Guido Baltes1, Antje Freyth2
Individuelle Veränderungskompetenz als Erfolgsbeitrag für strategische Innovation
Beitrag zum Herausgeberband “Vielfalt und Innovation,
Strategisches Diversity Management für Innovationserfolg”,
J. P. Hasebrook, S. Dohrn, M. Schmette, Shaker Verlag, Aachen 2011
1
Prof. Baltes lehrt an der HTWG Konstanz und ist Direktor vom Innovationsinstitut IST
2
Geschäftsführerin der Veränderungsintelligenz Service GmbH
Abstract
Zunehmend rückt Innovation in den strategischen Kern zur Sicherung der Überlebensfähigkeit von Unternehmen. Anpassungsfähigkeit der Organisationen ist dafür eine
Voraussetzung. Diese Fähigkeit wird auch durch die individuellen Veränderungskompetenzen in der Organisation bestimmt. Um individuelle Veränderungskompetenz
durch beobachtbare Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale zu operationalisieren, wird eine interdisziplinäre Analyse vorgestellt. Die Überführung der Erkenntnisse daraus in ein Kompetenzkonzept ermöglicht die praxisorientierte Umsetzung.
Dazu werden verschiedene Rollen in Veränderungsprozessen von Organisationen
charakterisiert und dafür ein verbindendes Konstrukt der „Veränderungsintelligenz“
eingeführt, das alle Kompetenzen und Potenziale von Individuen zum erfolgreichen
Umgang mit Veränderung betrachtet. Die abgeleiteten Verhaltensweisen eröffnen die
Operationalisierung im Sinne einer Messung auf der einen und die gezielte Entwicklung von Veränderungsfähigkeiten auf der anderen Seite. Dafür werden geeignete
Erfassungs- und Entwicklungsmethoden vorgestellt. Dies ermöglicht die konkrete
Umsetzung von Diversity-Management im Innovationskontext.
2
Guido Baltes, Antje Freyth
1 Einleitung und Hintergrund ......................................................................... 3
2 Diversity in Veränderungskompetenz als Schlüsselfaktor
für strategische Innovation – Eine interdisziplinäre Betrachtung .............. 4
2.1 Strukturanthropologie:
Der Mensch auf lebenslanger Suche in Veränderung...................... 6
2.2 Neuroscience: Positive /
negative Trigger physisch verankerter Veränderung....................... 7
2.3 Differentielle Psychologie: Persönlichkeitseigenschaften
als Indizien für Veränderungsfähigkeit............................................ 9
2.4 Sozialpsychologie:
Individuelles Risikoverhalten in unsicherer Veränderung............. 11
2.5 Experimentelle Psychologie: Persönlichkeitseigenschaften
beeinflussen Anpassungsgeschwindigkeit ..................................... 12
2.6 Arbeits- und Organisationspsychologie:
Kompetenzen für die Gestaltung des Wandels .............................. 13
3 Veränderungskompetenz als integrierter Bezugsrahmen .......................... 15
3.1 Zur Eignung des Kompetenzkonzepts als Bezugsrahmen ........................ 15
3.2 Kompetenzfelder der Veränderungsintelligenz......................................... 17
4 Operationalisierung zum Umgang mit Veränderungsintelligenz.............. 20
4.1 Multi-Source-Verfahren für Erfassung von Veränderungsintelligenz ...... 20
4.2 Veränderungsintelligenz nutzen und ausbauen ......................................... 22
5 Zusammenfassung / Ausblick.................................................................... 25
6 Literatur ..................................................................................................... 26
Team-Diversity erfassen und nutzen
1
3
Einleitung und Hintergrund
Gerade in technologieorientierten Märkten stehen Unternehmen vor der Herausforderung, beständig innovieren zu müssen, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Innovation wird somit weniger ein Element erfolgreicher Differenzierung als eine
Frage der Überlebensfähigkeit und rückt damit in den strategischen Kern des Unternehmenshandelns. In diesem Sinne beständig auf sich verändernde Umweltbedingungen zu adaptieren – besser: diese zu antizipieren – werden als dynamische Fähigkeiten
(„Dynamic Capabilities“) diskutiert.
Diese sind vor allem eine Herausforderung im Bereich der Koordination und dies nicht
nur durch geeignete Gestaltung des organisationalen Rahmens, sondern auch durch
Veränderungsfähigkeit auf der Ebene des Individuums. Die individuelle Veränderungskompetenz von Schlüsselpersonen rückt somit in den Mittelpunkt. Die Fähigkeit,
auch in unvorhersehbaren und von Unsicherheit geprägten komplexen Veränderungsprozessen handlungsfähig, lösungsorientiert und zu hoher Leistung fähig zu bleiben,
wird zu einem wesentlichen Erfolgsfaktor. Dies erfordert, hinderliche Muster im
Denken und Handeln zu erkennen und zu überwinden, um so mit den Herausforderungen des Wandels erfolgreich umzugehen.
Daher sind Konzepte gefordert, die die relevanten individuellen Veränderungskompetenzen konkretisieren und soweit operationalisieren, dass sie effektiv beeinflusst werden können. Hierzu liefert der vorliegende Artikel einen Beitrag, in dem wissenschaftliche Erkenntnisse zu individueller Veränderungskompetenz aus verschiedenen Disziplinen integriert und für die praktische Anwendung operationalisiert werden. Ausgangspunkt ist ein Diversity-Verständnis, das die unterschiedlichen Ausprägungen
individueller Veränderungskompetenzen und -potenziale als Differenzierungsmerkmale für die Heterogenität von Teams in einer Organisation auffasst. Nach diesem Verständnis bildet Diversity eine Brücke zwischen Kompetenzmanagement auf der einen
und Innovationsfähigkeit auf der anderen Seite.
Dazu werden zunächst interdisziplinär empirische, experimentelle wie auch konzeptionelle Erkenntnisse zur Identifizierung von individuellen Unterschieden in Bezug auf
erfolgreiche Adaption von Veränderung integriert. Die Überführung dieser interdisziplinären Erkenntnisse in ein Kompetenzkonzept ermöglicht ein fundiertes Verständnis und eine praxisorientierte Operationalisierung bezüglich der relevanten individuellen Kompetenzen. Individuelle Veränderungskompetenzen werden hier als beobacht-
4
Guido Baltes, Antje Freyth
bares Verhaltensrepertoire verstanden, das auf spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen
basiert und ein Individuum befähigt, selbstorganisiert und effektiv Veränderungsprozesse zu unterstützen.
In Relation zu Rolle beziehungsweise Perspektive, die ein Individuum im Veränderungsprozess einnimmt, werden Kompetenzfelder abgegrenzt. Die interdisziplinären
Erkenntnisse werden operationalisiert, indem sie als Teilkompetenzen einem Kompetenzfeld zugeordnet werden. Identifizierte Kompetenzpotenziale werden in Gänze auf
das Kompetenzmodell bezogen. Als Voraussetzung zur Erfassung und Entwicklung –
und damit unternehmerischen Steuerung – individueller Kompetenzprofile einer Organisation werden den relevanten Teilkompetenzen konkret beobachtbare Verhaltensweisen zugeordnet.
Als verbindendes Konstrukt für die beschriebenen Kompetenzfelder wird der Begriff
der „Veränderungsintelligenz“ eingeführt, der alle Kompetenzen und Potenziale umfasst, die ein Individuum befähigen, innovative, offene, komplex-dynamische Situationen selbstorganisiert und effektiv zu gestalten. Für deren Erfassung und Entwicklung
wird ein Ansatz vorgestellt, der gezielt für die Organisation von Arbeitsteilung und
Arbeitsabläufen sowie die soziale Kooperation genutzt werden kann. Dies ermöglicht
die konkreten Umsetzungen von Diversity Management im Innovationskontext.
2
Diversity in Veränderungskompetenz als Schlüsselfaktor für
strategische Innovation – Eine interdisziplinäre Betrachtung
Technologieorientierte Marktumfelder sind geprägt durch eine sich stetig verändernde
Umwelt (zum Beispiel technologische Diskontinuität, neue Geschäftsmodelle). Unternehmen, die sich in einem solchen Marktumfeld befinden, stehen daher vor der Herausforderung, sich diesen Veränderungen beständig anzupassen, um im globalen
Wettbewerb bestehen zu können.
Unternehmen, die sich in einem solchen Wettbewerbsumfeld behaupten, zeichnen sich
durch die Fähigkeit aus, ihr strategisches Verhalten in Reaktion auf sich verändernde
Marktbedingungen zu adaptieren. Aufbauend auf der Strategic-Fit-Theorie
(vgl. Siggelkow 2001) wird dies als „Strategic Responsiveness“ bezeichnet
(vgl. Andersen et al. 2007). Unterschiede der Unternehmensperformance werden hier
durch die organisationale Fähigkeit erklärt, Unternehmensstrategien und -strukturen
fortwährend miteinander und in Reaktion beziehungsweise Antizipation auf volatile
Marktbedingungen zu adjustieren. Die Resultate dieser Fähigkeit sind unter anderem
Team-Diversity erfassen und nutzen
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innovative Technologien, Anpassungsprozesse, Kategorienneubildung, Serviceausrichtung oder Geschäftsmodellanpassung, die die Spielregeln im Markt verändern –
Strategische Innovation (Strategic Innovation).
Aus der Perspektive der Transaktionskostentheorie (vgl. Williamson 1998) kann diese
organisationale Adaption entweder „extern“, das heißt transaktionsorientiert, oder
„intern“, das heißt koordinativ, umgesetzt werden. Für diese Transaktionen wird Latenz unterstellt (zum Beispiel durch Such- und Verhandlungszeit), die in dynamischen
Umfeldern negativ wirkt (zum Beispiel verpasstes Zeitfenster einer Marktoption).
Zudem können Wettbewerbsvorteile so nur bedingt erzielt werden, da externe Ressourcen auf effizienten Faktormärkten gehandelt werden (vgl. Barney 1986).
Daher erscheint gerade im Innovationskontext die koordinative Umsetzung, zumindest
unter der Randbedingung geringer Latenz, zielführend. Ressourcenorientiert wird dies
mit dem Ansatz der Dynamic Capabilities beschrieben. Dieser baut auf dem „Ressource Based View“ (RBV) auf und versteht die Organisation als dynamisches Netzwerk
von Ressourcen. Wettbewerbsvorteile werden durch geeignete (Re)Konfiguration
dieser Ressourcennetzwerke in Reaktion oder besser Antizipation auf volatile Marktbedingungen erzielt, indem neu entwickelte Kompetenzen als Innovationen am Markt
kommerzialisiert werden (vgl. Hill/Rothaermel 2003).
Dieser stellt eine koordinative Herausforderung dar, da das Zusammenwirken beziehungsweise die Vernetzung strategischer Ressourcen kontinuierliche Weiterentwicklung erfordert. Dies betrifft vor allem Elemente der strategischen Führung
(vgl. Teece/Augier 2007). Strategische Führung ist der Rahmen, in dessen Grenzen
Aktivitäten zielgerichtet ablaufen, das heißt Ressourcen so koordiniert werden, dass
sie die Erreichung der Unternehmensziele unterstützen. Diversity im Sinne der systematischen Betrachtung individueller fach- und persönlichkeitsbezogener Kompetenzen
stellt dafür einen geeigneten Ansatz bereit.
In einem Netzwerk von Ressourcen, symbolisiert durch „Kanten“ koordinativer Routinen und „Knoten“ aktiver Ressourcen (zum Beispiel Mitarbeiter, Maschinen), fokussiert strategische Führung als Rahmen traditionell eher auf die Kanten. Dies setzt
voraus, dass die betroffenen Knoten Veränderungen akzeptieren. Bei physischen
Ressourcen (zum Beispiel Maschinen) kann das angenommen, aber bei Humanressourcen nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Vielmehr wird Veränderung
von Individuen oft als belastender Destabilisierungsprozess wahrgenommen, in dem
besondere Fähigkeiten verlangt werden (vgl. Kavanagh/Ashkanasy 2006). Induzierte
Veränderung zu ertragen ist hier jedoch nicht mehr als ein Hygienefaktor. Die Rand-
6
Guido Baltes, Antje Freyth
bedingung geringer Latenz fordert zusätzlich, dass jedes Individuum im eigenen Einflussbereich notwendige Veränderung antizipiert, initiiert und aktiv gestaltet. Daher
haben individuelle Veränderungsfähigkeiten handelnder Personen starken Einfluss auf
die Formulierung, Anpassung und Umsetzung von Strategien unter sich verändernden
Rahmenbedingungen (vgl. Hinterhuber/Popp 1993).
Dies kann als ein Problemlösungsprozess aufgefasst werden, dessen Lösungsraum
direkt bestimmt wird von der Diversität beteiligter Individuen. Organisationale Veränderungsfähigkeit wird daher von dem für die Organisation zugänglichen Portfolio an
Fähigkeiten Einzelner im Umgang mit Veränderungen abhängen. Daher gewinnen
individuelle Veränderungsfähigkeiten als Schlüsselfaktor an Bedeutung und die Arbeitswelt sucht folgerichtig nach Persönlichkeiten, die sich selbst „klug“ verhalten und
andere so in Veränderungsprozessen führen können. Diese besondere Führungsstärke
wird als Schlüsselkompetenz und Voraussetzung für die Übernahme einer Führungsrolle bewertet (vgl. Linneweh/Hofmann 2003, S. 100).
Individuelle Veränderungsfähigkeiten sind demnach insbesondere in volatilen Umfeldern ein Schlüsselfaktor für die Fähigkeit zur strategischen Innovation. Zur unternehmerischen Steuerung müssen diese individuellen Veränderungsfähigkeiten sowohl
konzeptioniert als auch operationalisiert werden. Als Ausgangspunkt für ein solches
Verständnis erfolgt eine Betrachtung der vielfältige Perspektiven individueller Veränderungsfähigkeit in der Literatur. Aufgrund der eingesetzten Methoden in den verschiedenen Disziplinen ist die Vollständigkeit der Beschreibung, bezogen auf die hier
zugrunde liegende Fragestellung, jeweils begrenzt. Daher ist es zweckmäßig und
notwendig, eine interdisziplinäre und integrative Sichtweise zu erarbeiten.
Als übergeordneter Rahmen kann die Strukturanthropologie dienen, die grundlegend
die Veränderungsfähigkeit des Menschen betrachtet. Die Neurobiologie („Neuroscience“) bestätigt und konkretisiert deren Ableitungen auf Basis naturwissenschaftlicher
Methoden und Messverfahren. Die darauf folgende Analyse relevanter Richtungen der
Psychologie verstärkt bzw. ergänzt diese Erkenntnisse aus ihrer jeweiligen Perspektive. Dabei werden die basalen Ebenen der individuellen und verhaltensbezogenen
Psychologie beleuchtet und ihre anwendungsorientierten Bereiche betrachtet.
2.1 Strukturanthropologie: Der Mensch auf lebenslanger Suche in Veränderung
Die philosophische Anthropologie reflektiert den Menschen als zentrales Element der
Umwelt. Die darin angesiedelte Strukturanthropologie (Rombach 1993) philosophiert
im Konkreten über die Möglichkeiten des Menschen zur Gestaltung seines Wesens.
Team-Diversity erfassen und nutzen
7
Die Strukturanthropologie beschreibt den Menschen als lebendige Struktur: „Der
Mensch ‚ist‘ nicht, er ‚sucht sich‘ und benötigt dazu ein ganzes Leben“ (ebd., S. 97).
Das Wesen des Menschen wird postuliert als sich stetig durch Interaktion mit der
Umwelt (Situationen) selbst suchend, dabei entwickelnd und strukturaufbauend. Die
Herausbildung von Struktur ist eine dem Menschen naturgegebene und ihm innewohnende Eigenschaft, die sich in Interaktion mit der Außenwelt, d.h. als Reaktion auf
Ereignisse der Umwelt, manifestiert.
Wesentlich für die Strukturentwicklung ist die persönliche Annahme beziehungsweise
die Akzeptanz einer gegebenen Situation. Grundvoraussetzung hierfür wiederum ist
Offenheit gegenüber Neuem. Die Annahme einer Situation ist von Gefühlen gekennzeichnet, wobei gilt, dass positive Gefühle die Akzeptanz der Umwelt unterstützen
(ebd., S.133 ff.).
Daraus folgt die Erkenntnis, dass Menschen von Natur aus durch Interaktion mit der
Umwelt veränderungsfähig sind, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Als
förderlich im Sinne einer positiven Ausprägung individueller Veränderungsfähigkeit
können abgeleitet werden:
• Akzeptanz von gegebenen Situationen
• Offenheit gegenüber Neuem
• Verbindung neuer Situationen mit positiven Gefühlen
Die Erkenntnisse der Neurobiologie bestätigen und konkretisieren dies durch naturwissenschaftliche Methoden.
2.2 Neuroscience: Positive / negative Trigger physisch verankerter Veränderung
Die Neuroscience untersucht organische Vorgänge in Gehirn und Nervensystem. Aus
dieser Sicht entspricht individuelle Veränderung dem Aufbau neuer neuronaler Strukturen durch die Konditionierung neuer Stimuli.
Betont wird die Plastizität des menschlichen Gehirns durch äußere Stimulation
(vgl. Kandel 2006, S. 185 ff.). Die dabei stattfindende Entstehung neuronaler Strukturen entspricht dem Lernen. Lernvorgänge vollziehen sich umso positiver, je häufiger
und intensiver stimuliert wird. Als beeinflussende Faktoren sind Aufmerksamkeit,
Motivation und Emotion zu nennen (vgl. Spitzer 2006, S. 141 ff.). Aufmerksamkeit
betrifft die Aktivierung bestimmter Hirnareale, die eingehende Information in einem
Kontext ordnen. Motivation wird in Individuen inhärent erzeugt als eine Art internes
Belohnungssystem. Wichtige, neue und informationsenthaltende Stimuli, die mit
positiven Emotionen assoziiert sind, aktivieren dieses Motivationssystem. Weiterhin
8
Guido Baltes, Antje Freyth
können positive zwischenmenschliche Beziehungen als ein „Schutzfaktor“ gegen
physischen und psychischen Stress verstanden werden (Rüegg 2007, S. 91 f).
Die sogenannten „Spiegelneuronen“ spiegeln unbewusst ein beobachtetes Verhalten
wider, indem sie beim Beobachter die Hirnareale aktivieren, die für die (nur beobachtete) Handlung benötigt werden – ohne dass der Beobachter diese Handlung tatsächlich ausführen würde. Dieses Vermögen ist in Menschen unterschiedlich ausgeprägt
(Kandel 2006, S. 413 ff.). Spiegelneuronen aktivieren auch Empfindungen, wie zum
Beispiel „Verunsicherung“ des Gegenübers, womit auf diese Weise auch Verunsicherung des Gegenübers auf den Beobachter gespiegelt werden kann.
Weiter bekannt ist, dass zur optimalen Potenzialnutzung verschiedener Hirnareale
(zum Beispiel des Kortex als Ort der Kognition und des limbischen Systems als Ort
der Emotionen) ein dynamisches Gleichgewicht zwischen diesen notwendig ist. Äußere Einflüsse, die auf bestimmte Erfahrungen eines Individuums treffen, können zu
einer Dominanz eines Hirnbereichs mit entsprechenden Beschränkungen der Gesamtkapazitäten des Individuums führen (Rüegg 2007, S. 80 ff.). Beispielsweise dominiert
in Zeiten hoher emotionaler Belastungen (etwa Angst, Stress) das limbische System
und blockiert dadurch den Kortex in seiner Funktion zur Problemlösung und dem
Steuern von Emotionen.
Menschen verfügen also grundsätzlich lebenslang über eine physisch angelegte Fähigkeit zur individuellen Veränderung. Weiter wirken spezifische inter- und intrapersonelle Fähigkeiten unterstützend. Folgende Fähigkeiten wirken für Betroffene von
Wandel intrapersonell unterstützend:
• Stark ausgeprägte Fähigkeit zur Aufmerksamkeit
• Fähigkeiten, den Veränderungen positiv zu begegnen
• Eigene negative Emotionen wahrnehmen und
verarbeiten vor Verbreitung durch Spiegelung.
• Blockaden vermeiden durch Erzeugen eines positiven „Gegenkontexts“
• Fähigkeit sich selbst in der Veränderung zu motivieren
• Positiver Beziehungsaufbau zu anderen als Kompensation für Stressbelastung
Interpersonell, beispielsweise in der Rolle als Führungskraft wirken unterstützend:
• Aufmerksamkeit anderer (Mitarbeiter) auf Objekte der Veränderung lenken
• Im Veränderungsprozess positive Emotionen erzeugen
• Positive Stimulatoren wiederholend nutzen
Team-Diversity erfassen und nutzen
9
• Negative Emotionen anderer zielorientiert bearbeiten
(beispielsweise konstruktiver Umgang mit Ängsten von Mitarbeitern)
• Der angstausgelöste Irrationalität und Blockaden durch sicheren Rahmen
(Prozess) für unsicheres Ergebnis (Innovation) entgegenwirken
• Motivationsförderndes Umfeld schaffen
Eine andere Perspektive auf individuelle Ausprägungen von Veränderungsfähigkeiten
nimmt die differentielle Persönlichkeitspsychologie ein.
2.3 Differentielle Psychologie:
Persönlichkeitseigenschaften als Indizien für Veränderungsfähigkeit
Die Differentielle Psychologie beschäftigt sich mit Merkmalen einer Person, die zumindest eine gewisse Stabilität aufweisen (Renner/Salewski 2009, S. 16). Analysiert
werden Persönlichkeitseigenschaften1 und menschliche Interessen2. Ziel ist das Erkennen von Gesetzmäßigkeiten der Motivation menschlichen Verhaltens.
Mount/Murray (2005) zeigen die besondere Rolle der Eigenschaften „Offenheit für
Neues“ und „Extraversion“ im Kontext von Veränderungsprozessen. Demnach sind
diese Eigenschaften eng assoziiert mit dem persönlichen Wachstumsstreben. Voraussetzung dieses Wachstumsstrebens ist die Bereitschaft zur Veränderung. Introvertierten wiederum gelingt es durch vermehrte Fähigkeit zur mentalen Selbstregulation,
entspannt mit neuen Situationen umzugehen. Innerhalb von Gruppen kann diese Gelassenheit zu einem positiveren Klima beitragen (Kosuch 2008). Des Weiteren benötigen Extravertierte hohe Aktivierungspotenziale von Veränderungsreizen und Introvertierte geringe Aktivierungspotenziale (Eysenck 1991).
Das Wissen über die unterschiedliche Reizschwelle ermöglicht daher eine typgerechte
Konfrontation mit Veränderung. Den Persönlichkeitsmerkmalen „interne Kontrollüberzeugung“, „Selbstwirksamkeit“, „Selbstwertgefühl“, „positives Gefühlsleben“,
„Offenheit für Erfahrungen“, „Toleranz von Mehrdeutigkeiten“ sowie „Risikoaffinität“ wird eine positive Wirkung bei der individuellen Bewältigung des organisationalen Wandels zugeschrieben (vgl. Judge et al. 1999).
1
Vgl. „Big 5 Modell“, unabhängige Eigenschaften: Extraversion, Verträglichkeit,
Neutrozitismus, Gewissenhaftigkeit und Offenheit für Neues (McCrae/Costa 1987)
2
Vgl. „Big 6 Modell“, unabhängige persönliche Interessen: realistic,
investigative, artistic, enterprising, conventional (Holland 1985)
10
Guido Baltes, Antje Freyth
Das Riemann-Thomann-Modell (vgl. Riemann 2003) beschreibt Persönlichkeitseigenschaften an den Polaritäten „Wechsel“ und „Dauer“. Individuen mit dem Bedürfnis
nach Veränderungen sind danach kreativ, spontan, flexibel. Individuen mit dem Bedürfnis, Dinge zu bewahren, sind pflichtbewusst, kontrollierend und planend. Renner/Salewski (2009, S. 114 ff.) schließen auf die besondere Bedeutung der dispositionalen Neugier und Kreativität, um sich selbst an Veränderungen in dynamischen
Situationen anzupassen.
Comfort/Franklin (2009) beschreiben spezifische Persönlichkeitseigenschaften und
Einstellungen im Kontext internationaler Veränderungsprozesse, die Menschen blockieren oder positiv unterstützen. Es wird abgeleitet, dass Individuen, für die „Conservation values“ wichtig sind, Veränderungen nur schwer akzeptieren (Schwartz 1999).
In diesem Sinne zählen zu den potenziellen Blockern für Veränderung:
• Conformity: Individuum verfolgt bestehende Regeln,
zeigt ordnungsgemäßes Verhalten
• Security: Individuum vermeidet Gefahr, ist organisiert,
ordentlich und findet soziale Stabilität wichtig
• Tradition: Individuum ist zufrieden mit dem, was es hat, findet Religion
und Bräuche wichtig, tut Dinge auf traditionelle Art und Weise, ist bescheiden
Als Attribute, die potenziell Offenheit gegenüber Veränderungen unterstützen, werden
dagegen genannt:
• Hedonism: Individuum strebt Spaß und Freude an, will das Leben genießen
• Stimulation: Individuum sucht neue Aktivitäten,
mag Überraschungen und Spannung
• Self-direction: Individuum ist kreativ, ideenreich, mag freie Entscheidungen,
ist mutig, mag es unabhängig und selbstständig zu sein
Damit kann abgeleitet werden, dass menschliche Attribute mit positiver oder negativer
Wirkung auf die Einstellung gegenüber Veränderungen und im Umgang mit Veränderungen individuell variieren:
• „Extraversion“ und „Offenheit“ sind Voraussetzungen für individuelle Veränderungsfähigkeit. Als Indizien gelten Lebensfreude, Neugierde, Mut, Kreativität,
Selbstständigkeit, Unabhängigkeit
Team-Diversity erfassen und nutzen
11
• Veränderungsfähigkeiten zeigen sich durch die Präferenz für persönliches Wachstum und die daraus resultierende Lernbereitschaft
• Als Veränderungsfähigkeiten beschränkend gelten: Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Konformität, Vorsicht, Pflichtbewusstsein, Traditionsbewusstsein, Verlässlichkeit, Kontrolle, Ordnung und Planung beschränken eher die individuelle Veränderungsfähigkeit
Führungskräfte sollten Wissen über unterschiedliche Veränderungscharaktere besitzen
und ihr Führungsverhalten flexibel typ-adäquat ausrichten, um wirksam die unterschiedlichen Mitarbeitercharaktere in Veränderung zu führen.
Unabhängig von der Persönlichkeitsstruktur lassen sich Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens innerhalb von Veränderungsprozessen durch die Sozialpsychologie
beschreiben.
2.4 Sozialpsychologie: Individuelles Risikoverhalten in unsicherer Veränderung
Die Sozialpsychologie beschreibt menschliches Verhalten in Gruppen. Die darin
angesiedelte Prospect-Theory formalisiert reales, individuelles Verhalten unter Risiko
(vgl. Tversky/Kahneman 1979, 1981). Da Risiko als natürlicher Begleiter von Wandel
gilt, kommt ihr eine hohe Relevanz zu.
Verhalten variiert abhängig vom erwarteten Erfolg einer Entscheidung, der über einen
neutralen Referenzpunkt definiert ist. Menschen verhalten sich risikoavers bei der
Suche nach potenziellen Gewinnen beziehungsweise zur Wahrung eines Besitzstands
und eher risikofreudig bei der Vermeidung potentiell drohender Verluste. Generell
entscheiden Individuen in Situationen hoher Nöte tendenziell risikofreudig und bei
geringen Nöten risikoavers (vgl. Mishra/Lalumière 2010). Wahrscheinlichkeiten werden daher abhängig von den Rahmenbedingungen nicht objektiv interpretiert.
Daher wird die Bewertung einer Handlung durch positive/negative Problemformulierung gesteuert. Einfache Darstellung komplexer, verbundener Handlungsoptionen
führt zu einer objektiveren Beurteilung. Die Bewertung von Risiken erfolgt in mehrstufigen Entscheidungsprozessen stets neu und eine risikoneutralisierende Kommunikation wird gegenüber einer risikoverringernden bevorzugt. Die Bewertung eines
Erfolges ist immer abhängig von dem individuellen Referenzerfolg als Maßstab und
ergibt sich aus einer gesamtheitlich wahrgenommenen Strategie der Teilerfolge
(vgl. Tversky/Kahneman 1981).
Diese Ergebnisse legen nahe, individuelle Risikobereitschaft in unsicheren Veränderungssituationen bewusst zu gestalten, um geeignete Handlungsweisen zu induzieren:
12
Guido Baltes, Antje Freyth
• Individuen lehnen Veränderungen tendenziell ab bei Furcht vor drohendem Verlust
(zum Beispiel von Status, Besitzständen, Sicherheit, Routinen). Dies erklärt, warum mittlere Führungsebenen oft Widerstand gegen Veränderungen leisten
• Risikobereitschaft für Veränderungen kann erhöht werden, indem die Rahmenbedingungen für das Individuum so gestaltet werden, dass es in eine potenzielle Verlustposition gerät (Entzug von Rückzugsmöglichkeiten), in der nur mit Mut zur
Veränderung und zum Risiko gewonnen werden kann3
• Schlüsselpersonen (beispielsweise Führungskräfte) sollten komplexe Herausforderungen positiv und vereinfacht darstellen, die relevanten Informationen nachvollziehbar und eindeutig kommunizieren, Veränderungen immer in einen gesamtheitlichen Rahmen setzen und individuelle Perspektiven berücksichtigen
Individuelle Adaptionsprozesse als Folge von durchzuführenden Handlungen werden
innerhalb der experimentellen Psychologie beschrieben und offenbaren dadurch weitere förderliche Attribute in Veränderungsprozessen.
2.5 Experimentelle Psychologie:
Persönlichkeitseigenschaften beeinflussen Anpassungsgeschwindigkeit
Die experimentelle Psychologie analysiert Verhaltensweisen mit naturwissenschaftlichen Arbeitsmethoden. Das darin angesiedelte Aufgabenwechsel-Paradigma analysiert
die Veränderung individueller Leistung in Anpassungsprozessen. Das Untersuchungsmuster besteht darin, dass Individuen neue Aufgaben bis zu einem spezifischen
Kompetenzgrad üben. Danach wird die Aufgabe verändert, so dass die Individuen das
bereits Gelernte anwenden. Dies entspricht einem Adaptionsprozess des existierenden
Wissens, dem eine Phase des Neuerlernens folgt.
Es kann gezeigt werden (vgl. Lange/Bliese 2009), dass die unmittelbaren Leistungsabfälle bei Individuen mit hohen kognitiven Fähigkeiten verstärkt sind. Dieser Einfluss
kognitiver Fähigkeit wird nach einer Eingewöhnungsphase neutralisiert. Beschleunigte
Anpassungsfähigkeit folgt dagegen aus Eigenschaften wie Offenheit und aus geringem
Pflichtbewusstsein (vgl. LePine et al. 2000). Weiterhin adaptieren bilinguale im Vergleich zu monolingualen Menschen tendenziell schneller (vgl. Prior/MacWhinney
3
Dies nutzte schon Cortés bei seinen Eroberungen in Südamerika: Nach der Landung ließ er die
Schiffe verbrennen (Cortés, Hernán: Die Eroberung Mexicos. Drei Berichte an Kaiser Karl V.)
Team-Diversity erfassen und nutzen
13
2010). Mit Zunahme des Alters geht die Anpassungsgeschwindigkeit teilweise zurück
(vgl. Madden et al. 2010).
Adaptionsprozesse werden auch auf Teamebene beobachtet. Ergebnisorientierte
Teams sind langsamer als lernorientierte. Ergebnisorientierung zielt darauf, positive
Rückmeldungen zu erhalten oder negative zu vermeiden. Dies entspricht dem Wunsch
nach Vermeidung von Statusverlust. Lernorientierung dagegen zielt darauf, neue
Sachverhalte zu verstehen und Fachkompetenz aufzubauen (vgl. LePine 2005).
Menschen adaptieren also Wissen in dynamischen Situationen abhängig von ihren
kognitiven Fähigkeiten, ihrer Persönlichkeit, ihrem Alter und kulturellem Hintergrund
unterschiedlich schnell und erfolgreich, potenziell gilt:
• Hohe kognitive Fähigkeiten und hohes Pflichtbewusstsein
verlangsamen die individuelle Veränderung
• Offenheit und Bilingualität unterstützen die Anpassungsfähigkeit
• Lernorientierung unterstützt positiv, Ergebnisorientierung/Statusdenken
behindert negativ Adaptionsprozesse in Teams
Daher können Führungskräfte durch das Bereitstellen eines ausreichenden zeitlichen
Rahmens und die Akzeptanz von Fehlern als Begleiterscheinung individuelle Veränderung unterstützen.
Die Arbeits- und Organisationspsychologie integriert die vorgenannten und weitere
Erkenntnisse im Bezugsrahmen der Organisation.
2.6 Arbeits- und Organisationspsychologie:
Kompetenzen für die Gestaltung des Wandels
Gegenstand sind hier die Interaktionen von Individuen und Arbeitsabläufe in Organisationen. Es wird die Frage gestellt nach relevanten Kompetenzen zur Bewältigung
wachsender Dynamik und Komplexität (Sarges 2006, S. 141).
Selbstorganisiertes Lernen (Sarges 2000) gilt als Grundvoraussetzung zur schnellen
Adaption in dynamischen Prozessen. Diese Kompetenz beschreibt das Lernpotenzial
(= Fähigkeit + Wille) in sämtlichen kognitiven, emotional-motivationalen und sozialen
Bereichen. Selbstreflexives Wahrnehmen beziehungsweise Achtsamkeit ist wiederum
die Voraussetzung für einen selbstgesteuerten Lernprozess sowie für eine bewusste
Selbstführung auch in emotional herausfordernden Situationen (vgl. Goleman 2001, S.
67ff.). Vernetztes Denken (Gomez 2001) gilt als notwendig in komplexen Veränderungen. Ein ganzheitlicher Denkprozess mit unterschiedlichen Perspektiven ermöglicht
14
Guido Baltes, Antje Freyth
unter Berücksichtigung von systemischen und temporalen Aspekten subtil zu intervenieren. Intuition (Schanz 1997) wird verstanden als ein Schlüssel für erfolgreiche
Planung in Veränderungsprozessen und dient dabei als Orientierungshilfe bei Entscheidungen unter Unsicherheitsbedingungen. Umsetzungskompetenz (Wunderer/Bruch 2000, S. 68) gilt als eine spezifische Handlungskompetenz. Sie beinhaltet
Fähigkeits- und Motivationspotenzial zur wertschöpfenden Implementierung von
Neuem in einem spezifischen sozial-strukturellen Kontext.
Weiter werden Wandlungs- und Veränderungskompetenz diskutiert. Wandlungskompetenz (Scott-Jackson 2000) beschreibt die Aufrechterhaltung von Motivation und
Leistung trotz Unsicherheiten und Störung sowie die Nutzung gebotener Chancen und
Aufrechterhalten mentaler und körperlicher Gesundheit trotz Stress. Veränderungskompetenz (Jochmann 1999) bezieht sich vor allem auf Führungskräfte und ein effektives Projektmanagement. Förderlich sind Frustrationstoleranz und Beharrlichkeit, ein
hohes intellektuelles Potenzial, Offenheit und Neugierde, aktive persönliche Verbesserungsmotivation und die Bereitschaft für Verbesserung in den Dimensionen Knowhow und Anwendung. Wandel initiieren und gestalten sowie Beharrungstendenzen
überwinden, sowie rasch und flexibel handeln wird ebenso dazugezählt (Sauder 1997).
Wandel zu initiieren wird weiter unterstützt durch das kreative Potenzial, Chancen am
Markt zu entdecken. Durch hinterfragen, beobachten, experimentieren und vernetzen
der Umwelt werden scheinbar unverbundene Phänomene in innovative Konzepte
überführt („Innovator’s DNA“, Dyer et al. 2009). Zu den Kompetenzpotenzialen, die
die Wandlungsfähigkeit von Führungskräften unterstützen, werden auch Proaktivität,
Ausdauer und spezifisches Wissen gezählt (Krummacker 2007, S. 223 ff.).
„Attributes“4 (Caldwell 2003, S. 285 ff.) von „Change Leadern“ und „Change Managern“ sind:
• Change Leader: Inspiring vision, Entrepreneurship, Integrity and honesty, Learning
from others, Openness to new ideas, risk-taking, adaptibility, flexibility, creativity,
experimentation, using power
4
„… a mix of skills, knowledge, capabilities, competencies and personal characteristics”
(Caldwell 2003, S. 287).
Team-Diversity erfassen und nutzen
15
• Change Manager: Empowering others, Team building, Learning from others,
adaptability and flexibility, Openness to new ideas, managing resistance, conflict
resolution, networking, knowledge of the business, problem solving
Förderliche Rahmenbedingungen für Veränderungsprojekte fordern von Führungskräften beispielsweise zwischenmenschliche und soziale Kompetenz sowie den frühzeitigen Einbezug von Projektbetroffenen und deren Sensibilisierung. Hierfür ausschlaggebend sind Kommunikationskompetenzen der Führungskräfte, welche die Projektnotwendigkeit und Rahmenbedingungen damit klar, eindeutig und glaubwürdig verdeutlichen (Greif et al. 2001). Umsetzer von Veränderungen benötigen zur erfolgreichen Gestaltung eine unmittelbare Rückkopplung für ihr Handeln (vgl. Neilson et al.
2009). Es kann gezeigt werden, dass je zeitnäher zu relevanten Handlungen und transparenter für die Beteiligten Rückmeldung von Betroffenen auf Führungskräfte in
Veränderung trifft, desto schneller stellen sich dort Lernprozesse ein, die die Effizienz
in Veränderungsprozessen verbessern (Leitl 2010). Die Literatur zur transformationalen Führung zeigt weitere Hinweise für Veränderungsunterstützung durch Schlüsselpersonen (vgl. Bass/Avolio 1990). Führungskräfte treiben Veränderungsprozesse
voran durch eine integere enthusiastische Ausstrahlung, inspirierende Motivierung,
Schaffen eines intellektuell anregenden Umfeldes sowie individuelle Wertschätzung
von Mitarbeitern.
3
Veränderungskompetenz als integrierter Bezugsrahmen
Die Integration der Erkenntnisse aus den vorangegangenen Perspektiven zeigt, dass
bestimmte Persönlichkeitsmerkmale und -eigenschaften, Fähigkeiten, Kompetenzen
und Wissen den Umgang in und mit dynamischen Situationen und damit die Fähigkeit
zu Veränderung und Innovation positiv beeinflussen können. Diese sind in unterschiedlicher Ausprägung in Individuen vorhanden und beschreiben deren persönliche
Veränderungsfähigkeit. Im Folgenden werden die gewonnenen Erkenntnisse in ein
Kompetenzmodell integriert und umgesetzt. Hierzu wird zunächst die grundsätzliche
Eignung des Kompetenzkonzeptes hinsichtlich der ermittelten Persönlichkeits- und
handlungsorientierten Merkmale dargelegt.
3.1 Zur Eignung des Kompetenzkonzepts als Bezugsrahmen
Bis heute hat sich kein einheitlicher Kompetenzbegriff gebildet. Weit verbreitet ist ein
Verständnis von Kompetenzen im Sinne von „Dispositionen selbstorganisierten physischen und psychischen Handelns“ (Erpenbeck/Rosenstiel 2007, XIX).
16
Guido Baltes, Antje Freyth
Die Betonung der Handlungszentrierung (McClelland 1973) ermöglicht die Evaluierung der jeweiligen Disposition durch Zuschreibung aufgrund von Beobachtungen
konkreter Handlungen. Ein Kompetenzverständnis im Sinne von Konstrukten menschlicher Leistung, die beobachtbar und messbar sein müssen (Sonntag/Schmidt-Rathjens
2004), entspricht dem Anliegen des vorliegenden Beitrags zur Operationalisierung von
Innovationsfähigkeit.
Als
situationsübergreifendes
Handlungsrepertoire
(vgl. Wunderer/Bruch 2000, S. 70) ermöglicht „Veränderungskompetenz“ stabile
Übertragbarkeit in unterschiedliche, von Wandel geprägte Situationen. Die Verankerung im Selbstorganisationsbereich (vgl. Weinert 2001, S. 45ff.) betont die Bedeutung
dieses Konstrukts im Kontext der erfolgreichen Bewältigung komplexer, offener
Veränderungssituationen. Kontexte mit geringem Komplexitätsgrad können dagegen
durch automatisierte Fertigkeiten bewältigt werden (vgl. Hacker 1998, S. 655). Auch
die Forderung nach einer Anwendung des Kompetenzkonzepts nur in Kontexten, in
denen Lernprozesse zu den erforderlichen Voraussetzungen zählen (vgl. Weinert 2001,
S. 45 ff.), kann für die Bewältigung innovationsgetriebener dynamischer Prozesse
idealtypisch bejaht werden.
Veränderungskompetenzen
schließen
Wissen
und
Qualifikationen
ein
(vgl. Erpenbeck/Rosenstiel 2007, XXXVI) und sind immer auch Fähigkeiten im Sinne
verfestigter Systeme verallgemeinerter psychophysischer Handlungsprozesse
(vgl. Hacker 1973, S. 500). Umgekehrt sind Fähigkeiten jedoch nicht immer Kompetenzen.
Die vorgelagerte interdisziplinäre Analyse greift sowohl ein persönlichkeitsbezogenes
Kompetenzverständnis (vgl. Sarges 2000) als auch ein handlungsorientiertes Verständnis auf (vgl. Erpenbeck/Rosenstiel 2007, XXXVI). Die Ergebnisse der Analyse
lassen sich zum Teil der handlungsorientierten Perspektive (zum Beispiel Fertigkeiten,
Fähigkeiten, Kenntnisse) und zum Teil der persönlichkeitsbezogenen Perspektive
(zum Beispiel Merkmale, Eigenschaften) zuordnen. Diese Perspektiven können integriert werden (vgl. Bartram et al. 2002), wobei die herausgestellten relevanten Persönlichkeitsmerkmale unter dem Begriff der Kompetenzpotenziale subsumiert werden.
Die Wahrscheinlichkeit zur Überführung von Kompetenzpotenzialen in Kompetenzen
sowie von Kompetenzen als Handlungsrepertoire in konkrete Handlungen könnte
durch Kontextfaktoren beeinflusst sein (vgl. Bartram et al. 2002, S. 7 ff.; Wunderer/Bruch 2000, S. 93). Diesem Verständnis folgend lassen sich die in der vorhergehenden Analyse aufgezeigten förderlichen oder hinderlichen Rahmenfaktoren den
Kontextfaktoren zuordnen.
Team-Diversity erfassen und nutzen
17
Erweitert werden kann das Kompetenzverständnis um die Handlungsbereitschaft
(vgl. Staudt et al. 2002, S. 36). Aufgrund fehlender Empirik zur Spezifizierung der
Handlungsbereitschaft wird der Aspekt im Weiteren jedoch ausgeklammert.
Zusammenfassend ist die idealtypische Eignung des Kompetenzkonzepts für die vorliegende Fragestellung festzustellen, so dass folgendes Kompetenzverständnis abgeleitet wird:
Kompetenzen sind ein beobachtbares stabiles Verhaltensrepertoire für selbstorganisiertes Handeln, das auf spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen (Kompetenzpotenzialen) basiert und dessen Ausprägung von Kontextfaktoren beeinflusst wird.
Veränderungskompetenzen befähigen ein Individuum, seine Funktion in einer Organisation selbstorganisiert und effektiv so zu erfüllen, dass damit die Erreichung der Ziele
von Innovation und Wandel unterstützt wird und das Individuum leistungsfähig bleibt.
3.2 Kompetenzfelder der Veränderungsintelligenz
Basierend auf diesem Kompetenzverständnis werden die aus der interdisziplinären
Analyse abgeleiteten Erkenntnisse strukturiert. Ein Ansatz zur Systematisierung von
Kompetenzen ist die Betrachtung ihrer Relationen (vgl. Erpenbeck/Rosenstiel 2007,
XXIII). Eine Kompetenz kann sich demnach beziehen auf eine Subjekt/SubjektRelation (im Sinne einer reflexiven Betrachtung des handelnden Objekts oder als
Relation bezogen auf Dritte) oder auf eine Subjekt/Objekt-Relation. In Ergänzung
können Relationen zur spezifischen Tätigkeit hergestellt werden. Die nachfolgende
Strukturierung integriert beide Ansätze und bündelt die Erkenntnisse der Analyse in
vier Kompetenzfelder: (1) Sich selbst führen, (2) Andere (in Veränderungsprozessen)
führen, (3) Wandel initiieren und (4) Wandel gestalten.
Sich selbst führen in Veränderungsprozessen, also Wandel persönlich bewältigen,
erfordert Kompetenzen, die ein Individuum dazu befähigen, sich selbst zielführend
und authentisch zu ändern, auch in unvorhersehbaren und von Unsicherheit geprägten
komplexen Veränderungsprozessen selbstorganisiert, handlungsfähig, lösungsorientiert und zu hoher Leistung fähig zu bleiben. Der Fokus liegt auf den Kompetenzen in
der Rolle als Betroffener von Veränderungsprozessen und der Führung der eigenen
Person – jedoch ist eine hohe Ausprägung in diesem Kompetenzfeld die wichtigste
Voraussetzung dafür, Kompetenzen in den weiteren Feldern Andere führen und Wandel gestalten erfolgreich umzusetzen.
18
Guido Baltes, Antje Freyth
Andere führen in Veränderungsprozessen erfordert Kompetenzen, die der erfolgreichen Durchführung von Aufgaben bezogen auf die wirksame Führung Dritter in Veränderungsprozessen zugrunde liegen. Der Fokus liegt auf den Kompetenzen in der
Rolle als Führungskraft in Veränderungsprozessen.
Wandel initiieren in Veränderungsprozessen erfordert Kompetenzen, die der erfolgreichen Initiierung von Innovation und Wandel zugrunde liegen. Hier kann kein eindeutiger Rollenfokus hergestellt werden. Ein möglicher ist der des „Change Leader“, der
dem Topmanagement zugeordnet wird (vgl. Caldwell 2003). Jedoch wird im vorliegenden Beitrag hierarchieübergreifende Initiierungskompetenz gefordert und daher
wird diese Kompetenz unabhängig von der Zuordnung zu einer spezifischen Rolle
erfasst.
Wandel gestalten in Veränderungsprozessen erfordert Kompetenzen, die für eine
förderliche Gestaltung der Rahmenbedingungen für Innovation und Wandel Voraussetzung sind. Dies umfasst insbesondere die Gestaltung von Faktoren eines wandlungskompetenzfördernden Kontexts. Der Fokus liegt hier auf der Rolle des Rahmengebers, zum Beispiel eines Veränderungsmanagers.
Der verbindende Aspekt der verschiedenen Kompetenzfelder ist der „intelligente“
Umgang mit Veränderungen – jeweils in den verschiedenen Relationen. Basierend auf
dem multiplen Intelligenzansatz (vgl. Gardner 2002), der unterschiedliche beruflich
relevante alltagspraktische Fähigkeiten berücksichtigt, werden die vier Kompetenzfelder daher im Konstrukt der „Veränderungsintelligenz“ gebündelt. Veränderungsintelligenz wird demnach durch ein Kompetenzmodell erfasst, dass die Kompetenzen und
Potenziale beschreibt, die ein Individuum befähigen, innovative, offene, komplexdynamische Situationen selbstorganisiert und effektiv zu gestalten und das jeweils
entsprechend dem relevanten Kontext.
Die Erkenntnisse der vorhergehenden interdisziplinären Analyse werden den vier
Kompetenzfeldern zugeordnet. Kompetenzpotenziale lassen sich jedoch kaum zweifelsfrei den einzelnen Kompetenzfeldern zuordnen. Daher werden Kompetenzpotenziale (zum Beispiel Extraversion, Offenheit, Neugierde, Selbstmotivation, Lernbereitschaft, Spontaneität, Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein, Optimismus) nachfolgend
in Gänze auf das Kompetenzmodell bezogen. Die in der vorhergehenden Analyse
herausgestellten, veränderungsrelevanten Wissenskomponenten werden ebenso allen
Kompetenzfeldern zugeordnet, jeweils in unterschiedlichen Ausprägungen. Die Erkenntnisse über Kontextfaktoren (zum Beispiel Lenkung der Aufmerksamkeit auf
Veränderungsobjekte, wiederholende positive Stimulation, Beherrschbarkeit in Unsi-
Team-Diversity erfassen und nutzen
19
cherheit herstellen, Schaffung einer Verlustposition zwecks Erhöhung der Risikobereitschaft, Aufbau von Informationsroutinen, ausreichende Konzeptionierung, Ressourcen) werden vor allem in die Kompetenzfelder Andere führen und Wandel gestalten integriert, die auf den Rollenkontext des Rahmengebers fokussieren.
Im Folgenden wird die Operationalisierung des Kompetenzmodells durch die beispielhafte Zuordnung von Teilkompetenzen zu den vorgehend ausgeführten vier Kompetenzfeldern aufgezeigt:
• Sich selbst führen:
Selbstwahrnehmung/Achtsamkeit, selbstorganisiertes Lernen, Selbstmotivation,
Selbstführung, Stressmanagement, vernetztes Denken, Intuition, Lösungsorientierung, . . .
• Andere führen:
Soziale Wahrnehmung, soziales Management, Lernorientierung, Integrität, Verantwortungsbewusstsein, Umsetzungskompetenz, Kommunikationskompetenz, . . .
• Wandel initiieren:
Innovatorenkompetenz, Kreativitätsmanagement, Durchsetzungsstärke, . . .
• Wandel gestalten:
Kontextfaktorenmanagement, Projektmanagement, Entscheidungsstärke, Konfliktmanagement, Kooperationskompetenz, . . .
Die Kompetenzen in dem Feld Sich selbst führen sind als Voraussetzung komplementär insbesondere zu den Feldern Andere führen und Wandel gestalten zu verstehen.
Zur weiteren Operationalisierung werden den einzelnen Kompetenzen konkrete und
durch Dritte im beruflichen Alltag beobachtbare Verhaltensweisen zugewiesen, die in
Teilen bereits den vorhergehenden Analysen entnommen werden können. Wesentlich
im Hinblick auf eine spätere Erfassung ist deren (a) eindeutige und (b) positive Formulierung. In diesem Sinne exemplarisch werden der „Kommunikationskompetenz“
folgende Verhaltensweisen zugeordnet:
• Er/sie lenkt aktiv die Aufmerksamkeit frühzeitig und bewusst auf das Entstehen
von Neuem
• Er/sie benennt das Neue unmissverständlich
• Er/sie formuliert die Veränderung positiv
• Er/sie stellt auch komplexe Sachverhalte einfach dar
• Er/sie macht den Ablauf des Veränderungsprozesses, soweit möglich, transparent
20
Guido Baltes, Antje Freyth
• Er/sie bietet aktiv Gespräche über das Neue an
• ...
Zur Operationalisierung der Kompetenzpotenziale werden analog identifizierte Persönlichkeitseigenschaften konkretisiert, zum Beispiel:
• Er/sie ist neugierig
• Er/sie ist offen für Neues
• Er/sie hat ein gesundes Selbstbewusstsein
• Er/sie ist optimistisch und verbreitet positive Emotionen
• ...
Die vorgenommene Systematisierung und Konkretisierung des Kompetenzmodells
bildet die Voraussetzung zur Erfassung und Entwicklung – und damit unternehmerischen Steuerung – der individuellen Kompetenzprofile und der Kompetenzvielfalt in
der Organisation.
4
Operationalisierung zum Umgang mit Veränderungsintelligenz
Auf Basis des vorhergehenden Konzepts der vier Kompetenzfelder erfolgt nun die
weitere Operationalisierung des eingeführten Konstrukts der Veränderungsintelligenz
im Sinne der Erfassung und Entwicklung von Veränderungskompetenzen.
4.1 Multi-Source-Verfahren für Erfassung von Veränderungsintelligenz
Zahlreiche Kompetenzmessverfahren haben sich in Forschung und Praxis herausgebildet (vgl. Erpenbeck/Rosenstiel 2007, XXVI ff.). Zumeist erfassen diese Verhaltensbeobachtungen im relevanten Kontext. Kritisch ist dabei jedoch die Abhängigkeit der
Beurteilung von der subjektiven Einschätzung eines Beobachters zu bewerten. Multisource-Verfahren versuchen dies durch den Einbezug und den Abgleich verschiedener
Rückmeldequellen zu entschärfen. Dadurch erfolgt eine „pseudoobjektive“ Verhaltensbeobachtung. Zur Gewährleistung dieser Objektivität ist eine systemische Auswahl der Feedbackquellen notwendig, die den konkreten Alltag aus allen relevanten
Perspektiven betrachtet. Typischerweise können als Kategorisierung Hierarchieebenen
verwendet werden (zum Beispiel Führungskraft, Mitarbeiter, Kollegen), die als
Fremdbild um eine Selbsteinschätzung ergänzt werden. Um neben möglichst objektiven (Vollständigkeit der Perspektiven) auch in der jeweiligen Perspektive statistisch
repräsentative Ergebnisse zu erhalten, sind jeweils ausreichend viele Personen zu
wählen.
Team-Diversity erfassen und nutzen
21
Diese Feedbackgeber werden jedoch die Fragen nur dann beantworten, wenn der
Prozess (a) möglichst aufwandsarm und (b) möglichst frei von Barrieren ist. Moderne
Softwaretechnologie bietet daher einen idealen Umsetzungsrahmen, der für das hier
vorgestellte Konzept als ein internetbasiertes Befragungswerkzeug eingesetzt wurde.
Dieser ohne Installationsvoraussetzungen an jedem Ort und zu jeder Zeit nutzbare
Service setzt an einer Anzahl konkreter Fragen an, deren Ableitung im vorhergehenden Abschnitt exemplarisch aufgezeigt wurde. Der Operationalisierungsprozess verlangt weiterhin nach Ausgewogenheit zwischen dem Wunsch, ein Maximum an Fragen zu berücksichtigen, und der Erfordernis, die Bearbeitungszeit für den Fragebogen
realistisch zu planen. Für eine valide Messung ist weiter die freiwillige Teilnahme und
Akzeptanz der Methodik unter den Feedbacknehmern notwendig. Letzteres kann durch
die Anonymität des Feedbacks sowie durch Aufzeigen entwicklungsorientierter Ergebnisverwendung zur Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden.
Daher wurde zur Messung der Veränderungskompetenz ein spezifisches Multi-SourceVerfahren, das 360° Change Profile®, entwickelt. Dieses erfasst die abgeleiteten Verhaltensweisen in einem ordinal skalierten System. Aufbauende statistische Analysen
erfolgen anonymisiert und automatisch. Die Interpretation wird durch spezifische
Grafiken erleichtert. Zu jedem Kompetenzfeld ist eine Evaluierung abhängig von der
Kategorie der Feedbackgeber möglich. Anzahl und Umfang der zu erfassenden Kompetenzfelder kann dem Kontext angepasst werden. Der Quervergleich zwischen Selbsteinschätzung und Feedback offenbart zu optimistische („blinder Fleck“) und pessimistische („verborgene Stärken“) Einschätzungen.
Kompetenzpotenziale können durch Erweiterung des Fragenkatalogs um Persönlichkeitseigenschaften und -merkmale erfasst werden. Diese Erweiterung geht von einer
Übersetzungsleistung des Feedbackgebers aus (zum Beispiel: An welchem Verhalten
mache ich Neugierde konkret fest?). Dies kann die Aussagekraft unter Umständen in
Frage stellen. Alternativ kann begleitend die Messung von Kompetenzpotenzialen über
validierte Persönlichkeitstests erfolgen. Diese beruhen auf einer Selbsteinschätzung
des Individuums. Der Proband beantwortet in einem hochstrukturierten, objektiven,
standardisierten Verfahren Fragen, die nach validierten Regeln ausgewertet werden.
Unter Rückgriff auf die in der Differentiellen Psychologie entwickelten Modelle stehen wissenschaftlich evaluierte Verfahren zur Verfügung. Daraus können die hier
herausgearbeiteten Persönlichkeitsmerkmale (zum Beispiel Extraversion, Offenheit für
Neues) abgeleitet werden.
22
Guido Baltes, Antje Freyth
Die Integration beider Ergebnisse, also erfasste Kompetenzen und Kompetenzpotenziale, zeichnet ein umfassendes Bild zur Beurteilung der Veränderungsintelligenz. Dies
dient der realistischen Standortbestimmung individueller Veränderungsfähigkeiten und
kann sowohl als Basis für die Bestimmung des organisationalen Kompetenzportfolios
als auch als Basis für persönliche Weiterentwicklung dienen. Darauf aufbauend kann
die gezielte Nutzung sowie der Auf- und Ausbau von Veränderungskompetenz im
Sinne der Steigerung von Innovationsfähigkeit erfolgen.
4.2 Veränderungsintelligenz nutzen und ausbauen
Um vorhandene Veränderungskompetenzen gezielt zu nutzen, liegt der Fokus auf im
Unternehmen bestehenden Stärken in einzelnen Kompetenzfeldern der Veränderungsintelligenz. Menschen werden dort eingesetzt, wo ihre individuellen Stärken zur erfolgreichen Bewältigung der Aufgaben unterstützend wirken (vgl. Malik 2006,
S. 114 ff.). Beispielsweise dienen so Stärken in den Kompetenzfeldern Sich selbst
führen und Andere führen als wichtige Auswahlkriterien zur Besetzung von Führungskräften.
Zur individuellen Kompetenzentwicklung werden vorhandene Stärken gezielt ausgebaut. Vorhandene Schwächen sollen auf ein ausreichendes „Hygieneniveau“ geführt
werden, damit sie der vollen Entfaltung der Stärken nicht im Wege stehen. So wird die
volle Nutzenentfaltung der Stärken (vgl. Malik 2006, S. 118) gefördert. Die Erlernbarkeit von Kompetenzpotenzialen ist dagegen umstritten (Ridder 1999, S. 471 ff.; Clauß
et al. 1995, S. 126). Der hier vorgestellte Ansatz zielt daher auf die Kompetenzentwicklung, setzt dazu an dem 360°Change Profile® an und nutzt darauf aufbauend in
der Praxis als wirksam gezeigte Kompetenztrainings- und -coachingmaßnahmen.
Im vorgeschlagenen Projektvorgehen ist daher die Vorgehensweise mehrstufig. Ausgehend von der Bedeutung des Feedbacks relevanter Bezugspersonen für die berufliche Weiterentwicklung (vgl. Dalton 1998), ist die Erstellung eines 360°Change Profile® und ein darauf aufbauendes persönliches Rückmeldegespräch mit einem erfahrenen Coach der erste Schritt. Letzteres fördert die Ergebnisakzeptanz, leistet Unterstützung bei der Interpretation und entfaltet Wirksamkeit in zwei Dimensionen:
1. Diagnosefunktion
Wenn Entwicklungsziele zweckgerichtet abgeleitet werden, ist dies die Basis für
eine effektive Fokussierung von Trainings- und/oder Coachinginhalten
Team-Diversity erfassen und nutzen
23
2. Entwicklungsfunktion
Durch die katalytische Wirkung nachhaltiger Lerneinsichten auf Grundlage vertiefter Reflexion von aufgedeckten Selbst-/Fremdbilddifferenzen wird selbstbestimmte
Bereitschaft zur Verhaltensänderung gefördert (vgl. Wegner 2002, S. 98 ff.)
Zugeschnitten auf die gewonnenen Erkenntnisse über relevante Aspekte der Veränderungsintelligenz wurde ein spezifisches Kompetenzentwicklungskonzept in Form von
Trainings- und Coachingmodulen erarbeitet. Die jeweils angewendeten Inhalte dieses
Konzepts differenzieren unter anderem nach der im Veränderungsprozess ausgeübten
Rolle des Individuums. Es wurde ein spezifisches Konzept für Führungskräfte im
Veränderungsprozess, für Betroffene sowie für Rahmengestalter entwickelt. Die Methodik in den einzelnen Modulen orientiert sich wiederum an den Erkenntnissen der
vorangehenden interdisziplinären Analyse, beispielsweise durch den Einsatz erlebnisaktivierender Methoden basierend auf den Erkenntnissen der Neuroscience. Die jeweils individuellen Schwerpunkte werden in Abhängigkeit der Ergebnisse aus dem
360° Change Profile® bezogen auf die Trainings- und Coachingmodule spezifiziert.
Zur Sicherstellung der Entwicklungsmaßnahme wird sechs Monate nach ihrer Beendigung erneut ein 360° Change Profile® erstellt. Dies dient der Evaluierung des Erfolgsgrads, den die Entwicklungsmaßnahme hervorbringt, und ist bei Bedarf die Voraussetzung für eine zielgerichtete weitere individuelle Entwicklungsmaßnahme, mit der der
Praxistransfer der Inhalte des ersten Entwicklungsbausteins gestärkt wird. Kein Individuum jedoch wird die oben beschriebenen Kompetenzen alle in hoher Ausprägung
aufweisen. Daher gilt es ergänzend zu den Entwicklungsmaßnahmen vorhandene
Kompetenz-Schwächen des Einzelnen im sozialen Miteinander gezielt zu kompensieren und dafür Kompetenz-Stärken durch Kooperation bewusst zu nutzen. Somit gilt es,
vorhandene Kompetenzprofile im sozialen Miteinander gezielt zu kombinieren, um die
positiven Effekte von Profilkombinationen zu nutzen.
Gerade hinsichtlich der Zusammensetzung von Teams in Veränderungsprozessen gilt,
dass
die
Vielfalt
in
personeller
Zusammensetzung
überlegen
ist
(vgl. Doppler/Lauterburg 2005, S. 439). Homogene Teamzusammensetzung, beispielsweise mit Profilen vergleichsweise stark ausgeprägter Veränderungskompetenz,
birgt dagegen Risiken. Zum einen droht „Überhitzung“, die durch zu starken Wandel
mächtiger, veränderungstreibender Manager induziert ist (vgl. Probst/Rausch 2004).
Zum anderen droht durch verminderte Empathie die Gefahr, dass Mitarbeitern mit
potenziellen Umsetzungsblockaden mit geringerem Gespür für diese Blockaden entgegengetreten wird. Förderlich dagegen ist die Balance bei der Involvierung verände-
24
Guido Baltes, Antje Freyth
rungstreibender Persönlichkeiten auf der einen Seite und solchen, die das Bestehende
bewahren wollen, auf der anderen Seite. Darüber hinaus dient die gezielte Einbindung
von Mitarbeitern, aus deren Kompetenzprofil heraus Veränderungsblockaden bekannt
sind, der frühzeitigen Antizipation von Veränderungswiderstand in der Organisation
und der proaktiven Gestaltung zum Überwinden dieser Veränderungsbarrieren. Diese
Überlegung ist auch auf Kompetenzpotenziale als differenzierendes Merkmal einzelner Teammitglieder zu übertragen. Beispielsweise wird dem Persönlichkeitsmerkmal
der „Introversion“ zwar im Vergleich zur „Extraversion“ keine positive Wirkung bei
der Bewältigung des organisationalen Wandels zugeschrieben, jedoch zeigt die einleitende Analyse (s. Kapitel 2.3 – vgl. Kosuch 2008) deutlich die förderliche Wirkung
der „Introversion“ auf den Gruppenprozess in Veränderungssituationen. Damit adressiert Team-Diversity bezogen auf individuelle Veränderungskompetenz und Kompetenzpotenziale gezielt eine der Hauptursachen für das Scheitern von Veränderungsprojekten, sprich Widerstand der Mitarbeiter.
Zwar werden auch negative Sekundäreffekte (Kommunikations- und Kooperationsbarrieren) heterogener Teambesetzung bezogen auf Teaminnovativität beschrieben
(vgl. Gebert 2004), jedoch scheint bezogen auf das primäre Ziel im Innovationskontext
– erfolgreicher Wandel – die Integration von repräsentativem Dissenspotenzial in
Veränderungsteams überlegen. Insbesondere dann, wenn ein gezieltes Diversity Management dieses Dissenspotenzial adressiert, werden die potentiell negativen Auswirkungen gemindert und wird im Gegenteil die Chance eröffnet, Widerstände und Konflikte, die sonst erst in der späten Umsetzungsphase sichtbar werden, frühzeitig zu
erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Die Effizienz dieser „front-loaded“Projektmanagement-Konzepte ist vielfach belegt (vgl. Thomke/Fujimoto 2000).
Daher ist Teambildung in Veränderungsprozessen dann erfolgversprechend, wenn
sowohl Individuen mit starker Veränderungskompetenz beziehungsweise förderlichen
Kompetenzpotenzialen teilhaben, als auch gleichermaßen gezielt Individuen hinzugezogen werden, deren Veränderungskompetenz nur schwach ausgeprägt ist (beziehungsweise deren Kompetenzpotenziale nicht förderlich scheinen). Für die Umsetzung
dieser Team-Diversity, die Veränderungskompetenzen und Kompetenzpotenziale als
Differenzierungsmerkmale nutzt, können die beschriebenen Verfahren zur Erfassung,
dem Einsatz und der Stärkung von Veränderungskompetenzen eingesetzt werden.
Team-Diversity erfassen und nutzen
5
25
Zusammenfassung / Ausblick
Der vorliegende Beitrag zeigt auf, dass Diversity in Veränderungskompetenz als
Schlüsselfaktor für strategische Innovation betrachtet werden kann. Nur dann, wenn
die Organisation auf ein geeignetes Portfolio an individuellen Veränderungsfähigkeiten zugreifen kann, ist die Art latenzfreier Adaption der Organisation zu erreichen, die
die Voraussetzung für das Überleben auf innovationsgetriebenen Märkten ist.
Die interdisziplinäre Betrachtung zeigt unterschiedliche Perspektiven individueller
Veränderungsfähigkeiten auf, die jedoch in den Bezugsrahmen der Veränderungskompetenz integriert werden können. Die Erkenntnisse dieser Analyse können entlang
handlungsorientierter (Kompetenzen) wie persönlichkeitsbezogener (Kompetenzpotenziale) Perspektiven in vier Kompetenzfeldern gebündelt werden, so dass diese die
Erfordernisse der Arbeitswelt in organisationaler Veränderung bezüglich Rollen
und/oder Kontexten reflektieren.
Überführt in das verbindende Konstrukt der Veränderungsintelligenz wird die Operationalisierung im Sinne der Erfassung, Nutzung sowie Auf- und Ausbau individueller
Veränderungskompetenz ermöglicht. Die hier vorgestellten Verfahren und Methoden
können daher von Unternehmen gezielt genutzt werden, um die organisationale Innovationsfähigkeit freizusetzen und/oder auszubauen.
Besondere Bedeutung kommt dabei dem Ansatz heterogener Teambesetzung im Sinne
der Veränderungskompetenzen zu. Die Kenntnis individueller Profile in Bezug auf
Veränderungskompetenzen ermöglicht es, gezielt Team-Diversity zu gestalten und so
einzusetzen, dass die Teamleistung heterogener Teams der Teamleistung homogener
oder in diesem Aspekt gar zufällig besetzter Teams überlegen ist. Die organisationale
Veränderungsintelligenz kann somit nicht nur über den Auf- und Ausbau jeweils
individueller Veränderungsintelligenz sondern auch über die geeignete Verknüpfung
der Potenziale heterogener Profile gesteigert werden. Damit wird ein operationalisierter Ansatz für Diversity-Management im Innovationskontext bereitgestellt, der kein
„Idealprofil“ fordert sondern im Gegenteil Ansätze für die Überlegenheit der Heterogenität in der Besetzung von veränderungsorientierten Teams aufzeigt.
Das vorgestellte Verfahren der Erfassung individueller Veränderungskompetenz ist
normativ begründet und wurde anwendungsfähig implementiert. Die Anwendung
erfolgt derzeit im Rahmen der Entwicklung erster Fallstudien. Die aktuelle Forschungsarbeit konzentriert sich daher auf die empirische Validierung der Gütekriterien. Die dazu parallel entwickelten Fallstudien lassen weitere Aussagen über die
26
Guido Baltes, Antje Freyth
Wirksamkeit der vorgestellten Methodik erwarten. Darüber hinaus zielt die weitere
Forschungsarbeit darauf, auf Basis der Fallstudien weitere Erkenntnisse zur förderlichen beziehungsweise hinderlichen Ausprägung von Team-Diversity in innovationsorientierten Unternehmen zu gewinnen.
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