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Über das Unbemerkbare in der Wahrnehmung. Eine phänomenologische Auseinandersetzung mit dem Standpunkt der analytischen Philosophie zum Thema ‚Aufmerksamkeit’ Andrea Borsato Abstract What we cannot notice, we cannot be perceptually aware of either: This view, still very popular in the contemporary analytic philosophy of mind, has been recently defended by M. Tye and A. Noë. Here we try to confute this idea by referring to some empirical cases showing that we can be perceptually aware of something which our thematic attention fails to grasp. The limits of perception do not coincide with the limits of attention, and this holds not only in the case of the so called ‚primary attention’, but also if we take into consideration the ‚secondary attention’. We therefore reject Arvidson’s hypothesis of the identity between field of attention and field of consciousness. Was wir nicht bemerken können, das können wir auch nicht wahrnehmen: Diese im Rahmen der gegenwärtigen analytischen Philosophie des Geistes weitverbreitete Ansicht wurde neulich von M. Tye und A. Noë verteidigt. Wir werden uns hier mit einigen empirischen Beispiele auseinandersetzen, die u.E. mit dieser Idee kaum in Einklang zu bringen sind, und stattdessen den Gedanken nahelegen, dass die Grenzen des Wahrnehmbaren über die Grenzen sowohl des primär Bemerkbaren als auch des sekundär Bemerkbaren hinausgehen. Auf diesem Weg werden wir dann zur Verwerfung von Arvidsons Hypothese der Identität zwischen Bewusstseinsfeld und Feld der (im erweiterten Sinne gefassten) Aufmerksamkeit. Vieles nehmen wir wahr, was trotzdem unbemerkt bleibt. Dies scheint selbstverständlich. Weniger selbstverständlich ist, dass Vieles, was wir durch eine bestimmte Wahrnehmung W wahrnehmen, durch W selbst unbemerkbar ist. Mit ‚unbemerkbar’ meinen wir hier einen Inhalt, den wir (unter gewissen Umständen) unmöglich zum Thema unserer Aufmerksamkeit machen können – einen Inhalt, der sich (in Husserls Jargon ausgedrückt) dem Griff unserer primären Aufmerksamkeit entzieht. Die These der primären Unbemerkbarkeit mancher Wahrnehmungsinhalte möchten wir im Folgenden unterstützen und uns kritisch mit der Meinung jener Autoren auseinandersetzen, die sie in Abrede stellen. Nach M. Tye ist z. B. 1 alles, was wir thematisch zu erfassen unfähig sind, als unbewusst einzustufen1. Im Laufe unserer Erfahrung glauben wir zwar zunächst, vieler Details wahrnehmungsmäßig gewahr zu sein. Oft stellen wir aber nachträglich fest, dass wir nicht in der Lage sind, durch unsere aufmerksame Zuwendung solche Details thematisch zu erfassen. Dies veranlasst Tye zu folgendem Schluss: Wir haben solche Details eigentlich gar nicht wahrgenommen; unsere Überzeugung war falsch, und wir sind einfach einer Täuschung zum Opfer gefallen. Es handelte sich hier einfach um inattentional blindness. Wir glauben, dass diese Schlussfolgerung voreilig ist. Wir möchten zwar keineswegs die Möglichkeit einer inattentional blindness überhaupt bestreiten; wir möchten lediglich auf manche empirische Fälle hinweisen, in denen unsere thematische Erfassung eines Details versagt, und die trotzdem nicht unter die Gattung ‚inattentional blindness’ fallen, weil die Annahme hinreichend begründet ist, dass solche (zumindest vorläufig) unbemerkbaren Details doch wahrgenommen werden. Solche Beispiele entnehmen wir aus der Sphäre visueller und auditiver Wahrnehmung, und sie veranlassen uns zu folgendem Schluss: Die Grenzen des Wahrgenommenen reichen weit über die Grenzen des primär Bemerkbaren hinaus. Für viele Inhalte, die sich dem Griff unserer primären Aufmerksamkeit entziehen, sind wir gar nicht blind: sie werden wahrgenommen, und mit ‚wahrgenommen’ meinen wir – im Gegensatz zu A. Noë – nicht bloß ‚virtuell wahrgenommen’, sondern ‚wirklich wahrgenommen’. Dass solche wirklich wahrgenommenen, jedoch primär unbemerkbaren Inhalte überhaupt nichts mit Aufmerksamkeit zu tun haben, möchten wir allerdings nicht behaupten. Im Gegenteil scheint vieles dafür zu sprechen, dass Wahrnehmungsinhalte, die sich unserer primären Aufmerksamkeit entziehen, trotzdem unser Interesse affizieren und ferner unsere sekundäre Aufmerksamkeit wecken können: Es gibt, glauben wir, primär unbemerkbare, jedoch sekundär bemerkbare Wahrnehmungsinhalte. Ob übrigens alle primär unbemerkbaren Wahrnehmungsinhalte doch zumindest sekundär bemerkbar sind, möchten wir hier offen lassen. Wir betrachten diese Hypothese allerdings eher skeptisch und werden am Ende dieses Aufsatzes die Gründe, die für eine solche Skepsis sprechen, erwähnen. Die fraglichen Gründe führen uns zur Ablehnung der Ansicht Arvidsons, wonach sich Bewusstseinsfeld und Feld der Aufmerksamkeit decken. Wir neigen vielmehr zur Ansicht, dass sich die Grenzen des Bewusstseins weder mit den Grenzen primärer Aufmerksamkeit decken noch mit den Grenzen sekundärer Aufmerksamkeit: Die Existenz wahrgenommener Inhalte, die weder 1 Vgl. Tye 2010, S. 426: „A third possibility is that the ability to attend to a thing is necessary for visual perception of that thing. On this view, one fails to see a thing if one cannot attend to it. Still one can see a thing if one does not attend to it. This view is the one I favor.“ 2 unserer primären Aufmerksamkeit zugänglich sind noch unsere sekundäre Aufmerksamkeit affizieren können, glauben wir nicht ausschließen zu können. Dieser Aufsatz gliedert sich folgendermaßen. Nach einer einleitenden Erläuterung der Begriffe primäre und sekundäre Aufmerksamkeit (Abschnitte 1. und 2.) – mit besonderer Berücksichtigung der Thesen Husserls und Gurwitschs – und einer kurzen Darstellung der angesprochenen Auffassung Tyes (Abschnitt 3.) werden wir auf eine Reihe einschlägiger Gegenbeispiele ausführlich eingehen, die uns mit Tyes Verständnis der Beziehung von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit unvereinbar erscheinen, die vielmehr auf die Möglichkeit einer wahrnehmungsmäßigen Gegebenheit primär unbemerkbarer Details schließen lassen (Abschnitte 4. bis 6.). Danach werden wir uns mit der Bewusstseinsweise solcher unbemerkbarer Details beschäftigen, und uns in diesem Zusammenhang kritisch mit Noës Idee des virtuellen Bewusstseins auseinandersetzen (Abschnitte 7. und 8.). Anschließend (Abschnitt 9.) werden wir auf zwei Argumente eingehen, die auf die Möglichkeit hinweisen, dass primär unbemerkbare Wahrnehmungsinhalte sekundär bemerkt werden, und ein weiteres Argument erwähnen, das gegen Arvidsons These der Identität von Bewusstseinsfeld und Feld der Aufmerksamkeit spricht. 1. Aufmerksamkeit überhaupt Zunächst einige einleitende Worte zu unserem Verständnis des Terminus ‚Aufmerksamkeit’. Im Folgenden werden wir durch die Rede von ‚Aufmerksamkeit’ bzw. ‚Bemerken’ ausschließlich ‚wahrnehmungsmäßige Aufmerksamkeit’ meinen. Das allgemeine Kennzeichen der Inhalte, die unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken, ist die Tatsache, dass sie sich von einem Hintergrund abheben. Inhalte können sich dadurch vom Hintergrund abheben, dass sie für sich gemeint werden; dies muss aber nicht sein, und im Folgenden werden wir auf empirische Beispiele ausführlich eingehen, in denen sich ein Inhalt vom Hintergrund abhebt, ohne für sich gemeint zu sein. Aus diesem Grund ist unseres Erachtens die aus der II. Logischen Untersuchung stammende Hussersche Definition von 3 Aufmerksamkeit als der Fähigkeit, einen Inhalt für sich zu meinen2, lediglich auf die primäre Aufmerksamkeit zu beziehen, und nicht auf die Aufmerksamkeit überhaupt. Aufmerksamkeit verstehen wir hier übrigens als eine bewusste Leistung: Es muss sich auf eine gewisse Art und Weise anfühlen, einen Inhalt zu bemerken. Manche Autoren fassen allerdings diesen Begriff so weit, dass sie auch unbewusste Reaktionen als ‚Aufmerksamkeit’ einstufen: Wenn z. B. eine schlafende Mutter, die ein lauter Lärm nicht zu stören vermochte, durch das weniger laute Weinen ihres Kindes geweckt wird, dann kann man in gewissem Sinne behaupten, dass ihr Bewusstsein zwischen den beiden Reizen gleichsam eine Wahl getroffen hat: Man kann von Aufmerksamkeit als einer unbewussten Leistung sprechen, die den schwächeren Reiz bevorzugt, den stärkeren hingegen vernachlässigt3. Im Folgenden werden wir aber von diesem losen Verständnis der Aufmerksamkeit absehen. Die unbewusste Bevorzugung des Weinens des Kindes ist also nicht Aufmerksamkeit in unserem Sinne, denn für die schlafende Mutter fühlt es sich nicht auf eine besondere Weise an, dem Weinen des Kindes den Vorzug zu gewähren. Wenn wir sagen ‚x ist Thema unserer Aufmerksamkeit’, dann meinen wir damit nicht so etwas wie ‚x ist fokussiert’ bzw. ‚x ist der physikalische Brennpunkt unserer Wahrnehmung’4. Ich kann z. B. die Bewegung eines Objektes x am äußersten Rand meines visuellen Feldes aufmerksam verfolgen und gleichzeitig die Augen auf die Mitte des visuellen Feldes gerichtet halten. Ich schiele auf x, und wenn ich auf x schiele, dann ist x Thema meiner Aufmerksamkeit, ohne fokussiert zu sein: In diesem Fall ist mein physikalisches Auge nicht auf x gerichtet, mein geistiges Auge hingegen schon. Das ‚Schielen’ verstehen wir hier nicht einfach als ‚aufmerksames Verfolgen eines visuellen Datums ohne Kopfbewegung’, sondern radikaler als ‚aufmerksames Verfolgen eines visuellen Datums ohne irgendeine 2 Vgl. Hua XIX/1, S. 130: „Worauf sich eine Intention richtet, das wird dadurch zum eigenen Gegenstand des Aktes. [...] Inhalte dieser Art können nicht für sich sein. Aber darum können sie für sich gemeint sein. Die Intention trennt nicht, sie meint, und was sie meint, schließt sie eo ipso ab, sofern sie eben nur Dieses und nichts Anderes meint.“ Vgl. auch Hua XXXVIII, S. 68: „Wir werden jetzt auf den Faktor des Meinens, des Intendierens im prägnanteren Sinn, auf das, was über die blosse Auffassung hinausgeht, mit pointierendem Interesse achten müssen.“ 3 Vgl. Mole 2008, S. 90: „A baby’s cry will waken a mother more readily than equivalent noises. If the sleeping mother is not conscious of the cry, and if the selectivity demonstrated in the cry’s waking her involves attention, then the case poses a serious problem for my claim that consciousness is necessary for attention.“ 4 Vgl. Stumpf 1890, S. 302: „[...] wir können auf Nichtfixirtes merken und mit der Aufmerksamkeit bei unveränderter Augenstellung einem seitlich bewegten Objecte folgen.“ Vgl. auch Tye 2010, S. 422: „Attention can also be triggered by a decision or choice. In these cases, focus can diverge from fixation. This is top-down attention. Top-down attention is driven in part by the concepts exercised in the decision to attend.“ 4 Körperbewegung’: In diesem prägnanten Sinne schließt das Schielen nicht nur jede Kopfdrehung, sondern auch jede Augenbewegung aus. Auf den Unterschied zwischen Thema der Aufmerksamkeit und Brennpunkt der Wahrnehmung weist übrigens auch eine weitere Tatsache hin. Der anschauliche Gehalt meiner Wahrnehmung wird notwendig durch die Veränderung des physikalischen Brennpunkts beeinflusst: Manche Merkmale, die vorhin unsichtbar und nur leer gemeint waren, werden sichtbar, während andere Merkmale weniger klar erscheinen oder vollends aus unserer Sicht verschwinden. Die Klarheit unserer Wahrnehmung muss hingegen nicht unbedingt variieren, wenn wir das Thema unserer Aufmerksamkeit variieren. Diese vor mir liegende Tasse beobachtend, kann mein Interesse der ganzen Tasse gelten oder einem besonderen Teil davon, wie z. B. dem Griff. Wenn ich dabei jedoch meine Augen und meine gesamte Körperhaltung nicht bewege, bleibt die Klarheit meiner Wahrnehmung unverändert: Was bereits klar ist, bleibt klar, und was unklar ist, bleibt unklar. 2. Primäre und sekundäre Aufmerksamkeit Der Inhalt, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken, hebt sich von einem Hintergrund ab. Sind wir aber auf die Objekte des Hintergrundes gar nicht aufmerksam? Oder sind wir auf die Objekte des Hintergrundes nur weniger, oder einfach auf eine verschiedene Weise aufmerksam? Nehmen wir an, wir spielen Fußball und müssen den Ball ins Tor schießen. Dabei ist das Tor das Thema unserer Aufmerksamkeit. Können wir in diesem Fall behaupten, dass alles andere, was uns neben dem Tor wahrnehmungsmäßig gegeben ist, als schlechthin ‚unbemerkt’ einzustufen ist? Wohl kaum. Der Ball liegt außerhalb des Themas unserer Aufmerksamkeit (dies gilt zumindest für erfahrene Fußballer – denn nur der Anfänger muss beim Lernen immer noch ebensoviel Aufmerksamkeit dem Tor wie dem Ball schenken, und dies erweist sich oft für die schnelle Ausführung der Handlung als ein Hindernis). Bliebe aber der Ball schlechthin unbemerkt – ebenso unbemerkt, wie sonst das Zwitschern der Vögel auf den Bäumen um den Fußballplatz und die Gestalt einer vorbeieilenden Wolke am Himmel über dem Tor –, dann würden wir höchstwahrscheinlich das Tor verfehlen und den Ball verschießen. Das Tor ist also thematisch erfasst, der Ball nicht; der Ball muss aber trotzdem bemerkt sein – zwar nicht primär, aber wohl sekundär bemerkt. Primäre Aufmerksamkeit ist diejenige, die dem Thema zukommt; sekundäre Aufmerksamkeit gilt hingegen Inhalten, die 5 zwar vom Thema ausgeschlossen sind – solchen, die sich im Hintergrund befinden –, die wir aber trotzdem nicht außer Acht lassen können, wenn wir eine Aufgabe richtig durchführen wollen. Der von Husserl eingeführte5 Gegensatz von primärer und sekundärer Aufmerksamkeit kann zunächst auf der Konstitutionsstufe der ichlichen Aktivität nachgewiesen werden. Ein besonders erhellendes Beispiel mag diesbezüglich jede Synthesis abgeben, die „Schritt für Schritt“6 erfolgt: Indem zwei Inhalte sukzessive verbunden werden, wird der eine Inhalt zum Thema, während der andere in den Hintergrund rückt, ohne jedoch ganz außer Acht zu bleiben. Denken wir z. B. an das Erklingen der Glocken um die Mittagszeit. Wir zählen die einzelnen Schläge, und jeder neue Schlag wird sukzessive, für einen Augenblick, zum Thema unserer Aufmerksamkeit gemacht. Sobald ein neuer Schlag erklingt, rückt der vorherige Schlag in der Hintergrund, ohne jedoch aus dem Bereich des aufmerksam Erfassten ganz zu verschwinden. Würden sich nämlich die soeben erklungenen Schläge völlig aus dem Griff unserer Aufmerksamkeit lösen, dann blieben sie zwar immer noch bewusst (retentional bewusst), wir wären dann jedoch nicht mehr in der Lage sie zu zählen – wir würden den Faden verlieren und uns verrechnen. Wenn im Gegenteil das Zählen gelingt, so verdanken wir dies u. a. dem Umstand, dass, während wir den jetzt ertönenden Schlag ‚im Griffe haben’, die vorherigen Schläge nicht einfach retentional bewusst, sondern dazu noch ‚im Griffe behalten’7 werden. 5 Vgl. Hua XXXI, S. 4: „Es kann etwas primär bemerkt sein, es ist dann das Ich 〈im〉 ausgezeichneten Sinn aufmerksam, im primären Sinn zugewendet, es kann aber auch etwas sekundär bemerkt sein; es kann ein einzelnes sein, oder es kann mehreres in der Einheit eines Griffes primär Aufgemerktes oder sekundär Bemerktes und etwa, nachdem es primäres war, in sekundärer Weise noch im Griff sein.“ Vgl. auch Hua III/1, SS. 229-230: „Die Änderung bestehe, so sagen wir, parallele noematische Bestände heraushebend und vergleichend, bloss darin, dass im einen Vergleichsfalle dieses, im anderen jenes gegenständliche Moment ‚bevorzugt’ sei, oder dass ein und dasselbe einmal ‚primär aufgemerktes’, das andere Mal nur sekundär, oder nur ‚noch eben mitbemerktes’ sei, wo nicht gar ‚völlig unbemerktes’, obschon immer noch erscheinendes. Es gibt eben verschiedene speziell zur Aufmerksamkeit als solcher gehörige Modi“. Vgl. auch Hua XXXVIII, S. 161: „Die Auszeichnung des primär Bemerkten ist also ein Phänomen des Interesses, obschon nicht mit Interesse schlechthin zu identifizieren, da sekundär Bemerktes auch interessieren kann.“ 6 Vgl. Hua III, S. 300: „Eine Synthese kann Schritt für Schritt vollzogen sein, sie wird, sie entsteht in ursprünglicher Produktion.“ 7 Vgl. Hua III, S. 301: „Eine abermals neue modale Änderung schließt sich an, wenn die Thesis blosser Schritt für eine Synthesis war, wenn das reine Ich einen neuen Schritt vollzieht, und wenn es nun in der durchgehenden Einheit des synhetischen Bewusstseins, was es soeben im Griffe hatte, ‚noch’ im Griffe ‚behält’: das neue thematische Objekt erfassend, oder vielmehr ein neues Glied des Gesamtthemas als primäres Thema erfassend, aber das vorher gefasste Glied, als zum selben Gesamtthema gehörig, noch haltend. Zum Beispiel kolligierend lasse ich das soeben wahrnehmend Erfasste nicht fahren, indem ich den erfassenden Blick dem neuen Objekte zuwende. Einen Beweis vollziehend, durchlaufe ich die Prämissengedanken in Schritten [...]“. 6 Als sekundär bemerkt gelten also zunächst Inhalte, auf die sich ein Akt des Noch-Im-GriffeBehaltens richtet. Allerdings kann ein Inhalt auch dann sekundär bemerkt werden, wenn überhaupt noch kein darauf bezüglicher Akt vom Ich vollzogen wurde, wie es bei der „Affektion“ der Fall ist8: Dabei hebt sich ein Inhalt von einem Hintergrund ab, ohne für sich gemeint zu sein, d. h. er zieht unser Interesse auf sich, noch ehe wir einen Akt der Zuwendung vollziehen. Wir nehmen z. B. eine weiße Oberfläche wahr, auf der sich zwei rote Flecke befinden. Die roten Flecke brauchen nicht für sich gemeint zu sein, trotzdem affizieren sie unser Interesse – selbst dann, wenn noch keine auf die roten Flecke gerichtete Sonderwahrnehmung vollzogen wird. Dies veranlasst Husserl, die Affektion als „Gegenmodus aller Aufmerksamkeit in der Passivität“9 aufzufassen. Damit wird der Begriff der Aufmerksamkeit auf jene Fälle erweitert, in denen unser Interesse noch nicht durch einen Akt der Zuwendung zur Erfüllung gelangt, sondern bloß erregt bzw. ‚geweckt’ wird10. Husserls Lehre von der sekundären Aufmerksamkeit wird von Gurwitsch systematisch weiterentwickelt. Gurwitschs wichtigster Beitrag liegt in der Einsicht, dass sich die Gegenstände sekundärer Aufmerksamkeit wiederum in zwei Gruppen gliedern: Es gibt die sekundär bemerkten Inhalte, die ein materiales Verhältnis zum Thema haben, und die sekundär bemerkten Inhalte, die kein solches materiales Verhältnis aufweisen. Die ersteren machen das thematische Feld aus, die letzteren gehören zum ‚Rand’11. Gurwitsch erhellt diese Unterscheidung anhand des folgenden Beispiels. Während ich mit einem geometrischen Satz S beschäftigt bin, kann mir ein anderer geometrischer Satz S’ einfallen, wobei zwischen S und S´ ein materiales Verhältnis der ‚Relevanz’ besteht12. Es kann aber auch sein, dass ich immer 8 Vgl. EU, S. 24: „Dem Erfassen aber liegt immer voran die Affektion, die nicht ein Affizieren eines isolierten einzelnen Gegenstandes ist. Affizieren heisst Sichherausheben aus der Umgebung, die immer mit da ist, das Interesse, eventuell das Erkenntnisinteresse auf sich Ziehen.“ Vgl. auch EU, SS. 79-80: „Wir sagen z.B., das durch seine Unähnlichkeit aus dem homogen Untergrund Herausgehobene, sich Abhebende ‚fällt auf’; und das heisst, es entfaltet eine affektive Tendenz auf das Ich hin.“ 9 Vgl. Hua XXXI, S. 4: „Dass es Unterschiede im Modus der Aufmerksamkeit gibt und dass der Titel der negativen Aufmerksamkeit, des Gegenmodus aller Aufmerksamkeit in der Passivität, Affektion heisst, das ist uns bekannt.“ 10 Vgl. Hua XI, S. 151: „Für den Gegenstand können wir die Affektion auch bezeichnen als Weckung einer auf ihn gerichteten Intention.“ 11 Vgl. Gurwitsch 2010, S. 53: „First, the theme: that with which the subject is dealing, which at the given moment occupies the ‚focus’ of his attention, engrosses his mind, and upon which his mental activity concentrates. Secondly, the thematic field which we define as the totality of facts, copresent with the theme, which are experienced as having material relevancy or pertinence to the theme. In the third place, the margin comprises facts which are merely copresent with the theme, but have no material relevancy to it.“ 12 Vgl. Gurwitsch 2010, S. 320: „Think of a geometric theorem. Although, perhaps, at the moment we are unable to precisely define the systematic position, the theorem is nevertheless experienced as having such a position. This theorem refers to some geometrical context and system and appears as derivable from certain other 7 noch über S nachdenke, und sich plötzlich ein lauter Lärm von der Strasse aufdrängt, der mich aber vom Thema meiner Gedanken, nämlich von S, gar nicht abzulenken vermag. In diesem Fall besteht zwischen dem geometrischen Satz und dem Lärm von der Strasse kein materiales Verhältnis13. Wenn nun S das Thema der Aufmerksamkeit ist, dann gehört S’ zum thematischen Feld von S, der Lärm hingegen zum Rand. Mit dem Ausdruck ‚materiales Verhältnis der Relevanz’ meint Gurwitsch höchstwahrscheinlich eine Relation, die nur insofern zwischen zwei Termini x und y besteht, als x unter eine bestimmte Gattung G und y unter eine andere Gattung G’ fallen14. Materiale Verhältnisse der Relevanz zwischen dem Thema und den Inhalten des Hintergrundes können zunächst durch die Tätigkeit des Subjektes hergestellt werden, z. B. dank jener soeben erwähnten „Schritt für Schritt“ vollzogenen Synthesen, bei denen die einzelnen Glieder von unserer Aufmerksamkeit sukzessive durchlaufen werden. Indem z. B. der Geometer den Satz S mit dem Satz S’ argumentativ verknüpft, wird S’ zum Thema unserer Aufmerksamkeit, während S in den Hintergrund rückt. Während er S’ ‚im Griff hat’, wird S ‚noch im Griffe behalten’. Eine solche schrittweise vollzogene Synthesis des im Griff Gehabten mit dem Noch-im-Griff-Behaltenen kann jedoch nur Inhalte verbinden, die gewisse materiale Bedingungen erfüllen: Die Tätigkeit des Argumentierens kann nur geometrische Sätze mit geometrischen Sätzen verknüpfen, und keineswegs geometrische Sätze mit einem Lärm von der Strasse. Gilt also die primäre Aufmerksamkeit des Geometers dem Satz S’, während der Satz S und der Lärm von der Strasse im Hintergrund bleiben, so gehört S zum thematischen geometric theorems. [...] As long as a proposition is our theme, the pointing reference is to other propositions. Accordingly, the thematic field consists of propositions.“ 13 Vgl. Gurwitsch 2010, S. 334: „The data grouped above in the second class are merely copresent with the theme. The only relationship obtaining between such data and the theme consists in their being experienced simultaneously. Relevancy to the theme is absent altogether from the data under consideration. To our scientific theorem it is of no concern whether, while dealing with it, we are sitting in a room or walking in the street. [...] However, whether these perceptions rather than different ones are actually experienced, at the moment of our dealing with the theme, is of no importance and of no consequence to the theme. Between the theme and that appearing though those perceptions there is no intrinsic relationship founded upon the respective material contents; just as no such relationship exists between the scientific theorem engrossing our mind and say, a sudden remembrance of the scheduled visit of a friend.“ 14 Vgl. Gurwitsch 2010, S. 331: „Besides being copresent with the theme, the data falling under the first class appear, moreover, as being of a certain concern to the theme. They have something to do with it; they are relavant to it. Here the relationship is not merely that of simultaneity in phenomenal time, but is founded upon the material contents of both the theme and the copresent data. Such a relationship is intrinsic since it concerns that experienced together rather than the mere fact of its being experienced together. Items between which such an intrinsic relationship obtains do not merely coexist with each other; they are not merely juxtaposed. A unity with its own specific nature prevails between them. This unity exemplified by the appearance of any theme within its thematic field will be called unity by relevancy.“ 8 Feld, der Lärm hingegen zum Rand. Durch die sukzessive Synthesis des Argumentierens ist es nämlich unmöglich, den Straßenlärm mit dem Thema S’ in Beziehung zu bringen. Materiale Verhältnisse zwischen Thema und Inhalten des Hintergrundes bestehen allerdings auch unabhängig von der subjektiven Leistung des aktiven Verbindens dessen, was wir ‚im Griff haben’, mit dem, was ‚noch im Griff behalten’ wird. Solche Beziehungen können nämlich auch schon durch die bloße Kraft der Assoziation zustande kommen. Stellen wir uns vor, wir nehmen eine Lichterreihe wahr, und dabei richten wir unsere thematische Aufmerksamkeit auf das erste Licht. Die restlichen Lichter der Reihe gehören dann zwar nicht mehr zum Thema; trotzdem ist aber unverkennbar, dass hier eine Relation besteht zwischen dem ersten Licht, dem wir den Vorzug der thematischer Aufmerksamkeit gewähren, und den übrigen Lichtern, die außerhalb des Themas liegen. Nur handelt es sich in diesem Fall nicht mehr um eine Relation, die aktiv vom Subjekt hergestellt wird, sondern um eine solche, die der passiven Synthesis zu verdanken ist: durch eine derartige Synthesis konstituiert sich nämlich ein ‚figurales Moment’, das die Lichter zu einer Lichterreihe verbindet, und durch denselben schlichten Akt der Wahrnehmung gegeben ist, wodurch auch die Lichter selbst gegeben sind. Ist also das erste Licht das Thema, so gehören die übrigen Lichter zum thematischen Feld unserer Aufmerksamkeit15. Oder nehmen wir an, wir hören gerade einem Musikstück zu, als plötzlich ein Lärm von der Strasse merklich wird, der uns jedoch nicht vom aufmerksamen Hören des Musikstückes ablenkt. Das Musikstück ist und bleibt (vor und nach der Störung) das Thema unserer Aufmerksamkeit, nicht der Lärm. Gehört nun der Lärm zum thematischen Feld oder zum Rand? Wenn wir diesmal dazu neigen, den Lärm zu den Inhalten des Randes zu rechnen, so liegt es wohl daran, dass hier zwischen dem Lärm und dem thematisch erfassten Musikstück kein materiales Verhältnis besteht. Es gibt nämlich kein ‚figurales Moment’, das Lärm und Musikstück auf ähnliche Weise verbindet wie, im Musikstück , die Melodie und die Begleitung. 15 Vgl. Hua XI, SS. 154-156: „Wenn bei dem Abendspaziergang auf der Lorettohöhe in unserem Horizont plötzlich eine Lichterreihe im Rheintal aufleuchtet, so hebt sie sich affektiv einheitlich sofort ab, ohne dass übrigens der Reiz darum zu aufmerkender Zuwendung führen müsste. [...] Eins der Lichter ändert plötzlich seine Weissfärbung in Rotfärbung in hinreichender Intensität. Oder wir ändern nur seine Intensität, es wird besonders leuchtend. Es wird nun für sich besonders affektiv, aber zugleich kommt diese Hebung der ganzen Reihe, die im übrigen affektiv ungegliedert bleibt, offenbar zugute. Wir werden sagen müssen, eine neue Affektion sei eingetreten und von ihr gehe ein weckender Strahl aus [...] Ein anderes Beispiel aus der Sphäre sukzessiver, vorgangsmässig sich vereinheitlichender Gegenstände: Eine Melodie ertönt, ohne erhebliche affektive Kraft zu üben... Wir sind etwa mit anderem beschäftigt, und es sei nicht so, dass uns die Melodie etwa unter dem Titel Störung affiziert. Nun kommt ein besonders schmelzender Ton, eine die sinnliche Lust oder auch Unlust besonders erregende Wendung. Diese Einzelheit wird nicht bloss für sich lebhaft affizieren, vielmehr hebt sich nun mit einem Male die ganze Melodie, soweit sie im Gegenwartsfeld noch lebendig ist, heraus: die Affektion also strahlt ins Retentionale zurück [...] Die Besonderheit des Tones hat mich aufmerksam gemacht. Und dadurch wurde ich auf die ganze Melodie aufmerksam [...]“ 9 3. Tyes Ansicht Man beachte das folgende Beispiel: Halten wir die Augen auf das Zeichen ‚+’ gerichtet. Solange wir die Augen nicht bewegen, werden wir unfähig sein, eine einzelne Linie (z. B. die sechste Linie) des rechts von ‚+’ liegenden Bündels zum Thema unserer Aufmerksamkeit zu machen. Höchstens werden wir in der Lage sein, durch aufmerksame Zuwendung eine einzelne der drei Parallelen thematisch zu erfassen, die sich auf der linken Seite des Zeichens befinden. M. a. W.: Ohne unsere Augen zu bewegen, können wir bestenfalls auf jede der Linien auf der linken Seite ‚schielen’; auf die sechste Linie des rechten Bündels können wir hingegen unmöglich ‚schielen’16. Diese Tatsache veranlasst nun Tye zum Schluss, dass die sechste Linie des rechten Bündels unbewusst sein muss. Was Tye zu dieser Idee führt, scheint folgender Grundsatz zu sein: ‚x ist wahrgenommen genau dann, wenn wir x zum Thema unserer Aufmerksamkeit machen können, ohne unsere Wahrnehmung zu verändern’17. Da wir nicht in der Lage sind, die sechste Linie des rechten Bündels thematisch zu erfassen, ohne unsere Augen zu bewegen, ist die Linie nicht wahrgenommen. Jede Linie des linken Bündels ist hingegen wahrgenommen, 16 Das ‚Schielen’ verstehen wir hier nicht einfach als ‚aufmerksames Verfolgen eines visuellen Datums ohne Kopfbewegung’, sondern radikaler als ‚aufmerksames Verfolgen eines visuellen Datums ohne irgendeine Körperbewegung’: In diesem prägnanten Sinne schließt das Schielen nicht nur jede Kopfdrehung, sondern auch jede Augenbewegung aus. 17 Vgl. Tye 2010, S. 426: „A third possibility is that the ability to attend to a thing is necessary for visual perception of that thing. On this view, one fails to see a thing if one cannot attend to it. Still one can see a thing if one does not attend to it. This view is the one I favor.“ 10 denn sie kann wohl zum Thema unserer Aufmerksamkeit gemacht werden, ohne unsere Augenstellung verändern zu müssen18. 4. Gegenbeispiele für Tyes Ansicht: (a) visuelle Empfindungen Tyes Erklärung des oben angeführten Beispiels erscheint jedoch in mehreren Hinsichten als bedenklich. Einerseits gibt Tye zu, dass wir, auf das rechte Bündel schauend, einer Mehrheit von Linien gewahr19 sind (sonst würde uns eben rechts vom Zeichen ‚+’ kein Bündel erscheinen, sondern eher so etwas wie ein schwarzes, ungegliedertes Viereck). Andererseits besteht er darauf, dass die einzelnen Linien, die das Bündel bilden, unbewusst bleiben20. Nun ist zwar die Vorstellung einer Mehrheit ohne Vorstellung der einzelnen Glieder der Mehrheit im Allgemeinen wohl möglich: Verstehen wir den Ausdruck ‚alle A’, dann ist damit eine Mehrheit von A gemeint, es wird aber nicht durch denselben Akt des Verstehens auch jedes einzelne Glied dieser Mehrheit mitgemeint, und ein solches Meinen von jedem einzelnen Glied wird auch nicht vorausgesetzt21. Hier haben wir es aber nicht mit dem Verstehen von sprachlichen Ausdrücken zu tun, sondern mit Wahrnehmungen, und es scheint unmöglich, eine Mehrheit von Elementen wahrzunehmen, ohne die einzelnen Glieder dieser Mehrheit wahrnehmen zu müssen – selbst dann, wenn wir nicht in der Lage sind, die einzelnen Glieder thematisch zu erfassen. Denken wir z. B. an ein Trommeln. Vergebens werden wir uns bemühen, unsere thematische Aufmerksamkeit auf einen einzelnen der schnell aufeinanderfolgenden Paukenschläge zu konzentrieren22, und trotzdem sind wir dessen gewahr, dass die einzelnen Schläge voneinander getrennt sind. Wären die einzelnen Phasen 18 Vgl. Tye 2010, S. 414: „You certainly see each bar on the left. What about each bar on the right?[...] Consider the sixth bar away from the plus sign of the right. As you fixate on the plus sign, you cannot mentally point to it. You cannot apply the concept that bar to it directly on the basis of the phenomenal character of your experience (without changing your fixation point). So, you do not see it.“ 19 Vgl. Tye 2010, S. 414: „You see the bars – you are visual conscious of them – since the phenomenal character of your visual experience, as you stare at the central dot, directly enables you to ask with respect to the bars collectively ‚Are they parallel?’ (for example).“ 20 Vgl. Tye 2010, S. 414: „But then surely even though you are conscious of the bars on the right, it is not true that you are conscious of each individual bar.“ 21 Vgl. Hua XIX/1, II. Logische Untersuchung, § 16, § 25 und § 29. Vgl. auch James 1890, SS. 278-279. 22 Vgl. Hua XI, S. 420: „Wenn ein Wagenrollen oder ein einförmiges gleichmässiges Klopfen ‹oder ein› Trillern ertönt [...] bald habe ich nur eine als einheitlicher Prozess gleichmässig gegliederten Geschehens charakterisierte Erscheinung, in der ich nicht mehr einzelnes herausheben kann, es ist nur typisches Rollen, Trillern, Klopfen, als ganze Reihe abgehoben, aber im einzelnen ‚undeutlich’.“ 11 des Trommelns unbewusst, dann wüssten wir a fortiori nicht, ob sie getrennt oder verschmolzen sind; ferner wären wir nicht in der Lage, ein Trommeln von einem pausenlos andauernden Lärm zu unterscheiden. Gegen Tyes Idee, dass alles, worauf wir durch eine Wahrnehmung W nicht thematisch aufmerksam werden können, als unbewusst abgetan werden muss, scheint auch anderes zu sprechen. Denken wir z. B. an die sogenannte Tse-Täuschung23: B C Fokussieren wir unsere Wahrnehmung auf ein beliebiges der vier kleinen Vierecke und lassen wir unseren geistigen Blick, ohne unsere Augen zu bewegen, frei herumwandern. Sobald sich unsere primäre Aufmerksamkeit auf einen einzelnen der Kreise konzentriert (z. B. auf den Kreis A), erscheint er dunkler als die anderen beiden. Den Kreis A thematisch erfassend, sind wir uns also nicht nur der dunklen Färbung von A bewusst, sondern auch der helleren Färbung von B und C. Die hellere Färbung von B und C ist jedoch wahrgenommen, ohne dass wir sie zum Thema unserer Aufmerksamkeit machen könnten. Tun wir dies, dann erscheinen sie plötzlich nicht mehr hell, sondern dunkel. Die helle Färbung von B und C ist also ein wahrgenommener Inhalt, worauf wir unmöglich primär aufmerksam werden können. Das ist mithin ein einschlägiges Gegenbeispiel für Tyes Ansicht, dass wir unmöglich etwas wahrnehmen können, worauf wir nicht thematisch aufmerksam werden können. 23 Vgl. Tse 2005, SS. 1095-1098. 12 Ein Befürworter von Tyes Theorie könnte allerdings unsere Unfähigkeit, die hellere Färbung von B oder C ohne Augenbewegung thematisch zu erfassen, in Abrede stellen. Er könnte z. B. annehmen, dass die Verdunkelung von B nicht sofort eintritt, wenn B thematisch erfasst wird, sondern erst allmählich nach einiger Zeit; während dieser Zeit würde uns B noch gleich hell, d. h. heller als A erscheinen. Es gäbe ferner am Anfang eine kurze Phase, in der B bemerkt würde und immer noch heller als A erscheine. Die hellere Färbung von B wäre also nichts, das sich unserer aufmerksamen Zuwendung entzöge, und die Verdunkelung von B würde ferner ähnlich verlaufen wie die Intensitätszunahme eines Schmerzes, die eintritt, sobald wir unsere primäre Aufmerksamkeit auf einen Schmerz konzentrieren: Der Schmerz erfährt zwar durch unsere Aufmerksamkeit eine Steigerung, jedoch nicht sofort, sondern erst nach einiger Zeit. Diese Annahme scheint uns jedoch kontraintuitiv. Es gibt nämlich keine Phase, in der wir B aufmerksam zugewandt sind, und B heller als A erscheint: Sobald wir unsere thematische Aufmerksamkeit auf B richten, erscheint B sofort dunkler als A. Natürlich kann es sein, dass B immer dunkler erscheint, je länger unser geistiger Blick auf B verweilt: Die Verdunkelung von B mag wohl durch anhaltende aufmerksame Zuwendung eine zusätzliche Steigerung erfahren. Dies würde allerdings nur bedeuten, dass B am Anfang dieses Steigerungsprozesses heller erscheint als B am Ende desselben Steigerungsprozesses. Damit wäre jedoch nicht gesagt, dass B am Anfang des Verdunkelungsprozesses heller erscheinen muss als A. Eine Gleichstellung der Verdunkelung von B mit der Intensitätssteigerung des Schmerzes durch aufmerksame Zuwendung scheint ferner verfehlt. Wir glauben also, dass eine unbefangene Auseinandersetzung mit dem Tse-Experiment uns zur Ablehnung der Idee führen müsste, dass alles primär Unbemerkbare als unbewusst eingestuft werden muss. Die helle Färbung von B bleibt (mit oder ohne Augenbewegung) primär unbemerkbar. Darüber hinaus müsste sie nach Tyes Ansicht unbewusst sein; wäre sie aber unbewusst, wie könnten wir dann wahrnehmungsmäßig dessen gewahr sein, dass A dunkler als B ist? Wie könnten wir überhaupt die Farbe von A mit der Farbe von B vergleichen? Der Umfang dessen, was wir durch eine gewisse Wahrnehmung W wahrnehmen können, muss also weiter reichen als der Umfang dessen, was wir durch W primär bemerken können. 13 Zu diesem Schluss kann man auch gelangen, wenn man von einem anderen, kürzlich von Suchow & Alvarez erforschten visuellen Phänomen ausgeht24. Dabei wird uns zunächst ein aus mehreren Farbflecken zusammengesetzter Ring gezeigt. Wir müssen während des ganzen Experimentes unsere Augen auf das Zentrum des Ringes gerichtet halten. Obwohl die Flecken stetig ihre Farbe ändern, werden wir dieses Farbenwechsels nur dann gewahr, wenn der Ring ruht. Sobald sich der Ring kreisförmig bewegt und diese Bewegung eine gewisse Geschwindigkeit erreicht, wird die Wahrnehmung des Farbenwechsels gleichsam ‚zum Schweigen gebracht’, und es ist uns so zumute, als würden die meisten Farbflecken nun ihre Farbe behalten und lediglich ihre Stelle verändern. Versuchen wir jedoch – mit dem Einsetzen der Bewegung des Ringes und ohne die Augen zu bewegen – unsere primäre Aufmerksamkeit auf eine beliebige Gruppe G unverändert bleibender Farbflecken zu richten, so wird ihr Farbenwechsel plötzlich wieder einsetzen. Das bedeutet, dass die Wahrnehmung gleichbleibender Farben in G in diesem Experiment nur ohne thematische Zuwendung möglich ist: Sobald wir uns bemühen, die Bewegung der Flecken in G durch unsere primäre Aufmerksamkeit zu verfolgen, geht ihre Farbkonstanz verloren. Die sich bewegenden, dennoch chromatisch gleichbleibenden Flecken stellen daher einen weiteren Fall von bewusstem, jedoch primär unbemerkbarem Inhalt dar und stellen insofern ein weiteres Gegenbeispiel gegen die hier in Frage gestellte Lehre Tyes dar. 5. Gegenbeispiele für Tyes Ansicht: (b) Gehörsempfindungen Bei der Tse-Täuschung haben wir es mit einem Fall zu tun, in dem ein visuelles Datum durch aufmerksame Erfassung notwendig verändert wird: Die thematische Aufmerksamkeit bewirkt eine Verstärkung der Farbenintensität. Können jedoch ähnliche Vorkommnisse auch außerhalb der Sphäre visueller Daten nachgewiesen werden? Stumpf hat auf das Phänomen der Verstärkung schwacher Gehörsempfindungen hingewiesen: Indem wir unsere thematische Aufmerksamkeit auf einen sehr leisen Ton konzentrieren, soll seine Intensität gesteigert werden25. Nehmen wir an, wir hören einen Zweiklang: zwei Töne unterschiedlicher Intensität 24 Vgl. Suchow & Alvarez 2011, SS. 140-143. Die besprochene Täuschung ist verfügbar unter der Adresse http://visionlab.harvard.edu/silencing/. 25 Vgl. Stumpf 1883, S. 374: „Es scheint, allgemein gesprochen, dass Empfindungen, deren Stärke in Folge irgendwelcher Nebeneinflüsse geringer ist, als sie nach der Grösse der peripherischen Nervenerregung [...] sein könnte, durch gesteigerte Aufmerksamkeit dem entsprechenden Stärkegrade näher gebracht werden können.“ 14 erklingen gleichzeitig; der eine laut, der andere leise (z. B. ein c und der mitklingende Oberton c’ am Klavier)26. Unsere primäre Aufmerksamkeit mag zunächst dem gesamten Akkord oder dem stärker erklingenden Ton gelten. Dabei bleibt die Intensität des thematisch Erfassten unverändert. Sobald wir uns jedoch dem leisen Oberton thematisch zuwenden, wird dessen Intensität verstärkt. Tritt nun diese Verstärkung sofort mit der thematischen Erfassung des leisen Tones ein oder erst kurz danach? Gibt es eine Phase am Anfang, in der der leise Ton zwar primär bemerkt, jedoch noch nicht verstärkt wird oder gibt es eine solche Phase nicht? Dies hängt wohl davon ab, wie leise der leise Ton ist. Stumpf scheint die Möglichkeit einer solchen anfänglichen Phase des primären Bemerkens ohne Verstärkung bei sehr leisen Tönen auszuschließen: Ein Ton mag nach Stumpf so leise sein, dass er durch die Verstärkung überhaupt erst die (primäre) Merklichkeitsschwelle erreicht27. In diesem Fall könnte der Ton ohne solche Verstärkung gar nicht bemerkt werden. Hier läge also ein weiteres Gegenbeispiel für Tyes These vor: Der leise Ton, ohne Verstärkung, wäre zwar bewusst, jedoch thematisch unbemerkbar. Ob bewusste, jedoch primär unbemerkbare Töne tatsächlich in unserer Erfahrung vorkommen, kann allerdings angezweifelt werden. Man könnte ja einwenden, dass z. B. Obertöne, bevor sie primär bemerkt werden, gar nicht bewusst sind. Nehmen wir etwa an, wir hören zum Zeitpunkt t den Ton c, und nach wenigen Sekunden, sagen wir zum Zeitpunkt t’, bemerken wir das Mitklingen des Obertones c’: War der zum Zeitpunkt t’ primär bemerkte Oberton c’ auch zum Zeitpunkt t bewusst oder nicht? Vielleicht nicht; vielleicht war c’ durch c übertönt, also vorhanden, jedoch unbewusst. Eine durch bloße thematische Zuwendung bedingte Intensitätszunahme des Tones kann somit bezweifelt werden. Ob Stumpfs Beobachtung wirklich stimmt, möchten wir also offen lassen. Es ist Sache der empirischen Forschung. Wir stellen lediglich fest, dass Stumpfs Ansichten durchaus mit der TseTäuschung verträglich und für unsere Überlegungen wegweisend sind: Weitere mögliche Gegenbeispiele sollen in der Sphäre jener Phänomene gesucht werden, die – mit Stumpfs Worten – oberhalb der „Empfindungsschwelle“, jedoch unterhalb der (primären) „Merklichkeitsschwelle“ liegen. Zwar unterscheidet hier Stumpf nicht zwischen primärer und sekundärer Aufmerksamkeit, es leuchtet allerdings aus dem Zusammenhang ziemlich eindeutig ein, dass er mit ‚Aufmerksamkeit’ soviel wie ‚primäre Aufmerksamkeit’ meint. 26 Vgl. Stumpf 1890, S. 291. 27 Vgl. Stumpf 1883, S. 375: „Dann folgt aber auch, dass Empfindungen, die nur wegen allzugeringer Intensität unter der Merklichkeitsschwelle sind, durch deutliche und kräftige Vorstellung des bezüglichen Tones oder wenigstens der Tonregion über dieselbe gehoben werden können.“ 15 Mit Stumpfs Thesen, und insbesondere mit der Frage, ob die Intensität einer Gehörsempfindung durch thematische Zuwendung gesteigert wird, hat sich auch die empirische Forschung ernsthaft beschäftigt. In einem von S.M. Newhall28 im Jahre 1921 durchgeführten Experiment über binaurale Töne wurden die Versuchspersonen zunächst trainiert, eine einzelne Komponente eines binauralen Tones herauszuhören. Dies hatte jedoch ein merkwürdiges Phänomen zur Folge: Die thematische Erfassung von einer Komponente des binauralen Tones bewirkte eine Veränderung in der Lokalisierung des Tones selbst, der plötzlich an einen anderen Ort zu springen schien29. Eine solche Veränderung der Lokalisierung des gehörten Inhaltes hätte aber nur dadurch zustande kommen können, dass der Intensitätsunterschied der einzelnen Komponenten verändert wird30. Dass eine solche Veränderung mit einer Zunahme oder Abnahme der Reize im jeweiligen Ohr zusammenhängen könnte, war jedoch ausgeschlossen. Die erlebte Verschiebung des gehörten Tones ereignete sich nämlich bei konstanter Frequenz und Schwingungsphase des Reizes. Dies veranlasste Newhall zur Annahme, dass die Veränderung des Intensitätsunterschieds der Komponenten auf den Einfluss der Aufmerksamkeit zurückzuführen war31 (wobei Newhall hier mit Aufmerksamkeit eindeutig ‚primäre Aufmerksamkeit’ meint), und dass sich ein solcher Einfluss bei schwachen Empfindungen als besonders stark erweist32. Die Wirkung primärer Aufmerksamkeit liegt jedoch nach Newhall weniger in der Verstärkung der aufmerksam erfassten Komponente als in der Abschwächung der vernachlässigten Komponente33. 28 Vgl. Newhall 1921, SS. 222-243. 29 Vgl. Newhall 1921, S. 242: „One of the most striking introspective facts is the experiencing of various rapid ‚shifts’ and ‚spiral’ movements of the phantom. Each O [=observer] experienced something of this sort, though comparatively infrequently. [...] ‚When hearing out the right, ... the stimulus will appear, at times, to shift from center to left, and then back to right where it remains’. [...] The shift is a clean-cut and amazing phenomenon, distinctly objective; there is a true illusion of motion; it moved clear across the center to the other side.’“ 30 Vgl. Newhall 1921, S. 222: „... changes in the position of the binaural phantom seemed to offer unusually clear and unambiguous criteria for changes of relative intensity.“ 31 Vgl. Newhall 1921, SS. 241-242: „In Group II. both the hearing-out and the attention-set which follows it cause a change in the position of the phantom. (...) The shifts and spiral effects which were noted much the more frequently in Group II., according to the introspection, would seem to be due to changes in attention.“ 32 Vgl. Newhall 1921, S. 243: „Especially interesting is the fact that at the weaker intensity of stimulation we found greater shifts of the phantom both as due to sensory fatigue and to attention-set. The results of our experiments confirm the findings of Stumpf, Nic. Lange, G. E. Müller, and others, i.e., that attention has most effect on weak sensations.“ 33 Vgl. Newhall 1921, S. 243: „... the evidence indicates a decreased intensity of the component from which the attention is abstracted. We have no introspective evidence that the heard-out component becomes more intense. As far as these experiments go, change in the relative intensities of the two components would appear to be due to an absolute decrement rather than an absolute increment.“ 16 Newhalls empirische Befunde könnten für unsere Untersuchung der Möglichkeit bewusster, jedoch primär unbemerkbarer Inhalte belangreich sein. Stellen wir z. B. die Frage: Könnten solche unthematisch bewussten Sprünge in der Lokalisierung des binauralen Tones durch unsere thematische Aufmerksamkeit verfolgt werden? Dies scheint schwierig, wenn man die Ergebnisse von Newhalls Experimenten ernstnimmt. Der Umstand, dass die Sprünge überhaupt erst durch unsere thematische Erfassung der rechten oder der linken Komponente entstehen, legt die Idee nahe, dass die Sprünge aufhören werden, sobald wir unsere Aufmerksamkeit von der rechten oder linken Komponente auf den herumspringenden Ton selbst lenken. Wäre dies der Fall, läge hier ein weiteres Beispiel eines wahrgenommenen, jedoch primär unbemerkbaren Inhaltes vor. Newhall berichtet z. B. über eine Versuchsperson, die, auf die rechte Komponente achtend, gleichzeitig den Eindruck hatte, als würde sich der binaurale Ton von der Mitte nach links bewegen und dann zurück von links zur Mitte34. Versetzen wir uns in die Lage einer solchen Versuchsperson. Solange das Heraushören der Komponente im rechten Ohr unsere ganze primäre Aufmerksamkeit in Anspruch nähme, sollten wir des Herumspringens des binauralen Tones zwar gewahr sein, jedoch nur unthematisch. Sobald wir aber versuchten, solches Herumspringen thematisch zu erfassen, müsste die Bewegung des Tones sofort aufhören. Sollte dies nun tatsächlich so geschehen, wäre die Bewegung des Tones ein weiteres Beispiel für einen Inhalt, der – mit Stumpfs Worten – oberhalb der Schwelle der Wahrnehmbarkeit liegt, jedoch unterhalb der (primären) Merklichkeitsschwelle. Ein empirischer Nachweis der thematischen Erfassbarkeit der Tonsprünge wird leider in Newhalls Experiment nicht weiter verfolgt. Es wird zwar darüber berichtet, wie die thematische Erfassung der Komponenten das Herumspringen des Tones zur Folge hatte, jedoch nicht darüber, ob die Versuchspersonen in der Lage waren, solche Sprünge auch thematisch zu erfassen. Nachforschungen in diese Richtung blieben zwar unseres Wissens bis heute aus, wären jedoch für die hier behandelte Frage nach dem Verhältnis von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit von großem Interesse. Man könnte allerdings folgenden Einwand erheben. Die primäre Bemerkbarkeit der Tonsprünge ist jedenfalls – unabhängig von den Ergebnissen empirischer Forschung – zumindest prinzipiell denkbar. Der Wechsel im Intensitätsunterschied zwischen den Komponenten des binauralen Tones, der für das Phänomen des Herumspringens verantwortlich ist, könnte nämlich nicht nur durch das aufmerksame Heraushören der Komponenten herbeigeführt werden, sondern ganz einfach durch eine Veränderung der Reize. 34 Vgl. Newhall 1921, S. 242. 17 Wir könnten ferner die Reize derart verändern, dass der für das Hören eines herumspringenden Tones nötige Wechsel im Intensitätsunterschied der Komponenten weiterhin erlebt wird, auch nachdem wir unsere Aufmerksamkeit von den Komponenten losgelöst haben. Unter den genannten Umständen wären wir dann durchaus in der Lage, die Sprünge des binauralen Tones aufmerksam zu verfolgen. Wir werden daher folgende Einschränkung unserer These einführen müssen: Falls wir sozusagen nicht künstlich eingreifen, also keine Modifizierung der Reize vornehmen, sind wir nicht in der Lage, durch bloße Anstrengung unserer primären Aufmerksamkeit das Herumspringen des Tones thematisch zu verfolgen. Nach Tyes Ansicht müsste in diesem Fall das Herumspringen des Tones unbewusst sein. Dies ist aber nicht der Fall, denn die Versuchspersonen sind der Schwankungen in der Lokalisierung des Tones gewahr, wenngleich unthematisch. 6. Gegenbeispiele für Tyes Ansicht: (c) unerfülltes Erkenntnisinteresse Kehren wir zum anfangs behandelten Beispiel der Linienbündel zurück. Den Brennpunkt unserer Wahrnehmung auf ‚+’ gerichtet haltend, erleben wir nicht nur das jedesmalige Gelingen des Versuchs, das rechte Bündel als Ganzes thematisch zu erfassen, sondern auch das verlässliche Scheitern der Bemühung, eine einzelne der im rechten Bündel enthaltenen Linien thematisch zu erfassen: Unsere Wahrnehmung umfasst ein Erkenntnisinteresse, das in Erfüllung geht, und ein Erkenntnisinteresse, das sich als vorerst unerfüllbar erweist und nur durch eine sukzessive Wahrnehmung (durch Veränderung unserer Augenstellung) befriedigt werden könnte. Ein derart gehemmtes Erkenntnisinteresse ist nun u. E. ein weiteres Phänomen, das Tyes Theorie nicht erklären kann. Wenn alles, was sich unserer primären Aufmerksamkeit entzieht, unbewusst ist, dann muss ein unerfülltes Erkenntnisinteresse unmöglich sein. Ein durch eine bestimmte Wahrnehmung W unerfülltes Erkenntnisinteresse richtet sich nämlich auf etwas, was wir durch W unmöglich thematisch erfassen können, also (Tyes Theorie zufolge) auf ein Unbewusstes. Ein bewusster Akt, der sich auf ein Unbewusstes richtet, ist aber prinzipiell unmöglich. Ferner müsste dieses unerfüllte Erkenntnisinteresse ebenfalls für unmöglich gehalten werden: Eine Wahrnehmung W dürfte prinzipiell kein durch W selbst unerfülltes Erkenntnisinteresse enthalten. Diese Schlussfolgerung widerspricht jedoch unserer Erfahrung. Unsere Augen auf ‚+’ gerichtet haltend, ist unser Erkenntnisinteresse für eine einzelne Linie 18 im rechten Bündel nicht einfach abwesend, sondern nur gehemmt. Ein gehemmtes Erkenntnisinteresse können wir aber nur dadurch erleben, dass wir ein x thematisch zu erfassen versuchen, das wir eigentlich nicht erfassen können. Damit wir aber dessen gewahr sein können, dass wir x nicht erfassen können, muss x doch bewusst sein. Wären nur diejenigen Inhalte durch eine Wahrnehmung W bewusst, die wir durch W selbst bemerken können, dann könnte W so etwas wie ein gehemmtes Erkenntnisinteresse eigentlich gar nicht enthalten. Und in der Tat könnte der Anhänger Tyes bestreiten, dass eine Wahrnehmung W ein durch W selbst unerfüllbares Erkenntnisinteresse enthält. Ein Interesse, das über die Leistung der Wahrnehmung hinausgeht, erwächst vielleicht nur dadurch, dass sich zur Wahrnehmung z. B. eine kognitive Leistung hinzugesellt. Dies trifft in der Tat auf den Fall eines getarnten Schmetterlings auf einem Baumstamm zu. Ich kann wohl nach einem Schmetterling auf dem Baumstamm suchen, ohne fündig zu werden; dieses enttäuschte Interesse für den Schmetterling kann jedoch nicht durch die bloße Wahrnehmung entstehen (sofern die Tarnung wirksam ist), sondern erst dadurch, dass jemand mir z. B. zuflüstert: ‚Schau doch mal den Schmetterling!’. Ohne diese Aufforderung würde ich nicht auf die Idee kommen, dass meine Wahrnehmung in der Tat etwas übersehen hat. Den Baumstamm bloß wahrnehmend, kann unser Interesse dem Baumstamm selbst oder besonderen Teilen des Baumstammes gelten, nicht aber einem getarnten Schmetterling, sonst würde die Tarnung uns nicht täuschen. Und dasselbe passiert in der Tat im Fall der Gorilla-Wahrnehmung im berühmten Experiment von Simons & Chabris35. Ein Interesse für den mitten unter die Basketballspieler hineinplatzenden Gorilla entsteht in den meisten Fällen nicht durch die Wahrnehmung selbst, sondern erst nachdem man uns gefragt hat: ‚Hast du den Gorilla gesehen?’. Aufgrund solcher empirischer Befunde könnte ferner der Anhänger Tyes zum Schluss gelangen, dass ein durch eine Wahrnehmung W unerfüllbares Erkenntnisinteresse zwar an sich möglich ist, jedoch niemals als Teil von W, d. h. niemals als wahrnehmungsmäßiges Interesse, sondern lediglich als kognitive Leistung, die W begleiten kann. Wir bezweifeln jedoch, dass sich der Fall des Linienbündels ähnlich behandeln lässt wie Gorilla- und Schmetterlingswahrnehmung. Es scheint, dass hier die unbefriedigt bleibende Tendenz, unsere primäre Aufmerksamkeit auf die einzelnen Linien zu konzentrieren, vom Wahrgenommenen selbst ausgeht. Es ist so, als würde das wahrgenommene rechte Bündel 35 Vgl. Simons & Chabris 1999, SS. 1059–1074. 19 selbst uns gleichsam zurufen: „Tritt näher und immer näher, sieh mich dann unter Änderung deiner Stellung, deiner Augenhaltung usw. fixierend an, du wirst an mir selbst noch vieles neu zu sehen bekommen...“36. Aufgrund der bloßen Wahrnehmung (und zwar aufgrund der Kinästhesen) wissen wir nämlich, dass sich unsere jetzt gehemmte Tendenz, eine einzelne Linie aufmerksam zu erfassen, durch eine gewisse Augenbewegung doch erfüllen würde. Und dies liegt daran, dass unsere Aufmerksamkeit nicht nur eine noematische Richtung aufweist (das Gerichtet-sein auf das Linienbündel oder auf eine einzelne dieser Linien), sondern auch eine noetische. Sie geht nicht nur auf diese oder jene besondere Seite des Gegenstandes, sondern auch darauf, „das Etwas im Wie der einen Erscheinungsweise zu verwandeln in dasselbe Etwas im Wie anderer Erscheinungsweisen“37. Tyes Vernachlässigung des Phänomens des unerfüllten Erkenntnisinteresses in der Wahrnehmung hängt wohl mit seiner stillschweigenden Überzeugung zusammen, dass alles perzeptive primäre Bemerken sozusagen nur ‚erfolgreiches’ primäres Bemerken ist. Das bedeutet, dass die Aufmerksamkeit sich entweder ungehemmt auswirkt oder in der Wahrnehmung gar nicht vorhanden ist. Diese Ansicht möchten wir in Abrede stellen und in diesem Zusammenhang vielmehr an Husserls Unterscheidung zwischen „Spannung und Befreiung der Aufmerksamkeit“38 anknüpfen. Wenn ich z. B. meine Augen auf das Zeichen ‚+’ gerichtet halte und vergebens versuche, eine einzelne Linie des rechten Bündels zum Thema meiner Aufmerksamkeit zu machen, bleibt meine Aufmerksamkeit im Spiel: Sie ist zwar nicht befreit, jedoch wohl vorhanden, und zwar in einem Zustand der ‚Spannung’. Hier erleben wir ein gehemmtes Erkenntnisinteresse, und ein gehemmtes Erkenntnisinteresse – das ist zu betonen – darf keineswegs mit einem abwesenden Erkenntnisinteresse verwechselt werden. 7. Aktuelles und virtuelles Bewusstsein des primär Unbemerkten 36 Vgl. Hua XI, S. 7. 37 Vgl. EU, S. 88. Vgl. auch Hua X, SS. 145-146: „Ehe der Blick von einem Teil der Anschauung zum anderen wandert [...] empfinden wir ein Streben, das wir als Streben nach Verdeutlichung zu bezeichnen nicht schwanken werden. Das indirekt gesehene Objekt erscheint uns mit einem gewissen Mangel behaftet, der erst beseitigt erscheint, wenn die [...] unausbleibliche Hinwendung des Blickes und die damit gegebene Verdeutlichung erfolgt. Und so haftet [...] jedem der indirekt gesehenen und analysierbaren Teile der Anschauung eine gewisse Intention an, die [...] als Reiz jene Blickbewegung auslöst, welche die Befriedigung der Intention nach sich zieht [...]“. 38 Vgl. Hua XXXVIII, S. 160. 20 Die sechste Linie im rechten Bündel ist also bewusst, obgleich sie ohne Augenbewegung primär unbemerkbar bleibt. Wir möchten nun etwas ausführlicher auf die Frage nach der Bewusstseinsweise einer solchen primär unbemerkbaren, jedoch bewussten Linie eingehen. Wie Alva Noë betont, sind wir in unserem alltäglichen Leben vieler Details gewahr, die wir dennoch zu bemerken unfähig – zumindest vorläufig unfähig – sind. (Bei Noë, wie bei Tye, heißt es wiederum einfach ‚attention’, womit offensichtlich ‚primäre Aufmerksamkeit gemeint ist.) Solche Details sind nun nach Ansicht Noës zwar bewusst, jedoch nur virtuell bewusst39. Virtuelles Bewusstsein ist das Bewusstsein dessen, was zwar eigentlich nicht vorgestellt wird, jedoch jederzeit vorgestellt werden kann. Das Musterbeispiel Noës ist die Rückseite eines Dinges40. Sehen wir uns eine Flasche an, dann sind wir uns immer der ganzen Flasche bewusst, obwohl wir eigentlich nur die Vorderseite der Flasche vorstellen. Die Flaschenrückseite stellen wir eigentlich nicht vor. Wir wissen trotzdem, dass wir sie jederzeit eigentlich vorstellen können, indem wir z. B. die Flasche drehen. Das Bewusstsein der Zugänglichkeit41 der Flaschenrückseite erlaubt uns, die Rede von ‚perceptual presence’ nicht einfach auf die Dingvorderseite zu beziehen, sondern auf das ganze Ding, und insbesondere auch auf die Dingrückseite, zu übertragen. Ein weiteres, bei Noë beliebtes Beispiel virtueller Gegebenheit ist das Kanizsa-Dreieck. Der Grund, weshalb wir drei schwarze teilweise von den Spitzen eines weißen Dreiecks verdeckte Scheiben im berühmten Bild wahrnehmen, liegt nach Noë immer daran, dass wir nicht einfach Bewusstsein dessen haben, was wir wirklich, aktuell vorstellen, sondern auch von Inhalten, die zwar nicht vorgestellt, jedoch uns jederzeit zugänglich sind: Der durch das Dreieck verdeckte Teil der schwarzen Scheibe ist eigentlich 39 Vgl. Noë 2004, SS. 49-50: „We have the impression that the world is represented in full detail in consciousness because, wherever we look, we encounter detail. All the detail is present, but is only present virtually [...] The idea that visual awareness of detail is a kind of virtual awareness is consequential. [...] To experience detail virtually, you don’t need to have all the detail in your head. All you need is quick and easy access to the relevant detail when you need it. Just as you don’t need to download, say the entire New York Times to be able to read it on your desktop, so you don’t need to construct a representation of all the detail of the scene in front of you to have a sense of its detailed presence.“ Vgl. auch S. 67: „The content of perceptual experience is virtual. [...] According to the enactive approach, the far side of the tomato, the occluded portions of the cat, and the unseen environmental detail are present to perception virtually in the sense that we experience their presence because of our skill-based access to them.“ 40 Vgl. Noë 2004, S. 63: „[...] our sense of the perceptual presence of the cat as a whole now does not require us to be committed to the idea that we represent the whole cat in consciousness at once. What it requires, rather, is that we take ourselves to have access, now, to the whole cat. The cat, the tomato, the bottle, the detailed scene, all are present perceptually in the sense that they are perceptually accessible to us. They are present to perception as accessible. They are, in this sense, virtually present.“ 41 Vgl. Noë 2004, S. 63: „[...] our sense of the perceptual presence of the detailed world does not consist in our representation of all the detail in consciousness now. Rather, it consists in our access now to all of the detail, and to our knowledge that we have this access.“ 21 nicht vorgestellt42, uns jedoch jederzeit zugänglich. Dieselbe Bewusstseinsweise weisen nun nach Noë alle Details auf, die wegen change blindness oder difference blindness unbemerkt bleiben43. Zwei Mengen M und M’ wahrnehmend, können wir z. B. übersehen haben, dass M ein Element mehr hat als M’. Dieses übersehene Element ist nun ein unbemerktes Detail. Ist es auch ein unbewusstes Detail? Nein, lautet Noës Antwort: Es ist wohl bewusst, nur virtuell bewusst44; es ist zwar nicht vorgestellt, aber es ist trotzdem unserem Bewusstsein zugänglich, indem wir es jederzeit vorstellen können. Trifft dies nun auch auf die sechste Linie im rechten Bündel zu? Ist auch diese Linie zwar bewusst, jedoch nur virtuell bewusst? Handelt es sich auch in diesem Fall um ein Detail, das zwar nicht vorgestellt, aber dennoch bewusst ist, weil wir es jederzeit vorstellen können45? Wir möchten eine solche Interpretation nicht billigen. Es ist nämlich nicht so, als wäre das ganze Linienbündel vorgestellt, die einzelnen Linien hingegen nicht vorgestellt. Es ist nicht bloß so, als würden wir wissen, dass es Linien im Linienbündel gibt, und dass wir sie jederzeit vorstellen können, wenn wir es nur wollen, während wir nur das ganze Linienbündel aktuell vorstellen. Uns scheint im Gegenteil, dass jede Linie des Bündels aktuell mitvorgestellt wird: Wir könnten uns visuell ein Linienbündel unmöglich vorstellen, wenn wir uns nicht auch die darin enthaltenen Linien vorstellten. So etwas wäre höchstens auf symbolischer Ebene vollziehbar, indem wir z. B. den Ausdruck ‚dieses Linienbündel’ verstehen, ohne deshalb alle darin enthaltenen Linien mitvorstellen zu müssen. Die einzelnen, ohne Augenbewegung primär unbemerkbaren und dennoch bewussten Linien sind ferner nicht auf dieselbe Weise bewusst, wie der versteckte Teil der schwarzen Scheibe im KanizsaDreieck oder die Rückseite der Flasche. Die Rückseite der Flasche entzieht sich unserem Gesicht. Wir sehen sie nicht wirklich. Es ist aber nicht so, als würde sich eine einzelne Linie des rechten Bündels ebenfalls unserem Gesicht entziehen. Sie entzieht sich nur dem Griff unserer primären Aufmerksamkeit. 42 Vgl. Noë 2004, S. 61: „We experience the occluded portions of the disks in the Kanizsa figure as amodally present in perception. They are perceptually present without being actually perceived.“ 43 Vgl. Noë 2002, S. 9: „The proposal [...] is that the detail of the world is present to consciousness, but in the way that amodally perceived features of scenes or objects are amodally present. They are perceived without being really perceived.“ 44 Vgl. Noë 2004, S. 52: „Change blindness is evidence, then, that the representations needed to subserve vision could be virtual.“ 45 Vgl. Noë 2004, SS. 98-99: „[...] the visual world is not given all at once, as in a picture. The presence of detail consists not in its representation now in consciousness, but in our implicit knowledge now that we can represent it in consciousness if we want, by moving the eyes or by turning our head.“ 22 Im Spiel ist hier – in Husserls Worten – der Unterschied zwischen eigentlicher und uneigentlicher Erscheinung. Die Vorderseite der wahrgenommenen Flasche kommt durch eine eigentliche Erscheinung zur Gegebenheit: Es gibt einen Abschnitt des visuellen Feldes, dessen Auffassung die Darstellung der Vorderseite ermöglicht46. Die Rückseite der Flasche ist uns hingegen durch eine uneigentliche Erscheinung gegeben. Sie ist bewusst, aber es gibt keinen Abschnitt im visuellen Feld, dessen Auffassung zur Darstellung der Rückseite dienen könnte47. Wir glauben nun, dass die einzelnen Linien des Bündels durch eine eigentliche Erscheinung zur Darstellung gelangen. Dass der Abschnitt des visuellen Feldes, durch dessen Auffassung das ganze Linienbündel dargestellt wird, einen Teil enthält, wodurch auch z. B. die sechste Linie dargestellt wird, scheint uns schwer zu bestreiten. Wir sind deshalb der Ansicht, dass das Bewusstsein einer einzelnen Linie im rechten Bündel eher mit der Wahrnehmung der Flaschenvorderseite als mit der Wahrnehmung der Flaschenrückseite zu vergleichen ist; und wenn das Bewusstsein der Flaschenvorderseite kein virtuelles Bewusstsein ist, ist es das Bewusstsein einer einzelnen Linie im rechten Bündel auch nicht. Eine einzelne Linie im rechten Bündel ist ferner ein bewusstes Detail, das wir zwar (ohne Augenbewegung) unmöglich primär bemerken können, das aber dennoch nicht durch ein bloß virtuelles Bewusstsein gegeben ist. Zu einem ähnlichen Schluss gelangen wir ausgehend von der vorhin besprochenen TseTäuschung. Durch thematische Erfassung des Kreises A erscheinen die beiden anderen Kreise B und C heller als A. Die helle Färbung von B und C, so wie sie unthematisch erscheint, kann jedoch (ohne Augenbewegung) nicht selbst thematisch erfasst werden, denn ihre thematische Erfassung würde notwendig mit einer Verdunkelung einhergehen. Die helle Färbung von B und C ist also ein bewusstes, jedoch ohne Augenbewegung primär unbemerkbares Detail. Handelt es sich hier auch um einen virtuell bewussten Inhalt? Dies scheint wiederum nicht der Fall zu sein. Wir können die Sachlage ja nicht so beschreiben, als wäre die helle Färbung von B und C ohne Augenbewegung eigentlich gar nicht vorgestellt, und lediglich die dunkle Färbung von A eigentlich vorgestellt. Wir stellen ja beides wirklich vor, sowohl die 46 Vgl. Hua XVI, S. 49: „Nur gewisse, eben die unter dem Titel Vorderseite hier befassten Bestimmtheiten des Gegenstandes fallen eigentlich in die Wahrnehmung. Das aber heisst: Nur sie finden eigentlich Darstellung. [...] Durchforschen wir den Inhalt der Perzeption an physischen Inhalten, so finden wir, dass er nach allen seinen Teilen oder Momenten, und zwar notwendig, darstellende Funktion hat, aber dass mit ihm nur eine Komplexion von gegenständlichen Bestimmtheiten Stück für Stück zur Darstellung kommt.“ 47 Vgl. Hua XVI, S. 50: „Das Ding hat im Sinne der Wahrnehmung mehr als die im prägnanten Sinn perzipierte oder erscheinende Vorderseite; und dieses ‚mehr’ entbehrt ihm speziell zugehöriger darstellender Inhalte. Es ist in der Wahrnehmung in gewisser Weise mitgenommen, aber ohne selbst zur Darstellung zu kommen; auf es haben die Empfindungsinhalte keine Beziehung, für die Darstellung der Vorderseite sind diese vollständig erschöpft.“ 23 thematisch erfasste dunkle Farbe von A, als auch die damit kontrastierende helle Farbe von B und C. Davon können wir uns leicht überzeugen, wenn wir z. B. an die Wahrnehmung einer gleichmäßig gefärbten Kugel denken, die die völlig gleiche hellgraue Färbung aufweist wie die Kreise B und C. Eine solche Wahrnehmung vollziehend, wären wir insbesondere dessen gewahr, dass die uns versteckte Kugelrückseite ebenfalls hellgrau ist. Nun wäre aber das Hellgrau auf der Kugelrückseite auf ganz andere Weise bewusst als das Hellgrau von B und C in der Tse-Täuschung: Das Hellgrau auf der Kugelrückseite wäre bloß virtuell bewusst, das Hellgrau von B und C ist hingegen nicht bloß virtuell bewusst. Während wir die hellgraue Kugel beobachten, umfasst nämlich unser visuelles Feld kein Stück, das zur Auffassung und Darstellung der Kugelrückseite dienen könnte. Lässt sich dasselbe aber auch im Fall der hellgrauen Färbung von B und C behaupten? Sollen wir etwa sagen, es gebe ebenfalls kein Stück des visuellen Feldes, dessen Auffassung die Darstellung der hellen Farbe von B und C ermöglicht? Dies würde höchst kontraintuitiv klingen. Das Bewusstsein der hellen Färbung von B und C ist also auch kein bloß virtuelles Bewusstsein, denn hier liegt viel mehr vor als das bloße Bewusstsein, dass wir B und C jederzeit vorstellen können: Wir stellen B und C tatsächlich vor, nur können wir sie nicht primär bemerken. 8. Die Grenzen des Bewusstseins und die Grenzen primärer Aufmerksamkeit Es gibt Inhalte, die außerhalb der Reichweite unserer primären Aufmerksamkeit liegen und trotzdem wahrgenommen werden. Dabei meinen wir mit ‚wahrgenommen’ nicht einfach ‚virtuell wahrgenommen’ bzw. „perceived, without being really perceived“48, sondern ‚aktuell, wirklich wahrgenommen’. Oft sehen und hören wir mehr als das, was wir gleichzeitig aufmerksam erfassen können. Dies haben wir hier zeigen wollen, ausgehend von Beispielen aus der Sphäre visueller und auditiver Wahrnehmung. Sind unsere obigen Überlegungen zutreffend, dann sind wir zu folgendem Schluss genötigt: Die Grenzen primärer Aufmerksamkeit sind nicht die Grenzen der Wahrnehmung, und der Bereich des Wahrnehmbaren reicht über die Sphäre des primär Bemerkbaren hinaus. Daher haben uns die bisherigen Überlegungen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit zwei Hauptthesen geführt: 48 Vgl. Noë 2002, S. 9. 24 (1) Die Grenzen primärer Aufmerksamkeit sind die Grenzen des Wahrnehmbaren überhaupt: Inhalte, die nicht thematisch erfasst werden können, können (mittels Wahrnehmung) überhaupt nicht bewusst sein. (2) Die Grenzen primärer Aufmerksamkeit sind die Grenzen des aktuell Wahrnehmbaren: Inhalte, die nicht thematisch erfasst werden können, können dennoch (mittels Wahrnehmung) bewusst sein; allerdings können sie bloß virtuell, und nicht aktuell wahrgenommen sein. Beide Thesen lehnen wir ab. Die erstere These entspricht der Ansicht Tyes; die letztere wird von Noë vertreten. Noës Auffassung ist in der Tat weniger radikal als jene Tyes: Immerhin schließt (2) die Möglichkeit eines unthematischen Bewusstseins des primär Unbemerkbaren nicht aus. Dies sollte uns jedoch nicht über eine tiefe Verwandschaft beider Vorschläge hinwegtäuschen. Wie Tye, so verwirft auch Noë die Idee, dass ein Inhalt, den wir primär zu bemerken unfähig sind, durch eine eigentliche Wahrnehmung zur Gegebenheit kommen kann49. Was sich dem Griff unserer primären Aufmerksamkeit entzieht, und was Tye als schlichtweg unbewusst einstuft, gilt nämlich nach Noë als ‚wahrgenommen, aber nicht wirklich wahrgenommen’. Da wir hingegen glauben, dass z. B. die primär unbemerkbaren Linien im rechten Linienbündel oder das primär unbemerkbare Hellgrau der unthematisch bewussten Kreise in der Tse-Täuschung wirklich wahrgenommen werden, versagen wir nicht nur der These Tyes, sondern auch der abgeschwächten These Noës unsere Zustimmung. Die allgemeine Idee, dass nicht alles primär Unbemerkbare unbewusst sein muss, ist allerdings nicht neu. Dass ein Inhalt, den unsere Aufmerksamkeit nicht erfassen kann, trotzdem bewusst sein kann, zeigt das berühmte Phänomen der Transparenz des Bewusstseins. Unsere Wahrnehmung von Blau ist vor-reflexiv bewusst, und dennoch vermögen wir nicht, sie thematisch zu erfassen. Sie scheint zu verschwinden, sobald wir unseren Blick in der Reflexion darauf richten50. In Anlehnung an Moores berühmte 49 Vgl. Noë 2002, S. 5: „[…] perception is, in an important sense, attention-dependent. You only see that to which you attend. If something occurs outside the scope of attention, even if it’s perfectly visible, you won’t see it.“ Vgl. auch unten, S. 8: „One of the results of change blindness is that we only see, we only experience, that to which we attend.“ Vgl. Auch Noë 2004, S. 52: „Change blindness has other important implications. One of these is that vision is, to some substantial degree, attention dependent [...]. In general, you only see that to which you attend.“ 50 Vgl. Moore 1903, S. 450: „[...] the moment we try to fix our attention upon consciousness and to see what, distinctly, it is, it seems to vanish: it seems as if we had before us a mere emptiness.“ Vgl. auch S. 446: „when we refer to introspection and try to discover what the sensation of blue is [...] the term ‚blue’ is easy enough to 25 Beobachtung könnten wir bei der Beschreibung der Tse-Täuschung eine ähnliche Bemerkung machen: Auch die helle Färbung vom Kreis B scheint zu verschwinden, sobald wir auf sie unsere thematische Aufmerksamkeit richten. Ähnliches liesse sich auch über die vorhin besprochenen Fälle auditiver Wahrnehmung sagen: Wenn Stumpf Recht hat, und besonders schwache Töne durch thematische Erfassung tatsächlich eine Intensitätssteigerung erfahren, dann könnte man behaupten, dass die ursprüngliche Intensität solcher Töne ebenfalls verschwindet, sobald wir auf sie den Blick primärer Aufmerksamkeit richten. Allerdings würden solche Bemerkungen in ‚Mooreschem Stil’ nicht auf den Fall der sichtbaren, jedoch primär unbemerkbaren Linien im Linienbündel passen. Sobald wir uns bemühen, eine einzelne Linie im rechten Linienbündel aufmerksam zu erfassen, ist uns nicht so zumute, als verschwände die Linie. Nichts verschwindet aus unserem Gesicht, wir erleben lediglich eine Hemmung des Erkenntnisinteresses. Trotzdem darf hier eine wichtige Gemeinsamkeit nicht übersehen werden: Ebenso, wie ein Erlebnis E, das wir zum Zeitpunkt t erleben, nicht zu demselben Zeitpunkt thematisch erfasst werden kann, kann auch jede der Linien im rechten Linienbündel, die wir zum Zeitpunkt t – die Augen auf ‚+’ gerichtet – wahrnehmen, nicht gleichzeitig (ohne Augenbewegung) thematisch erfasst werden. Es besteht außerdem Grund zu folgender Annahme: Die Transparenz intentionaler Erlebnisse ist nur ein Teil eines umfassenderen Phänomens, das wir ‚Bewusstsein des primär Unbemerkbaren’ nennen können und das nicht nur mit der primären Unbemerkbarkeit bewusster mentaler Zustände zusammenhängt, sondern auch mit der primären Unbemerkbarkeit sinnlicher (visueller und auditiver) Inhalte unserer Erfahrung. 9. Die Grenzen des Bewusstseins und die Grenzen sekundärer Aufmerksamkeit Wir haben uns bisher mit primär unbemerkbaren Inhalten befasst und zu zeigen versucht, dass sie trotzdem bewusst sein können. Es drängt sich aber eine weitere Frage auf: Können solche bewussten, jedoch primär unbemerkbaren Inhalte sekundär bemerkt werden? Oder sollen wir vielmehr behaupten, dass dies nicht möglich ist und dass alles, was wir primär zu bemerken unfähig sind, auch nicht sekundär bemerkt werden kann? Ziehen wir z. B. die (unter gewissen distinguish, but the other element which I have called ‚consciousness’ [...] is extremely difficult to fix. [...] And, in general, that which makes the sensation of blue a mental fact seems to escape us; it seems, if I may use a metaphor, to be transparent – we look through it and see nothing but the blue [...]“. 26 Umständen) primär unbemerkbaren Linien im rechten Linienbündel in Betracht. Wie wir gesehen haben, besteht hinreichend Grund zur Annahme, dass sie bewusst sind, obwohl sie (ohne Augenbewegung) nicht zum Thema unserer Aufmerksamkeit gemacht werden können. Entziehen sich nun solche bewussten Inhalte dem Griff sowohl der primären, als auch der sekundären Aufmerksamkeit? Handelt es sich um Inhalte, die – unter gewissen Umständen – zwar bewusst sind, jedoch völlig außer Acht bleiben müssen? Ehe wir diese Frage beantworten, müssen wir an die Husserlsche Lehre erinnern, wonach jeder Inhalt, der sich durch inhaltlichen Kontrast51 vom Hintergrund abhebt, eine affektive Kraft auf das Ich ausübt52 (d. h. im Subjekt eine Tendenz zur Zuwendung weckt). Wenn ‚Affektion’ als „der Gegenmodus aller Aufmerksamkeit in der Passivität“53 zu betrachten ist, dann haben wir Grund zur Annahme, dass jeder Inhalt x, der sich durch inhaltlichen Kontrast von einem Hintergrund abhebt, sekundär bemerkt wird – insofern sekundär bemerkt, als x unser Interesse reizt, bevor wir überhaupt einen Akt der Zuwendung auf x vollziehen. Dies können wir anhand des folgenden Beispiels verdeutlichen: A B + 51 Vgl. Hua XI, S. 149: „Affektion setzt vor allem Abhebung voraus [...] Abhebung war für uns also Abhebung durch inhaltliche Verschmelzung unter Kontrast. Affektion ist nun in gewisser Weise Funktion des Kontrastes, obschon nicht des Kontrastes allein.“ 52 Vgl. Hua XI, S. 149: „Das Bewusstsein konstituiert teils explizite Gegenstände, das ist abgehobene und wirklich affizierende, teils implizite (Teile und Momente), die nicht oder noch nicht zur Abhebung gekommen sind [...] Affektion setzt vor allem Abhebung voraus [...]“ Vgl. auch EU, SS. 79-80: „Alle Abgehobenheiten im Felde [...] sind das Produkt assoziativer Synthesen von mannigfacher Art. Es sind aber nicht einfach passive Vorgänge im Bewusstsein, sondern diese Deckungssynthesen haben ihre affektive Kraft. Wir sagen z.B., das durch seine Unähnlichkeit aus dem homogenen Untergrund Herausgehobene, sich Abhebende ‚fällt auf’; und das heisst, es entfaltet eine affektive Tendenz auf das Ich hin. Die Synthesen der Deckung [...] üben auf das Ich einen Reiz aus zur Zuwendung, ob es nun dem Reize folgt oder nicht. Kommt es zur Erfassung eines sinnlichen Datums im Felde, so geschieht das immer auf Grund solcher Abgehobenheit.“ 53 Vgl. Hua XXXI, S. 4. 27 Unsere Augen auf ‚+‘ gerichtet haltend, kann unsere primäre Aufmerksamkeit zunächst der Figur A und dann der Figur B gelten. Sobald B thematisch erfasst wird, rückt A in den Hintergrund. In diesem Fall richtet sich auf A kein Akt der Zuwendung mehr. Können wir nun behaupten, dass A außer Acht ist? Keineswegs: A fällt immerhin auf, es ist nebenbei bemerkt, obwohl es sich jetzt außerhalb des Themas unserer Aufmerksamkeit befindet. Wir sagen, A affiziert unser Interesse, obwohl kein Akt der Zuwendung auf A vollzogen wird. Was unser Interesse reizt, ist der inhaltliche Kontrast zwischen dem schwarzen Figürchen und dem weißen Hintergrund. Kehren wir nun zum Beispiel der beiden Linienbündel zurück. Wie steht es mit den primär unbemerkbaren Linien im rechten Bündel? Dass ein inhaltlicher Kontrast zwischen den Linien und dem weißen Hintergrund besteht, wird man wohl kaum bestreiten können. Wenn aber ein solcher Kontrast besteht, dann üben auch diese primär unbemerkbaren Linien einen affektiven Reiz auf das Ich aus. Wenn sie einen affektiven Reiz auf das Ich ausüben, dann müssen wir wohl annehmen, dass sie sekundär bemerkt werden. Hier lägen also Wahrnehmungsinhalte vor, die sich zwar dem Griff unserer primären Aufmerksamkeit entziehen, trotzdem aber unsere sekundäre Aufmerksamkeit wachrufen. Ein hartnäckiger Skeptiker könnte allerdings einwenden: Solange wir unsere Augen auf ‚+’ gerichtet halten, haben wir eine klare Wahrnehmung des linken Bündels, aber nur eine konfuse Wahrnehmung vom rechten Bündel. Ist aber die Wahrnehmung des rechten Bündels konfus, so wird auch der inhaltliche Kontrast zwischen Linien und Hintergrund abgeschwächt sein. Wenn kein hinreichender Kontrast vorhanden ist, kann auch nicht von Affektion, und ferner von sekundärer Aufmerksamkeit, die Rede sein. Einen solchen Skeptiker können wir aber immerhin auffordern ein anderes Beispiel zu wählen. Ziehen wir die Tse-Täuschung in Erwägung. Sind uns etwa die helleren, primär unbemerkbaren Kreise, die sich außerhalb des Themas unserer Aufmerksamkeit befinden, durch eine konfuse Wahrnehmung gegeben? Das erscheint uns als eine höchst kontraintuitive Hypothese. Die helleren Kreise, die sofort verdunkeln, sobald sie thematisch erfasst werden, sind primär unbemerkbare Inhalte, und trotzdem vollkommen abgehoben – so gut abgehoben, dass wir sie sogar aufzählen können. Sie kontrastieren ziemlich deutlich mit dem weißen Hintergrund. Nichts spricht also soweit gegen die Möglichkeit, dass sie durch einen solchen Kontrast unser Interesse affizieren und ferner unsere sekundäre Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Zu diesem Schluss führt allerdings auch ein zweites Argument – auf einem völlig 28 unabhängigen Weg. Um zu beweisen, dass ein Inhalt x unser Interesse affiziert und somit sekundär bemerkt wird, müssen wir nämlich nicht einmal voraussetzen, dass x unser Interesse durch Kontrast affiziert – wie Husserl behauptet: „Affektion ist [...] Funktion des Kontrastes, obschon nicht des Kontrastes allein“54. Kehren wir zum Beispiel der beiden Linienbündel zurück. Die äußeren Linien – etwa die erste und die letzte Linie – des rechten Bündels können primär bemerkt werden. Nehmen wir an, wir machen die erste Linie des rechten Bündels zum Thema unserer Aufmerksamkeit. Die inneren Linien bilden nun mit der ersten Linie eine Gestalt (ein Bündel!): sie sind durch ein figurales Moment verbunden. Wenn aber im Allgemeinen ein x Thema ist und durch ein figurales Moment mit y verbunden ist, dann gehört y zwar nicht zum Thema, aber wohl zu dem, was Gurwitsch ‚thematisches Feld’ nennt. Demnach muss y also sekundär bemerkt werden. Die inneren Linien im Bündel müssen ferner ebenfalls zum thematischen Feld gehören, wenn sie eine Gestalt zusammen mit dem Thema bilden. Also müssen die inneren Linien sekundär bemerkt werden, sobald wir die äußere Linie thematisch erfassen. M. a. W.: Zwischen dem Thema (der ersten, äußeren Linie des Bündels) und dem, was sich außerhalb des Themas befindet (den inneren Linien des Bündels), besteht ein ‚materiales Verhältnis der Relevanz’ im Sinne Gurwitschs. Die inneren Linien könnten nur dann als vollkommen unbemerkt erachtet werden, wenn sie im Verhältnis zum Thema völlig zusammenhanglos wären. Dies ist aber nicht der Fall. Es passiert hier etwas ähnliches wie bei Husserls Beispiel des Tones, der allmählich von laut zu leise übergeht: „Der anfangende laute Ton hält im Übergang ins piano den Ton in affektiver Kraft bis ins feinste piano, das sonst unmerklich bliebe“55. M. a. W.: Der anfangende laute Ton hebt sich vom Hintergrund durch einen starken Kontrast ab und ist primär bemerkt. Der leise Ton am Ende hebt sich hingegen nicht deutlich ab. Aber der leise Ton am Ende bildet zusammen mit dem lauten Ton am Anfang eine Gestalt – ein Diminuendo –, und wenn der laute Ton am Anfang primär bemerkt wird und das Thema ausmacht, dann wird der leise Ton am Ende doch zum thematischen Feld gehören. Dieses Phänomen nennt Husserl 'Fortpflanzung der Affektion': "Die Affektion geht den Verbindungen entlang; nur soweit die Bedingungen sachlicher oder figürlicher Homogenität erfüllt sind, derart, dass sich in Angrenzung oder in Distanz Deckungssynthesen bilden können, nur soweit kann affektiver Zusammenhang bestehen und können Affektionen sich fortpflanzen, kann vorhandene 54 Vgl. Hua XI, S. 149. 55 Vgl. Hua XI, S. 153. 29 affektive Kraft erhöht werden usw."56 Es könnte hier nun gerade ‚Fortpflanzung der Affektion’ im Spiel sein: Die erste Linie des rechten Bündels affiziert unser Interesse, und solche Affektion überträgt sich dann auch auf die weiteren Linien des Bündels, die für sich allein gar nicht in der Lage wären, unser Interesse zu erwecken. Eine ähnliche Bemerkung kann auch im Fall der Tse-Täuschung gemacht werden. Solange wir unseren geistigen Blick auf den Kreis A gerichtet halten, ist A primär bemerkt: A macht das Thema unserer Aufmerksamkeit aus. Die Kreise B und C erscheinen dabei heller als A, aber ihre Farbe kann nicht primär bemerkt werden, denn sobald B oder C thematisch erfasst wird, erscheint es dunkler. Kann den helleren Kreisen B und C trotzdem, wenn nicht eine primäre, so doch eine sekundäre Aufmerksamkeit zu Teil werden? Für eine solche Möglichkeit scheint wiederum der Umstand zu sprechen, dass der primär bemerkte Kreis A mit den anderen, aus dem Thema ausgeschlossenen Kreisen B und C eine Gestalt bildet: Zwischen Thema und Inhalten des Hintergrundes besteht wiederum ein materiales Verhältnis, und dies bedeutet, dass B und C nicht einfach zum Hintergrund gehören, sondern zum thematischen Feld, und wenn sie zum thematischen Feld gehören, dann sind sie sekundär bemerkt. Es findet hier eine Fortpflanzung der Affektion, die ursprünglich durch den thematisch erfassten Kreis A ausgelöst wird, auf die weiteren Kreise B und C statt, die zusammen mit A durch ein figurales Moment verbunden sind. Die Affektion geht ebenfalls der figuralen Verbindung von A, B und C entlang. Die Ansicht, wonach alles primär Unbemerkbare auch sekundär unbemerkbar ist, müssen wir verwerfen. Können wir andererseits behaupten, dass alles primär Bemerkbare auch sekundär bemerkbar sein muss? Kehren wir zum soeben besprochenen Beispiel der beiden schwarzen Vierecke zurück. Versuchen wir – unsere Augen immer auf das Zeichen ‚+’ gerichtet haltend – einen beliebigen unabgehobenen weißen Abschnitt des weißen Hintergrundes, z. B. oberhalb des Zeichens ‚+‘, zum Thema unserer Aufmerksamkeit zu machen. Dies können wir leicht, obwohl hier kein inhaltlicher Kontrast mehr zwischen Thema und Hintergrund besteht. Lassen wir dann unsere primäre Aufmerksamkeit wandern. Unsere thematische Erfassung mag dabei den weißen, unabgehobenen Abschnitt verlassen und sich dem schwarzen, abgehobenen Viereck B zuwenden. Der unabgehobene weiße Abschnitt, dem vorhin unsere thematische Aufmerksamkeit galt, ist jetzt in den Hintergrund gerückt. Können wir nun behaupten, dass dieser unabgehobene Abschnitt immer noch auffällt? Keineswegs. Höchstens 56 Vgl. Hua XI, S. 164. 30 können wir, indem wir z. B. die Augen auf B gerichtet halten, dem oberhalb von + liegenden Abschnitt des weißen Hintergrundes unsere Aufmerksamkeit schenken, aber es würde sich dabei nicht mehr um sekundäre, sondern um primäre Aufmerksamkeit handeln: Dabei wäre B einfach der physikalische Brennpunkt unserer Wahrnehmung, und der weiße Abschnitt das Thema unserer primären Aufmerksamkeit. Der unabgehobene Abschnitt der weißen Oberfläche, der sich oberhalb des ‚+’ befindet, wird also entweder primär bemerkt, oder gar nicht bemerkt; er stellt also ein Beispiel eines Inhalte dar, der zwar primär bemerkbar, sekundär jedoch gar nicht bemerkbar ist. Zwar behaupten wir nicht, dass dies für alle unabgehobenen Inhalte gilt. Unabgehobene Inhalte können wohl unter gewissen Umständen unsere Aufmerksamkeit affizieren und sekundär bemerkt werden, wie z. B. im folgenden Fall: C D A B Machen wir die Linie AB zum Thema unserer Aufmerksamkeit. Indem wir AB primär bemerken, wird auch die Linie CD sekundär bemerkt, obwohl sich CD, im Gegensatz zu AB, gar nicht vom Hintergrund durch Kontrast abhebt. CD ist ein unabgehobener Inhalt, der trotzdem sekundär bemerkt werden kann – und zwar nicht durch Kontrast, sondern durch Fortpflanzung der Affektion, die ursprünglich vom Kontrast zwischen AB und dem Hintergrund ausgelöst wird57. Dies wollen wir gar nicht bestreiten. Wir fügen lediglich 57 Wir können auch an das Kanizsa-Dreieck denken: Die Spitzen des Dreiecks heben sich deutlich durch Kontrast ab, nicht hingegen die mittleren Abschnitte der Seiten. Und trotzdem, wenn wir eine Spitze des Dreiecks zum Thema unserer primären Aufmerksamkeit machen, können wir nicht umhin, auch noch das ganze Dreieck sekundär zu bemerken, und insbesondere die mittleren, unabgehobenen Abschnitte der Seiten: Solche unabgehobenen Abschnitte affizieren unsere Aufmerksamkeit, und zwar nicht durch Kontrast, sondern durch Fortpflanzung einer Affektion, die von den sich deutlich abhebenden Spitzen ausgeht. 31 Folgendes hinzu: Was hier für CD gilt, gilt nicht für alle unabgehobenen Inhalte. Unabgehobene Inhalte können prinzipiell nicht durch Kontrast affizieren, sondern nur durch Fortpflanzung, und manchmal ist Fortpflanzung gar nicht möglich. In Fällen, in denen Fortpflanzung nicht stattfinden kann, können unabgehobene Inhalte entweder primär oder gar nicht bemerkt werden. Nehmen wir einen beliebigen Abschnitt der rechts vom Viereck ABCD liegenden weißen Oberfläche: Können wir etwa behaupten, dass, solange die Linie AB das Thema unserer Aufmerksamkeit bildet, dieser Abschnitt nicht nur unthematisch bewusst ist, sondern auch sekundär auffällt – ebenso auffällt wie die Linie CD? Wohl kaum. Ein solcher unabgehobener Abschnitt wird also – im Gegensatz zur Linie CD – entweder primär bemerkt oder gar nicht bemerkt. 10. Schluss Fassen wir nun unsere Ergebnisse zusammen. Es gibt Inhalte, die sowohl primär als auch sekundär bemerkt werden können (z. B. die schwarzen Figürchen im obigen Beispiel). Darüber hinaus gibt es Inhalte, die zwar primär, jedoch nicht sekundär bemerkt werden können (z. B. ein unabgehobener Abschnitt einer gleichmäßig gefärbten Oberfläche), wie auch Inhalte, die umgekehrt sekundär, jedoch nicht primär bemerkt werden können (die dicht aneinandergereihten Linien im rechten Linienbündel; die helle Färbung der außerhalb des Themas befindlichen Kreise in der Tse-Täuschung). Gibt es nun Inhalte, die weder primär noch sekundär bemerkt werden können und die dennoch bewusst sein können? Oder müssen wir vielmehr eine solche Möglichkeit in Abrede stellen und uns der Ansicht Arvidsons58 anschließen, wonach sich Bewusstseinsfeld und Feld der Aufmerksamkeit decken, und ferner alles, was überhaupt bewusst ist, entweder primär oder sekundär bemerkbar sein muss? Einer solchen Ansicht gegenüber bleiben wir eher skeptisch. Unsere diesbezügliche Skepsis beruht auf folgender Überlegung. Stellen wir uns einen unabgehobenen Teil einer gleichmäßig gefärbten Oberfläche vor, der zwar groß genug ist, um wahrgenommen zu werden, jedoch zu klein, um primär bemerkt zu werden. Nun kann ein solcher Inhalt auch nicht sekundär 58 Vgl. Arvidson 2003, SS. 126-127: „I can’t think of any compelling reason to distinguish these two. This reasoning may smack of an ad ignorantiam fallacy, but I take the expanded definition of the field of attention and how attention works [...] as evidence that the identification is a good one to make. […] At least with respect to the identification of the field of attention and the field of consciousness, there are good reasons to think they are the same.“ 32 bemerkt werden, wenn er nicht abgehoben ist. Dies zeigte schon das vorhin besprochene Beispiel der nicht abgehobenen Abschnitte des weißen Hintergrundes. Hier läge nun ein Gegenbeispiel gegen Arvidsons These der Identität von Bewusstseinsfeld und Feld der Aufmerksamkeit vor. Wir können uns ein gleichmäßig weißes Blatt Papier anschauen und unsere primäre Aufmerksamkeit auf immer kleinere Teile davon konzentrieren. Irgendwann werden wir die „Grenze der Merklichkeit“59, wie es bei Brentano heißt, erreichen, nämlich eine Schwelle, jenseits derer Inhalte liegen, die wir unmöglich thematisch erfassen können, die aber trotzdem noch wahrgenommen werden. Solche Inhalte sind bewusst. Müssen wir nun annehmen, dass sie nicht nur bewusst sind, sondern darüber hinaus auch unsere Aufmerksamkeit affizieren? Das erschiene als eine unberechtigte Intellektualisierung. Wie oben schon betont, können unabgehobene Inhalte nur durch Fortpflanzung der Affektion sekundär bemerkt werden, und manchmal findet solche Fortpflanzung einfach nicht statt. Und dies kann auch bei unabgehobenen Inhalten passieren, die zu klein sind, um primär bemerkt zu werden. Wenn es dazu kommt, haben wir es mit Inhalten zu tun, die weder primär noch sekundär bemerkt werden können. Die Grenzen des Bewusstseins reichen weiter als die Grenzen primärer Aufmerksamkeit: Dies haben wir durch unsere kritische Auseinandersetzung mit Tye und Noë zeigen wollen, und zwar durch den Nachweis von bewussten Inhalten, die trotzdem (unter gewissen Umständen) primär unbemerkbar sind. Es macht wenig Sinn, solche Inhalte entweder als ‚überhaupt nicht wahrgenommen’ oder als ‚nur virtuell wahrgenommen’ einzustufen. Wir haben jedoch auch zeigen wollen, dass die Grenzen des Bewusstseins weiter reichen als die Grenzen sekundärer Aufmerksamkeit: Es gibt Inhalte, die unthematisch bewusst sind und trotzdem kaum unser Interesse affizieren können. Danksagung Abschnitte dieses Aufsatzes wurden im Herbst 2011 am XXII. deutschen Kongress für Philosophie in München und an den Husserl-Arbeitstagen in Köln vorgetragen. Dem philosophischen Gedankenaustausch mit Prof. Dr. Eduard Marbach schuldet dieser Aufsatz sehr viel: Ihm möchte ich an dieser Stelle meine Dankbarkeit aussprechen. Zu Dank verpflichtet bin ich übrigens Frau Prof. Dr. Sonja Rinofner Kreidl, die diesen Text sprachlich durchgesehen hat, sowie zwei anonymen Gutachtern von Husserls Studies für ihre anregenden Bemerkungen. Nennen möchte ich schlussendlich meinen Onkel Francesco Maria Zonta, der meine philosophische Arbeit in der Not so grosszügig unterstützt hat. Bibliographie 59 Vgl. Brentano 1976, S. 12. Zur Wahrnehmbarkeit primär unbemerkbarer Objekte vgl. auch Brentano 1924, S. XC. 33 Arvidson, P. S. (2003). A Lexicon of Attention: From Cognitive Science to Phenomenology. Phenomenology and the Cognitive Science, 2, 99-132. Brentano, F. (1976). Philosophische Untersuchungen zu Raum, Zeit und Kontinuum. S. Körner & R. Chisholm (Eds.). Hamburg: Meiner. Brentano, F. (1924). Psychologie vom empirischen Standpunkt. Erster Band. O. Kraus (Ed.). Leipzig: Meiner. Gurwitsch, A. (2010). The Field of Consciousness: Theme, Thematic Field, and Margin. R. M. Zaner (Ed.). Dordrecht: Springer. Hua XIX/1. 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