Jürgen Dendorfer / Heinrich Maulhardt / R. Johanna Regnath / Thomas Zotz (Hg.)
817 – Die urkundliche Ersterwähnung
von Villingen und Schwenningen
© Alemannisches Institut und Jan Thorbecke Verlag
Veröffentlichung des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br.
Nr. 83
zugleich
Veröffentlichungen des Stadtarchivs und der Städtischen Museen
Villingen-Schwenningen
Band 39
© Alemannisches Institut und Jan Thorbecke Verlag
817 — Die urkundliche
Ersterwähnung von Villingen und
Schwenningen
Alemannien und das Reich in der Zeit
Kaiser Ludwigs des Frommen
Herausgegeben von
Jürgen Dendorfer, Heinrich Maulhardt,
R. Johanna Regnath und Thomas Zotz
© Alemannisches Institut und Jan Thorbecke Verlag
Die Drucklegung wurde inanziell gefördert von:
Stadt Villingen-Schwenningen
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Geschichts- und Heimatverein Villingen e. V.
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Umschlagrückseite: Theater am Ring © Stadt Villingen-Schwenningen, Foto: Michael Kienzler
Layout und Satz: Alemannisches Institut Freiburg e. V.
Druck: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
Hergestellt in Deutschland
ISBN 978-3-7995-1166-7
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Recht in der Region
Die Rezeption von leges und capitula im karolingischen Alemannien
Karl Ubl
Folgt man der Statistik, scheint im 9. Jahrhundert eine Revolution des Rechts stattgefunden zu
haben. Die Verbreitung der Rechtsbücher (leges) verzeichnete im Vergleich zu den Jahrhunderten davor einen exponentiellen Anstieg. Während vor der Karolingerzeit die Anzahl weltlicher
Rechtshandschriften in einem Jahrhundert den einstelligen Bereich nur geringfügig überschreitet,
sind aus dem 9. Jahrhundert 178 Kopien frühmittelalterlicher Rechtsbücher überliefert.1 Warum
Historiker des frühen Mittelalters dennoch nicht von einer Revolution des Rechts im eigentlichen
Sinne sprechen wollen, liegt auf der Hand: Erstens ist dieser exponentielle Anstieg vor allem
eine Konsequenz der karolingischen Bildungs- und Schriftreform, die in fast allen Bereichen des
Wissens zu einer vermehrten Abschreibtätigkeit in den Skriptorien führte und die zugleich eine
bessere Lesbarkeit der Schrift mit sich brachte, was für die langfristige Aufbewahrung der Handschriften vorteilhaft war.2 Zweitens ging von dieser Revolution keine dauerhafte Wirkung aus,
weil bereits Ende des 9. Jahrhunderts die Verbreitung von Rechtswissen an Dynamik deutlich
nachließ und im nächsten Jahrhundert auf einem niedrigeren Niveau stagnierte.3 Im 11. Jahrhundert verebbte das Interesse für die alten Rechtsbücher im Kerngebiet des Frankenreichs gänzlich.
Die fränkische Rechtstradition ging zu Ende, bevor kurze Zeit später die „echte“ Rechtsrevolution von der Wiederentdeckung der Digesten ihren Ausgang nahm.4 Zuletzt blieb das Rechtswissen in den Quellen der Rechtspraxis, in den Urkunden, weitgehend unsichtbar. Die universale
Verfügbarkeit von Schriftrecht löste nicht einen Wandel aus, der sich auf der Ebene der Dokumentation von Gerichtsverfahren niedergeschlagen hätte. Vor Gericht scheinen die Rechtsbücher
1
2
3
4
Einen Überblick über die Handschriften bietet URL: http://www.leges.uni-koeln.de. Für Hinweise und Korrekturen danke ich den Freiburger Kollegen Michael Glatthaar und Thomas Zotz.
Vgl. u. a. Rosamond mcKitteRicK, The Carolingians and the Written Word, Cambridge 1989; Carolingian
Culture. Innovation and Emulation, hg. von Rosamond mcKitteRicK, Cambridge 1994; Schriftkultur und
Reichsverwaltung unter den Karolingern, hg. von Rudolf schieffeR (Rheinisch-Westfälische Akademie
der Wissenschaften, Geisteswissenschaften, Abhandlungen, Bd. 97), Opladen 1996; Mensch und Schrift im
frühen Mittelalter, hg. von PeteR eRhaRt und loRenz hollenstein, St. Gallen 2006; Documentary Culture
and the Laity in the Early Middle Ages, hg. von WaRRen c. BRoWn u. a., Cambridge u. a. 2013. Für einen
Gesamtüberblick über die handschriftliche Überlieferung: BeRnhaRd Bischoff, Katalog der festländischen
Handschriften des neunten Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigotischen), Bd. 1–3 (Veröffentlichungen der
Kommission für die Herausgabe der mittelalterlichen Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz),
Wiesbaden 1998–2014.
Am Beispiel der Lex Salica: KaRl uBl, Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs. Die Lex Salica im Frankenreich
(Quellen und Forschungen zum Recht im Mittelalter, Bd. 9), Ostildern 2016.
Vgl. haRold J. BeRman, Law and Revolution. The Formation of the Western legal Tradition, Cambridge
(Mass.) u. a. 1983; Rudolf schieffeR, „The Papal Revolution in Law“? Rückfragen an Harold J. Berman, in:
Bulletin of Medieval Canon Law NS 22 (1998), S. 19–30; Kenneth Pennington, The Big Bang, in: Rivista
internazionale di diritto comune 18 (2007), S. 43–70; chaRles m. Radding, Le origini della giurisprudenza
medievale. Una storia culturale (La storia. Temi, Bd. 13), Rom 2013.
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207
Karl Ubl
nicht oder nur in seltenen Fällen direkt konsultiert worden zu sein.5 Die Verbreitung von Rechtswissen ist vielmehr Ausdruck eines neuen Verhältnisses zwischen dem Königtum und der Elite
von Funktionsträgern des Frankenreichs, den kirchlichen Institutionen einerseits und den Grafen,
advocati und missi andererseits.6 Sie waren es, von denen Karl der Große in seinen Erlassen die
Kenntnis der leges einforderte; sie waren es auch, an die die königlichen Erlasse der Karolinger,
die Kapitularien, fast ausschließlich adressiert waren; und ihnen war es daher aufgetragen, auf
Gerichtstagen oder in Predigten die moralischen Ermahnungen und normativen Direktiven durch
Verkündigung einem breiteren Publikum bekannt zu machen.7 Der exponentielle Anstieg von
Rechtshandschriften belegt daher keine Revolution des Rechts, sondern vielmehr die Tatsache,
dass diese Elite von Funktionsträgern ihren Auftrag ernst nahm und durch die Bildungs- und
Schriftreform Karls des Großen dazu auch in die Lage versetzt worden war.
Doch trifft diese Einschätzung auch für das gesamte Herrschaftsgebiet der Karolinger zu,
oder müssen wir nicht angesichts der Heterogenität des Frankenreichs große Unterschiede in der
regionalen Durchdringung von Rechtswissen annehmen? Die Beantwortung dieser Frage wurde
bislang in der Forschung kaum in Angriff genommen und dies hat einen guten Grund: Über die
geograische Provenienz karolingischer Handschriften können mit der Ausnahme einiger gut erforschter Skriptorien kaum sichere Aussagen getroffen werden.8 Bernhard Bischoff, die größte
Autorität in dieser Frage, traute sich zwar bei der Datierung der Handschriften eine ansonsten
unerreichte Präzision zu, blieb aber bei der geograischen Zuordnung häuig mit Absicht vage und
begnügte sich mit pauschalen Aussagen wie „Nordfrankreich“, „Ostfrankreich“ oder „südliches
5
6
7
8
208
Vgl. den klassischen Aufsatz von heRmann nehlsen, Zur Aktualität und Effektivität der ältesten germanischen
Rechtsaufzeichnungen, in: Recht und Schrift im Mittelalter, hg. von PeteR classen (Vorträge und Forschungen, Bd. 23), Sigmaringen 1977, S. 449–502 sowie den Problemaufriss von Wolfgang selleRt, Aufzeichnung
von Recht und Gesetz, in: Das Gesetz in Spätantike und frühem Mittelalter, hg. von dems. (Abhandlungen
der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Bd. 196), Göttingen 1992,
S. 67–102; wichtig hierzu WaRRen BRoWn, The Use of Norms in Disputes in Early Medieval Bavaria, in:
Viator 30 (1999), S. 15–40 und zuletzt BRitta mischKe, Kapitularienrecht und Urkundenpraxis unter Kaiser
Ludwig dem Frommen (814–840), Bonn 2013.
Rosamond mcKitteRicK, Some Carolingian Law-Books and their Function, in: Authority and Power. Studies
on Medieval Law and Government Presented to Walter Ullman on his Seventieth Birthday, hg. von PeteR a.
linehan und BRian tieRney, Cambridge 1980, S. 13–27; dies., Charlemagne’s missi and their Books, in: Early
Medieval Studies in Memory of Patrick Wormald, hg. von stePhen BaxteR u. a. (Studies in early medieval
Britain), Aldershot 2009, S. 253–268; Jean-PieRRe BRunteRc’h, Un monde lié aux archives. Les juristes et les
praticiens aux IXe et Xe siècles, in: Plaisir d’archives. Recueil de travaux offerts à Danielle Neirinck, hg. von
PhiliPPe Béchu und cécile souchon, Nancy 1997, S. 409–427; chaRles West, The Signiicance of the Carolingian Advocate, in: Early Medieval Europe 17 (2009), S. 186–206.
Zum Problem vgl. chRistina Pössel, Authors and Recipients of Carolingian Capitularies 779–829, in: Texts
and Identities in the Early Middle Ages, hg. von RichaRd coRRadini u. a. (Forschungen zur Geschichte des
Mittelalters, Bd. 12), Wien 2006, S. 253–274. Eine neue paradigmatische Studie hierzu: maximilian diesenBeRgeR, Predigt und Politik im frühmittelalterlichen Bayern. Arn von Salzburg, Karl der Große und die
Salzburger Sermones-Sammlung (Millennium-Studien, Bd. 58), Berlin 2015.
Ein bibliograischer Überblick bei BeRnhaRd Bischoff, Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. Mit einer Auswahlbibliographie 1986–2008 von Walter Koch (Grundlagen der Germanistik, Bd. 24), Berlin, 4. durchges. u. erw. Aul. 2009; david ganz, Latin Paleography since Bischoff, in:
Omnia disce – Medieval Studies in Memory of Leonard Boyle, O.P., hg. von BRenda m. Bolton, anne J.
duggan und Joan g. gReatRex (Church, faith and culture in the medieval West), Aldershot 2005, S. 91–107;
deRs., Can a Scriptorium always be identiied by its Products?, in: Scriptorium. Wesen, Funktion, Eigenheiten,
hg. von andReas nieveRgelt u. a. (Veröffentlichungen der Kommission für die Herausgabe der Mittelalterlichen Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz), München 2015, S. 51–62.
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Recht in der Region
Frankreich“. Nicht selten gaben die Inhalte der Rechtshandschriften selbst den Anlass für diese
Lokalisierungen. Die Überlieferung der Lex Burgundionum erwartete Bischoff eher in Burgund,
die Kopie der fränkischen Lex Salica eher in Nordfrankreich. Diese Annahme ist allerdings ihrerseits voraussetzungsreich: Sie beruht auf der Vorstellung einer strikten territorialen Geltung
der Rechtsbücher,9 und sie nimmt eine Stabilität der Amtsträger an, die unserem Wissen über die
überregionalen Aktivitäten der fränkischen Reichsaristokratie zu widersprechen scheint.10 Aber
auch wenn wir in Einzelfällen über den Ort der Herstellung von Rechtshandschriften plausible
Vermutungen anstellen können, ist damit noch nicht notwendigerweise ihre Bibliotheksheimat,
das heißt der Ort ihrer Aufbewahrung und Benutzung, gesichert. Gerade die großen Skriptorien
wie Saint-Martin in Tours oder Corbie produzierten Codices nicht nur für den Eigenbedarf, sondern auch für auswärtige Interessenten.11
Lassen sich somit über die regionale Verbreitung der Rechtshandschriften keine gesicherten
Aussagen treffen? Im Allgemeinen mag dies zutreffen, für die Region Alemannien hilft uns allerdings ein Glücksfall der Überlieferung weiter: Sowohl für das Kloster Reichenau als auch für
St. Gallen sind Bibliothekskataloge aus dem 9. Jahrhundert überliefert, die für einen bestimmten
Moment einen präzisen Einblick in die Verbreitung des weltlichen Rechts in diesem Raum ermöglichen.12 Zusammen mit den überlieferten Handschriften aus den beiden großen Abteien des
9. Jahrhunderts ist es möglich, den Prozess der Verbreitung des Rechtswissens und die Modalitäten der Kombination von leges und capitula in den Handschriften im Detail zu beschreiben. Bevor ich mich dem Überlieferungsbefund von St. Gallen und der Reichenau zuwende, werde ich in
einem ersten Teil eine charakteristische Sammlung von Rechtswissen aus dem Zentrum des Frankenreichs Karls des Großen vorstellen. Diese Sammlung weist überraschende Bezüge zur Region
Alemannien auf und sie kann zugleich als Gradmesser dafür dienen, ob die Rechtshandschriften
aus Alemannien mit dieser Sammlung aus dem Zentrum des Frankenreichs vergleichbar waren.
9
10
11
12
Kritisch hierzu Raymund KottJe, Zum Geltungsbereich der Lex Alamannorum, in: Die transalpinen Verbindungen der Bayern, Alemannen und Franken bis zum 10. Jahrhundert, hg. von helmut Beumann und WeRneR
schRödeR (Nationes, Bd. 6), Sigmaringen 1987, S. 359–377.
Vgl. die klassischen Arbeiten von geRd tellenBach, Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen
Reichs (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit,
Bd. 7, 4), Weimar 1939 und Régine le Jan, Famille et pouvoir dans le monde franc (VIIe–Xe siècle) (Publications de la Sorbonne. Série Histoire ancienne et médiévale, Bd. 33), Paris 1995; stuaRt aiRlie, Power and Its
Problems in Carolingian Europe (Variorum Collected Studies Series, Bd. 1010), Farnham 2012.
teRence a.m. BishoP, The Scribes of Corbie a–b, in: Charlemagne’s Heir. New Perspectives on the Reign of
Louis the Pious (814–840), hg. von PeteR godman und RogeR collins, Oxford 1990, S. 523–536; Rosamond
mcKitteRicK, Carolingian book production. Some problems, in: The library 12 (1990), S. 1–33; david ganz,
Mass production of early medieval manuscripts. The Carolingian Bibles form Tours, in: The Early Medieval
Bible. Its Production, Decoration and Use, hg. von RichaRd gameson (Cambridge studies in palaeography and
codicology, Bd. 2), Cambridge 1994, S. 53–62; maRtin hellmann, Tironische Noten in der Karolingerzeit am
Beispiel eines Persius-Kommentars aus der Schule von Tours (MGH Studien und Texte, Bd. 27), Hannover
2000; aBigail fiRey, Canon Law Studies at Corbie, in: Fälschung als Mittel der Politik? Pseudoisidor im Licht
der neuen Forschung. Gedenkschrift für Klaus Zechiel-Eckes, hg. von KaRl uBl und daniel ziemann (MGH
Studien und Texte, Bd. 57), Wiesbaden 2015, S. 19–80; KaRl uBl, Gab es das Leges-Skriptorium Ludwigs
des Frommen?, in: DA 70 (2014), S. 43–65.
Alle in Bücherverzeichnissen bezeugten Rechtshandschriften des 9. Jahrhunderts sind gesammelt in: URL:
http://www.leges.uni-koeln.de/mss/katalogeintraege mit weiteren bibliograischen Hinweisen.
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209
Karl Ubl
1. Die Collectio Neustrica von ca. 807
Die hier vorzustellende Sammlung ist nicht im Original, sondern nur in vier nordfranzösischen
Abschriften aus dem 9., 10., 11. und 15. Jahrhundert erhalten. Die älteste Handschrift der Collectio, Paris, BN, lat. 10758, war im Besitz des bedeutenden Erzbischofs Hinkmar von Reims (gestorben 882) und diente als direkte bzw. indirekte Vorlage für die anderen drei Kopien.13 Zwar
hatte die Forschung schon lange Kenntnis von dieser Sammlung, ein schweres Missverständnis
des Inhaltsverzeichnisses stand jedoch einer korrekten Einschätzung entgegen. Das Inhaltsverzeichnis wurde mehrmals abgedruckt, und zwar immer genau in der Form, wie es auf dem Pergamentblatt erscheint.14 Dass dadurch merkwürdige Lesungen zustande kommen, wurde aber
nicht zum Anlass genommen, die Anordnung der Handschrift in Zweifel zu ziehen. Es hätte
jedoch stutzig machen sollen, dass im Inhaltsverzeichnis die Länge des Pactus König Childeberts I. mit 98 Kapiteln angegeben wird, obwohl der folgende Text nur zehn Untergliederungen
aufweist. Simon Stein sprach dies so deutlich aus wie sonst keiner: „the igures […] are completely fantastic“.15 Auch die im Inhaltsverzeichnis enthaltenen Incipit-Sätze ergeben unter dieser
Voraussetzung keinen Sinn. Das neunte Kapitel lautet beispielsweise: VIIII. Decretum est ut qui
in vigilias qualiter ordinavit propter famis inopiam. Der Beginn des Pactus Chlothars I. wird
hier mit den Anfangsworten eines Kapitulars Karls des Großen zu einem unverständlichen Satz
verbunden, der selbst innerhalb der generell schlechten Latinität der Handschrift heraussticht.
Die zeilengenaue Transkription des Inhaltsverzeichnisses in Paris, BN, lat. 10758, p. 58 führt
daher ganz offensichtlich in die Irre. Damit sich der Leser ein Bild davon machen kann, sei es
hier erneut abgedruckt:
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210
INCIPIUNT LIBELLI VEL DECRETIO CHLODEVEO
ET CHILDEBERTO SIVE CHLOTHARIO ET KAROLO
FUIT LUCIDE EMENDATUM
I. De legibus divinis et humanis
II. Pactus Childeberti regis inde sunt cap. XCVIII
III. Decretio Chlotharii regis cap. XVII Lex suavorum
Paris, BN, lat. 4760 ist eine Kopie von Paris, lat. 10758. Paris, BN, lat. 4628A, fol. 68vb–78ra, ist eine Teilkopie von lat. 10758: Die bereits am Anfang der Handschrift vorhandenen Texte (Langer Prolog, Kurzer Prolog,
Capit. nr. 39–40 und Lex Salica) wurden nicht noch einmal kopiert. Paris, BN, lat. 4631 ist eine spätmittelalterliche Kopie von lat. 4628A.
Jean maRie PaRdessus, La loi salique ou Recueil contenant les anciennes rédactions de cette loi, et le texte
connu sous le nom de Lex emendata, Paris 1843, S. 275 f.; Leges Alamannorum, hg. von Johannes meRKel,
in: Leges Alamannorum, Leges Baiuwariorum, Leges Burgundionum, Lex Frisionum, hg. von geoRg h. PeRtz
(MGH LL 3), S. 1–182, hier S. 14 f.; Jan hendRiK hessels, Lex Salica. The ten texts with the glosses, and the
Lex emendata, London 1880, Sp. XXI; simon stein, Lex Salica I, in: Speculum 22 (1947), S. 113–134, hier
S. 130 f. (mit Abbildung); Die Gesetze des Karolingerreiches 714–911, Bd. 2: Alemannen und Bayern, hg.
von KaRl august ecKhaRdt (Germanenrechte. Texte und Übersetzungen, Bd. 2), Weimar 1934, S. 17; aRnold
BühleR, Capitularia relecta. Studien zur Entstehung und Überlieferung der Kapitularien Karls des Großen und
Ludwigs des Frommen, in: Archiv für Diplomatik 32 (1986), S. 305–502, hier S. 361; huBeRt moRdeK, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta. Überlieferung und Traditionszusammenhang der fränkischen Herrschererlasse (MGH Hilfsmittel, Bd. 15), München 1995, S. 592; ingRid Woll, Untersuchungen
zu Überlieferung und Eigenart der merowingischen Kapitularien (Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen
Geschichte, Bd. 6), Frankfurt/Main 1995, S. 271–275.
stein, Lex Salica I (wie Anm. 14), S. 131.
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IIII. Decretum Childeberti regis. De eo qui hominem nobilem plagaverunt
V. De reliquis conditionibus id sunt cap. XVII
VI. Decretio Karoli regis cap. XVIII Memoratio de octo bannos
id sunt cap. XXIIII id sunt cap. VIII
VII. De septem septinas cap. XVIIII Iussio domni Karoli
VIII. Sciendum est quod in quibusdam id sunt cap. IIII
VIIII. Decretum est ut qui in vigilias qualiter ordinavit propter famis inopiam
X. De tractatu legis salicae
XI. Prolegis salicae
XII. De homicidiis clericorum id sunt cap. XI
XIII. Ut nullus praesumat hominem inde sunt cap. VI
XIIII. De mannire inde sunt cap. LXX
XV. Lex ribuariorum inde sunt cap. XCI
XVI. Lex alamannorum
Die Aulösung dieser handschriftlichen Verwirrung ist einfach: Was im Original in zwei Spalten
angeordnet war, wurde beim Prozess der Abschrift in eine Spalte zusammengeworfen. Sind in
der Pariser Handschrift immerhin noch zwei Spalten erkennbar, haben ihre Deszendenten das
Inhaltsverzeichnis noch einmal umgeordnet und die einst zweispaltige Anordnung ganz unkenntlich gemacht. Die Forschung hat deshalb der Collectio nur 16 Texte zugeschrieben, obwohl sie in
Wahrheit aus 19 Texten besteht. Nur wenn die zwei Spalten nachträglich wieder getrennt werden,
ergeben auch die Angaben über die Anzahl der Kapitel der einzelnen Texte wieder Sinn. Die
Nennung von 98 Kapiteln bezieht sich dann richtig auf die Lex Alamannorum und nicht auf den
Pactus Childeberti regis. Ursprünglich sah das Verzeichnis folgendermaßen aus:16
INCIPIUNT LIBELLI 17 VEL DECRETIO CHLODEVEO ET CHILDEBERTO SIVE
CHLOTHARIO ET KAROLO FUIT LUCIDE EMENDATUM 18
I. De legibus divinis et humanis 19
II. Pactus Childeberti regis 20
III. Decretio Chlotharii regis
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20
Die Identiikation der einzelnen Texte beruht auf moRdeK, Bibliotheca (wie Anm. 14), S. 592–595. Ergänzt
sind im Folgenden Informationen zur überlieferungsgeschichtlichen Einordnung.
Der libellus-Begriff stammt aus der Datierungsnotiz, die Paris, lat. 10758, p. 85 enthalten ist: […] DOMNUS
KAROLUS REX FRANCORUM INCLITUS HUNC LIBELLUM TRACTATI LEGIS SALICAE SCRIBERE IUSSIT. Zu libellus vgl. zukünftig michael glatthaaR, Rechtsbuch in Bildern (im Druck).
Vgl. Paris, lat. 10758, p. 78: PACTUS CHLODOVEO VEL CHILDEBERTO SIVE CHLOTHARIO FUIT LUCIDE EMENDATUM; p. 80: […] per pręcelso reges chlodoveo childeberto chlothario fuit lucide emendatum.
Es handelt sich um Exzerpte aus Isidors Etymologie Buch V: eRnest-JosePh taRdif, Un abrégé juridique
des Étymologies d’Isidore de Séville, in: Mélanges Julien Havet. Recueil de travaux d’érudition dédiés a
la mémoire de Julien Havet (1853–1893), hg. von eRnest leRoux, Paris 1895, S. 659–681, S. 673–681; in
Unkenntnis von Tardif erneut ediert von BühleR, Capitularia relecta (wie Anm. 14), S. 474–482. Hier in der
Frage-Antwort-Form überliefert wie in Paris, BN, lat. 4626, fol. 48v–50v, Paris, BN, lat. 4995, fol. 9r–12r
(verkürzt).
Dieser und der folgende Titel beziehen sich auf den Pactus pro tenore pacis Childeberts I. und Chlothars I.
Nach den Vorarbeiten von Hubert Mordek und Michael Glatthaar ist diese Version verwandt mit den Überlieferungen in den Handschriften Paris, BN, lat. 18237 und Leiden, Bibliotheek der Rijksuniversiteit, BPL 2005
sowie Vatikan, BAV, Reg. lat. 520.
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Karl Ubl
IIII. Decretum Childeberti regis 21
V. De reliquis conditionibus
VI. Decretio Karoli regis id sunt capitula XXIIII 22
VII. De septem septinas 23
VIII. Sciendum est quod in quibusdam 24
VIIII. Decretum est ut qui in vigilias 25
X. De tractatu legis salicae 26
XI. Prolegis salicae 27
XII. De homicidiis clericorum id sunt capitula XI 28
XIII. Ut nullus praesumat hominem inde sunt capitula VI 29
XIIII. De mannire inde sunt capitula LXX 30
XV. Lex ribuariorum inde sunt capitula XCI 31
XVI. Lex alamannorum inde sunt capitula XCVIII 32
Cap. XVII. Lex suavorum. De eo qui hominem nobilem plagaverunt id sunt capitula XVII
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Dieser und der folgende Titel beziehen sich auf die Decretio Childeberts II. Nach Wilhelm alfRed ecKhaRdt,
Die Decretio Childeberti und ihre Überlieferung, in: ZRG GA 84 (1967), S. 1–71, S. 56 gleichfalls verwandt
mit Paris, BN, lat. 18237 sowie Vatikan, BAV, Reg. lat. 520.
Die Handschrift zählt nicht 23, sondern 24 Kapitel, wie eine Reihe weiterer Handschriften: Capitularia regum
Francorum I, hg. von alfRed BoRetius (MGH Capit. 1), Hannover 1883, Nr. 20, S. 47–51. Die Zweiteilung
von c. 22 sonst nur in Gotha, Forschungsbibliothek, Mem. I 84 [moRdeK, Bibliotheca (wie Anm. 14), S. 137]
und Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent. V, App. 96 [ebd., S. 402].
Vollständig erhalten nur in Paris, BN, lat. 4411, vgl. KaRl uBl, Eine Verdichtung der Lex Salica. Die Septinas
septem der Handschrift Paris, BN, lat. 4411, in: Exzerpieren – Kompilieren – Tradieren. Transformationen des
Wissens zwischen Spätantike und Frühmittelalter, hg. von stePhan dusil, geRald schWedleR und RaPhael
schWitteR (Millennium-Studien) (im Druck).
Die Fassung der Recapitulatio solidorum ist verwandt mit Cologny, Bibliotheca Bodmeriana, 107 und St. Petersburg, Gosudarstvennaja Publičnaja Biblioteka im. M. E. Saltykova-Ščedrina, Q.v.II.11. Vgl. KaRl uBl,
Die Recapitulatio solidorum aus der Zeit Karls des Großen. Studie und Edition, in: Charlemagne, hg. von Rolf
gRosse (Collection Haut Moyen Age) (im Druck), sowie die Stemmata auf URL: http://www.leges.uni-koeln.
de/materialien/stemmata.
Eine weitere Fassung des Pactus pro tenore pacis, nach den Vorarbeiten von Hubert Mordek und Michael
Glatthaar verwandt mit Bonn, Universitätsbibliothek, S. 402 und Vatikan, BAV, Reg. lat. 1036.
Der lange Prolog zur Lex Salica ist nach eigenen Vorarbeiten verwandt mit Bonn, Universitätsbibliothek,
S. 402 und Vatikan, BAV, Reg. lat. 1036.
Wie Anm. 26.
Capitulare legibus additum (803), in: MGH Capit. 1 (wie Anm. 22), Nr. 39, S. 112 ff.
Auswahl aus Capitulare missorum (803): MGH Capit. 1 (wie Anm. 22), Nr. 40, S. 115 f.
Die Textgestalt der Lex Salica ist schwer einzuordnen, da in dieser Handschrift einige Korrekturen vorgenommen wurden (von Hinkmar von Reims?), die sich sonst nur in Bern, Burgerbibliothek, Cod. 442 wiederinden. Die zeitlich später einzuordnende Berner Handschrift weist mit der pseudoisidorischen Collectio
Danieliana ebenfalls in die Kirchenprovinz Reims: KaRl-geoRg schon, Unbekannte Texte aus der Werkstatt
Pseudoisidors. Die Collectio Danieliana (MGH Studien und Texte, Bd. 38), Hannover 2006. Im Übrigen sind
sowohl Bezüge zu den Lex Salica-Überlieferungen in Bonn, Universitätsbibliothek, S. 402 und Vatikan, BAV,
Reg. lat. 1036, festzustellen als auch zu Bamberg, Staatsbibliothek, Jur. 35. Beispielhaft siehe URL: http://
www.leges.uni-koeln.de/materialien/transkriptionen/ed-lsk-14-16/.
Ab hier bricht die Überlieferung ab. Die folgenden Texte sind also nur im Inhaltsverzeichnis genannt. Aufgrund der Anzahl der Kapitel muss es sich um die B-Fassung der Lex Ribuaria handeln. Vgl. Rudolf BuchneR,
Einleitung, in: Lex Ribuaria, hg. von Rudolf BuchneR und fRanz BeyeRle (MGH LL nat. Germ. 3, 2), Hannover 1954, S. 39.
Nach der Anzahl der Titel handelt es sich wohl um die B-Fassung. Vgl. KaRl lehmann / KaRl august
ecKhaRdt, Praefatio zur Textausgabe der Leges Alemannorum, in: Leges Alemannorum (MGH LL nat.
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Recht in der Region
Cap. XVIII. Memoratio de octo bannos id sunt capitula VIII 33
Cap. XVIIII. Iussio domni Karoli qualiter ordinavit propter famis inopiam id sunt capitula IIII 34
Die Überschrift der Sammlung wurde wörtlich aus dem langen Prolog der Lex Salica entnommen. Ich versuche nicht, den unkorrekten lateinischen Satzbau in deutscher Sprache wiederzugeben. Erwähnenswert ist, dass Karl der Große gegenüber der Vorlage ergänzt und somit in eine
Reihe mit den merowingischen Königen Chlodwig, Childebert und Chlothar gestellt wurde, das
heißt mit jenen Königen, die als Gesetzgeber hervorgetreten sind und deren Dekrete in der Karolingerzeit gut bekannt waren. An erster Stelle der Collectio steht ein in Frage-Antwort-Form
stilisiertes Exzerpt aus dem Abschnitt über Gesetzgebung in den Etymologiae des Isidor von
Sevilla mit dem Titel De legibus divinis et humanis. Daran schließen die Dekrete Childeberts I.,
Chlothars I., Childeberts II. und das Kapitular von Herstal aus dem Jahr 779 als decretio Karoli
regis an. Darauf folgen zwei erklärende Texte zur Lex Salica, erneut ein Teil des Dekrets Chlothars I., die beiden Prologe zur Lex Salica, zwei Kapitularien Karls des Großen als Teil 12 und
13 und dann der Hauptteil: die beiden Rechtsbücher der Franken, die Lex Salica und die Lex
Ribuaria, sowie die Lex Alamannorum und eine mysteriöse Lex Suavorum, auf die gleich noch
zurückzukommen sein wird. Beschlossen wird die Sammlung durch zwei Kapitularien Karls des
Großen, deren letztes die Benennung der Sammlung als Collectio Neustrica rechtfertigt. Diese
Iussio domni Karoli qualiter ordinavit propter famis inopiam richtet sich nämlich ausschließlich
an die Amtsträger der Region zwischen Seine und Loire (das heißt das karolingische Neustrien)35
und ordnet an, dass aufgrund einer Hungersnot das von dort kommende Heeresaufgebot für die
nächste Reichsversammlung verringert werden soll. Aufgrund der einzigen Parallelüberlieferung
des Textes in der sogenannten Collectio Senonica wissen wir, dass die anvisierte Reichsversammlung im August 807 in Ingelheim stattfand. Der Urheber der Collectio Senonica, vermutlich der
Erzbischof und missus Magnus von Sens, datierte das Kapitular auf das siebente Jahr nach der
Kaiserkrönung Karls des Großen.36 Die Collectio Neustrica kann also frühestens im Jahr 807 erstellt worden sein, und sie geht auf einen Königsboten zurück, der in der Region zwischen Seine
und Loire tätig und daher von der Regelung des Heeresaufgebots betroffen war.
Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter der Frage nachgehen, welcher Königsbote37 für diese
Sammlung verantwortlich zeichnen könnte, sondern mich vielmehr einem sonst unbekannten
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Germ. 5, 1), Hannover 1966, S. 11 f. und 60. Die Zahl von 98 Kapiteln indet sich z. B. auch in Bamberg,
Staatsbibliothek, Jur. 35, fol. 144r.
Sonst nur überliefert in Bamberg, Staatsbibliothek, Jur. 35, fol. 145v–146r mit dem Titel: DE ILLOS VIII
OCTO BANNUS UNDE DOMNUS NOSTER VULT QUOD EXANT SOL. LX. In dieser Handschrift indet sich
auch die Abfolge von Lex Salica (Fassung K), Lex Ribuaria (Fassung B) und Lex Alamannorum (Fassung B).
Nur überliefert in der Collectio Senonica: Paris, BN, lat. 9654 und Vatikan, BAV, Pal. 582, fol. 23r: Memoratorium qualiter ordinavimus propter famis inopiam … Dort hat das Kapitular jedoch sieben und nicht vier
Kapitel. Vielleicht ist die Anzahl von vier Kapiteln ein Beleg dafür, dass Boretius mit seiner Ansicht Recht
hat, in den sieben Kapiteln zwei getrennte Kapitularien zu vermuten: MGH Capit. 1 (wie Anm. 22), Nr. 48–49,
S. 134 ff.
Zum Begriffswandel von Neustrien vgl. eugen eWig, Volkstum und Volksbewußtsein im Frankenreich des
7. Jahrhunderts, in: Caratteri del secolo VII in occidente (Settimane di Studio del centro Italiano di studi
sull’Alto Medioevo, Bd. 5), Spoleto 1958, Bd. 2, S. 587–648, hier S. 597 sowie im Überblick helmut Reimitz,
Art. „Neustrien“, in: RGA 21 (2002), Sp. 126–131.
moRdeK, Bibliotheca (wie Anm. 14), S. 781.
Die zuständigen missi für diese Region sind genannt in den Capitularia missorum specialia (802), in: MGH
Capit. 1 (wie Anm. 22), Nr. 34, S. 100. Vgl. Wilhelm alfRed ecKhaRdt, Die Capitularia missorum specialia
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Karl Ubl
Teil der Collectio Neustrica zuwenden. Es ist der Text Nr. 17 mit dem Titel Lex Suavorum, Recht
der Schwaben. Da die Sammlung in allen vier Handschriften nach der Lex Salica an 14. Stelle
abbricht, ist das Inhaltsverzeichnis unsere einzige Quelle für die Existenz dieses Rechtsbuchs. Es
ist auszuschließen, dass es sich um eine Verschreibung aus lex servorum (Sklavenrecht) handelt,
wie noch Karl August Eckhardt38 mutmaßte, denn nach der richtigen Rekonstruktion des zweispaltigen Textes ist uns auch der Beginn des ersten Satzes der Lex Suavorum bekannt: De eo qui
hominem nobilem plagaverunt [!], also: „Von demjenigen, der einen Adeligen verwundet.“ Der
Inhalt passt somit denkbar schlecht zu einem Sklavenrecht. Da der Halbsatz in keinem anderen
Rechtsbuch auftaucht, ist er tatsächlich als Anfang eines 17 Kapitel umfassenden Rechtsbuchs
der Schwaben anzusehen. Die Verwendung des Begriffs nobilis legt überdies nahe, dass der Text
in der Zeit Karls des Großen aufgezeichnet wurde.39 Erst in den um 800 kompilierten Rechtsbüchern für die Nordostprovinzen des Frankenreichs wurde die Führungsschicht mit dem Terminus nobilis bezeichnet und erhielt durch ein erhöhtes Wergeld eine Sonderstellung.40 Das Wort
plagare verweist dagegen auf die süddeutschen Rechte der Alemannen und Baiuwaren, wo dieser
Begriff besonders häuig begegnet.41
Doch warum ein Recht für die Schwaben, wenn doch nach dem Reichenauer Mönch Walahfrid Strabo die Begriffe Suabia und Alamannia auf das gleiche Territorium und Suabi und
Alamanni auf die gleiche gens verweisen?42 Müsste man dann nicht annehmen, dass die Lex
Alamannorum für die gesamte Region Geltung beanspruchte und keinen Platz für ein weiteres
Rechtsbuch ließ? Auf diese Frage hat allein Johannes Merkel im Jahr 1863 eine Antwort gegeben,
indem er als Geltungsbereich der Lex Suavorum den Schwabengau in Sachsen vorschlug.43 Von
dieser Region berichtet noch Widukind von Corvey im späten 10. Jahrhundert, dass die dortige
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von 802, in: DA 12 (1956), S. 498–516. Neben Magnus von Sens und Graf Gottfried handelt es sich um Abt
Fardulf von Saint-Denis und Graf Stephan von Paris (südliches Neustrien) sowie Erzbischof Magenardus
von Rouen und Graf Madelgaudus (nördliches Neustrien). In dem Raum agierten aber auch weitere Personen
(wie der aus Alkuins Schriften bekannte Graf Wido), die in den Quellen als missi bezeichnet werden: Régine
le Jan, Prosopographia neustrica. Les agents du roi en Neustrie de 639 à 840, in: La Neustrie. Le pays au
nord de la Loire de 650 à 850, hg. von haRtmut atsma (Beihefte der Francia, Bd. 16, 1), Sigmaringen 1989,
S. 231–269. Weitere missi sind genannt in den Capitula a missis dominicis ad comites directa, MGH Capit. 1
(wie Anm. 22), Nr. 85, S. 183.
ecKhaRdt, Gesetze (wie Anm. 14), S. 17. Ähnlich bereits stein, Lex Salica I (wie Anm. 14), S. 132.
Vgl. hans-WeRneR goetz, „Nobilis“. Der Adel im Selbstverständnis der Karolingerzeit, in: Vierteljahrschrift
für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 70 (1983), S. 53–191, jetzt auch in: deRs., Vorstellungsgeschichte. Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter, hg. von anna auRast
u. a., Bochum 2007, S. 173–206.
Besonders häuig in der Lex Saxonum und in Lex Frisionum, einmal in der Lex Thuringorum. Zuvor nur belegt
in der Lex Baiuvariorum: Lex Baiuvariorum, hg. von claudius von schWeRin (MGH LL nat. Germ. 5, 2), Hannover 1926, XVIII c. 1, S. 453, nicht aber in der Lex Alamannorum oder in den fränkischen Rechtsbüchern.
Vgl. Lex Baiuvariorum (wie Anm. 40), S. 482 (Register); Leges Alamannorum (wie Anm. 32), S. 166 (Register). Nicht belegt in Lex Frisionum, Lex Thuringorum und Lex Saxonum. Zweimal in den fränkischen Rechtsbüchern: KaRl august ecKhaRt, Pactus legis Salicae (MGH LL nat. Germ. 4, 1), Hannover 1962, 14, 7, S. 67
(C-Fassung); 17, 3–4, S. 76 (A-Fassung), und Lex Ribuaria (wie Anm. 31), 4, S. 74; 71, 1, S. 122.
Vita Galli auctore Walahfrido, hg. von BRuno KRusch (MGH Script. rer. Merov. 4), Hannover/Leipzig 1902,
S. 281 f. Hierzu vgl. hagen KelleR, Alamannen und Sueben nach den Schriftquellen des 3. bis 7. Jahrhunderts, in: Frühmittelalterliche Studien 23 (1989), S. 89–111; thomas zotz, Ethnogenese und Herzogtum in
Alemannien (9.–11. Jahrhundert), in: MIÖG 108 (2000), S. 48–66; alfons zettleR, Geschichte des Herzogtums Schwaben, Stuttgart 2003, S. 40.
meRKel, MGH Leges III (wie Anm. 14), S. 14 f.
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Recht in der Region
Bevölkerung aufgrund ihrer isolierten Lage eine eigene Rechtsordnung besessen habe.44 Diese
Annahme ist zwar nicht vollkommen abwegig, erscheint mir aber deshalb kaum das Richtige zu
treffen, weil ein eigenes Rechtsbuch für den kleinen Schwabengau ungewöhnlich wäre. Merkel
benannte als Parallele die Ewa ad Amorem (sogenannte Lex Francorum Chamavorum), die er
nach dem Stand der damaligen Forschung als Rechtsbuch für den Xantener Raum betrachtete.
Heute ist man allerdings mit guten Gründen der Meinung, die Ewa ad Amorem beziehe sich auf
einen größeren Dukat von insgesamt acht Gauen im fränkischen Grenzgebiet zu den Friesen und
Sachsen.45 Der Vergleich mit dem kleinen Schwabengau kann somit nicht überzeugen. Darüber
hinaus müsste man erklären, wie sichergestellt worden wäre, dass nicht auch die „eigentlichen“
Schwaben in Alemannien dieses Rechtsbuch auf sich bezogen hätten. Um nur die Schwaben in
Sachsen anzusprechen, hätten sie wie in den Annales Mettenses priores aus der Zeit Karls des
Großen als „Nordschwaben“ bezeichnet werden müssen.
Als eine weitere Hypothese käme in Betracht, in der Lex Suavorum nur ein Ergänzungskapitular zur Lex Alamannorum zu sehen.46 Schließlich folgt im Inhaltsverzeichnis die Lex Suavorum
direkt auf das alemannische Rechtsbuch. Es ließe sich dann auch erklären, warum die Lex Suavorum nur 17 Kapitel umfasst, während die vorher tradierte Lex Alamannorum 98 Kapitel enthält.
Ergänzungskapitularien sind aus der Zeit Karls des Großen auch für die Lex Baiuvariorum und
die fränkische Lex Ribuaria überliefert. Die Lex Suavorum wäre dann als ein Capitulare legi Alamannorum additum zu bezeichnen. Gegen diese Hypothese sprechen aber zwei gewichtige Gründe. Zuerst ist zu beachten, dass der Autor bei der Formulierung des Inhaltsverzeichnisses immer
wortgetreu auf die folgenden Texte zurückgreift. Er hatte daher einen Text vor Augen, der mit
Lex Suavorum überschrieben war. Dass ein Ergänzungskapitular so tituliert worden wäre, kommt
aber nicht in Frage. Zudem spricht auch das Incipit des Textes gegen eine solche Hypothese, weil
die Ergänzungskapitularien zur Lex Salica und zur Lex Ribuaria jeweils mit dem Verweis auf das
zu revidierende Kapitel einsetzen. Das Incipit der Lex Suavorum tritt uns dagegen wie ein eigenständiger Text entgegen und bezieht sich nicht auf eine Stelle der Lex Alamannorum. Auch der
geringe Umfang von 17 Kapiteln spricht nicht unbedingt gegen ein eigenes Rechtsbuch für die
Schwaben. Schließlich umfasst die Lex Frisionum auch nur 22 Kapitel, da diese Kapitel noch einmal in Unterkapitel eingeteilt sind.47 Dasselbe könnte man auch für die Lex Suavorum annehmen.
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Suavi vero Transbadani illam quam incolunt regionem eo tempore invaserunt, quo Saxones cum Longobardis
Italiam adierunt, ut eorum narrat historia, et ideo aliis legibus quam Saxones utuntur. Widukind von Corvey,
Res gestae Saxonicae, hg. von Paul hiRsch (MGH SS rer. Germ. in usum schol. 60), Hannover 1935, I c. 14,
S. 24. Erstmals erwähnt sind die Schwaben in Sachsen von Gregor von Tours, Decem libri historiarum, hg. von
BRuno KRusch und Wilhelm levison (MGH SS rer. Merov. 1), Hannover 1951, V c. 15, S. 213 f. In der Zeit
Karls des Großen wurden sie als Nordschwaben bezeichnet: Annales Mettenses priores, hg. von BeRnhaRd
von simson (MGH SS rer. Germ. in usum schol. 10), Hannover/Berlin 1905, S. 41. Gewohnt kritisch matthias
sPRingeR, Die Sachsen, Stuttgart 2004, S. 107–109 und 172.
Vgl. zuletzt PeteR c. m. hoPPenBRouWeRs, „Leges Nationum“ and ethnic personality of Law in Charlemagne’s
Empire, in: Law and Empire. Ideas, Practices, Actors, hg. von JeRoen duindam u. a. (Rulers & Elites, Bd. 3),
Leiden u. a. 2013, S. 251–274; thomas faulKneR, Carolingian Kings and the leges barbarorum, in: Historical Research 86 (2013), S. 443–464; helmut Reimitz, History, Frankish Identity and the Framing of Western Ethnicity, 550–850 (Cambridge studies in medieval life and thought, Ser. 4, Bd. 101), Cambridge 2015,
S. 378–380.
Die folgenden Argumente wurden im Verlauf der Diskussion auf der Tagung in Villingen vorgebracht.
Die Lex Baiuvariorum enthält auch 22 Kapitel. Die Gliederung in „Titeln“ geht bei allen Rechtsbüchern auf
die Editoren und nicht auf handschriftliche Vorlagen zurück.
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Karl Ubl
Angesichts der Datierung der Collectio Neustrica in die Zeit nach 807 erscheint mir eine
andere Erklärung für die Existenz der verlorenen Lex Suavorum möglich. Im Jahr 806 nahm
Karl der Große die Teilung des Frankenreichs unter seinen drei damals lebenden Söhnen vor,
wobei das Herzogtum Alemannien entlang der Donau sowie westlich des Thurgaus und Churrätiens in zwei Teile geteilt wurde.48 Karl der Jüngere erhielt den nordwestlichen Teil Alemanniens
mit den fränkischen Kernlanden, Pippin den südöstlichen Teil gemeinsam mit Bayern und dem
Königreich Italien. Es war das einzige Mal in der Geschichte der fränkischen Teilungen, dass
Alemannien nicht als Einheit weitervererbt werden sollte. Zwar sollte die Teilung erst nach dem
Tod Karls des Großen in Kraft treten, für die Zeitgenossen schien sie jedoch unmittelbar bevorzustehen. In den St. Galler Urkunden datierten einige Schreiber bereits im Jahr 807 nach den gemeinsamen Herrscherjahren Karls und Pippins in Alemannia.49 Bedenkt man, dass die Collectio
Neustrica von einem Amtsträger aus dem zukünftigen Teilreich Karls des Jüngeren kompiliert
wurde, könnte die Lex Suavorum für den nordwestlichen Teil Alemanniens erlassen worden sein,
wo in der Antike die Neckarschwaben (Suebi Nicrenses) gesiedelt hatten.50 Nach dem vorzeitigen
Tod Pippins im Jahr 810 und Karls des Jüngeren im Jahr 811 war die Teilung Alemanniens bald
wieder hinfällig geworden. Der einzige überlebende Sohn Ludwig der Fromme erbte das gesamte
Frankenreich nördlich der Alpen. Es kann vermutet werden, dass die Lex Suavorum deswegen in
den Handschriften nicht mehr berücksichtigt wurde und uns als vollständiges Rechtsbuch nicht
erhalten blieb.
Diese These würde aber voraussetzen, dass es neben der Identiizierung von Schwaben und
Alemannen in der Zeit um 800 auch möglich war, zwischen diesen beiden Volksnamen zu unterscheiden. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1989 vertrat Hagen Keller die Meinung, „beide Völkernamen bezeichnen seit dem 6. Jahrhundert eindeutig dieselbe Gruppe“.51 Keller wandte sich
gegen einen gelehrt-literarischen Ursprung der Gleichsetzung von Schwaben und Alemannen
und postulierte vielmehr eine tatsächliche Verschmelzung beider Gruppen während des Höhepunkts alemannischer Machtentfaltung zwischen 470 und 496. Dass auch nach dieser Zeit eine
Unterscheidung zwischen Schwaben und Alemannen möglich war, zeigte jedoch unlängst Thomas Zotz.52 In der Historia vel gesta Francorum aus dem späteren 8. Jahrhundert wird von einem
Feldzug Karl Martells im Jahr 725 berichtet, in dem das fränkische Heer nach dem Übergang des
Rheins zunächst an den Alemannen und dann an den Schwaben vorbeizog, bevor es die Donau
erreichte und das Gebiet der Baiuwaren besetzte.53 Ob das Heer Karl Martells von Süden nach
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PeteR classen, Karl der Große und die Thronfolge im Frankenreich, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum
70. Geburtstag am 19. September 1971, Bd. 3 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte,
Bd. 36, 3), Göttingen 1973, S. 109–134, wieder in: Ausgewählte Aufsätze von Peter Classen, hg. von Josef
flecKenstein (Vorträge und Forschungen, Bd. 28), Sigmaringen 1983, S. 205–229.
Zu diesen Urkunden und zur inneralemannischen Grenze vgl. KaRl schmid, Zur historischen Bestimmung des
ältesten Eintrags im St. Galler Verbrüderungsbuch, in: deRs., Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis
im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge, Sigmaringen 1983, S. 480–513 (erstmals 1973–1975). Zur Frage der
Realisierung der Divisio vgl. söRen KaschKe, Die karolingischen Reichsteilungen bis 831. Herrschaftspraxis
und Normvorstellungen in zeitgenössischer Sicht (Schriften zur Mediävistik, Bd. 7), Hamburg 2006, S. 315.
zettleR, Geschichte (wie Anm. 42), S. 18.
KelleR, Alamannen (wie Anm. 42), S. 89.
zotz, Ethnogenese (wie Anm. 42), S. 52.
[…] coacto agmine multitudine, Renum luvium transiit Alamannosque et Suavos lustrat, usque Danubium
peraccessit, illoque transmeato, ines Baguarinsis occupavit. Chronicarum quae dicuntur Fredegarii scholastici continuationes 12, hg. von BRuno KRusch (MGH Script. rer. Merov. 2), Hannover 1888, S. 175. Bei der
Benennung der Chronik schließe ich mich an: Reimitz, History (wie Anm. 45), S. 295.
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Recht in der Region
Norden oder von Westen nach Osten das Herzogtum durchquerte, wird aus diesem Satz nicht
erkennbar.54 Sicher ist jedoch, dass der Autor ein Nebeneinander von Alemannen und Schwaben
annimmt. Auch Alfons Zettler übte an der vorschnellen Gleichsetzung Kritik. Für das 8. Jahrhundert urteilt er: „Beide Begriffe waren nicht oder jedenfalls nicht völlig kongruent, was die damit
angesprochenen Menschen und die von ihnen besiedelten Gebiete betrifft.“55 Die Prominenz des
Schwaben-Namens in dieser Zeit bringt Zettler mit der Verlagerung des Schwerpunkts herzoglicher Herrschaft vom Bodenseeraum an den oberen Neckar in Verbindung. In Cannstatt bereitete
Karlmann der Eigenständigkeit des Dukats 746 bekanntlich ein brutales Ende. Wie Zettler ebenfalls anmerkt, entspricht dieses Nebeneinander auch der spätantiken Geograie, wie sie durch
die Tabula Peutingeriana überliefert ist, in der die Alamannia und die Suevia in Süd-Nord-Ausrichtung östlich des Rheins verortet werden.56 Es erscheint daher zumindest vorstellbar, dass bei
der Reichsteilung von 806 an diese Unterscheidung angeknüpft wurde, um die ungewöhnliche
Teilung des alten merowingischen Dukats zu begründen. Aufgrund der fragmentarischen Überlieferung der Lex Suavorum bleiben aber notgedrungen viele Fragen offen.57 Was die Existenz
von zwei schwäbisch-alemannischen Rechtsbüchern für die Geschichte dieses Raumes im frühen
Mittelalter bedeutet, müsste noch weiter diskutiert werden.
Im Rahmen dieses Beitrags sind in erster Linie drei Befunde zur Charakteristik der Collectio
Neustrica festzuhalten: Erstens zeigt die Collectio, dass das Interesse für das alemannisch-schwäbische Recht nicht auf Alemannien beschränkt war, sondern dass ein in Neustrien tätiger Königsbote Abschriften der beiden Rechtsbücher anfertigen ließ, weil sich die Tätigkeit der Funktionsträger zumeist nicht auf eine einzelne Region beschränkte.58 Vielleicht ist die Sammlung gerade
in Hinsicht auf das Teilreich Karls des Jüngeren entstanden und enthält daher fränkisches und
alemannisches, aber kein bayerisches und römisches Recht. Zweitens gibt die Collectio einen
Einblick in die Möglichkeiten der Kombination von leges und capitula. Während das Kapitular
von Herstal (779) gemeinsam mit den Dekreten der Merowinger an den Anfang gestellt wurde,
um damit das Gesetzgebungsrecht und die Kontinuität des fränkischen Königtums über den Dynastiewechsel hinaus anzudeuten, erscheinen zwei andere Kapitularien aus dem Jahr 803, die
als Capitulare legibus additum und Capitulare missorum für das gesamte Frankenreich erlassen
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zotz, Ethnogenese (wie Anm. 42), S. 52 lässt die Marschrichtung offen, während zettleR, Geschichte (wie
Anm. 42), S. 50 einen west-östlichen Durchmarsch annimmt. In einer brielichen Stellungnahme vom 30. November 2015 votierte Thomas Zotz für einen Süd-Nord-Zug entlang der in der Tabula Peutingeriana abgebildeten Römerstraße.
zettleR, Geschichte (wie Anm. 42), S. 48.
Vgl. hierzu auch ebd. Zur Abfassung der Tabula um 300 vgl. RichaRd J. a. talBeRt, Rome’s World. The Peutinger Map Reconsidered, Cambridge 2010, S. 135. Sowohl Jordanes als auch Prokop betrachteten Schwaben
und Alemannen als zwei getrennte Völker. Vgl. hans ditten, Zu Prokops Nachrichten über die deutschen
Stämme, in: Byzantinoslavica 36 (1975), S. 1–14 und 184–191, hier S. 4–11.
Eine weitere Möglichkeit wäre, dass die Lex Suavorum auf der Reichsversammlung von 802 zusammengestellt wurde, gemeinsam mit den Rechtsbüchern der Nordostprovinzen des Frankenreichs, der Lex Saxonum,
der Lex Thuringorum, der Ewa ad Amorem und der Lex Frisionum. Dagegen spricht aber, dass der SchwabenName nicht zur „ofiziellen“ politisch-geograischen Terminologie des Frankenreichs zählte und deshalb wohl
nur unter außerordentlichen Umständen durch ein Rechtsbuch gewürdigt worden wäre. Zur Reform von 802
vgl. thomas m. BucK, „Capitularia imperatoria“. Zur Kaisergesetzgebung Karls des Großen von 802, in:
Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 3–26; WilfRied haRtmann, Karl der Große und das Recht, in: Karl der
Große und sein Nachwirken. 1200 Jahre Kultur und Wissenschaft in Europa, Bd. 1: Wissen und Weltbild,
hg. von Paul ButzeR, max KeRneR und WalteR oBeRschelP, Turnhout 1997, S. 173–192; JennifeR R. davis,
Charlemagne’s Practice of Empire, Cambridge 2015, S. 350–364.
Vgl. KottJe, Geltungsbereich (wie Anm. 9).
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Karl Ubl
wurden, als Teil des fränkischen Rechts: Sie sind zwischen den beiden Prologen der Lex Salica
und dem eigentlichen Text des Rechtsbuchs platziert und wurden dadurch „frankisiert“. An den
Schluss wurden ganz aktuelle Erlasse Karls des Großen gestellt, die von temporärer Geltung waren. Man erkennt in der Platzierung der Kapitularien daher eine unterschiedliche Wahrnehmung
ihrer Rechtsgeltung und symbolischen Bedeutung. Drittens ist zu betonen, dass diese Sammlung
einen singulären Charakter aufweist und in ihrer Zusammensetzung weder durch den königlichen
Hof noch durch eine schulische oder gelehrte Praxis beeinlusst wurde. Jeder Amtsträger traf eine
Auswahl aus der vorhandenen Welt des Rechts und schuf seine eigene Kompilation. In Reims, in
Saint-Denis und an anderen Orten erkannte man den Nutzen der Collectio Neustrica und fertigte
diejenigen Abschriften an, die uns heute noch erhalten sind.
2. Bezeugte Rechtshandschriften auf der Reichenau und in St. Gallen
Wenn wir uns ausgehend von diesen Befunden den Beständen von St. Gallen und der Reichenau
zuwenden, so ist zuallererst eine Erkenntnis hervorzuheben: Von den 18 Rechtshandschriften, die
vor der Mitte des 9. Jahrhunderts in den beiden Reichsabteien vorhanden waren und katalogisiert
wurden, ist uns heute nur eine einzige Handschrift in St. Gallen überliefert. Man kann somit
ermessen, dass die 178 Rechtshandschriften des 9. Jahrhunderts nur die Spitze des Eisberges darstellen. Vieles, allzu vieles ist uns selbst in denjenigen kirchlichen Institutionen verloren gegangen, die eine lange Archivkontinuität bis ins 19. Jahrhundert oder bis in die Gegenwart aufweisen.
Was das für die Überlieferungschance von Rechtshandschriften im weltlichen Besitz bedeutet, ist
kaum zu ermessen. Für die Zeit nach der Aufzeichnung der Bibliothekskataloge (nach 850) ist
der Unterschied zwischen der Reichenau und St. Gallen eklatant: Während von den einst reichen
karolingischen Rechtshandschriften des Inselklosters nur eine einzige erhalten ist, beinden sich
aufgrund der institutionellen Kontinuität heute noch neun Codices mit weltlichen Rechtstexten
des frühen Mittelalters in St. Gallen. Für St. Gallen ist es daher möglich, die noch heute erhaltenen Handschriften mit den Einträgen des Bibliothekskatalogs aus der Zeit um 850 zu vergleichen,
während wir für die Reichenau mit den Beschreibungen durch den Reichenauer Mönch Reginbert
vorliebnehmen müssen, der in den 820er Jahren einen Bibliothekskatalog erstellte.59 Die Befunde
sind daher nicht direkt vergleichbar und müssen gesondert vorgestellt werden.60
Reginbert verzeichnet im Reichenauer Katalog von 821 sieben Rechtshandschriften, die allesamt als verloren gelten müssen. An der Spitze steht eine Handschrift, die römisches Recht mit
fränkischem und alemannischem Recht kombinierte und darüber hinaus Kapitularien Karls des
Großen und Ludwigs des Frommen enthielt: Lex Theodosiana de diversis Romanorum legibus;
lex Ribuaria; lex Salica et lex Alamannica et capitula domni Karoli et domni Hludovicii imperatorum addenda legibus necnon et alia capitula eius de nutriendis animalibus et laborandi cura
59
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Vgl. KaRl PReisendanz, Reginbert von der Reichenau. Aus Bibliothek und Skriptorium des Inselklosters, in:
Neue Heidelberger Jahrbücher, N. F. (1952/1953), S. 1–49; felix heinzeR, Klosterreform und mittelalterliche Buchkultur im deutschen Südwesten (Mittellateinische Studien und Texte, Bd. 39), Boston/Leiden 2008,
S. 17–31; natalie maag, Alemannische Minuskel (744–846 n. Chr.). Frühe Schriftkultur im Bodenseeraum
und Voralpenland (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters, Bd. 18), Stuttgart
2014, S. 68–77.
Vgl. auch WalteR BeRschin, Eremus und Insula. St. Gallen und die Reichenau im Mittelalter. Modell einer
lateinischen Literaturlandschaft, Wiesbaden ²2005, S. 16–19.
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Recht in der Region
in domestica agricultura in codice I.61 Die Zusammengehörigkeit von leges und capitula wird
dadurch unterstrichen, dass die Kapitularien als legibus addenda bezeichnet werden. Daneben
enthielt diese umfassende Rechtssammlung Kapitularien Ludwigs des Frommen über die Ernährung von Tieren und über die Aufsicht der Arbeit in der häuslichen Landwirtschaft. Dass es
sich dabei um eine verlorene Überlieferung des berühmten Capitulare de villis Karls des Großen
handelt, ist nicht wahrscheinlich, verweist der Eintrag doch auf Ludwig den Frommen als Autor.62 An zweiter Stelle folgt eine etwas bescheidene, aber immer noch überregional ausgerichtete
Sammelhandschrift, in der fränkisches und alemannisches Recht ebenfalls mit capitula legibus
addenda Karls des Großen kombiniert waren, zusammen mit einem Text über die Aufindung des
heiligen Kreuzes.63 Regional war der Fokus dagegen bei der nächsten Rechtshandschrift, einer
Überlieferung der Lex Alamannorum gemeinsam mit Kapitularien Karls des Großen.64 Diese
Kombination ist singulär und begegnet in keiner der erhaltenen Abschriften der Lex Alamannorum. Sie muss daher als verloren gelten. Man kann davon ausgehen, dass diese mehrfach belegten
Verbindungen von leges und capitula den Ambitionen der Rechtsreform Karls des Großen und
Ludwigs des Frommen entsprachen. Die Amtsträger sollten mit den Rechtsbüchern vertraut sein
und darüber hinaus die herrscherlichen Erlasse zur Kenntnis nehmen.
61
62
63
64
Paul lehmann, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Bd. 1: Die Bistümer Konstanz und Chur, München 1918, Nachdruck München 1969, S. 247. Vgl. auch den Eintrag in der Liste der von
Reginbert selbst geschriebenen bzw. erworbenen Handschriften: In XVII. Libro continentur leges diversae,
id est lex Alemannorum, lex Ripuaria, lex Salica, lex Theodosiana et diversi capitulares Pippini, Karoli et
Hludovici regum et ordo ecclesiasticus Romanae ecclesiae et qualiter missa celebretur et de oficiis divinis
in noctibus a caena Domini usque in pascha et qualiter in sancta Romana ecclesiae reliquiae conduntur et
quomodo in sancta Romana ecclesia ordinationes iant et capitula in omnibus [besser: animalibus] laborandi
cura. Ebd., S. 260. Zur Konjektur PReisendanz, Reginbert (wie Anm. 59), S. 40. Gegenüber dem Eintrag des
Gesamtkatalogs gibt es signiikante Unterschiede: Das römische Recht steht nicht am Anfang, König Pippin
tritt als Aussteller von Kapitularien auf, und liturgische Texte sind zusätzlich genannt. Preisendanz vermutet,
dass dieser Eintrag durch die Verbindung zweier Handschriften zustande gekommen und daher zum Teil mit
der oben genannten Handschrift identisch ist. Johannes duft, Rechtshandschriften in mittelalterlichen Bibliothekskatalogen des Bodenseeraumes, in: deRs., Die Abtei St. Gallen, Bd. 1: Beiträge zur Erforschung ihrer
Manuskripte, Sigmaringen 1990, S. 176–191, hier S. 179 f. nimmt nicht zur fraglichen Identität der Einträge
Stellung.
moRdeK, Bibliotheca (wie Anm. 14), S. 240 erwägt eine teilweise Identität mit Mailand, Biblioteca Ambrosiana, 220 Inf. (Einzelblatt des Cap. missorum de villis inquirendis, Provenienz Reichenau). Das Capitulare de
villis in Wolfenbüttel, HAB, Helmst. 254 ist nicht gemeint: ebd., S. 946.
Item lex Ribuaria et lex Alamannica et capitula domni Karoli imperatoris addenda legibus et inventio sanctae
crucis in codice I. lehmann, Bibliothekskataloge (wie Anm. 61), S. 247. Zum letzten Text vgl. Inventio sanctae crucis, hg. von alfRed holdeR, Leipzig 1889. Auch hier gibt es einen ähnlichen Eintrag in der ReginbertListe: In XVIII. Libello continentur lex Ripuaria et lex Alemannorum et capitularia Karoli regis addenda
legibus et de sex aetatibus mundi et de inventionibus sanctae crucis quam Engilram mihi dedit et capitulares
tres, in quibus continentur capitularia Hludovici imperatoris. lehmann, Bibliothekskataloge (wie Anm. 61),
S. 260. Möglicherweise handelt es sich hier um eine vollständigere Aulistung der Inhalte von ein und derselben Handschrift. Für eine Identität auch alfRed holdeR, Die Reichenauer Handschriften, Bd. 3: Register –
Grundstock der Bibliothek – Die alten Kataloge, Leipzig 1918, S. 75; PReisendanz, Reginbert (wie Anm. 59),
S. 41.
Item lex Alamannica et capitula domni Karoli in codice I. lehmann, Bibliothekskataloge (wie Anm. 61),
S. 247 f.
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Reginbert verzeichnet außerdem noch Einzelüberlieferungen von leges: Lex Salica und Lex
Alamannica mit einer Chronik,65 Lex Salica,66 Lex Alamannica67 und Lex Langobardorum.68
Während das langobardische Recht möglicherweise auf die Involvierung der Reichenau in die
Administration Italiens zurückgeht, spiegelt die Einzelüberlieferung des alemannischen Rechts
weniger die Interessen der Funktionsträger des Reiches als vielmehr lokale Bedürfnisse wider.
Das zeigt sich an zwei Einzelüberlieferungen der Lex Alamannorum, die nach dem Katalog von
821 in den Besitz der Reichenauer Bibliothek gekommen sind und die aus dem Besitz von lokalen Eliten stammten. Ein Priester namens Wolfman übergab der Bibliothek ein Missale, ein
Antiphonar, eine Regel und die Lex Alemannorum.69 Der im Reichsdienst nicht hervorgetretene
Abt Erlebald ließ ein kleines Büchlein, einen codicellus, mit der Lex Alamannorum, einem Bußbuch und einem chartularius anfertigen.70 Während sich somit unter den hofnahen Äbten Waldo
(786–806) und Haito (806–823) die reichsweiten Interessen karolingischer Funktionsträger in
den Rechtshandschriften niedergeschlagen haben, wird unter Erlebald ein stärker regionaler Horizont sichtbar.
Für St. Gallen sind ebenfalls mehrere Dokumente zum Bücherbesitz des Klosters im 9. Jahrhundert vorhanden, doch nur der weitgehend vollständige Katalog von ca. 850 nennt weltliche
Rechtshandschriften. Der erste Eintrag verweist auf die einzige noch heute in St. Gallen beindliche Handschrift: Die Zusammenstellung von römischem, fränkischem und alemannischem Recht
bezieht sich auf den St. Galler Codex 729.71 Im Gegensatz zu den Reichenauer Handschriften
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Item lex Salica et Alamannica et computatio annorum per sex mundi aetates in codice I. lehmann, Bibliothekskataloge (wie Anm. 61), S. 247.
Item lex Salica in codice I. Ebd., S. 247. Von der Datierung kommt nur die Einzelüberlieferung in Paris, BN,
lat. 8801 in Frage, die jedoch in Nordfrankreich entstanden sein dürfte: Bischoff, Katalog 3 (wie Anm. 2),
S. 146 und URL: http://www.leges.uni-koeln.de/mss/handschrift/paris-bn-lat-8801/.
Item lex Alamannica in codice I. lehmann, Bibliothekskataloge (wie Anm. 61), S. 248. ecKhaRdt, Gesetze
(wie Anm. 14), S. 19 erwägt die Identität mit Wolfenbüttel, HAB, Helmst. 513, die jedoch aus Italien stammt.
Item lex Longobardorum in codice I. lehmann, Bibliothekskataloge (wie Anm. 61), S. 248. alBan dold,
Zum Langobardengesetz, in: DA 4 (1940), S. 1–53, hier S. 52 lehnt die Identiikation mit St. Gallen, Cod. 730
(7. Jahrhundert, Bobbio) ab, PReisendanz, Reginbert (wie Anm. 59), S. 41 erwägt sie. Dieselbe Handschrift
begegnet in der Liste von Reginbert geschriebener Handschriften: In XIX. Libello habetur lex Longobardorum
et passio Servuli quem emi VIII denariis. lehmann, Bibliothekskataloge (wie Anm. 61), S. 260. Zur erst später
handschriftlich belegten Passio vgl. maRia cRistina Pennacchio, Magnus est Deus huius pueri. Note sulla
passio s. Servuli, in: San Giusto e la tradizione martiriale tergestina nel XVII centenario del martirio di San
Giusto e per il Giubileo d’oro sacerdotale di Mons. Eugenio Ravignani Vescovo di Trieste, hg. von giusePPe
cuscito (Antichità altoadriatiche, Bd. 60), Trieste 2005, S. 147–168.
Wolfman presbyter dimisit missale, antiphonarium, regulam et legem Alemannorum. lehmann, Bibliothekskataloge (wie Anm. 61), S. 256. Möglicherweise identisch mit dem in Anm. 61 genannten Codex, da später hinzugekommene Handschriften im Gesamtverzeichnis ergänzt wurden. Vgl. heinz löWe, Die Entstehungszeit
der Vita Karoli Einhards, in: DA 39 (1983), S. 85–103, hier S. 87.
Liber, lex Alemannica et paenitentialis et cartularius in codicello I. lehmann, Bibliothekskataloge (wie
Anm. 61), S. 254.
LEX Theodosiana, LEX Ermogeniana, lex Papiani, lex Francorum, LEX Alamannorum, in volumine I. Ebd.,
S. 79. Zur Identiikation vgl. die zutreffenden Bemerkungen von clausdieteR schott, Der Codex Sangallensis
731. Bemerkungen zur Leges-Handschrift des Wandalgarius, in: Überlieferung, Bewahrung und Gestaltung
in der rechtsgeschichtlichen Forschung, hg. von stePhan Buchholz, Paul miKat und dieteR WeRKmülleR
(Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N. F. Bd. 69), Paderborn
u. a. 1993, S. 297–319, hier S. 302. anton von euW, Zur künstlerischen Ausstattung früher Leges-Handschriften Cod. 729, 730 und 731 der Stiftsbibliothek St. Gallen, in: AusBILDung des Rechts. Systematisierung
und Vermittlung von Wissen in mittelalterlichen Rechtshandschriften, hg. von KRistin Böse und susanne
WitteKind, Frankfurt a. M. u. a. 2009, S. 63–81, hier S. 63 identiiziert den Eintrag dagegen mit Vatikan, BAV,
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Recht in der Region
sind hier allerdings die leges nicht mit den capitula vereint. Die Kapitularien begegnen vielmehr
in eigenen Handschriften: An zweiter Stelle stehen capitula Ludwigs des Frommen, die, falls es
sich um das Capitulare monasticum handelt, nicht dem weltlichen Recht zuzuordnen sind.72 An
dritter Stelle folgt eine Kombination von Kapitularien Karls des Großen mit Glossen zu Büchern
des Alten Testaments, die sich in keiner der uns überlieferten Handschriften wiederindet.73 Sie
muss daher als verloren gelten. Auch in diesem Fall wäre es denkbar, dass diese capitula mit der
Admonitio generalis zu identiizieren sind und wir es daher eher mit einer kirchlichen Rechtssammlung zu tun haben. Eindeutig weltlichen Charakter haben dagegen die nächsten beiden Einträge: die Handschrift mit Kapitularien als Ergänzungen zu den leges und eine Handschrift der
Institutiones des Justinian, eine singuläre Überlieferung aus dem nordalpinen Raum, die ebenfalls
nicht erhalten ist.74
St. Gallen verfügte somit nicht wie das Inselkloster Reichenau über eine für königliche Missi
und Funktionsträger charakteristische große, integrative Rechtssammlung von leges und capitula. Bedenkt man darüber hinaus, dass die einzige erhaltene Handschrift aus dem Katalog, der
Codex 729, im ersten Viertel des 9. Jahrhunderts im Westen des Frankenreichs geschrieben wurde
und erst irgendwann vor 850 nach St. Gallen kam, so wird der Befund für das Kloster noch dürftiger.75 Die capitula begegnen in einzelnen, eher kleinen Büchern aus wenigen Lagen oder als Teil
eines Bibelkommentars.
Die Situation von St. Gallen hat sich jedoch in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts deutlich verändert. Dieser Wandel ist an der Rezeption der Kapitulariensammlung des Ansegis von
Fontenelle ablesbar, die von Gerhard Schmitz in vorbildhafter Weise aufgearbeitet wurde.76 Die
Sammlung des Ansegis entstand im Jahr 827 und wurde bereits zwei Jahre später von Ludwig
dem Frommen in seinen Erlassen zitiert und somit als standardisierte Zusammenstellung der
Kapitularien anerkannt. Seitdem ersetzte Ansegis sukzessive die älteren singulären Sammlungen wie die am Anfang vorgestellte Collectio Neustrica. Aber nicht nur dies. Ansegis ersetzte
auch bald die leges, vor allem das fränkische Recht, welches seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts nicht mehr mit der Lex Salica, sondern mit der Sammlung des Ansegis gleichgesetzt
72
73
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76
Reg. lat. 1128, was aber nicht sein kann, da diese Handschrift auch die Lex Ribuaria und die Lex Burgundionum enthält.
Capitula Ludovvici imperatoris in codice I. lehmann, Bibliothekskataloge (wie Anm. 61), S. 79.
CAPITULA CAROLI imperatoris et glose in genesim et exodum et leviticum et numerum et in deuteronium et
Josue et iudicum et Ruth et regum, medium librum in volumine I. Ebd., S. 79.
Item capitula quae legibus addenda sunt, volumen I. Item Institutiones imperatorum Romanorum, volumen I.
Ebd., S. 79. Zur Überlieferung der Institutionen vgl. chaRles m. Radding / antonio ciaRalli, The Corpus
Iuris Civilis in the Middle Ages. Manuscripts and Transmission from the Sixth Century to the Juristic Revival
(Brill’s Studies in Intellectual History, Bd. 147), Leiden 2007; Wolfgang KaiseR, Ein unbekanntes Zitat von
Institutiones Iustiniani 3,6 pr. 8 in einer Abhandlung des Hrabanus Maurus zum Ehehindernis der Verwandtschaft, in: Festschrift für Rolf Knütel zum 70. Geburtstag, hg. von holgeR altmePPen u. a., Heidelberg 2009,
S. 513–557 und KaRl uBl, Ein unbekanntes Gutachten des Hrabanus Maurus? Anmerkungen zu einem Neufund, in: ZRG KA 97 (2011), S. 369–374.
Zur Herkunft der Handschrift vgl. Bischoff, Katalog 3 (wie Anm. 2), S. 332 und uBl, Leges-Skriptorium (wie
Anm. 11), S. 59. Zur „karolingerfernen Position“ des Klosters vgl. Rolf sPRandel, Das Kloster St. Gallen
in der Verfassung des karolingischen Reiches (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte, Bd. 7),
Freiburg 1958, S. 53 f.; relativierend schmid, St. Galler Verbrüderungsbuch (wie Anm. 49), S. 511–513.
Collectio capitularium Ansegisi. Die Kapitulariensammlung des Ansegis, hg. von geRhaRd schmitz (MGH
Capit. NS 1), Hannover 1996. Zuletzt stuaRt aiRlie, „For it is written in the law“. Ansegis and the Writing
of Carolingian Royal Authority, in: Early Medieval Studies in Memory of Patrick Wormald (wie Anm. 6),
S. 219–236.
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wurde.77 In St. Gallen ist Ansegis erstmals sicher am Ende des 9. Jahrhunderts nachweisbar in
der ehemals Berliner, jetzt Krakauer Handschrift lat. quart. 931.78 Geschrieben wurde diese vollständige Ansegis-Handschrift in St. Gallen. Aufgrund der Anreicherung mit italienischen Kapitularien lässt sich vermuten, dass die Anfertigung dieser Handschrift mit der Herrschaft Karls des
Dicken über Alemannien und Italien in Zusammenhang stehen könnte. Zwei weitere AnsegisHandschriften beinden sich heute in St. Gallen, wobei aber der Zeitpunkt ihres Transfers in das
alemannische Kloster nicht gesichert ist. Die eine, Cod. 727, überliefert Ansegis zusammen mit
der gefälschten Fortsetzung des Benedictus Levita und wurde um 870 in Reims produziert.79
Die andere, Cod. 728, tradiert nur die beiden Bücher mit dem weltlichen Kapitularienrecht der
Collectio Ansegisi und stammt ebenfalls aus dem Westfrankenreich, vielleicht aus der Nähe von
Soissons.80 Aus dem frühen 10. Jahrhundert stammt noch eine weitere Ansegis-Handschrift,
Stuttgart, Cod. iur. quart. 134.81 St. Gallen ist damit ein Zentrum der Verbreitung des Ansegis im
ostfränkischen Raum. Diese enorme Präsenz im süddeutsch-alemannischen Raum bewog Gerhard Schmitz zu der Aussage, dass „dort jedes bessere Kloster und jede Kathedralkirche mindestens ein Ansegis-Exemplar besessen haben dürfte.“82
Die Bestände von St. Gallen wurden somit nach 850 signiikant erweitert, und zwar nicht nur
mit Ansegis, sondern auch mit zwei leges-Handschriften,83 die auf die neuen Bedingungen im
Ostfrankenreich zugeschnitten waren, weil sie nur mehr fränkisches und alemannisches Recht
beinhalteten, aber kein römisches Recht. In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts scheinen also
mehr Anstrengungen unternommen worden zu sein, die Bibliothek von St. Gallen mit aktuellen
Handschriften des weltlichen Rechts auszustatten. Vermutlich spiegelt sich darin die politische
Bedeutung des Klosters im ostfränkischen Reich unter Abt Grimald und seinen Nachfolgern
wider,84 auch wenn wir keine der erwähnten Handschriften konkret mit einem der einlussreichen
Äbte in Beziehung setzen können.
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84
222
Hierzu künftig uBl, Sinnstiftungen eines Rechtsbuchs (wie Anm. 3).
schmitz, Collectio (wie Anm. 76), S. 79–81; moRdeK, Bibliotheca (wie Anm. 14), S. 43–47.
schmitz, Collectio (wie Anm. 76), S. 146 f.; moRdeK, Bibliotheca (wie Anm. 14), S. 664 f.
schmitz, Collectio (wie Anm. 76), S. 147 f.; moRdeK, Bibliotheca (wie Anm. 14), S. 665–668.
schmitz, Collectio (wie Anm. 76), S. 153–155; moRdeK, Bibliotheca (wie Anm. 14), S. 724–728.
schmitz, Collectio (wie Anm. 76), S. 215.
St. Gallen, Stadtbibliothek, Cod. 338 aus Mainz mit Lex Salica, Lex Ribuaria und Lex Alamannorum kam
noch im 9. Jahrhundert nach St. Gallen [Bischoff, Katalog 3 (wie Anm. 2), S. 297]. St. Gallen, Cod. 728 mit
Lex Salica und Lex Ribuaria aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts [Bischoff, Katalog 3 (wie Anm. 2),
S. 332]. Die Handschrift Vatikan, BAV, Reg. lat. 1128 möchte ich nicht dazu zählen, da ihr Bezug zu St. Gallen
meines Erachtens nicht gesichert ist.
sPRandel, St. Gallen (wie Anm. 75), S. 55; heinRich BüttneR, Lorsch und St. Gallen, in: deRs. / Johannes
duft, Lorsch und St. Gallen in der Frühzeit. Zwei Vorträge (Vorträge und Forschungen. Sonderband, Bd. 3),
Konstanz 1965, S. 5–20, S. 12; Johannes duft, Die Abtei St. Gallen, Bd. 2: Beiträge zur Kenntnis ihrer Persönlichkeiten, Sigmaringen 1991, S. 61–72; eRnst tRemP, Ludwig der Deutsche und das Kloster St. Gallen, in:
Ludwig der Deutsche und seine Zeit, hg. von WilfRied haRtmann, Darmstadt 2004, S. 141–160; zum Anstieg
der Buchproduktion unter Grimald vgl. auch hannes steineR, Buchproduktion und Bibliothekszuwachs im
Kloster St. Gallen unter den Äbten Grimald und Hartmut, in: ebd., S. 161–183.
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Recht in der Region
3. Schluss
Nach diesen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass der „Revolution“ des Rechtswissens im 9. Jahrhundert kein Automatismus zugrunde lag. Es war nicht so, dass nach der Bildungsreform Karls des Großen die Schreiber in den Skriptorien händeringend nach Material gesucht
hätten, welches sie in prachtvolle Codices kopieren konnten, ohne die Bedürfnisse der Praxis zu
berücksichtigen. Dafür war das Material zu teuer, die Zeit auch für die Mönche zu knapp und
vor allem der Inhalt – das weltliche Recht – zu wenig heilsrelevant. Es war auch nicht so, dass,
nachdem Karl der Große die Einhaltung des Schriftrechts von seinen Amtsträgern eingefordert
hatte, in allen Regionen des Frankenreichs die Skriptorien auf Hochtouren liefen, um dem Befehl des Kaisers nachzukommen, ohne dass an die regionalen Bedürfnisse gedacht worden wäre.
Das Beispiel der beiden großen Abteien in Alemannien hat vielmehr gezeigt, dass die Involvierung in die Reichspolitik eine entscheidende Rolle spielte. Die Reichenau verfügte bereits im
Jahr 821 über umfassende und überregional angelegte Rechtshandschriften, die mit der von mir
eingangs vorgestellten Collectio Neustrica durchaus vergleichbar waren. Die Äbte Waldo und
Heito zählten zur kleinen erlesenen Führungsschicht im Reich Karls des Großen und Ludwigs
des Frommen.85 Eine Standardisierung ist dabei weder im Zentrum des Frankenreichs noch auf
der Reichenau erkennbar. Jede einzelne Sammlung des Rechtswissens ist singulär, was einerseits
die individuellen Interessen und Bedürfnisse für uns erkennen lässt, aber andererseits auch die
Regellosigkeit der normativen Überlieferung deutlich macht. In St. Gallen kam es dagegen vor
850 nicht zur Vereinigung von leges und capitula in den Handschriften, vielmehr blieben die
beiden normativen Bestände kodikologisch voneinander getrennt. Beides war zwar vorhanden,
doch eine überregional angelegte Rechtshandschrift in der Art der Collectio Neustrica war in
St. Gallen nicht verfügbar. Damit werden auch die Grenzen der Verbreitung des Rechtswissens
im 9. Jahrhundert sichtbar. Wie sich die Situation in den kleineren oder mittelgroßen Klöstern
Alemanniens darstellt, die immerhin auch zu regelmäßigem Gebetsdienst und zu Abgaben an den
Hof verplichtet waren, ist mangels Quellen nicht erkennbar.86 Allzu viel wird man dort nicht erwarten können, wenn die normativen Texte sogar in dem bedeutenden Kloster St. Gallen in einem
weniger geordneten Zustand angekommen sind und nicht in eine umfassende Rechtssammlung
eingegliedert wurden. Erst in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts verdichtete sich unter Grimald von St. Gallen das Rechtswissen durch die schnelle Rezeption der Kapitulariensammlung
des Ansegis in verschiedenen Fassungen, die bis in das 10. Jahrhundert anhielt. Recht war nach
Ansegis nicht mehr, was in den alten Rechtsbüchern der gentes niedergelegt war und was seine
Autorität von der Objektivität der gentilen Ordnung herleitete, sondern Recht war, was die fränkischen, genauer: karolingischen Könige in ihren Erlassen verkündet hatten. Für St. Gallen, wo
noch im 10. Jahrhundert Abschriften von Ansegis entstanden, war das Frankenreich offenbar
nicht mit Ludwig dem Frommen oder Karl dem Dicken zugrunde gegangen.
85
86
donald a. Bullough, „Baiuli“ in the Carolingian „regnum Langobardorum“ and the Career of Abbot Waldo († 813), in: The English Historical Review 77 (1962), S. 625–637; zettleR, Geschichte (wie Anm. 42),
S. 64–66 (Waldo); PhiliPPe dePReux, Prosopographie de l’entourage de Louis le Pieux (781–840) (Instrumenta, Bd. 1), Sigmaringen 1997, S. 234 (Heito).
In der Notitia de servitio monasteriorum, hg. von PetRus BecKeR (Corpus consuetudinum monasticarum,
Bd. 1), Siegburg 1963, S. 493–499, von 819 werden aus Alemannien u. a. Schuttern, Ellwangen, Kempten und
Ottobeuren erwähnt. Zur Identiikation von Ottobeuren vgl. heinRich WagneR, Zur Notitia de servitio monasteriorum von 819, in: DA 55 (1999), S. 417–438. Keine der erhaltenen leges-Handschriften kann mit einem
dieser Klöster in Verbindung gebracht werden.
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