sachsenspiegel und Schwabenspiegel. Schwäbisches Erbrecht führt der Schwabenspiegel auf das Privileg Karls des Großen zurück, das dieser den Schwaben aufgrund der Tapferkeit Herzog Gerolds von Schwaben bei der Belagerung Roms zugestanden habe. Der Gutachter nennt auch das beim gleichen Anlaß verliehene Vor streitrecht und fügt hinzu: dise recht und andere gute recht die händ die Swabe verdient mit irerfromikait umb den Römischen kaiser80. In einer Augsburger Handschrift aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wird der Beginn der Anrede mit „Ihr" auf einen Herzog Gerhard von Schwaben zurückgeführt: Der erst menschs der dau ge yrstz ist worden haut dan I bapst zu Rom ain hertzog von Swaben hiesß Gerhart81. Von dieser Stelle führt wiederum eine Querverbindung zu der Einführung der Anrede „Herr", die an die Stelle des allgemeinen Duzens trat, durch Kaiser Julius in Lirers „Schwäbischer Chronik". Julius gab diese gnad und freiheit dem Herzog Bremo (Brennus) für die Schwaben und alle Deutschen, die ihrer durch ritterliche Taten würdig seien, weiter. Beglaubigt wurde diese Fiktion durch den Verweis auf Urkunden und Briefe in der Schwäbischen kantzeleie2. Die Überlieferungen verbinden die Tapferkeit der Schwaben mit der Rechtsstiftung durch Privileg, also mit der „Freiheit" der Schwaben, und mit dem kollektiven Achtungsanspruch, also der „Ehre" der Schwaben. „Recht" und „Identität" erscheinen eng aufeinander bezogen83. Der Verfahrensaspekt des Rechts kam hinzu in der Erklärung, die Ritter Ulrich von Rechberg zu Hohenrechberg 1478 vor einem Schiedsgericht abgab, das seinen Streit mit Graf Eberhard d. J. von Württemberg beilegen sollte. Er wehrte sich gegen das Einholen von Zeugenaussagen hinsichtlich 80 Fürstenbergisches Urkundenbuch, Bd. 6, Tübingen 1889, 298. Zu dem Prozeß vgl. zuletzt Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht. Untersuchungen zum Rechtsverständnis im fränkisch-deutschen Mittelalter, 2 Bde. (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 15), Köln/Wien 1985, 99, 1283. 81 Klaus-Jürgen Seidel, Der Cgm 379 der Bayerischen Staatsbibliothek und das „Augsburger Liederbuch" von 1454 (Diss. München), Augsburg 1972, 119. 82 Thomas Lirer, Schwäbische Chronik. Mit einem Kommentar von Peter Amelung, Leipzig 1990, Bl. f 4 b. Zu der Brennus-Erzählung vgl. Graf (Anm. 8), 61, 71, 93; Ders. (Anm. 9), 172. 83 Zu dem Erzähltyp „Privileg wird einer Gruppe für Tapferkeit verliehen" gehören die Freiheitsüberlieferungen der Schweiz, vgl. Marchal (Anm. 35), 769 f.; Ochsenbein (Anm. 23), 327 f., und Frieslands, vgl. Almuth Salomon, Friesisches Geschichtsbewußtsein im Mittelalter, in: Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen, hrsg. von Gerhard Schneider (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 1), Pfaffenweiler 1988, 49 - 64, hier 53fi, aber auch Traditionen von Städten, vgl. für Rottweil Maurer (Anm. 17), 109 f., und von Handwerkern, vgl. Elfriede Moser-Rath, Handwerker, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 6 Lief. 2/3, Berlin/New York 1989, 472 - 481; Klaus Graf, Schlachtengedenken in der Stadt, in: Stadt und Krieg, hrsg. von Bernhard Kirchgässner und Günter Scholz (Stadt in der Geschichte 15), Sigmaringen 1989, 83 104, hier 100. 10 Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 14 146 Klaus Graf einer Angelegenheit, die den Juden Salomo von Schaffhausen betraf — sie hätten ihn nach allem schwer belastet. In einer Erwiderung führte Ulrich aus, der Beweisantrag Eberhards befremde ihn. Er wolle einen Eid über sein Verhalten ablegen. Die Sache berühre seine Ehre: er wer ain geborner edelman und ain ritter [ . . . ] darzü ain fryer schwaub. In einer weiteren Erwiderung wandte sich Ulrich erneut gegen die beantragte Kundschaft und argumentierte etwas ausführlicher: darzü so wer er ain fryer edelman, auch ain ritter, und deshalb gefryet, also dz er nit schuldig wer, die recht ze wißen. Zu dem allem so wer er ain fryer schwab, deshalb im auch billich der Schwaben fryhait sblt zügelaßen werden, dann landkündig wer, wie die selb fryhait verdient herkommen und gehalten wer und in sonder uf dem kaißerlichen hofgericht zu Rotwile, da das gar claurlich erfunden macht werden und wie wol es nit ain geschriben recht wer, so wer es doch bis her also gehalten worden, darumb so wer sin hoffen, er soelt zu sinem rechten innhalt der Schwaben frihait gelaßen und die zügen, von der widerparty dargebotten nit gehört werden. Man könnte dieses eigenartige Zeugnis auf sich beruhen lassen, gäbe es nicht ein zweites zur gleichen Zeit entstandenes, das eine unerwartete Bestätigung der hier behaupteten schwäbischen Rechtspraxis liefert. Im ersten gedruckten deutschsprachigen Kanzleihandbuch, dem „Formulare und deutsch Rhetorica", dessen Erstausgabe 1479 in Ulm erschien, findet sich ein merkwürdiger Passus über ein prozessuales Vorrecht der Schwaben, auf das bereits Paul Joachimsohn aufmerksam geworden ist. In einem freiwilligen Schiedsgerichtsverfahren soll der Beklagte, wenn ihm Brief und Siegel fehlen, sein Recht mit dem Eid dartun können. Auf die Frage, wie dieses Recht nach Schwaben gekommen sei und wem es zustehe, gibt das Handbuch die Antwort: Die Schwaben habends gar vor vil iaren umb das römisch reich herttiklich verdienet mit irer endlicheyt und grosser frümmkeyt unnd ires blüts vil umb die und ander ir freiheyt vergossen und ist dasselb recht von römischen keysern unnd künigen von eynem an den ändern ye seidher bestätiget worden unnd gebürt an eynen yegklichen frummen freyen Schwaben85. Auch Ulrich von Rechberg spielte darauf an, daß allgemein bekannt sei, wie die Schwabenfreiheit „verdient" worden sei. Eine weitere Variante für die offenbar mündlich verbreiteten Erzählungen über den Ursprung der Schwabenfreiheit findet sich bei dem 1458 gestorbenen Dichter Hermann von Sachsenheim. In der 1453 entstandenen „Mörin" heißt es im Verlauf eines Minne-Prozesses86: 84 Hauptstaatsarchiv Stuttgart A 184 Bü 1. Paul Joachimsohn, Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Notker Hammerstein, Bd. 2, Aalen 1983, 112. Zur Quelle vgl. Franz Josef Worstbrock, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., Bd. 2, Berlin/New York 1980, 794 f. 86 Hermann von Sachsenheim, Die Mörin, hrsg. von Horst Dieter Schlosser (Deutsche Klassiker des Mittelalters NF 3), Wiesbaden 1974, Vers 1771 f. Vgl. Jürgen Glocker, 85 Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 147 Hie stet der man und büt sin recht Und spricht, er sye ain fryer Swäb. Wenig später wird der Sachsenspiegel als schwebschu recht bezeichnet und die Herkunft der Schwabenfreiheit angeblich aus einer kronnig erzählt: Bei der Belagerung Mailands durch einen römischen Kaiser trug ein Herzog Gerung von Schwaben das Banner. Er erfocht den Schwaben den Vorstreit und fryhait me dann gnug81. Damals seien die Gebeine der Heiligen Drei Könige nach Köln gekommen (die Überführung erfolgte 1164). Demnach sah der Autor nicht Karl den Großen, sondern Kaiser Friedrich Barbarossa als Verleiher der Schwabenfreiheit an. Obwohl Hermann von Sachsenheim als Rat und Amtsträger in württembergischen Diensten stand, bestimmte er seine Identität nie als Württemberger, sondern stets als Schwabe. Am Ende des „Spiegel" kehrt der Ich-Erzähler in seine Heimat zurück88: ich sih gar vil der vesten die mir sint wol bekant: wir sint in Swabenlant und myner heymat nach. Schwaben war Erfahrungs- und Handlungsraum auch in einem weiteren Werk Hermanns, dem „Schleiertüchlein". Ein Junge, der dem Ich-Erzähler begegnet, bekennt89: Zu Swaben, in dem kreis, Bin ich myn dag erczogen. Im „Spiegel" spielte Hermann auch einmal auf die staufische Herzogstradition an, indem er einen Vergleich mit dem Hof Herzog Konrads von Schwaben auf dem Hohenstaufen zog90. Wiederholt haben sich Mitglieder des schwäbischen Niederadels mit dem Argument, sie seien „freie Schwaben", gegen landesfürstliche Bestrebungen gewehrt, sie zu „Landsässigen" zu machen91. Noch in der Beschreibung des Landgerichts Höchstädt aus dem Jahr 1560 heißt es vom Schloß Altenberg ritter-minne-trüwe, Untersuchungen zur ,Mörin' Hermanns von Sachsenheim, Diss. Tübingen 1987, 286, 300. 87 Ebd., Vers 1850, 1857, 1865. 88 Hermann von Sachsenheim, Des Spiegels Abenteuer, hrsg. von Thomas Kerth (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 451), Göppingen 1986, Vers 2628 - 2631. Weitere Schwabennennungen in den Versen 361, 387, 395, 1152 f. (ist dos der mynner Sitten l zu Swaben in dem land?), 1330. 89 Donald K. Rosenberg, The Schleiertüchlein of Hermann von Sachsenheim. A critical edition with introduction and notes (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 260), Göppingen 1980, Vers 184 f. Vgl. Vers 1614 (Rückkehr nach Schwaben). 90 Hermann von Sachsenheim (Anm. 88), Vers 1328 - 1331. 91 Franz Quarthal, Landstände und landständisches Steuerwesen in Schwäbischösterreich (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 16), Stuttgart 1980, 34, 65; Graf (Anm. 9), 188 mit Anm. 97; vgl. auch Kolb (Anm. 41), 115 Anm. 64. 10* 148 Klaus Graf des Wolf Rudolf von Westerstetten, das württembergisches Lehen war: Soll sonnsten ain frey schwebisch Gutt sein; und ligt doch on Mittel im Lanndtgericht92. Eine umfassende Zusammenstellung, wer sich in welchem Kontext auf „schwäbisches Landrecht"93 bezogen hat, steht noch aus. Allerdings darf man bereits jetzt annehmen, daß seine Geltung sich zunehmend auf die Herrschaften des reichsunmittelbaren Adels beschränkte, nachdem Städte und Fürsten eigene Rechtskreise entwickelt hatten. Die 1485/86 in drei Auflagen in Ulm bei Konrad Dinckmut erschienene fiktive „Schwäbische Chronik" eines sich „Thomas Lirer" nennenden anonymen Autors aus dem Umkreis der Grafen von Montfort kann als adeliger Diskurs über das Land Schwaben verstanden werden, der im Medium erfundener Historie und unter Verwendung höfisch-ritterlicher Traditionen Grundfragen aristokratischer Existenz diskutiert und erzählerisch bewältigt94. Der erst in den letzten Jahren wieder vermehrt beachtete Text, der in der „restaurativen" Bildungswelt des schwäbischen Adels fußt, entwirft ein Landes-Modell, das ganz von der Ritterschaft als der Rechtsgemeinschaft der Landleute in Schwaben getragen wird. Die Hegemonialmächte Habsburg und Württemberg spielen keine nennenswerte Rolle. Besonders aufschlußreich ist die Episode, in der vom Beschluß des Königs und der Fürsten zu Worms berichtet wird, daß es keinen Herzog von Schwaben mehr geben soll, sondern lediglich einen Landvogt. Dieser soll, wie bisher der Herzog, auf der Veitsburg oberhalb von Ravensburg residieren und von zwölf Wahlmännern aus namentlich genannten Grafen-, Freien- und Rittergeschlechtern in Rottweil gewählt werden. Die anschließende Nachricht, der römische König habe der Schwaben recht und freiheit bestätigt95, erweist den Personenverband Schwaben erneut als „privilegierte" Rechtseinheit. Dem Anspruch, den Habsburg auf die Landvogtei Schwaben (mit Sitz auf der Veitsburg) erhob, steht in der „Schwäbischen Chronik" ein bündisch akzentuiertes Verfassungsmodell gegenüber. Gleichzeitig wird das unterge92 Helmut Lausser, Die Beschreibung des Landgerichts Höchstädt aus dem Jahre 1560, in: Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen 90 (1988), 485 - 659, hier 609. 93 Vgl. die Hinweise bei Baumann (Anm. 37, 553 - 555), Maurer (Anm. 17), 227; Graf (Anm. 9), Anm. 92 f. Zur Gleichsetzung eines Landes mit dem Sprengel eines Landgerichts vgl. etwa Hofacker (Anm. 6), 73. 1479 verkauften die Grafen Ulrich und Eberhard von Württemberg die Herrschaft Lauterburg nach Recht und Gewohnheit des Lands zu Schwaben, Norbert Hofmann, Archiv der Freiherren von Woellwarth. Urkundenregesten 1359 - 1840 (Inventare der nichtstaatlichen Archive in BadenWürttemberg 19), Stuttgart 1991, Nr. 421. 94 Vgl. Graf (Anm. 9), 171 - 174, sowie ausführlich Ders. (Anm. 8), 48 - 157. Zur Verortung des Verfassers im Umkreis der Linie Montfort-Tettnang zu Werdenberg vgl. zuletzt Karl Heinz Burmeister, Die Grafen von Montfort-Tettnang als Schloßherren von Werdenberg, in: Werdenberger Jahrbuch 4 (1991), 15 - 30, hier 27 f. 95 Lirer (Anm. 82), Bl. g 2 b. Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 149 gangene Herzogtum Schwaben unter Verwendung oberschwäbischer Herzogstraditionen nach dem Muster eines spätmittelalterlichen Reichsfürstentums gezeichnet96. Das Thema konnte hier nicht erschöpfend behandelt werden. Ausgespart blieb beispielsweise die wichtige Rolle der Adelsgesellschaften und Ritterbünde97. Trotzdem lassen die beigebrachten Belege den engen Zusammenhang zwischen der personalen Identität der Adeligen, die in den Aspekten „Ehre", „Freiheit" und „Recht" in den Quellen faßbar wird, und ihrer Zugehörigkeit zu einem Land Schwaben deutlich hervortreten. Daß die Privilegierung vielfach „historisch", mit den Verdiensten der Kriegergemeinschaft Schwaben begründet wird, verweist einmal mehr auf die nicht zu unterschätzende Bedeutung der Traditionsbildung in jenem Diskurs, der regionale Identitäten entstehen läßt und aufrechterhält. V. Das Land der Städte und Bauern Nur gestreift werden kann das Landes-Modell der Städte. Sowohl Städteeinungen wie der bekannte „Schwäbische Städtebund" von 1376 als auch einzelne Städte wie „Schwäbisch" Gmünd haben sich auf den SchwabenNamen berufen 98 . Die Einungen der Städte entwickelten sich im 14. Jahrhundert aus den Bemühungen um den Landfrieden in Schwaben, wobei den Reichslandvogteien Ober- und Niederschwaben besondere Bedeutung bei der Bestimmung des Geltungsbereichs dieses „Schwabens" zukam. Im Hinblick auf den Landfrieden der Reichsstädte in Niederschwaben von 1331 stellt Konrad Ruser die Behauptung auf: „Das Land kann hier als Summe von Städten interpretiert werden"99. Der reichspolitische Blickwinkel, unter dem die Landfrieden und bündischen Landes-Modelle der Städte bislang vornehmlich betrachtet worden sind, läßt allerdings weitergehende Aussagen zur Einbettung der Städte in ein „Land" noch nicht zu. Nicht ausgeblendet werden sollte die in Zusammenarbeit mit Rechtshistorikern zu beantwortende Frage nach dem Verhältnis zwischen den Stadtrechten bzw. dem Recht der Städtebünde und dem Landrecht. 96 Vgl. Walther P. Liesching, Die Nachkommen des Römischen Kaisers Kurio. Bemerkungen zur Heraldik in der Schwäbischen Chronik des Thomas Lirer, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 46 (1987), 87 - 115, hier 93 - 97. 97 Die 1379 gegründete Löwengesellschaft gliederte sich z. B. in folgende Teilgesellschaften: Schwaben, Lothringen, Elsaß, Franken, vgl. Sonja Zielke, Die LöwenGesellschaft. Ein Adelsbund des 14. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 138 (1990), 27 - 97, hier 39. 98 Vgl. auch Graf(Anm. 9), 185 f. 99 Konrad Ruser, Die Urkunden und Akten der oberdeutschen Städtebünde vom 13. Jahrhundert bis 1549, Bd. l, Göttingen 1979, 473. Von diesem maßgeblichen Quellenwerk liegt inzwischen auch Bd. 2, 1988, vor. Zum Schwäbischen Städtebund vgl. zuletzt die Hinweise bei Zielke (Anm. 97), 47ff. 150 Klaus Graf Auf das Bekenntnis der fränkischen Reichsstadt Hall zu „Schwaben" wurde bereits aufmerksam gemacht. Eine doppelte Orientierung brachte der gleiche Namenszusatz bei „Schwäbisch" Gmünd zum Ausdruck: Im Blick zurück gedachte man in Gmünd um 1500 der schwäbischen Herzöge aus staufischem Haus, der Stifter der Stadt; im Blick auf die Gegenwart ordnete man sich einem Land Schwaben zu. Wenn das Einhorn, das Gmünder Stadtwappen, zur gleichen Zeit mehrmals vom staufischen Dreilöwenwappen, dem heraldischen Symbol Schwabens, begleitet war, so wurde damit die gleiche Doppelsicht auf Vergangenheit und Gegenwart bildlich umgesetzt100. Im Bereich der Traditionsbildung kann vornehmlich Augsburg als „Vorort" des Landes gelten. Stadtchronisten des 15. Jahrhunderts betteten die Anfänge Augsburgs in die schwäbische Urgeschichte ein und ließen deutlich den Rang erkennen, der ihrer Ansicht nach Augsburg in Schwaben zukam. Die „Chronik von der Gründung der Stadt Augsburg bis zum Jahr 1469" schreibt anläßlich der Verleihung des dritten Namens an Augsburg durch Octavian: Augusta ist als vil als ain mererin des reichs undfreyet die stat als ain hauptstat solt sein in Swaben101. Akzeptiert wurde das von Augsburg ausgehende Schwaben-Herkommen beispielsweise in einer Chronik des Klosters Kempten aus dem Umkreis des Johannes Birk, in der ein Tyrann Sevinus mit seinen Leuten, den Sevi (den Wilden) oder Schwaben, die Stadt Augsburg und anschließend die Vorläuferin der Stadt Kempten erbaute102. Bäuerliche Landes-Modelle aus dem Bauernkrieg 1525, Entwürfe für eine neue politische Ordnung auf der Basis regionaler Bünde, wiesen keinen Bezug auf die von den „Herren" beanspruchte Einheit Schwaben auf103. Die oben erwähnte Konfrontation der bäuerlichen Schweiz und des „adeligen" Schwaben ließ vielmehr den Begriff der „Schweiz" zum Inbegriff bäuerlicher Wunschvorstellungen werden104. Dieser negative Befund darf jedoch nicht dazu verleiten, der Berufung auf Schwaben jegliche Bedeutung im ländlichen Raum und bei einfachen Leuten abzusprechen. Erinnert sei an die bereits erwähnten Herzogstraditionen um den Hohenstauf en und an die 100 Graf(Anm. 7), 30, 72. 101 Die Chroniken der deutschen Städte 4 (1865), 287; vgl. zur Sache zusammenfassend Karl Schnith, Mittelalterliche Augsburger Gründungslegenden, in: Fälschungen im Mittelalter, Bd. l (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 33, I), Hannover 1988, 497 - 517, mit Hinweis auf hochmittelalterliche Ursprünge der Schwaben-Traditionen. 102 Graf(Anm. 9), 186; zu Birk vgl. auch Ders. (Anm. 8), 220. Suevi (quasi saevi) findet sich schon bei Adalbert von Augsburg um 1200, vgl. Schnith (Anm. 101), 504. 103 Nachweise bei Graf (Anm. 9), 185. 104 vgl. die Hinweise bei Rolf Köhn, Der Hegauer Bundschuh (Oktober 1460) - ein Aufstandsversuch in der Herrschaft Hewen gegen die Grafen von Lupfen, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 138 (1990), 99 - 141, hier 125 f.; Maurer (Anm. 32), 38 f. Zu der Prophetie, daß ein namentlich bezeichneter Berg dereinst zur Schweiz gehören werde, vgl. Marchal (Anm. 35), 764 Anm. 23. Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 151 Nachbarschaftskonflikte der Gemeinden am Lech. Ebensowenig darf man annehmen, daß die Beschimpfungen, die etwa Schweizer und Schwaben sich gegenseitig zugedacht haben, auf die jeweiligen Oberschichten beschränkt geblieben sind. VI. Das Land der Humanisten Obwohl die „Heimatliebe" und das „Stammesgefühl" der Humanisten als allgemein bekannt gelten, liegt eine vergleichende moderne Studie zu dem Problem nicht vor. Sie müßte sich vor allem von älteren Klischees freimachen und genauer danach fragen, wie sich die Auffassungen der Humanisten zu tradierten und zeitgenössischen Landes-Modellen verhielten und welcher Stellenwert der Wiederentdeckung der antiken Quellen und Gattungen tatsächlich zukam. Im folgenden können die Zusammenhänge nur knapp skizziert werden. Oben wurde auf die zentrale Bedeutung des Vorstreitrechts für die schwäbische Ritterschaft hingewiesen. Dieter Mertens hat die Schriften des Tübinger Poeten Heinrich Bebel auf ihren Stammespatriotismus befragt und die beiden Grundwerte Treue und Tapferkeit als „Kurzformel eines gentilen Selbstverständnisses" bezeichnet, aus dem sich sehr viele Vorstellungen Bebels ableiten ließen105. Das von Bebel wiederholt erwähnte schwäbische Vorstreitrecht bestätige „ihm die Richtigkeit und fortdauernde Gültigkeit des antiken Lobs schwäbischen Kriegertums"108. Mertens macht auch auf den „Zusammenhang zwischen Humanismus und Wehrwesen"107 aufmerksam, der sich an der Häufigkeit der Devise pro patria mori ablesen lasse. Wenn Bebel das Vaterland Schwaben als Kriegergemeinschaft entwarf, so übertrug er lediglich ein vorhandenes Landes-Modell in den humanistischen Diskurs. Der legitimierende Ursprung lag nun nicht mehr in der Zeit Karls des Großen oder Barbarossas, sondern in der Antike. Die für die Dreizehnerstube des Straßburger Rathauses bestimmte „Freiheitstafel" Sebastian Brants begründete die Freiheit der Schwaben mit der traditionell bei Augsburg lokalisierten Varusschlacht. Zu Augsburg seien drei Legionen erschlagen worden, die der freyen Schwaben Fryheit l wolten keren in dienstbarkeit108. Wie in den oben besprochenen Zeugnissen wurde 105 Mertens (Anm. 4), 166 f. Ebd., 167. Zahlreiche Belege zum schwäbischen Patriotismus aus historischen Schriften von Humanisten sind gesammelt bei Hans Tiedemann, Tacitus und das Nationalbewußtsein der deutschen Humanisten Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts, Diss. Berlin 1913. Zum Vorstreit vgl. ebd., 128. 107 Mertens (Anm. 4), 170. 108 Das Narrenschiff von Dr. Sebastian Brant nebst dessen Freiheitstafel, hrsg. von Adam Walther Strobel, Quedlinburg und Leipzig 1839, 308. Zur Freiheitstafel vgl. demnächst ausführlich die Habilitationsschrift von Joachim Knape über Sebastian 106 152 Klaus Graf die Schwabenfreiheit auf die Tapferkeit der Vorfahren zurückgeführt. Wenn eine Augsburger Chronik sterck und keckhait der Schwaben rühmt109, so mag man sich darüber streiten, ob das Lob lediglich als Fortsetzung älterer Traditionen zu werten ist oder ob es als Rückgriff auf Meisterlin bereits „frühhumanistische Züge" trägt. Jedenfalls wird man behaupten dürfen, daß der humanistische Gentilpatriotismus stärker auf älteren und zeitgenössischen Landes-Modellen fußte, als man gemeinhin anzunehmen geneigt ist. Mit dem Rückgriff auf die gentes der Antike votierten die Humanisten nicht unbedingt gegen die im Rahmen dieser Einheiten inzwischen entstandenen Territorialstaaten. Allerdings mußte der Name Württemberg aus der historischen Langzeitperspektive der Humanisten und unter ihrer kaum angezweifelten Kontinuitätsprämisse110, die sich auf die Namensidentität stützte, nicht nur Bebel als nomen privatum erscheinen111, das ein Defizit an „öffentlichrechtlicher" Dignität aufwies. Die Spannung zwischen dem Land Schwaben und den Territorien, die oben besprochen wurde, wiederholte sich unter dem Vorzeichen der Kontinuität der gens Suevorum im humanistischen Diskurs. Auch im Medium der Historiographie und der sich aus ihr unter dem Einfluß des ethnographischen Modells der „Germania" des Tacitus und der Schriften des Enea Silvio entwickelnden Landesbeschreibung wurde Schwaben und nicht etwa Württemberg zum Darstellungsgegenstand. Die geradezu panegyrische Züge annehmende Schwabenbegeisterung des in Augsburg wirkenden Benediktiners Sigismund Meisterlin, des in Ulm lebenden Dominikaners Felix Fabri und des Tübinger Juristen Johannes Naukler ist wiederholt beschrieben worden112. Im 16. Jahrhundert war eine mehr oder minder ausführliche Erörterung des Themas „Suevia" - oder wenigstens ein entsprechendes Projekt - geradezu eine Pflichtübung in humanistischen Kreisen. Daß die „Annales Hirsaugienses" des Trithemius 1535 als Historia de gestis Suevorum ducum bezeichnet werden konnten, mag die anhaltende Faszination des Gegenstands schlaglichtartig beleuchten113. Brant. Zur Sache vgl. Tiedemann (Anm. 106), 130 und Jacques Ride, L'image du Germain dans la pensee et la litterature allemandes de la redecouverte de Tacite ä la fin du XVIeme siecle, Bd. l, Lilie/Paris 1977, 471 ff. 109 Die Chroniken (wie Anm. 101), 279. Vgl. auch den Hinweis auf die historische Begründung der Schwabenfreiheit durch Meisterlin bei Schreiner (Anm. 5), 20, und die bei Keller (Anm. 20), 56, Anm. l wiedergegebene Äußerung Meisterlins, daß sich die Schwaben die Freiheit als besondere Ehre anrechneten. 110 Vgl. Günter Cordes, Die Quellen der Exegesis Germaniae des Franciscus Irenicus und sein Germanenbegriff, Diss. Tübingen 1966, 122. 111 Mertens (Anm. 4), 166, Anm. 71, 171. 112 Vgl. ausführlich Helmut Binder, Descriptio Sueviae. Die ältesten Landesbeschreibungen Schwabens, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 45 (1986), 179 - 196. Von der älteren Literatur ist zu nennen: Keller (Anm. 20), 63 - 71, 74 f.; Schmidt (Anm. 21). Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 153 Den räumlichen Umfang von Schwaben bestimmten die Humanisten überaus uneinheitlich: teils orientierte er sich an Vorstellungen über das antike Siedlungsgebiet der Sueben und konnte somit ganz Deutschland abdecken, teils wurde er von dem vermeintlichen Umfang des einstigen Stammesherzogtums bestimmt. Die Zugehörigkeit der Schweiz war strittig114. Was den Humanisten Schwaben war, wurde im gelehrten Diskurs und in Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen und überkommenen politischen und unpolitischen Landes-Modellen ausgehandelt. Volkskundliche „Feldforschung" darf man von den gelehrten Ethnographen nicht erwarten. Wenn Franciscus Irenicus aus Ettlingen das fränkische Maulbronn Sueviae monasterium nennt115, so widerspricht das allem, was man über die „wirklichen" Stammesgrenzen zu wissen glaubt. Auf ein neu aufgefundenes aufschlußreiches Geschichtswerk, eine „schwäbische" Reichsgeschichte aus dem ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, sei wenigstens kurz hingewiesen. Der nur in einer unvollständigen Wiener Handschrift überlieferte Text wurde von Gertrud Blaschitz ediert116 und konnte von Felix Heinzer aufgrund des paläographischen Befundes dem vor allem durch seine Chronik der Abtei Reichenau bekannten Kleriker Gallus Öhem (+ 1522) zugeschrieben werden: „Öhem ist Schreiber der Handschrift, und dies bedeutet angesichts des autographen Charakters des Werks, daß er auch der Autor der Chronik ist"117. Schwaben ist bei Öhem die Bezugsgröße einer genealogisch-dynastisch aufgefaßten Geschichte des Reichs und der schwäbischen Herzöge. Er schrieb zu loub und eren dem Schwaben landiw. Zwar exzerpierte Öhem aus seinen hochmittelalterlichen Quellen auch Ereignisse, die Orte Schwabens betrafen, doch stand für ihn 113 Martin Frecht erkundigte sich bei Ambrosius Blarer am 9. 10. 1534 für einen Ungenannten (den Ulmer Bürgermeister Georg Besserer?), der eine Geschichte Schwabens und Deutschlands verfassen wollte, nach der Handschrift „De rebus Suevorum et Germanorum", Briefwechsel der Brüder Ambrosius und Thomas Blaurer 1509 - 1548, bearb. von Traugott Schieß, Bd. l, Freiburg i.Br. 1908, 580 f., vgl. ebd., 700. Blarer gab die Bitte an Theodor Reysmann in Hirsau weiter, der am 17. 2. 1735 gegenüber Grynaeus über Blarer sagte: Historiam de gestis Suevorum ducum petivit, Gustav Bossert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins NF 23 (1908), 713. Zu weiteren Arbeiten und Projekten vgl. Graf (Anm. 9), Anm. 109; Schmidt (Anm. 21), 72. 114 Binder (Anm. 112), 194 f. 115 Vgl. Cordes (Anm. 110), 89. 116 Gertrud Blaschitz, Eine ,Deutsche Chronik' eines Anonymus aus dem Umkreis des Klosters Reichenau. (Codex 2927 der Österreichischen Nationalbibliothek), Diss. masch. Wien 1983. Zur Datierung und Interpretation des Textes vgl. Graf (Anm. 9), 174 - 178. 117 Felix Heinzer, Die Reichenauer Inkunabeln der badischen Landesbibliothek in Karlsruhe. Ein unbekanntes Kapitel Reichenauer Bibliotheksgeschichte, in: Bibliothek und Wissenschaft 22 (1988), 1-127, hier 48. Zu Öhem als Buchbesitzer vgl. ebd., 32 - 49. Zu Öhem vgl. zusammenfassend Eugen Hillenbrand, in: Verfasserlexikon (Anm. 85), Bd. 7 (1989), 28 - 32. 118 Blaschitz (Anm. 116), 120. 154 Klaus Graf die blutsmäßige , Vernetzung' der deutschen Herrscher von Karl dem Großen bis zu den Staufern im Vordergrund. „Deshalb wird er nicht müde, seinen Lesern immer wieder nahezubringen, wie segensreich es sich in der Geschichte des Reichs ausgewirkt habe, daß dessen Herrscher aus schwäbischen Adels- und Herzogsgeschlechtern abstammten oder mit diesen versippt, verwandt oder verschwägert waren"119. Öhem, dem humanistische Interessen nicht abgesprochen werden können120, steht wie die meisten Humanisten bei der Beurteilung des Konflikts Kaiser Friedrichs II. mit dem Papst auf der Seite des Staufers, den er als Kirchenreformer in Schutz nimmt121. In der humanistischen Staufertradition verband sich die Wertschätzung der durch die Stauf er bewirkten einstigen nationalen Größe und hegemonialen Macht mit schwäbischen Herzogsüberlieferungen. Die Verbindung von Stauferbegeisterung und schwäbischem Patriotismus war bei Heinrich Bebel besonders ausgeprägt122. Einem lokalen Traditionszentrum, dem Kloster Lorch mit seinen Staufergräbern, widmete er ein „Epitaphium ducum Sueviae", das von den stolzen Mönchen neben der älteren Stiftertafel aufgehängt wurde123. Die Diskussion um Schwaben wurde jedoch nicht nur in Büchern ausgetragen. Den Humanisten ging es nicht allein um die einstige Größe des schwäbischen Volkes, sondern auch um das „gelehrte Schwaben" ihrer Gegenwart. Indem sie die gens der Schwaben als eine durch Freundschaft und Treue zusammengehaltene Lebensgemeinschaft entwarfen, aktivierten sie landsmannschaftliche Solidaritäten, wie sie etwa an den Universitäten seit langem bekannt waren. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Fehde von Humanisten des Elsasses mit solchen aus Schwaben, die von den Beteiligten als landsmannschaftlicher Konflikt begriffen wurde. Sie läßt sich gut anhand des von Otto Herding und Dieter Mertens edierten Wimpfeling-Briefwechsels verfolgen124. Bereits 1499 tadelte Jakob Wimpfeling die Sprache der in das Elsaß 119 Schreiner (Anm. 5), 22. Vgl. Heinzer (Anm. 117), 44. 121 Blaschitz (Anm. 116), 495 f. 122 Vgl. Mertens (Anm. 4), 169 f. 123 Vgl. Christian Tubingius Burrensis Coenobii Annales. Die Chronik des Klosters Blaubeuren, hrsg. von Gertrud Brösamle (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde), Stuttgart 1966, 76, 78, mit Georg Wilhelm Zapf, Heinrich Bebel nach seinem Leben und Schriften, Augsburg 1802, Nachdruck Leipzig 1973, 232 f. Bebels Lorcher Texte sind auch handschriftlich überliefert und zwar anonym in den bei Klaus Graf, Kloster Lorch im Mittelalter, in: Lorch. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Kloster, Bd. l, Lorch 1990, 39 - 95, hier 78, Anm. 45 f. genannten Handschriften. Zur Lorcher Staufertradition vgl. ebd., 7 5 - 7 9 . 124 Jakob Wimpfeling, Briefwechsel, hrsg. von Otto Herding und Dieter Mertens, Bd. 1 - 2 , München 1990, 937 (Register s. v. „Schwaben"). Vgl. zuvor schon Otto Herding, Ein schwäbischer Gelehrtenkatalog des frühen 16. Jahrhunderts, in: Aus der 120 Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 155 gezogenen Schwaben, eine Kritik, die er 1503 mit einer Klage über die stilistische Barbarei der schwäbischen Kleriker noch verstärkte. Als Wimpfelings Ansichten publik wurden, erregte das in Freiburg und Tübingen einen Entrüstungssturm,, da man die Ehre aller Schwaben angegriffen sah. Sogar zu Handgreiflichkeiten kam es, als eine magna Suevorum caterva1K den Elsässer Philesius überfiel. Wimpfeling sah sich genötigt, der Universität Freiburg im Dezember 1505 offiziell mitzuteilen, er werde nichts contra nationem Suevicam veröffentlichen126. In diesem Brief und in zwei anderen beteuerte Wimpfeling seine enge Verbundenheit mit den Schwaben. Auch Heinrich Bebel, der sich aufgrund des in Tübingen aufgekommenen rumor an Wimpfeling gewandt hatte127, versuchte den Elsässer in diesem Sinne zu besänftigen. 1505/1506 verfaßte Wimpfeling eine ausführliche Ehrenerklärung für die Schwaben, der er einen von Albertus Magnus bis zur Gegenwart reichenden schwäbischen Gelehrtenkatalog beifügte. Die „Epistula excusatoria ad Suevos" erschien als Dokumentation zum Streit mit Beiträgen weiterer elsässischer Humanisten im Jahr 1506 bei einem Straßburger Drucker. Hintergrund des Konflikts waren nicht auf den universitären Bereich beschränkte soziale Spannungen zwischen den angestammten Bewohnern des Elsasses und vor allem aus Schwaben stammenden Einwanderern aller Schichten128. Insbesondere die massenhaft in das Elsaß gekommenen niederen Kleriker aus Schwaben, beinahe ein „Klerikerproletariat", gaben mit ihrer ungenügenden Bildung, ihren befremdlichen Sprachformen und ihrer landsmannschaftlichen Gruppenbildung Anlaß zur Kritik: „Wenn es ging, suchten die Schwaben andere Schwaben auf und bildeten eine Gruppe, die um so mehr auffiel. In Oberkirch zum Beispiel waren alle Priester, deren Herkunft wir kennen, Leutpriester oder Helfer, Schwaben, außer einem Bayern und einem Franken"129. Ein sozialer Gegensatz lag also einem landsmannschaftlichen Konflikt zugrunde und dieser wiederum einem Gelehrtenstreit. Wimpfelings Erklärung gegenüber der Freiburger Universität, er wolle nicht gegen die schwäbische natio schreiben, läßt an den universitären Nationen-Begriff, an die landsmannschaftlichen Organisationen der Stu- Arbeit des Archivars. Festschrift für Eberhard Gönner, hrsg. von Gregor Richter, Stuttgart 1986,311-325. Wegen des Textzusammenhangs der „Epistula excusatoria ad Suevos" und als Textsammlung ist nach wie vor heranzuziehen: Wilhelm Crecelius, Jakob Wimpfeling und die Schwaben, in: Alemannia 12 (1884), 44 - 58. 125 Wimpfeling (Anm. 124), 516 Anm. 6. 126 Ebd., 518 - 520. 121 Ebd., 526. 128 Herding (Anm. 124), 312 f. mit Literatur. 129 Francis Rapp, Der Klerus der mittelalterlichen Diözese Straßburg unter besonderer Berücksichtigung der Ortenau, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 137 (1989), 91 -104, hier 101. 156 Klaus Graf denten denken. An die Universität hat Wimpfeling sein Dementi nicht zuletzt deshalb gerichtet, weil das Gerücht einen wichtigen Teil der Studentenschaft, nämlich die Schwaben an der nicht-schwäbischen Universität Freiburg betraf. Zu ihrem Wortführer hatte sich Jakob Locher aufgeschwungen, den Wimpfeling mit dem Brief anzuschwärzen versuchte. Für die mittelalterlichen Universitäten hat Rainer Christoph Schwinges auf die „landsmannschaftliche Infrastruktur, die immer wieder für neuen Zuzug aus den entfernteren Gebieten sorgte"130, nachdrücklich hingewiesen. Dem „Kompatriotismus" des Herkunftsortes oder der Herkunftsregion kam eine erhebliche Bedeutung bei der Ausbildung der universitären (und außeruniversitären) Beziehungsnetze und Patronageverbände zu. Die universitären Landsmannschaften organisierten sich nicht selten in eigenen Bursen. So ist etwa in Heidelberg seit 1423 die bursa Suevorum bezeugt, die noch 1546 als Schwabenbursch erscheint131. Wenn sich die Humanisten in ihren gelehrten Gesellschaften und in ihren Freundschaften an den gentes und einer gentil verstandenen patria orientierten, setzten sie damit lediglich die im Bildungswesen seit langem gängige Praxis landsmannschaftlicher Vereinigungen fort. Das Landes-Modell, das Schwaben als Gelehrtengemeinschaft entwarf, erweist sich so als eigenständige Variante eines älteren Modells, das landsmannschaftliche Verbundenheit in der Fremde herzustellen vermochte und das nicht nur im Bildungswesen wirksam gewesen sein dürfte. Noch ein weiterer Aspekt tritt in der besprochenen Fehde hervor: Das Land als Gelehrtengemeinschaft war zugleich eine Sprachgemeinschaft — auch hinsichtlich der lateinischen Sprache. Vor allem Heinrich Bebel, der Zeitkritik vor allem als Sprachkritik verstand und sich intensiv um eine reinere Latinität bemühte, mußte empfindlich reagieren, wenn vermeintlich allen Schwaben „schwäbisches Latein"132 vorgeworfen wurde. Daneben war die Muttersprache der Schwaben Gegenstand humanistischen Spottes: Konrad Celtis verglich das Schwäbische mit dem Geräusch des Nußknakkens133. Erasmus von Rotterdam kritisierte in seiner Schrift über die Fürstenerziehung die verwandtschaftlichen Beziehungen der Fürstenhäuser zum Aus130 Rainer Christoph Schwinges, Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches (Beiträge zur Sozialund Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 6), Wiesbaden 1986, 259; vgl. auch ebd., 418, 420 mit Anm. 29 (Literatur), 494. 131 Gerhard Ritter, Die Heidelberger Universität. Ein Stück deutscher Geschichte, Bd. 1: Das Mittelalter (1386 - 1508), Heidelberg 1936, 393, Anm. 2 (Anführer Peter von Blaubeuren), 494 (1546), 395 mit Anm. 1. Für die Niederrheiner war die nur 1462 belegte bursa Coloniensis zuständig (ebd., 393, Anm. 2). 132 Vgl. Keller (Anm. 20), 154 und die bei Graf (Anm. 7), 111, Anm. 64 genannten Titel. 133 Keller (Anm. 20), 152 f. Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 157 land und zu fernen Nationen mit dem Argument, daß gemeinsame Herkunft und Vaterland (genus et patria) sowie eine Art gemeinsamer genius das Entstehen von Zuneigung zwischen den Partnern fördere. Wo die Natur den Grund zu wechselseitiger Liebe gelegt habe, da solle man sie auch vermehren134. Den Genius des Landes, der sein geistiges Leben und die literarische Produktion bestimmte, sahen die Humanisten, älteren Vorstellungen folgend, in Abhängigkeit von der Landesnatur. In einem Brief an Heinrich Bebel hoffte 1515 der Ravensburger Gelehrte Michael Hummelberger, daß Bebels Schriften auch den Italienern zusagen würden und diese erkennen ließen, daß die Schwaben, obwohl unter rauherem Himmel geboren, an Ingenium und Wissenschaft nicht zurückstünden135. Es erscheint also als eine müßige Frage, ob die Konzeption Schwabens als Vaterland im Gründungsmandat des Schwäbischen Bundes auf den humanistischen patria-Gedanken zurückzuführen sei oder ob umgekehrt die Humanisten politische Entwicklungen der Gegenwart in ihren Diskurs einbezogen haben. Die Humanisten lebten nicht auf einer Insel. Wenn sie sich auf Schwaben beriefen, so befanden sie sich dabei in der guten Gesellschaft von Fürsten, Adeligen, Bürgern und Bauern. VII. Bemerkungen zum Landesbegriff Otto Brunners Den Ertrag des Abschnitts „Das Wesen des Landes" in seinem epochalen Werk „Land und Herrschaft" resümiert Otto Brunner so: „Überblickt man die hier vorgeführten Bedeutungen von terra, provincia, Land, so ergibt sich eindeutig ein bestimmter Sinn. Es sind Gerichtsbezirke, in denen Landrecht gesprochen wird, in denen eine Landesgemeinde vorhanden ist. Landesgemeinde und Landrecht erscheinen als Wesensmerkmale des ,Landes'"136. Den Begriff der Landesgemeinde bestimmt er wenig später: „Die Landesgemeinde ist die landrechtliche Rechtsgenossenschaft"137. An anderer Stelle, nämlich in dem Abschnitt „Grundzüge der Landesverfassung", formuliert er über die „Struktur des Landes": „Es stellt eine Rechts- und Friedensgemeinschaft dar, die durch ein bestimmtes Landrecht geeint ist"138. Bezeich134 Erasmus von Rotterdam, Fürstenerziehung. Institutio Principis Christian!. Die Erziehung eines christlichen Fürsten, hrsg. von Anton J. Gail, Paderborn 1968,146 f.; vgl. Schreiner (Anm. 5), 25. 135 Adalbert Horawitz, Analecten zur Geschichte des Humanismus in Schwaben (1512 - 1518), in: Sitzungsberichte der Philos.-Hist. Classe der kaiserl. Akademie der Wissenschaften 86 (1877), 217 - 278, hier 267: ut et Romani Sueuis alioqui duro sub sidere natis et ingenia et literas non deesse cognoscant. Eher scherzhaft Hummelberger an Thomas Anshelm 1513 (ebd., 240): Scribe, quid Suevicae Alpes parturiant. 136 Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 5. Aufl., Wien 1965, Nachdruck Darmstadt 1984, 194. 137 Ebd., 194 f. 138 Ebd., 234. 158 Klaus Graf nend ist, daß der Begriff „Land" in zwei verschiedenen Argumentationszusammenhängen identisch bestimmt wird. Die ersten beiden Zitate setzen das „Wesen" des Landes mit der „Bedeutung" bzw. dem „Sinn" des Quellenbegriffes „Land" (mit seinen Termini terra, provincia, lant) gleich, während das dritte Zitat eine verfassungsgeschichtliche Beschreibung bietet, „Land" also als Forschungsbegriff verwendet. Begriffsgeschichte und Verfassungsgeschichte fallen für Brunner hinsichtlich des „Landes" also zusammen. Ein Teil der Irritation, die von Brunners Buch ausgegangen ist, resultiert sicher aus dieser Vermischung des Quellen- und des Forschungsbegriffes „Land", die in wichtigen Kontexten unzulässig und irreführend ist. Daß Brunner sich Länder ohne Landesherren vorstellen konnte, haben ihm seine Kritiker besonders verübelt. Zu unrecht: Nicht jedes mit der Quellenbezeichnung lant verbundene Verfassungs-Modell entspricht dem in der deutschen landesgeschichtlichen Forschung lange Zeit beliebten „Idealtyp" des spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Territorialstaats, der angeblich ausschließlich von kraftvoll zupackenden Dynasten geschaffen wurde. Die „Länder" der schweizerischen Eidgenossenschaft sind in diesem Sinn keine „wirklichen" Länder. Gleiches gilt für die „Länder" in epischen Texten des Mittelalters, bei denen es sich um literarische Fiktionen handelt139. Wie steht es aber mit Schwaben, das doch in spätmittelalterlichen Quellen unbestritten als „Land" bezeichnet wird? Brunner spricht Schwaben und ähnlichen Ländern eine „ideelle Existenz" zu und macht das „Funktionieren" der Genossenschaft zum Kriterium für die Existenz eines „wirklichen" Landes: „Fehlt diese Landesgemeinde, funktioniert sie nicht mehr, dann existiert das Land nur mehr ideell"140. Das Land brauche zwar keinen Landesherrn, bedürfe aber, „um tatsächlich zu funktionieren, eines Leiters seiner Gerichtsversammlungen und eines Führers im Krieg"141. An anderer Stelle: Das Land „existiert faktisch in seinem tatsächlichen rechtlichen Handeln, indem es funktioniert und das in ihm geltende Landrecht übt". Länder, „die nicht mehr Genossenschaften sind", seien „nur noch ideell vorhanden als Gebiet tatsächlich einheitlichen Landrechts"142. Wird das spätmittelalterliche Schwaben durch diese Festlegung tatsächlich von den „wirklichen" Ländern getrennt? Ohne einer Überschätzung der realen politischen Bedeutung der hier besprochenen Landes-Modelle das Wort reden zu wollen, wird man zumindest für den Schwäbischen Bund annehmen dürfen, daß seine Institutionen, die das Zusammenspiel des Kai- 139 Vgl. die Hinweise bei Graf (Anm. 8), 102. Brunner (Anm. 136), 195. Ebd., 235. "2 Ebd., 236. 140 141 Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 159 sers als Landesherrn und der schwäbischen Stände organisieren sollten, tatsächlich „funktioniert" haben. Ist der lockere Zusammenhang, der die Stände des Schwäbischen Bundes verband, tatsächlich etwas ganz anderes als die losen Bindungen der Glieder des Reichs oder der Schweizer Eidgenossenschaft untereinander143? Ist das zähe Festhalten der Schweizer an ihrer Reichszugehörigkeit grundsätzlich anders zu werten als die Berufung der schwäbischen Stände auf ein Land Schwaben? Die Frage nach der Grenze zwischen „Ideal" und „Wirklichkeit" ist falsch gestellt. Es gilt vielmehr, das Wechselspiel zwischen handlungsleitenden Landes-Modellen und interessegeleitetem politischem Handeln für jedes einzelne Untersuchungsgebiet möglichst genau zu beschreiben. Die Verfassungsgeschichte kann dabei auf die Ideen- und Begriffsgeschichte nicht verzichten, sofern sie den Handlungsbegriff überhaupt ernst nimmt144. Der Zugang zu politischen Konzeptionen über die Quellenbegriffe, wie er in Brunners Behandlung des Landesbegriffs paradigmatisch durchgeführt wurde, erschließt einen zentralen Bereich der historischen Wirklichkeit, der nicht einfach mit dem beliebten Argument ausgeklammert werden kann, der empirische Quellenbefund spreche nun einmal für eine „nackte Interessenpolitik"145 und Landes-Modelle seien allenfalls „vorstellungsgeschichtlich" oder für die Literaturwissenschaft146 von Interesse. Es fragt sich nämlich, ob „machiavellistische" Modelle nicht anachronistische Vorannahmen in vormoderne Verfassungsverhältnisse zurückprojizieren147. Max Weltin hat jüngst eine modifizierte Definition von Brunners Forschungsbegriff des Landes vorgelegt: „Das Land ist ein Personenverband, das heißt, die Interessengemeinschaft einer Anzahl adeliger lokaler Machthaber mit der von ihnen als übergeordnet anerkannten Instanz des Landesherrn"148. Seinem Umfang nach ist das Land für Weltin „die Summe der 143 Vgl. Mommsen (Anm. 37), 30. Vgl. auch Graf (Anm. 8), 215 f. 145 Michael Margue und Michel Pauly, Luxemburg vor und nach Worringen. Die Auswirkungen der Schlacht von Worringen auf die Landesorganisation sowie die Territorial- und Reichspolitik der Grafen von Luxemburg, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 16 (1990), 111 - 174, hier 174. 146 Auf den wichtigen Beitrag von Fritz Peter Knapp, Süddeutsche Literaturlandschaften in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Ein Versuch ihrer Abgrenzung, in: Festschrift für Ingo Reiffenstein zum 60. Geburtstag, hrsg. von Peter K. Stein, Andreas Weiss, Gerold Hayer (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 478), Göppingen 1988, 425 - 442, sei nachdrücklich aufmerksam gemacht. Knapp konstatiert, daß die Autoren des 13. Jahrhunderts nicht in Territorien, sondern in „Ländern" (im Sinne Brunners) gedacht haben, und versucht diesen Befund für die Klassifikation literarischer Texte unter regionalem Aspekt nutzbar zu machen. 147 Vgl. hierzu ausführlicher Graf (Anm. 8), 100 - 106. 148 Max Weltin, Der Begriff des Landes bei Otto Brunner und seine Rezeption durch die verfassungsgeschichtliche Forschung, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanist. Abt. 107 (1990), 339 - 376, hier 371. 144 160 Klaus Graf Machtbereiche" der Grafen, Edelfreien und Ministerialen149. Weltins Modell, das er als „Strukturprinzip des mittelalterlichen Landes" schlechthin ausgibt150, kann jedoch, soweit es sich auf den Landesbegriff Brunners beruft, nur als Verfälschung der Anliegen Brunners verstanden werden. Von „Recht" oder „Genossenschaft" ist in der Definition nicht mehr die Rede, sondern von „Interessen" und „Macht". Bauern, Bürger und Prälaten haben an Weltins „Land" keinen Anteil, und Länder ohne Landesherrn kann es per definitionem nicht geben. Wilhelm Janssen hat bekannt, die Frage nach der Bedeutung von terra und „Landrecht" gehe „an den Nerv der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verfassungsgeschichtsforschung"151. Wenn hier — gegen Weltin daran festgehalten werden soll, daß das Landrecht eine zentrale Kategorie mittelalterlicher Landes-Modelle darstellt, so wird damit weniger ein empirischer als ein begrifflicher Zusammenhang behauptet. Genossenschaftlich organisierte Landesmodelle setzen ein Recht der Genossenschaft voraus. Hinsichtlich des Quellenbegriffs Landrecht hat bereits Otto von Gierke festgestellt: „Auch als statt der alten Benennung nach dem Volk (Volksrecht, leges populorum, lex Alamannorum u. s. w.) die Bezeichnung ,Landrecht' für das gemeine Recht aufkam, war damit noch nicht ein eigentliches Recht des Landes im heutigen Sinne bezeichnet, sondern das Recht der in einem bestimmten Lande lebenden und ihm zugehörigen Stammesgenossenschaft" 152 . Noch für Sachsenspiegel und Schwabenspiegel ist, so Gierke, „das Landrecht das Recht einer großen freien Genossenschaft"153. Bis heute 149 Ebd., 372. "o Ebd., 376. 151 Diskussionsbeitrag zu Wilhelm Janssen, „na gesetze unser lande ...". Zur territorialen Gesetzgebung im späten Mittelalter, in: Gesetzgebung als Faktor der Staatsentwicklung (Beihefte zu „Der Staat" 7), Berlin 1984, 7 - 40, Aussprache 41 - 61, hier 61; vgl. auch ebd., 49, 561 152 Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, Nachdruck Darmstadt 1954, 88 f. Zur Kritik der Auffassung von Maurer (Anm. 17), 224 - 227, vgl. Graf (Anm. 8), 103. Wenn Weitzel (Anm. 80), 1029, Anm. 145 meint, ein eigentliches „Landrecht" gebe es vor 1200 nicht, so liegt dem eine begriffliche Konfusion zugrunde. Was nach 1200 in den Quellen als lantrecht erscheint oder von der Forschung als „Landrecht" bezeichnet wird, ist materiell nichts anderes als das dinggenossenschaftlich gefundene Recht eines Stammeslandes oder einer Region (Geltungsbereich eines Gerichts) in den Jahrhunderten zuvor. Unpräzise erscheinen mir auch die Formulierungen „Heimatgebiet" bzw. „Heimaterde", ebd., 1048 f. Den räumlichen Aspekt seiner Studien, daß jedes Gericht einen rechtlich bestimmten Geltungsbereich besitzt, hat Weitzel leider unberücksichtigt gelassen. Landrecht ist übrigens schon die „Lex Ribuariorum", das Recht des frühmittelalterlichen „Landes Ribuarien", vgl. Ulrich Nonn, Pagus und Comitatus in Niederlothringen. Untersuchungen zur politischen Raumgliederung im früheren Mittelalter (Bonner historische Forschungen 49), Bonn 1983, 164 - 172. Nonn schlägt (wie vor ihm Ewig) für den Begriff „Großgau" die Bezeichnung „Land" vor (ebd., 168). Länder gibt es somit seit der „Regionalisierung der Volkstümer" in der Merowingerzeit, Ewig (Anm. 38), 272. !53 Gierke (Anm. 152), 89. Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 161 hat die verfassungsgeschichtliche Forschung den entscheidenden Beitrag von Georg Droege zur Weiterentwicklung des Brunnerschen LandesModells, das wiederum auf Einsichten von Gierke fußt164, nicht hinreichend gewürdigt. Droeges „landrechtliches Prinzip" liegt jedem genossenschaftlichen Verband freier, rechtsfähiger Leute zugrunde: „Das Recht dieser Genossenschaft ist das Landrecht"155. Es ist das Verdienst von Jürgen Weitzel, den Verfahrensaspekt des landrechtlichen Prinzips auf den umfassenden Begriff der Dinggenossenschaft gebracht zu haben156. Weitzel stellt nachdrücklich die Bedeutung der Genossenschaft in der Verfassungsgeschichte des Mittelalters heraus: „Herrschaft ist grundsätzlich und von vornherein rechtlich-dinggenossenschaftlich gebunden"157. Ist mit Folker Reichert das „Recht des Landes [ . . . ] das Recht derer, die beanspruchen, das Land zu bilden, die [ . . . ] beim Landtaiding mitzureden haben"158, so ist damit der unauflösbare Zusammenhang von Recht und Gericht angesprochen. Landrecht ist somit alles das, was in einem Gericht des Landes nach dinggenossenschaftlichem Verfahren gefunden wird. Auch auf dem österreichischen Landtaiding wird das Recht dadurch gefunden, daß der Herzog als Richter die Ministerialen nach dem Urteil fragt159. Landrecht und Landgericht lassen sich somit begrifflich in einem an Brunner orientierten Landes-Modell nicht trennen. Hingegen ist es eine empirische — noch kaum in Angriff genommene - Frage, inwieweit etwa die Rechtsprechung in den ländlichen Gerichten Schwabens sich materiell an bestimmten Normen eines überregionalen schwäbischen Rechts orientierte160. 154 Zentrale Aspekte des Landesbegriffs Brunners finden sich bereits in den Ausführungen Gierkes (Anm. 152) über die Landesgemeinden (514 - 528) und die Landschaften = landständische Körperschaften (534 - 581). Wichtig sind etwa die quellennahe Skizze der schweizerischen Landgemeinden (516 ff.) und die Gegenüberstellung von Herrschaft und Landschaft, die Brunners Konfrontation von Land und Herrschaft entspricht, vgl. etwa ebd., 572 f.: „Herrschaft und Landschaft waren zwei Rechtssubjekte nebeneinander, die durch die vielfachsten Rechtsbeziehungen verbunden, aber nicht Glieder einer von ihnen verschiedenen höheren Einheit waren". Die Diskussion über den Landesbegriff könnte in manchem an die von Brunner in ihrem rechtlichen Gehalt nicht aufgearbeiteten Gedanken Gierkes fruchtbar anknüpfen. 155 Georg Droege, Land- und Lehnrecht im hohen Mittelalter, Bonn 1969, 55. 156 Weitzel (Anm. 80). 157 Ebd., 181. 158 Folker Reichert, Landesherrschaft und Vogtei. Zur Vorgeschichte des spätmittelalterlichen Ständestaates im Herzogtum Österreich (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 23), Wien 1985, 368. 159 Ebd., 366. 160 Durch das Territorium der Stadt Zürich verlief die Grenze zweier Erbrechtssysteme, die der Grenze zwischen den Landgrafschaften Thurgau und Zürichgau entspricht, vgl. Thomas Weibel, Erbrecht und Familie. Fortbildung und Aufzeichnung des Erbrechts in der Stadt Zürich vom Richtebrief zum Stadterbrecht von 1716, Zürich 1988, 61. Im 9. Jahrhundert ist als lex Sualaveldica eine Erbrechtsbestimmung für das fränkische Sualafeld bezeugt, Andreas Bauch, Quellen zur Geschichte der 11 Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 14 162 Klaus Graf Eine bemerkenswerte Synthese von Weitzels Modell der Dinggenossenschaft und des Kommunalismus-Konzepts von Peter Blickle161 liegt mit Andre Holensteins Buch über die Untertanenhuldigung vor. Auszugehen ist nach Holenstein von der „beschränkten, gebundenen und verpflichteten Position des zentralen Herrschafts- und Machtträgers im Territorium"162. Der Herr konnte das Recht nicht nach dem eigenen Willen gestalten. Daraus folgt, daß genossenschaftliche Landes-Modelle auch auf Territorien und ihre regionalen Untergliederungen (Einzelherrschaften, Amtsbezirke) anwendbar sind. Aus dem Fehlen einer förmlichen landständischen Verfassung darf nicht geschlossen werden, daß der Landesherr die Beziehungen zu seinen Untertanen selbstherrlich definieren konnte. Die Herstellung von Konsens dürfte in einem solchen Fall auf regionaler Ebene erfolgt sein. Die auf das „Land" beschränkte bäuerliche Wehrpflicht bezog sich beispielsweise auf die ältere Einzelherrschaft und nicht auf das Gesamtterritorium163. Die Verbreitung genossenschaftlicher Landes-Modelle in Westeuropa vom 10. bis 13. Jahrhundert hat Susan Reynolds untersucht164. Die behandelten Gebiete, nämlich hauptsächlich England, Frankreich, Deutschland und Oberitalien, wiesen nach ihren Ergebnissen geringere Unterschiede auf, als die national fixierte Forschung wahrhaben will. Ihre kritische Sichtung bislang gängiger verfassungsgeschichtlicher Deutungen mündet in eine generelle Aufwertung der Bedeutung, die den gemeinschaftlichen Aktivitäten und dem politischen Denken von Laien im Hochmittelalter zugesprochen werden muß. Genossenschaftliche Modelle kamen nicht nur in Bruder- Diözese Eichstätt, Bd. 2: Ein bayerisches Mirakelbuch aus der Karolingerzeit. Die Monheimer Walpurgis-Wunder des Priesters Wolfhard (Eichstätter Studien NF 12), Regensburg 1979, 166. 161 Auf die Kritik Weitzels in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanist. Abt. 104 (1987), 311 - 315, geht Peter Blickle, Die Reformation vor dem Hintergrund von Kommunalisierung und Christianisierung. Eine Skizze, in: Kommunalisierung und Christianisierung. Voraussetzungen und Folgen der Reformation 1400 - 1600 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 9), Berlin 1989, 9 - 28, hier 16 f., kurz ein. Grundsätzliche Fragen zur Abgrenzung des KommunalismusKonzepts behandelt Peter Blickle, Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus, in: Ders., Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 36), Stuttgart/New York 1989, 191-211 und Ders., Kommunalismus, Begriffsbildung in heuristischer Absicht, in: Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa, Ein struktureller Vergleich, hrsg. von Peter Blickle (Historische Zeitschrift, Beihefte 13), München 1991, 5 - 38. 162 Andre Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800 - 1800) (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 36), Stuttgart/New York 1991, 347. Zu Gerichtsherrschaft und Dinggenossenschaft ebd., 175 - 197, 514. 163 Peter Blickle, Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes in Oberdeutschland, München 1973, 485. 164 Susan Reynolds, Kingdoms and Communities in Western Europe, 900 - 1300, Oxford 1984. Das „Land" Schwaben im späten Mittelalter 163 Schäften und Gilden, sondern auch in Landgemeinden und Nachbarschaften, auf der Ebene von Provinzen, Ländern und Herrschaften und in der Verfassung der Königreiche zur Anwendung. Für die deutsche Königsherrschaft hat zuletzt Gerd Althoff auf die Bedeutung der gemeinsamen Beratungen mit den Großen nachdrücklich hingewiesen165. Brunners Landesbegriff, so ist aus diesen Forschungsbeiträgen zu schließen, bedarf keiner Reformulierung. Seine heuristische Kraft beruht darin, daß ihm ein allgemeingültiges Verfassungs-Modell zugrundeliegt, in dem genossenschaftliche Prinzipien, das Recht und seine Findung im Gericht im Mittelpunkt stehen166. Die Betrachtung des „untypischen" Landes Schwaben vermag vielleicht den Blick dafür zu schärfen, daß auch die einem Landesherren unterstellten Länder stärker genossenschaftlich geprägt waren, als man lange Zeit annehmen wollte167. Die hinsichtlich des Landes Schwaben von den Zeitgenossen und der modernen Forschung entwickelten Landes-Modelle können als „Versionen" anderer, gleichzeitiger Modelle charakterisiert werden. Die Metapher des „Kompromisses" mag noch einmal formulieren, daß es sich nicht nur um Strukturen handelte, die den Zeitgenossen verborgen geblieben sind, sondern auch um solche, die sich als Resultat von Diskursen und Verhandlungen verstehen lassen. Regionen sind keine naturräumlichen Einheiten, sondern Traditionstatbestände, deren historisch begründete Bedeutung und Geltung nicht zur Disposition von Machthabern steht168. In diachronischer Sicht erstaunt, daß Schwaben von der Völkerwanderungszeit bis zur Gegenwart eine normative, verpflichtende und legitimierende Größe blieb. Modelle der „longue duree" werden jedoch weniger von Identitäten als von Ähnlichkeiten bestimmt, die den sich wandelnden Strukturen gemeinsam sind. Das „Land Althoff, Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im frühen Mittelalter, Darmstadt 1990, 152 - 155. In der Übersicht über die „Felder genossenschaftlicher Bindung im Mittelalter", ebd., 85 88, bleiben die Verfassungsmodelle der Stammesländer und der Grafschaften und damit auch die Ergebnisse Droeges (Anm. 155) leider unberücksichtigt. Zur Kritik an der wichtigen Arbeit von Jürgen Hannig, Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses von Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 27), Stuttgart 1982, vgl. Graf (Anm. 8), 101 f. 166 vgi dazu auch Othmar Hageneder, Der Landesbegriff bei Otto Brunner, in: Jahrbuch des italienisch-deutschen hist. Instituts in Trient 13 (1987), 153 - 178, hier 177: „Der brunnersche Begriff des Landes als Rechtseinheit [ ... j ist als Arbeitsgrundlage tragfähig und äußerst fruchtbar". 167 Zur Kritik der herrschenden Lehre vgl. besonders Reichert (Anm. 158), 386 f. 168 Wenn der Journalist Rudolf Walter Leonhardt formuliert: „Regionen sind beständiger als Staaten, weil sie ihre Existenz der Selbstbesinnung verdanken und nicht politischem Kalkül", so trifft das nur für die Geltung, nicht aber in jedem Fall für die Genese zu, Die Zeit Nr. 42 vom 12. 10. 1990, 98. 164 Klaus Graf Schwaben" ist selbstverständlich etwas anderes als das hochmittelalterliche Herzogtum Schwaben und dieses wiederum etwas anderes als der völkerwanderungszeitliche „Stamm". Trotzdem geht die Forschung in die Irre, wenn sie scharfe Brüche ansetzt, wo Kontinuitäten und Übergänge das Bild bestimmten. Mit der Formel von Hermann Jakobs, ein Land sei eine „korporative Einheit in gentiler Tradition"169, vermag einsichtig gemacht zu werden, daß Geltung und Verbindlichkeit „politischer" Einheiten nicht ausschließlich von der jeweiligen Gegenwart bestimmt werden können. „Schwaben" war jedoch ebensowenig ein „Relikt" wie das „Reich", sondern offen für neue Bedeutungen, die sich in Auseinandersetzungen mit den „alten" Bedeutungen entwickeln mußten und konnten. Bedeutungsspielräume sind immer auch Handlungsspielräume. Der Bedeutungsvielfalt des Begriffs Schwaben, der von unterschiedlichen Gruppen und in unterschiedlichen Kontexten verwendet werden konnte, ist sowohl aus synchronischer als auch aus diachronischer Perspektive Rechnung zu tragen. Nicht nur für das 19. und 20. Jahrhundert gilt Heinz Gollwitzers Formulierung über den Regionalismus: „Das Traditionsbewußtsein enthüllt sich uns - so paradox dies klingen mag - bei näherem Zusehen als besonders wandelbar und veränderlich. Fortwährend scheidet es Vorstellungen aus, formt sie um und bildet in der Anknüpfung an Vergangenes, aber unter aktueller Fragestellung, neue historische Perspektiven aus"170. Die Verschränkung politischer und vermeintlich „unpolitischer" Aspekte, die wiederholt konstatiert werden konnte, erweist eine Verbindlichkeit des Schwabenbegriffs, die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen und heterogenen Kontexten schaffen konnte. Zum Beispiel bestanden zwischen dem im politischen Diskurs behandelten Land Schwaben und dem landsmannschaftlichen Freundesbund der Humanisten Differenzen, zugleich aber auch Ähnlichkeiten. Wird die Politik zu sehr als autonomes System betrachtet, begibt man sich der Möglichkeit, solche Übereinstimmungen empirisch zu beschreiben und damit zu einem zeitspezifischen Begriff des Politischen zu kommen. Ein „integrierter" Zugang eröffnet sich durch die Frage nach der personalen Identität. Die Zugehörigkeit des Einzelnen zu Schwaben implizierte „Ehre" wie „Recht", Berechtigung wie Verpflichtung. Seine „Verbundenheit", um eine möglichst neutrale Bezeichnung zu wählen, mit den MitSchwaben, aber auch seine Abneigung gegenüber den Nicht-Schwaben, entzieht sich zwar einer psychologisierenden Beschreibung, nicht jedoch einer Sprach-Analyse, die auf Worte und im öffentlichen Diskurs ausgehandelte Bedeutungen achtet. 169 Hermann Jakobs, Kirchenreform und Hochmittelalter 1046 -1215 (Oldenbourg Grundriß der Geschichte 7), 2. Aufl., München 1988, 156; vgl. auch ebd., 158. 170 Gollwitzer ( A n m . 13), 530. View publication stats