Verflechtungen und Interferenzen. Studien zu den
Literaturen und Kulturen im zentraleuropäischen Raum
Herausgegeben von Wolfgang Müller-Funk und Andrea Seidler
1
Der zentraleuropäische Raum, der insbesondere die Länder auf dem einstigen Territorium
der Habsburger Monarchie umfasst, ist bis heute durch Kleinteiligkeit und enge Wechselbeziehungen zwischen den jeweiligen Literaturen und Kulturen geprägt. Insbesondere in seiner
kulturgeschichtlichen Tiefendimension überschreitet er die Homogenität nationaler Räume.
Bis heute sind in vielen literarischen und filmischen Werken der ungarischen, österreichischen,
post-jugoslawischen, tschechischen und slowakischen, der rumänischen, ukrainischen und polnischen Literatur Spuren von Heterogenität und Plurikulturalität auffindbar.
Die Begriffe „Verflechtungen“ und „Interferenzen“ beschreiben grenzüberschreitende Überlappungen und Bezüge zwischen den verschiedenen Literaturen dieses Raumes, und zwar in
einem doppelten Sinn: Zum einen übersteigen viele historische und gegenwärtige Werke den
engen nationalen Bezugsrahmen, zum anderen aber sind die in der Reihe geplanten Studien
in ihrer methodischen Ausrichtung selbst grenzüberschreitend, transnational und zuweilen
auch transdisziplinär orientiert. Die Reihe dokumentiert hungarologische Forschungen an der
Universität Wien, aber auch Forschungen jener Netzwerke, die sich grenzüberschreitend und
komparatistisch mit den Literaturen eines von Konvergenz und Konflikt geprägten symbolischen Raumes beschäftigen.
Die Herausgeberin und der Herausgeber lehren am Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft im Spannungsfeld von Hungarologie, zentraleuropäischen Studien, Medien- und Kulturanalyse.
Das ungarische Wien
Spuren eines Beziehungsgeflechts (Teil 1)
Herausgegeben von
Károly Kókai
Andrea Seidler
Mit einem Vorwort von Anil Bhatti
Praesens Verlag
Gedruckt mit Förderung der Kulturabteilung
der Stadt Wien, Wissenschafts- und
Forschungsförderung
sowie der Universität Wien
und der Aktion Österreich Ungarn
Coverbild: © Andreas Pöschek
Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-7069-0935-8
© Praesens Verlag
http://www.praesens.at
Wien 2018
Alle Rechte vorbehalten. Rechtsinhaber, die nicht
ermittelt werden konnten, werden gebeten, sich
an den Verlag zu wenden.
Inhalt
VORWORT
Anil Bhatti (New Delhi)
7
Literatur und Gesellschaft
Johann Ladislaus Pyrkers Rudolphias: Das Werk eines
österreichischen, deutschen oder ungarischen Dichters?
Wynfrid Kriegleder (Wien)
21
Die Rolle Wiens und seiner Institutionen für die Entwicklung
der ungarischen Literatur im ausgehenden 18. Jahrhundert
Márton Szilágyi (Budapest)
39
Der Ungar aus Wien: Nikolaus Lenaus Gedichte aus der Heimat
Wolfgang Müller-Funk (Wien)
47
Die Wiener Stadtporträts von Ludwig Hevesi
Endre Hárs (Szeged)
58
Ortlosigkeit in der Heterogenität. Die Varianten einer
Existenzform in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts
in der ehemaligen Donaumonarchie
Gábor Schein (Budapest)
80
Theater
Alterität in österreichischen Lustspielen der Aufklärung.
Zu Karl Marinellis Theaterstück Der Ungar in Wien
Andrea Seidler (Wien)
93
Liliom geht über die Grenze
Katalin Czibula (Budapest) und Klaus Heydemann (Wien)
107
Medien und Künste
Das Bild der Türken in der ungarischsprachigen Wiener Presse
des späten 18. Jahrhunderts
Brigitta Pesti (Wien)
123
Möglichkeiten einer gemeinsamen Identität?
Joseph von Hormayrs reichspatriotisches Konzept und die Ungarn
Katalin Blaskó (Wien)
149
Ein Klimt-Gemälde aus der Perspektive der
österreichisch-ungarischen Kulturbeziehungen
Katalin Czibula (Budapest)
163
Spuren der Avantgarde in Wien
Károly Kókai (Wien)
178
Geschichte und Sprache
Das Freihaus Nádasdy in Wien im 16. und 17. Jahrhundert
Ernő Deák (Wien)
201
Ärzte im Netz – Bildung, Profession und Selbstdarstellung
ungarländischer Mediziner im 18. Jahrhundert
Lilla Krász (Budapest)
215
Franz Joseph und Ungarn
Karl Vocelka (Wien)
231
Österreichisch-ungarische Wechselwirkungen und die Medialität
von Sprache im „kakanischen“ Kontext
Manfred Michael Glauninger (Wien)
243
Autoren und Autorinnen des Bandes
253
6
VORWORT
Anil Bhatti (New Delhi)
I
Dieser Band dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung, die eindrucksvoll
die Verschränkung zwischen Österreich und Ungarn in der Habsburgermonarchie belegen: Das wiederholte Überschreiben der Vergangenheit
am Beispiel des ungarischen Wien.
Die Initiatoren der Tagung – Andrea Seidler, Károly Kókai – haben in
ihrer Ankündigung hervorgehoben, dass Österreich und Ungarn über
Jahrhunderte hinweg politische Einheiten verschiedenster Provenienz
bildeten. Der historische Bogen der Tagung spannt sich also über einen
Zeitraum von mehr als 500 Jahren. In diesem halben Jahrtausend bildete
sich ein kultureller Kommunikationsraum und es kam zu Begegnungen
der beiden Staaten Österreich und Ungarn, die auf vielen Gebieten sowohl
sprachliche als auch territoriale und ethnische Grenzen porös machten
und geradezu verschwinden ließen. Kulturelle Konfigurationen bildeten
sich, die bald wieder überschrieben wurden durch neue Formen des Zusammenlebens und des gegenseitigen Wirkens aufeinander. Wir können
in diesem Zusammenhang von Kultur als einer Art „Palimpsest“ sprechen. Der Zugang zu diesem Palimpsest ist nicht durch das Evozieren von
„Authentizität“, sondern durch die Einsicht, dass solche Konfigurationen
von einer inklusiven Logik des „Sowohl-Als-Auch“ und nicht einem exkludierenden Prinzip des „Entweder-Oder“ gekennzeichnet sind. Am wenigsten trifft hier die alterierende Hermeneutik von Eigen/Fremd. Statt
dieser haben wir verschiedene Überlappungen, „fuzzy“ Grenzziehungen
und eine flexible Form der kulturellen Nähe, die sich zwischen Österreich
und Ungarn entwickelte. Sie wurde im Theaterleben, in der Literatur, in
den angewandten und bildenden Künsten, in den Medien und Lebenswelten allgemein sichtbar.
7
Anil Bhatti (New Delhi)
II
Der Zugang zur Charakteristik solcher Kulturen ist nicht über eine Hermeneutik der Differenz zu erzielen, sondern über die Wahrnehmung von
Ähnlichkeiten. Das gehört zur Spezifik von komplexen Gesellschaften, die
durch eine Vielfalt von sprachlichen, religiösen und kulturellen Überlappungen gekennzeichnet sind, die mit dem Begriff des „Multikulturalismus“ nur unzureichend erfasst wird. Es geht hier nicht um das Nebeneinander verschiedener kultureller Parallelstränge, sondern vielmehr um
Verschränkungen und Überlappungen (entanglement), in einem Beziehungsgeflecht sichtbar, das durch ein flexibles Wechselspiel von Ähnlichkeit und Differenz gekennzeichnet ist.
Die gegenwärtige Relevanz des Themas „Ähnlichkeit“ in den Kulturwissenschaften hängt mit den Problemen von komplexen plurikulturellen Gesellschaften zusammen, die durch ein hohes Maß von sprachlicher, religiöser, kultureller Diversität gekennzeichnet sind. Häufig sind
das Migrationsgesellschaften wie jetzt in Europa. Oder es sind Staaten
mit einer historisch gewachsenen Diversität wie etwa Indien. Es geht in
diesen Gesellschaften um Transformationsprozesse. Plurikulturelle Verhältnisse, Mehrsprachigkeit, Synkretismus sind einige Stichworte, die in
diesem Zusammenhang wiederkehren. Meist stehen sie kontrovers zwischen der Heterogenität, die ja größere Staatsformationen (u.a. Indien
und viele Staaten in Afrika, Lateinamerika und Asien) kennzeichnet und
der Homogenität, die von Nationalstaaten erwartet wird. Dies ist auch ein
Spannungsfeld, denn heterogene Staatsformationen wie etwa Indien sind
zunehmend unter dem Druck verschiedener Fundamentalismen von Bestrebungen nach Homogenisierung herausgefordert. Umgekehrt stehen
traditionelle Nationalstaaten vor neuen Aufgaben, die durch Prozesse der
Heterogenisierung gekennzeichnet sind. In diesem oft konfliktreichen
Prozess werden weitgehend monosprachige und mehr oder weniger monokulturelle Lebenswelten pluralisiert. Die Entstehung von Europa als
Zusammenschluss verschiedener Nationalstaaten ist dafür ein Beispiel.
Dabei spielt der Rekurs auf historische Erfahrung eine wichtige Rolle. In
Europa gibt es das Beispiel der Habsburgermonarchie und Zentraleuropas
als eine Region großer sprachlicher, konfessioneller und kultureller Diversität. In Indien greift man zurück auf die Tradition des Synkretismus,
um Gemeinsamkeiten in der religiös-gesellschaftlichen Praxis hervorzuheben.
8
VORWORT
III
Es geht also eher um „Plurikulturalität“. Dies bildet auch die innere
Spannung solcher „plurikulturellen“ Gesellschaften, die stets der gesellschaftspolitischen und kulturellen Auseinandersetzung zwischen kultureller Homogenisierung und gesellschaftlicher Heterogenität unterliegen.
Lange Zeit galten solche Gesellschaften als nicht „normal“. Als normal
wurde das Idealbild eines durch Sprache, Religion, Geschichte, Territorium festgeschnürten kongruenten Gebildes gesehen, das in Westeuropa
als „Nation“ galt. Die homogenisierte Nation wurde seit dem 19. Jahrhundert die Norm und alles andere, das auf komplexe und plurale Figurationen von Sprache, Religion, Kultur deutete, galt als Abweichung.
Allmählich verliert dieser Nationsbegriff seine Überzeugungskraft.
Gewiss hat der Prozess der Einigung Europas dazu beigetragen, dass wir
mehrsprachige, multireligiöse, multiethnische, ja plurikulturelle Organisationsformen jetzt positiv werten können. Hier hat der Vergleich mit
Indiens historisch gewachsener Plurikulturalität auch produktiv gewirkt.
Aber, wir haben aus der jüngsten Geschichte von Europa und Indien
lernen müssen, dass große Staaten fragile Staaten waren und sind, die
ständig unter Spannung und unter dem Druck von zentripetalen und
zentrifugalen Kräften und der Spannung zwischen Heterogenität und
Homogenität standen und stehen. Die nationalstaatliche Ideologie, die
eine Kongruenz zwischen Sprache, Territorium und Religion als die natürliche Konfiguration für menschliche Lebensoptionen (ich nenne sie
„die Herdersche Orthodoxie“) ansieht, hat seit der Hochblüte des Kolonialismus im 19. Jahrhundert ihre Macht behauptet. Große mehrsprachige, multikonfessionelle Formationen wurden als Ausnahmen denunziert
und von partikularen, identitätspolitischen Bewegungen bekämpft. In
Europa zerfiel die Habsburgermonarchie unter dieser Spannung und in
unseren Tagen muss Indien ähnliche Spannungen aushalten. Sowohl die
Habsburgermonarchie als auch Indien waren und sind große Laboratorien der Diversität, wo Mehrsprachigkeit, religiöse und „ethnische“ Vielfalt
sich täglich arrangieren müssen im Interesse einer säkularen Ordnung.
Die Selbstverständlichkeit dieser Ordnung konnte vom Nationalismus nie
akzeptiert werden.
Die Neubewertung der Habsburgermonarchie als Experiment, dessen
Produktivität für eine Neugestaltung von Europa, setzt sich erst jetzt
durch, nachdem eine Reihe von Forschungen, nicht zuletzt unter der
produktiven Rezeption von postkolonialen Gedanken herausgearbeitet
haben, dass das Plurale eine Signatur unserer Zeit ist. Plurikulturalität
9
Anil Bhatti (New Delhi)
(nicht identitätsbezogener Multikulturalismus) ist die Signatur für die säkulare Ordnung unserer Zeit.
IV
Pieter Judson, dem wir eine bedeutende Gesamtdarstellung der Habsburgermonarchie verdanken, betont in einem neueren Beitrag,1 dass „viele
der neuen Interpretationen die nationalistischen Vorstellungen, welche
heute die normative Grundlage für unser Verständnis vom Funktionieren der Welt bilden“, in Frage stellen. Erforderlich ist erstens die Analyse von den lokalen oder regionalen Ebenen und zweitens die Ebene des
„Empire“.
Im Vorwort zu seinem Buch über die Habsburgermonarchie schreibt er:
„Dieses Buch behandelt den politischen Nationalismus in Mitteleuropa
unter den Habsburgern als Produkt imperialer Strukturen und regionaler
Traditionen, nicht als etwas, mit dem sich übergeschichtlich existierende
Ethnien Ausdruck verschafften, wie Aktivisten des neunzehnten Jahrhunderts behaupteten.“2
In seiner neuen Geschichte schreibt Judson weiters:
„The tropes of warring nationalities and of a fundamentally moribund Austro-Hungarian state endured and even flourished during the past century,
especially in literature on the First World War. But if Austria-Hungary sat
poised on the brink of extinction by nationalist revolt in 1914, why is it that
the major nationalist rebellion of World War I … broke out in Dublin and not
in Ljubljana, L’viv, Prague, or Zagreb? Britain, although also an empire, was
evidently not a candidate for the title of sick man of Europe. No one speaks
of the British state as an anachronism in the world of the early twentieth
century, despite the series of crises precipitated by the Irish question before
the war, the undemocratic power of the British House of Lords, or the limited
parliamentary franchise in Britain compared to France, Germany, or imperial
Austria. Why shouldn’t we see in the British Empire the most extreme example of politically corrosive nationalist conflict within Europe, along with the
evergrowing challenges it faced to rule in its colonial empire? More importantly, why do so many historians continue to maintain, … that specifically
nationalist political conflict was the preeminent reason for the collapse of
1
2
10
Pieter Judson: Die Habsburgermonarchie. Neue Interpretationen. In: Bohemia, 57, 2017, 11.
Pieter Judson: Habsburg: Geschichte eines Imperiums. (German Edition) (Kindle-Positionen
640-642). C.H.Beck. Kindle-Version; Englisches Original: Pieter Judson: The Habsburg Empire. A New History. Cambridge, Mass., London: The Belknap Press of Harvard University
Press 2016.
VORWORT
Austria-Hungary, and that the collapse was therefore predestined long before the autumn of 1918?
A few specialist and far more non-specialist historians to this day presume (it
is not even an argument) that Austria-Hungary collapsed in 1918 largely due
to popular nationalist opposition to empire in Central Europe that had been
present for decades, as if the specific experience of four long years of war
had no bearing on the question. Worse still, such normative assertions tend
to frame our understandings of the events of the 1920s following the war in
Europe, even for those of us who reject the claims of an empire existentially
weakened by nationalist conflict. I am not arguing that Austria-Hungary did
not face political challenges centered on issues of political nationalism, but
rather that it has been made an exception to European development in this
regard in ways that cloud its comparability to other European states. The
very fact that for all its alleged troubles with nationalism the Dual Monarchy
never faced anything approaching the danger or destructiveness of the Irish
nationalist Easter Rebellion is highly meaningful.“3
V
Die Habsburgermonarchie ist jetzt kein Anachronismus mehr. Im Gegenteil, viele Aspekte wie die situationsgerechte Vielsprachigkeit, der synkretistisch geprägte Pragmatismus in der lebensweltlichen Praxis sind
wegweisend gewesen. Vielsprachigkeit ist ein integraler Teil der plurikulturellen Gesellschaft. „Diversity was not a sign of divine wrath, nor
was multilinguality a crime that demanded punishment“ schreibt Sheldon Pollock über die indische Tradition.4 In der Praxis galt das auch für
die Habsburgermonarchie.
Gelungene mehrsprachige Konstellationen zielen nicht auf Sprachperfektion, sondern auf hinreichende Kommunikation ab. Nichts ist der
Mehrsprachigkeit abträglicher als der Purismus und der Perfektionismus. Mehrsprachigkeit ist vielleicht eher mit performativen Begriffen
wie Sprachhabitus und Sprachrepertoire zu erfassen. Man wächst auf
in einer mehrsprachigen Welt, mit dem Klang vieler Sprachen im Ohr.
Die Andersheit anderer Sprachen ist nicht Fremdheit. Das Verhältnis
zwischen den Sprachen im mehrsprachigen Repertoire ist nicht das Verhältnis zwischen Muttersprache und Fremdsprache. Sämtliche Versuche,
3
4
Pieter Judson: „Where our commonality is necessary…“: Rethinking the End of the Habsburg Monarchy. Thirty-Second Annual Robert A. Kann Memorial Lecture. In: Austrian
History Yearbook 48, 2017, 1-21, hier: 3f.
Sheldon Pollock: The Language of the Gods in the World of Men: Sanskrit, Culture and Power in
Pre-modern India. 2006, 477.
11
Anil Bhatti (New Delhi)
natürliche mehrsprachige Situationen zu sabotieren (Purismus, Sprachreinigungsprogramme) wollen durch Homogenisierungsvorgänge einen
Zustand herbeiführen, wo es um bilaterale Verhandlungen zwischen der
„eigenen“ und der „fremden“ Lebenswelt geht.
Mit Umberto Ecos Worten geht es um „die Möglichkeit des Zusammenlebens auf einem durch Berufung vielsprachigen Kontinent. Das Problem
der zukünftigen europäischen Kultur liegt sicher nicht im Triumph der
totalen Vielsprachigkeit (...), sondern in der Herausbildung einer Gemeinschaft von Menschen, die in der Lage sind, den Geist, das Aroma, die Atmosphäre einer anderen Sprache zu erfassen. Ein Europa von Polyglotten
ist kein Europa von Menschen, die viele Sprachen perfekt beherrschen,
sondern im besten Fall eines von Menschen, die sich verständigen können, indem jeder die eigene Sprache spricht und die des anderen versteht, ohne sie fließend sprechen zu können, wobei er, während er sie
versteht, wenn auch nur mit Mühe, zugleich ihren ‚Geist‘ versteht, das
kulturelle Universum, das ein jeder ausdrückt, wenn er die Sprache seiner Vorfahren und seiner Tradition spricht.“5
Die Ideologie der Homogenität hat aber dazu geführt, dass die älteren
Traditionen der Diversität und Mehrsprachigkeit in Europa, wie etwa in
der Renaissance und der Barockzeit abgewertet wurden und erst jetzt
wiederaufgearbeitet werden.
VI
Es ist kein Zufall, dass viele Überlegungen zum Problem der Diversität
und der Spannung zwischen kultureller Integration und Desintegration
im Nationalismus aus den historischen Erfahrungen aus der Kolonialzeit
heute noch relevant sind.
Bei Tagore führt dies zu einer starken anti-nationalistischen Haltung.
Er bezeichnet den Nationalismus als eine „egoistische“, „exkludierende“, „zerstörerische“, „partikularistische“ und „dämonische“ und auch
als eine „moderne“ Kraft.6 Nicht anders als bei Grillparzer, der schrieb:
„Der Weg der neuern Bildung / Geht / Von Humanität / Durch Nationalität / Zur Bestialität.“7 Tagore spricht in einem ähnlichen Gedankengang
5
6
7
12
Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. München 1995, 149.
Rabindranath Tagore: International Relations. (1924). In: Sisir Kumar Das (Hrsg.): The English
writings of Rabindranath Tagore. Bd. 3. A Miscellany. New Delhi, 1996, 385-400, hier: 472.
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Hg. v. Peter Franz und Karl Pörnbacher, 2 Bde.
München 1960, Bd. 1, 500.
VORWORT
von „harvest of suspicion, hatred and inhospitable exclusiveness“ als ein
Kennzeichen der Nation. Insofern sollte das befreite Indien nicht diese
Nation sein, die ausschließt, die nicht gastfreundlich funktioniert, die
„inhospitable“ ist, sondern sie sollte in eine inkludierende Gesellschaft
umgewandelt werden, eine inkludierende Gesellschaft im internationalen Zusammenhang und eine inkludierende Gesellschaft im indischen
Zusammenhang. Diese zwei Notwendigkeiten, die er formulierte, hat er
explizit entwickelt, nachdem er das Ergebnis der Nationenbildung in Europa auf der Grundlage des Wilson Plans nach dem ersten Weltkrieg und
vor allem den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie erlebt hatte.
„The minor people who lived side by side within the empire of Austria
have burst their bonds and are happy to have their separate existence“,
schreibt Tagore „because suppressed distinctions are explosive“.8 Aber
Tagore hat auch erfahren, dass das Recht auf nationale Selbstbestimmung
nicht für die Kolonien galt. Diese Erfahrung hat er mit anderen Vertretern
der antikolonialistischen Bewegungen geteilt, und er hat daraus gelernt.
Tagores Frage war, wie das Universalistische verteidigt werden kann im
Prozess der Auflösung der Habsburgermonarchie in mehrere verschiedene Nationen. Diesen Weg zu Nationenbildung wollte er nicht innerhalb
Indiens unterstützen, denn nichts lag der Logik des Kolonialismus näher,
als die Komplexität Indiens durch Teilen und Fragmentierung zu kompromittieren, indem man die verschiedenen Sprachen, Religionen, Kulturen
zu homogenisieren versuchte und aus ihnen separate unabhängige Nationalstaaten entwickelte – eine Logik, die später zu der verhängnisvollen
„Partition“ (Teilung) Indiens zu Pakistan und Indien führte. Tagores gewiss idealistische Versuche, einen universalistischen Standpunkt zu entwickeln, hängen auch mit seinen Reflexionen über die Entwicklungen in
Europa nach dem ersten Weltkrieg zusammen.
Es ist bedenkenswert, dass auch die marxistische Diskussion um die Jahrhundertwende plurikulturelle Verhältnisse bewahren wollte. Samir Amin
hat mit Recht daran erinnert:
„Faced with the reality of national identities, yet concerned to insist upon
class interests, socialists have defended positions which, though not always
politically effective in the short term, have been noble, worthy and in advance of the times. I am thinking here of the attitudes of the socialist movement within the multinational empires of Europe: the Austro-Marxists of
8
Tagore, 1996, 472.
13
Anil Bhatti (New Delhi)
the Austro-Hungarian Empire, and the Bolsheviks of the Russian Empire. The
Austro-Marxists wanted to save the large state, but by reconstructing it on
the basis of recognition of ethnic, religious and national differences as democratically legitimate.“9
Gewiss gab es viele Probleme in diesem Modell der Rekonstruktion, nicht
zuletzt, weil solche Rekonstruktionen ohne größere Bevölkerungsverschiebungen kaum realisiert werden können. Eine Art interner Homogenisierungsschub unter dem Schutz der Heterogenität ist mit plurikulturellen Kommunikationsformen nicht kompatibel. Damit schafft man nur
kulturelle Monaden innerhalb eines Gesamtstaats und damit auch den
Ausgangspunkt für kleinere, ethnisch homogene Staaten. Der säkulare
Teil der antikolonialen Bewegungen hat deshalb die Notwendigkeit von
größeren Staaten betont, nicht zuletzt als Bollwerk gegen kolonialistische
Interessen, die nach dem Prinzip von „divide et impera“ funktioniert haben. Konservative Fraktionen innerhalb der Kolonien haben dagegen Nationen auf der Grundlage von gegenaufklärerischen Gründungsmythen
verlangt.10
Am Ende stehen aber auch Lehren, die wir aus der Gegenwart und aus
dem Neuaufstieg des Nationalismus in Europa (und Indien) ziehen müssten.
Judson schreibt mit Recht:
„Although specialists who write the history of the monarchy and the region
may have abandoned them long ago, nationalist presumptions about the existence and agency of coherent national communities in Europe continue
to haunt general and popular histories of Europe. This is certainly the case
when those works look eastward, and especially when they consider the end
of World War I. (...), most of these nationalist presumptions originated in the
very period in which the successor states were first established, and they
continued for decades to influence narratives about the establishment or enlargement of those states. During the Cold War, they gained renewed power
as social scientists sought to explain the apparent long-term structural conditions that separated the allegedly democratic and capitalist development of
Europe’s West from its backward and authoritarian East.“11
9
Samir Amin: Capitalism in the Age of Globalization. The Management of Contemporary Society.
London 1977, New Delhi 1977, 86.
10 Ebda., 86.
11 Judson: „Where our commonality is necessary…“, 2017, 7.
14
VORWORT
Der Nationalismus in seiner exkludierenden Form ist noch lange nicht zu
Ende. Aber die Erinnerung an die Habsburgermonarchie und an die Erfahrungen des Kolonialismus lassen uns an die universalistischen Werte
denken und daran festhalten.
Die Wiener Tagung und die Aufsätze, die jetzt erscheinen, sind ein
wichtiger Beitrag darüber.
Die Beiträge des Bandes:
Wynfrid Kriegleder schreibt über Johann Ladislaus Pyrker, 1772 in Ungarn geboren, katholischer Priester und ab 1812 Abt des Stiftes Lilienfeld,
der 1819 vom Kaiser zum Bischof der Zips ernannt wurde. 1824 veröffentlichte Pyrker das „Heldengedicht in zwölf Gesängen“ Rudolph von Habsburg, das ein Zeugnis für die Aporie bildet, mit der das österreichische
Kaisertum seit 1804 konfrontiert war: die alte, übernationale Idee des römischen Imperiums mit dem neuen Nationalbewusstsein zu verknüpfen.
Márton Szilágyi thematisiert die Frage, warum Wien als die Hauptstadt
des Habsburger Reiches im 18. Jahrhundert für ungarische Autoren als
Standort und auch als Ausgangspunkt ihrer schriftstellerischen Laufbahn
sehr attraktiv war. Es geht dabei um eine Gegenüberstellung von Zentrum
und Peripherie, um die Möglichkeiten, die Wien den Autoren auch aufgrund seiner zahlreichen modernen Institutionen bot.
Am Beispiel von einigen Landschafts- und Erinnerungsgedichten Nikolaus Lenaus zeigt Wolfgang Müller-Funk, wie stark der ungarisch-österreichische Dichter Lenau aus den Bildern der ungarischen Landschaft
eine Identität entwickelt, in der die Natur zum Spiegelbild eines romantischen Individuums wird, das zugleich eine nationale und revolutionäre
Selbstkonstruktion enthält.
Endre Hárs portraitiert Ludwig Hevesi (1843–1910), Journalist, Kunstkritiker und Schriftsteller in Budapest und (ab 1875) Wien, der als Beobachter und Protokollist der urbanen Entwicklung Österreich-Ungarns
und als Kulturvermittler in der Lage war, den Städtevergleich als politisch-kulturellen Subdiskurs der Monarchiezeit (und der Zeit danach) mit
zu beeinflussen.
Gábor Schein untersucht ungarische Romane, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben wurden, und die in langen Passagen
oder im Ganzen in Wien spielen. A mester én vagyok (Der Meister bin ich)
heißt ein Roman von Milán Füst, dessen Hauptfigur eine Art von Fremdheit und Heimatlosigkeit erfährt, die in der Mentalität der Intellektuellen
der Doppelmonarchie in den 20er- und 30er-Jahren immer deutlicher zu
beobachten ist. Nach Scheins These geht diese existentielle Erfahrung auf
15
Anil Bhatti (New Delhi)
die zweideutige, im ästhetischen Bereich revolutionär, im Bereich der
gesellschaftlichen Ambitionen und Machtbeziehungen aber konservativ
ausgerichtete Struktur der Moderne der Monarchie zurück.
Andrea Seidler behandelt das Thema der Alterität in der Habsburgermonarchie im späten 18. Jahrhundert anhand eines Theaterstückes von
Carl Marinelli, Der Ungar in Wien.
Klaus Heydemann und Katalin Czibula berichten parallel von der Geschichte der Erstaufführung des Dramas Liliom von Ferenc Molnár in Budapest und in Wien und seiner Rezeption.
Brigitta Pesti behandelt das Thema der Turkophilie und Turkophobie in
Wiener Zeitschriften des späten 18. Jahrhunderts.
Katalin Blaskó führt vor, wie Joseph Freiherr von Hormayr und sein
geistiger Kreis das politische Konzept einer übernationalen gemeinsamen
Identität des multinationalen Habsburgerreiches kulturell und literarisch
zu legitimieren versuchten.
Katalin Czibula zeigt, dass das Klimt-Gemälde vor dem Zuschauerraum
des alten Burgtheaters das Vorbild einer ebenfalls von Klimt gemalten
ungarischen Darstellung im Tataer Theater war. Klimt verewigte darin eine Vielzahl von Personen, unter anderem Lajos Dóczi. Der Beitrag
fokussiert zudem auf die Rolle der beiden Klimt-Brüder im Rahmen der
Theaterbautätigkeit in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Das
Wiener Gemälde verweist auf interessante Kontakte mit dem ungarischen
Kulturleben.
Károly Kókai schreibt über die Begegnungsorte der ungarischen, im
Wiener Exil lebenden Künstler in den 20er-Jahren und deren Vernetzung.
Ernö Deák gibt ein interessantes Beispiel für ungarisches Leben in Wien,
in dem er die Aktivitäten des Freihauses Nádasdi (16.–17. Jahrhundert)
beschreibt.
Lilla Krász beschreibt die wissenschaftliche Tätigkeit und Vernetzung
ungarischer Mediziner im 18. Jahrhundert.
Karl Vocelka schreibt über die Wandlungen im Verhältnis Franz Josephs zu Ungarn. Während er in seiner Jugend, in der er auch Ungarisch
lernte, durchaus eine positive Beziehung zu diesem Land hatte, kam es
1848/49 durch die Revolution zu einem Bruch. Nach der Niederwerfung
des „Aufstands“ der Ungarn folgte ein Strafgericht, das einen Verlust der
Privilegien und die Unterdrückung Ungarns zur Folge hatte.
Nach der Krise des Staates 1859 kam es zu einer Fühlungnahme mit dem
Vertretern Ungarns, die 1867 im Ausgleich und der Schaffung der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie endete. Folge des Ausgleichs
war auch die Krönung Franz Josephs in Budapest.
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VORWORT
Glauninger schreibt über die Medialität von Sprache und deren kakanische Dimension mit der Zielsetzung, das Ausloten österreichisch-ungarischer Wechselwirkungen im Sinn der Rahmenthematik des vorliegenden
Bandes zu befördern.
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