suhrkamp taschenbuch
wissenschaft 2263
Die Kritische Theorie prägt eine ganze Epoche des akademischen Denkens
und strahlt bis in öffentliche Debatten aus. Ihr gesellschaftstheoretischer
Anspruch weist über den geschichtlichen Entstehungskontext hinaus, und
so geht von ihr nach wie vor eine große Anziehungskraft aus. Doch im
Felde der Politik klafft im Zentrum der historischen Frankfurter Schule
eine Theorielücke. Dieser Band fragt, was das für die Gegenwart bedeutet:
Ist eine Kritische Theorie der Politik heute noch möglich? Woran kann
sie anknüpfen? Wo muss sie sich neu erfinden? Was sind ihre Antworten
auf die Fragen unserer Zeit? Der Band versammelt Beiträge einschlägiger
Expertinnen und Experten und bietet ein reichhaltiges Panorama aktueller
theoretischer Entwürfe, Streitfragen und Konstellationen.
Ulf Bohmann ist Fellow am Center for Humanities and Social Change der
Humboldt-Universität zu Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der
Professur für Soziologische Theorien der TU Chemnitz.
Paul Sörensen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie an der Universität Augsburg.
Kritische Theorie
der Politik
Herausgegeben
von Ulf Bohmann und
Paul Sörensen
Suhrkamp
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Erste Auflage 2019
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2263
© Suhrkamp Verlag Berlin 2019
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag nach Entwürfen
von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim
Printed in Germany
ISBN 978-3-518-29863-3
Inhalt
Ulf Bohmann/Paul Sörensen
Zur Kritischen Theorie der Politik heute
9
I. Referenzen und Gewährsleute
Nancy Fraser
Warum zwei Karls besser sind als einer: Mit Polanyi und
Marx zu einer Kritischen Theorie zeitgenössischer Krisen
William E. Scheuerman
Die Krise der liberalen Demokratie: Was ein in
Vergessenheit geratener ›Frankfurter‹ uns lehren kann
Hubertus Buchstein
Otto Kirchheimer und die Frankfurter Schule –
Plädoyer für einen Kritischen Institutionalismus
Oliver Marchart
Der feindliche Zwilling. Herbert Marcuses Theorie
der Politik aus postfundamentalistischer Perspektive
63
84
110
143
II. Politische Theorie als/oder Theorie
der Gesellschaft
Alex Demirović
Das Scheitern der Agonistik.
Zur kritischen Theorie des Politischen
Hartmut Rosa
Der Irrtum der antagonistischen Sozialontologie.
Zur kritischen Theorie demokratischer Resonanz
Sonja Buckel/Dirk Martin
Aspekte einer gesellschaftskritischen Theorie der Politik
Bernd Ladwig
Unwirkliche Kritik. Was die Kritische Theorie vom
politischen Liberalismus trennt – und warum sie
im Zweifelsfall verliert
179
209
243
267
III. Gerechtigkeit, Kritik der Rechte und Normativität
Rainer Forst
Eine kritische Theorie transnationaler
(Un-)Gerechtigkeit: Zur Vermeidung positivistisch
halbierter Realismen oder Normativismen
Daniel Loick
Aufgaben einer kritischen Theorie des Rechts
Raymond Geuss
Normativität in der Kritischen Theorie der Politik
297
330
348
IV. Im Widerspruch?
Negativismus, Fortschritt und das gute Leben
Michael Hirsch
Ideenpolitik, Gesellschaftspolitik, Biopolitik.
Ein emanzipatorisches Narrativ für eine neue
kritische Theorie der Politik
Robin Celikates
Moralischer Fortschritt, soziale Kämpfe und
Emanzipationsblockaden: Elemente einer
Kritischen Theorie der Politik
Amy Allen
Psychoanalyse, Kritik und Emanzipation
Oliver Flügel-Martinsen
Befragung, negative Kritik, Kontingenz.
Konturen einer kritischen Theorie des Politischen
367
397
426
450
V. Kritische Theorie der Demokratie
und der Autorität
Martin Saar
Ohnmacht und Unfreiheit.
Demokratische Politik nach der Postdemokratie
Regina Kreide
Politik der kommunikativen Macht. Kommunikationsund Handlungsblockaden in einer globalisierten Welt
473
494
Maeve Cooke
Nicht-autoritäre Autorität:
Beitrag zu einer kritischen Theorie der Politik
Wendy Brown
Das Monster des Neoliberalismus.
Autoritäre Freiheit in den ›Demokratien‹
des 21. Jahrhunderts
519
539
VI. Grenzverschiebungen und Grenzüberschreitungen
David Owen
Die Governance von Bewegung. Die Entwicklung
einer kritischen Theorie transnationaler Migration
Svenja Ahlhaus/Peter Niesen
Regressionen des Mitgliedschaftsrechts:
Für einen Kosmopolitismus von innen
Hauke Brunkhorst
Kritische Theorie internationaler Beziehungen
Ina Kerner
Zu einer kritischen Theorie der Politik
in postkolonialen Zeiten
Volker M. Heins
Kultureller Pluralismus und Kritische Theorie.
Von Adorno bis Honneth
Autor*innenverzeichnis
Namenregister
Sachregister
579
608
632
650
672
694
698
704
Zur Kritischen Theorie der Politik heute
Ulf Bohmann/Paul Sörensen*
»Die Welt ist verrückt und das bleibt so.«
(Max Horkheimer)1
Von der Kritischen Theorie der Politik zu sprechen ist weder voraussetzungslos noch vorbehaltlos möglich. Denn die Politik, so
lautet ein weit verbreitetes Urteil, hat im Kosmos der Kritischen
Theorie keinen Ort. Zwar würden nur wenige vehement behaupten wollen, dass die Kritische Theorie politisch ortlos sei, aber dort,
so der immer wieder zu vernehmende Vorwurf, wo der Ort für
eine theoretisch reflektierte Analyse von Politik sein könnte oder
sollte, klafft im Zentrum der historischen ›Frankfurter Schule‹ um
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno eine Lücke.2 Der vorliegende Band und die in ihm versammelten Beiträge wollen dieses
Für die wohlwollende Begleitung und Unterstützung des Bandes danken wir
Henning Laux, Matthias Sommer, David Strecker und Hartmut Rosa. Bei der
Erstellung des Manuskriptes waren uns dankenswerterweise Sandra Förster und
Tabea Münch behilflich. Wir danken Philipp Hölzing und Jan-Erik Strasser für
das umsichtige Lektorat und die freundliche Zusammenarbeit auf Verlagsseite.
Für die Übersetzungen bedanken wir uns bei Stephan Goerke und insbesondere
Susann Dettmann.
1 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, »Diskussion über Theorie und Praxis«,
in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 19, Frankfurt/M. 1996, S. 32-72,
hier S. 47.
2 Die (retrospektive) Etikettierung als Schulzusammenhang ist aus diversen Gründen umstritten. Rolf Wiggershaus hält es, seine monumentale Studie zum Sachverhalt beschließend, für am sinnvollsten, »von Frankfurter Schule vor allem in
Hinblick auf die Zeit der älteren Kritischen Theorie zu sprechen, für die das von
Horkheimer bzw. Adorno geleitete Institut für Sozialforschung so etwas wie ein
institutionalisiertes Symbol war«. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München 1988, S. 729. Für
weitere historische Auseinandersetzungen mit Frankfurter Schule und Kritischer
Theorie: Alex Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, Die Entwicklung
der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt/M. 2000; Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt/M. 1981. Die Differenzierung von Zentrum und
Peripherie der Kritischen Theorie stammt von Axel Honneth, »Kritische Theorie.
*
9
Urteil kritisch prüfen und sich der unterstellten Leerstelle annehmen.
Dabei soll es freilich nicht (zuvorderst) darum gehen, der ›klassischen‹ Kritischen Theorie bloß ein weiteres Mal ein ›Politikdefizit‹ zu attestieren, sondern performativ zu explorieren, ob und
wie eine Kritische Theorie der Politik möglich ist. Dies ist von der
Intuition getragen, dass die auf die ›Gründergeneration‹ folgenden
Protagonist*innen der Kritischen Theorie ebenfalls – wenn auch
mitunter implizit – mit dem Topos der Politik gerungen haben,
sich dabei aber einerseits politikaffiner zeigten und sich andererseits eher tentativ um einzelne Aspekte statt um das große Ganze
kümmerten.3 Eine explizite, über Teilaspekte hinausgehende Auseinandersetzung mit der Politik steht jedoch weiterhin aus, wobei
es sich dabei womöglich um einen zumindest waghalsigen Anspruch, wenn nicht gar eine unmögliche Aufgabe handeln könnte.
Und doch erscheint uns dieses Ansinnen des Versuches wert und
angesichts der globalen Entwicklungen – wie beispielsweise die
Dauerkrise des Kapitalismus, die Krise der liberalen Demokratie,
die anhaltende große Armut in weiten Teilen der Welt oder der
grassierende Rassismus – geradezu geboten. Danach zu fragen, ob
und wie eine Kritische Theorie der Politik heute möglich ist, heißt
gleichwohl nicht allein, aktuelle Entwicklungen zu reflektieren. Es
impliziert zugleich zu erkunden, ob und wie unter gegenwärtigen
Umständen an die klassische Programmatik der Kritischen Theorie
Vom Zentrum zur Peripherie einer Denktradition«, in: ders., Die zerrissene Welt
des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1990, S. 25-72.
3 Für Kritiken des Generationen-Narrativs vgl. Alex Demirović, »Heinz Maus oder
die Genealogie der Kritischen Theorie«, in: Malte Völk u. a. (Hg.), »… wenn die
Stunde es zuläßt.« Zur Traditionalität und Aktualität kritischer Theorie, Münster
2012, S. 22-47, oder Detlev Claussen, »Kann Kritische Theorie vererbt werden?«,
in: Tatjana Freytag, Marcus Hawel (Hg.), Arbeit und Utopie. Oskar Negt zum 70.
Geburtstag, Frankfurt/M. 2004, S. 271-285. Die Rede von einer ›zweiten Generation‹ stammt ursprünglich wohl von Willem van Reijen, Philosophie als Kritik.
Einführung in die kritische Theorie, Königstein/Ts. 1984, der ihr Jürgen Habermas,
Oskar Negt, Alfred Schmidt, Claus Offe und Albrecht Wellmer zuordnet. Für
ein anders gelagertes, das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft als Orientierungsraster in den Mittelpunkt rückendes Sortierungsmodell: Samuel Salzborn,
»Großer Highway und kleine Trampelpfade. Kritische Theorie auf dem Weg ins
21. Jahrhundert«, in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 2 (2015),
S. 4-33.
10
politikbezogen angeknüpft werden kann – oder diese womöglich
eher abgestoßen oder überwunden werden müsste.
Um die Problematiken zu erhellen, mit denen sich ein zeitgenössisches Nachdenken über die Möglichkeit und Gestalt einer
Kritischen Theorie der Politik konfrontiert sieht, wollen wir uns
eingangs etwas ausführlicher der Frage nach dem Ort der Politik
in der Kritischen Theorie widmen (I.), um anschließend ein Panorama der in diesem Band versammelten, vielfältigen Antworten
auf die orientierende Leitfrage »Was bedeutet es heute, eine Kritische
Theorie der Politik zu betreiben?« anzubieten (II.). Beschlossen wird
die Einführung durch knappe Erläuterungen zum Aufbau des Bandes und Kurzzusammenfassungen der enthaltenen Beiträge (III.).
I. Der Ort der Politik in der Kritischen Theorie
»Wenn Sie sich klarmachen wollen […], was man unter
Dialektik, unter gesellschaftlicher Dialektik zu verstehen hat, dann ist dafür wahrscheinlich eine […] Bestimmung des Wesens des Politischen das beste Paradigma,
das sich überhaupt finden lässt.«
(Theodor W. Adorno)4
Als Selbstbeschreibung eines auf Emanzipation zielenden Wissenschafts- und Forschungsparadigmas wurde das Etikett Kritische
Theorie bekanntlich zuerst und maßgeblich von Max Horkheimer
in seinem 1937 veröffentlichten Aufsatz Traditionelle und kritische
Theorie geprägt.5 Dieser Aufsatz ist als Fortführung seiner 1931
gehaltenen Antrittsvorlesung als Direktor des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main zu verstehen, in der er ein interdisziplinäres und empirisch-sozialwissenschaftlich informiertes,
von Hegel, Marx und Nietzsche inspiriertes Programm einer Sozialphilosophie entfaltete. Deren Gegenstandsbereich wird dabei von
Horkheimer durchaus weit gefasst:
4 Theodor W. Adorno, Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964),
Frankfurt/M. 2008, S. 67.
5 Max Horkheimer, »Traditionelle und kritische Theorie«, in: ders., Gesammelte
Schriften, Bd. 4, Frankfurt/M. 1988, S. 162-225. Zum emanzipatorischen Anspruch
u. a. S. 216, 219, 221.
11
Als ihr letztes Ziel gilt […] die philosophische Deutung des Schicksals
der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer
Gemeinschaft sind. Sie hat sich daher vor allem um solche Phänomene zu
bekümmern, die nur im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Leben
der Menschen verstanden werden können: um Staat, Recht, Wirtschaft,
Religion, kurz um die gesamte materielle und geistige Kultur der Menschheit überhaupt.6
Diese weite Bestimmung ist insofern folgerichtig, als die Arbeit
des Instituts für Sozialforschung, wie ebenfalls von Horkheimer
im Vorwort zur ersten Ausgabe der Zeitschrift für Sozialforschung
formuliert, auf eine »Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft als
ganzer«7 zielt. Anstatt der ›traditionell-theoretisch‹ praktizierten
akademischen Arbeitsteilung in einzelne Fachwissenschaften anheimzufallen, gelte es, einen disziplinintegrativen Ansatz zu elaborieren, da nur ein solcher in der Lage sei, Gesellschaft in ihrer Totalität zu erfassen, zu begreifen und zu kritisieren. Wurden Staat und
Recht sowie die zugehörigen Disziplinen in der Antrittsvorlesung
von 1931 noch umstandslos als Gegenstandsbereiche und Bestandteile eines Projekts ›Kritische Theorie‹ genannt und die Arbeit Carl
Grünbergs, Horkheimers Vorgänger auf dem Posten des Direktors,
als Professor für »wirtschaftliche Staatswissenschaften«8 gewürdigt,
so finden Staats-, Rechts- und Politikwissenschaft in besagtem
»Vorwort« der Zeitschrift für Sozialforschung von 1932 schon keine
explizite Nennung mehr – anders als Philosophie, Soziologie, (Sozial-)Psychologie, Ökonomie und Geschichtswissenschaft.9 In dieser (impliziten) Aussparung politik- bzw. staatswissenschaftlicher
Zugänge scheint eine Ausrichtung des Projekts ›Kritische Theorie‹
bereits angelegt, die von späteren Untersuchungen des ›Schulzusammenhangs‹, wie eingangs erwähnt, auch vielfach diagnostiziert
wurde. So konstatierte etwa Furio Cerutti eine »ausgebliebene
Fortführung der kritischen Theorie auf dem Terrain einer Theorie der Politik« sowie ein »Ausblenden jeglicher staatsrechtlichen
6 Max Horkheimer, »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3,
Frankfurt/M. 1988, S. 20-35, hier S. 20.
7 Max Horkheimer, »Vorwort«, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1 (1932), S. I-IV,
hier S. I.
8 Horkheimer, »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie«, S. 30.
9 Vgl. Horkheimer, »Vorwort«.
12
Überlegungen«,10 und auch Helmut Dubiel, von 1989 bis 1997
selbst Direktor des Instituts für Sozialforschung, gelangt zu der
Schlussfolgerung, dass »Reflexionen über Institutionen politischer
Willensbildung […] in der klassischen kritischen Theorie keinen
Ort«11 haben. Flankiert wurden derartige Einschätzungen von Vorwürfen der Politikabstinenz gegen die Vertreter der sogenannten
ersten Generation der Kritischen Theorie, die ihren wohl prominentesten Ausdruck in Georg Lukács’ Aperçu vom ›Grand Hotel
Abgrund‹ fanden, in das sich die linke Intelligenz zurückgezogen
habe und von wo sich der Niedergang der Welt zwar trefflich analysieren, nicht aber politisch bekämpfen oder gar abwenden lasse.12
Der Ort der Politik in der Kritischen Theorie scheint demzufolge in mehrerlei Hinsicht eine Leerstelle zu sein. Diese Diagnose ist
jedoch nicht ohne weiteres überzeugend und basiert womöglich auf
Verkürzungen, die der spezifischen Anlage der Kritischen Theorie
nicht gerecht werden. Insofern die spezifische Form der Kritischen
Theorie als dialektisches Theorieprojekt auch ein dialektisches
Verständnis von Politik nahelegt, welches ›notwendigerweise‹ auch
widersprüchliche Folgerungen, Haltungen und Konsequenzen im
10 Furio Cerutti, »Philosophie und Sozialforschung. Zum ursprünglichen Programm der kritischen Theorie«, in: Axel Honneth, Albrecht Wellmer (Hg.), Die
Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin, New York 1986, S. 246-258, hier S. 255
und 254.
11 Helmut Dubiel, Ungewißheit und Politik, Frankfurt/M. 1994, S. 234. Dubiel bezieht sich hier wohlgemerkt nur auf Horkheimer und Adorno. Zu dieser Einschätzung gelangte unlängst auch Per Jebsen, der der Kritischen Theorie eine
»Askese der politischen Theorie« attestiert. Vgl. Per Jebsen, »Aporien negativer
Politik? Gesellschaftsutopie und Askese der politischen Theorie im Spätwerk
Horkheimers und Adornos«, in: Ulrich Ruschig, Hans-Ernst Schiller (Hg.),
Staat und Politik bei Horkheimer und Adorno, Baden-Baden 2014, S. 209-226,
hier S. 224.
12 Mit Bezug auf Adorno im 1962 hinzugefügten Vorwort: Georg Lukács, Die
Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die großen Formen
der Epik, Darmstadt, Neuwied 1982, S. 16. In allgemeinerer Form findet sich
die Rede vom Grand Hotel Abgrund bereits in einem 1933 verfassten, aus dem
Nachlass veröffentlichten Typoskript, in dem Lukács diesen Vorwurf im Grunde
gegen all jene linken Intellektuellen erhob, die sich nicht hinter die stalinsche Sowjetunion zu stellen bereit waren, vgl. ders., »Grand Hotel Abgrund«, in: Frank
Benseler (Hg.), Revolutionäres Denken: Georg Lukács. Eine Einführung in Leben
und Werk, Darmstadt, Neuwied 1984, S. 179-196. Für den Vorwurf der Politiklosigkeit vgl. aber z. B. auch Jay, Dialektische Phantasie, Epilog.
13
Umgang mit sowie dem Nachdenken über das Politische bedingt,
wäre unseres Erachtens treffender wohl zumindest von Ambivalenzkonstellationen zu sprechen, die sich mitunter in Form divergierender Positionen innerhalb des Diskussionszusammenhangs
der ›Frankfurter Schule‹, bisweilen aber auch innerhalb des Werkes
eines einzelnen Protagonisten allein, manifestieren. Das soll mit
Blick auf die Ebene der praktischen Politik bzw. der Theoriepolitik
einerseits (I.1) und die Ebene einer Theorie der Politik andererseits
(I.2) nachfolgend knapp aufzuweisen versucht werden.
I.1. Die Politik der Kritischen Theorie
und der Kritischen Theoretiker13
»Von uns wird verlangt, daß wir mehr outspoken sind. […]
Aus unserem Stil müßte gesehen werden, was soll nun geschehen.«
(Max Horkheimer)14
»Theorie wirft genauso Scheiben ein wie die unsublimierte
Aggression. Theorie ist nicht eine Sammlung von Erklärungen, sondern etwas, das die Welt verändern soll und aus
diesem Willen geboren ist.«
(Max Horkheimer)15
Bereits der Aufbau des Instituts für Sozialforschung 1923 war eine
durchaus politische Angelegenheit, und dies in zweifacher Hinsicht. So war der Gründer und maßgebliche Mäzen Felix Weil, der
»argentinische Krösus«,16 überaus politisch motiviert und suchte
13 In diesem Fall und wo sachlich geboten, verwenden wir bewusst nur die männliche Form, insofern den engeren Zusammenhang der ›Gründergeneration‹
der Kritischen Theorie nur Männer bildeten. Ansonsten haben wir uns um
eine geschlechtergerechte Schreibweise bemüht. Für eine instruktive Auseinandersetzung mit der vermeintlichen ›Leerstelle Geschlechterverhältnisse‹ in der
Kritischen Theorie siehe Barbara Umrath, »Leerstelle Geschlechterverhältnisse?
– Eine feministische Betrachtung der älteren Kritischen Theorie und ihrer Rezeption«, in: Feministische Studien 1 (2018), S. 50-59, sowie jetzt dies., Geschlecht,
Familie, Sexualität. Die Entwicklung der Kritischen Theorie aus der Perspektive der
sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung, Frankfurt/M., New York 2019.
14 Horkheimer/Adorno, »Diskussion über Theorie und Praxis«, S. 55
15 Max Horkheimer, »Späne. Notizen über Gespräche mit Max Horkheimer, in
unverbindlicher Formulierung aufgeschrieben von Friedrich Pollock«, in: ders.,
Gesammelte Schriften, Bd. 14, Frankfurt/M. 1988, S. 172-547, hier S. 224.
16 Jeanette Erazo Heufelder, Der argentinische Krösus. Kleine Wirtschaftsgeschichte
der Frankfurter Schule, Berlin 2017.
14
den Kontakt zum Feld der praktischen Politik. Seine Vision war
ein wissenschaftlich arbeitendes, dezidiert marxistisches Institut,
das die politischen Kämpfe der Zeit mit anzuleiten helfen sollte.
Zugleich wurde das gestiftete Institut selbst durch geschicktes politisches Agieren, gleichsam als ›Trojanisches Pferd‹, der eigentlich
konservativen Frankfurter Universität geradezu untergejubelt. So
sorgte die programmatische Rede zur Institutseröffnung 1924 durch
den ersten Direktor Carl Grünberg, in der sich unmissverständlich
zur bis dato in offiziellen Belangen verschleierten marxistischen
Ausrichtung bekannt wurde, für große Irritationen aufseiten der
Universitätsbehörde.17 Eine nachhaltige Wirkung auf die Politik
der Kritischen Theoretiker war diesem Ursprung jedoch nicht
beschieden. Nicht zuletzt aus historischen Gründen nahm deren
Entwicklung eine andere Richtung. So finden sich im Kontext der
Kritischen Theorie zunehmend zahlreiche theoretische Vorbehalte
formuliert, die grundsätzliche Möglichkeit eines auf Überwindung
von Herrschaft zielenden Handelns in einer ›total verwalteten Welt‹
betreffend. Spätestens mit Erscheinen der Dialektik der Aufklärung
scheint sich ein derartiger Pessimismus zu entfalten, dass jegliche
Politik unmöglich oder hoffnungslos verderbt erscheint. »Die Gesellschaft«, so formuliert es Adorno später in einem Aphorismus
der Minima Moralia, »ist integral, schon ehe sie totalitär regiert
wird. Ihre Organisation umgreift noch die, welche sie befehden,
und normt ihr Bewußtsein.«18 Angesichts dessen, der integrativen
Absorption von Kritik und widerständiger Praxis nicht nur als potenzieller Gefahr, sondern als unvermeidlicher Faktizität, erscheint
allein die radikale Abständigkeit vom politischen Geschehen konsequent. Auch bei Herbert Marcuse, dem oftmals als politischsten
Vertreter der ersten Generation wahrgenommenen Institutsmitglied, findet sich die resignative Sicht auf die Möglichkeiten einer
emanzipatorischen Politik unter den Bedingungen liberalkapitalistischer Repräsentativdemokratien, wenn er 1969 feststellt, dass
der »demokratische Prozeß derart diskreditiert [ist], daß sich kein
Teil aus ihm herauslösen läßt, der nicht beschmutzt wäre«.19 Die
17 Siehe ebd., S. 39-52.
18 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben,
Frankfurt/M. 2003, S. 235.
19 Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt/M. 1969, S. 96.
15
von ihm bereits im Jahr zuvor propagierte ›Große Weigerung‹20 erscheint in diesem Zusammenhang in der Tat als einzig folgerichtige
Reaktion.21 Gleichwohl, wie verschiedene Studien gerade auch mit
Blick auf Adorno überzeugend herausgearbeitet haben, ist der Vorwurf eines distanziert-resignativen Rückzugs in den Elfenbeinturm
allein schon deshalb nicht haltbar, weil er das praktisch-politische
Engagement zentraler Protagonisten übergeht.22 Damit tritt eine
Ambivalenz zu Tage, die Adorno selbst sehr deutlich vor Augen
20 Vgl. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, München 1994.
21 Einen eigentümlichen Widerhall fand dieses Credo unlängst in der im Kontext
der Occupy-Bewegung häufig anzutreffenden Indienstnahme der Melville’schen
Figur des Bartleby. Vgl. dazu Juliane Rebentisch, »Option exit. Kleine politische Landkarte des Entzugs«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 11
(2014), S. 109-120. Die Argumentation Slavoj Žižeks, einem der prominentesten
Bartleby-Apologeten der vergangenen Jahre, weist deutliche Parallelen zu Adorno und Marcuse auf: »Besser nichts tun, als sich an vereinzelten Aktionen zu
beteiligen, deren Funktion es letztlich ist, das System reibungsloser laufen zu
machen […]. Die große Gefahr heute ist nicht Passivität, sondern Pseudoaktivität, der Drang, ›aktiv zu sein‹, ›teilzunehmen‹.« So wie auch Marcuse sich den
Übergang in das ›Reich der Freiheit‹ nur noch als ›Sprung‹ vorzustellen vermag,
identifiziert auch Žižek »einen revolutionären […] Sprung« als einzig verbliebene Möglichkeit zur Befreiung. Slavoj Žižek, Die politische Suspension des Ethischen, Frankfurt/M. 2005, S. 8 bzw. 167.
22 Vgl. Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle; vgl. auch die Studie
Shannon L. Mariottis, die Adornos Wirken im amerikanischen Exil unter die
Lupe nimmt: Shannon L. Mariotti, Adorno and Democracy. The American Years,
Lexington 2016. Adornos Engagement im bundesrepublikanischen Radio, vor
allem dem Hessischen Rundfunk, nimmt z. B. Clemens Albrecht, »Die Massenmedien und die Frankfurter Schule«, in: ders. u. a., Die intellektuelle Gründung
der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt/M.
1999, S. 203-246, unter die Lupe. Siehe dazu auch Volker Heins, »Saying Things
that Hurt: Adorno as Educator«, in: Thesis Eleven 110 (2012), S. 68-82, der dort
im Grunde auf genau die hier interessierende Ambivalenzkonstellation reflektiert. Des Radios bediente sich auch der peripher zu verortende Walter Benjamin
schon vor dem Zweiten Weltkrieg zu erzieherischen Zwecken. Vgl. Tyson E.
Lewis, »Walter Benjamin’s Radio Pedagogy«, in: Thesis Eleven 142 (2017), S. 18-33.
Ein weiteres, nochmals ganz anders gelagertes Kapitel politischen Engagements
legte unlängst mit Blick auf Marcuses, Neumanns und Kirchheimers Arbeiten
für das Office of Strategic Services zwischen 1943 und 1949 der von Raffaele Laudani herausgegebene und mit einem Vorwort Axel Honneths versehene Band Im
Kampf um Nazideutschland. Berichte für den amerikanischen Geheimdienst 19431949, Frankfurt/M., New York 2016, offen.
16
stand: »Wer überhaupt Vorschläge anmeldet«, so vermerkt er im
Dezember 1962 die Eingriffe einleitend, »macht leicht sich zum
Mitschuldigen. […] Reine Gesinnung jedoch, die sich Eingriffe
versagt, verstärkt ebenfalls, wovor sie zurückschreckt.«23
In ähnlicher Weise ist eine Ambivalenz auch bezüglich des
politischen Status der Theorie bzw. Theoriearbeit selbst beobachtbar. Folgt man einer Bestimmung Leo Löwenthals, so ist die
Marcuse’sche ›Große Weigerung‹ auch für das Theorieprojekt Kritische Theorie selbst konstitutiv: »Genau das Negative war das Positive, dieses Bewußtsein des Nichtmitmachens, des Verweigerns;
die unerbittliche Analyse des Bestehenden, […] das ist eigentlich
das Wesen der kritischen Theorie.«24 Anders als mit Blick auf Politik und politisches Handeln im alltagssprachlichen Sinn steht das
Verweigern im Kontext der Theoriebildung jedoch nicht für das
Kappen der Verbindungen zur Welt. Sich selbst als »die beteiligten
Mitarbeiter an der negativen Phase des dialektischen Prozesses«25 zu
begreifen, bedeutet nicht, die eigene Theorieproduktion als unpolitisch zu begreifen oder auf Weltabgewandtheit zu verpflichten,
liegt der Kritischen Theorie doch ein Verständnis des Verhältnisses
von Theorie und Praxis zugrunde, dem zufolge nicht nur »Praxis […] Kraftquelle von Theorie«, sondern Theorie auch »verändernde[ ], praktische[ ] Produktivkraft«26 ist. Die Theoriearbeit des
Kreises um Horkheimer und Adorno wurde von den Beteiligten
selbst insofern stets – sogar noch in den pessimistischsten Momenten – auch als politische Intervention mit emanzipatorischem Anliegen verstanden.27 In Fortführung des Marx’schen kategorischen
23 Theodor W. Adorno, »Eingriffe. Neun kritische Modelle«, in: ders., Kulturkritik
und Gesellschaft II, Frankfurt/M. 1977, S. 455-594, hier S. 458.
24 Leo Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit
Helmut Dubiel, Frankfurt/M. 1980, S. 80.
25 Ebd.
26 Theodor W. Adorno, »Marginalien zu Theorie und Praxis«, in: ders., Kulturkritik
und Gesellschaft II, S. 759-782, hier S. 782 und 765.
27 Mit einer der zentralen Studien zur Geschichte der Kritischen Theorie lässt sich
entsprechend formulieren: »Die Analysen Horkheimers und Adornos konstituieren, insofern sie vom Verhalten der Intellektuellen als Intellektuelle den Gang der
weiteren historischen Entwicklung abhängig machen, ein spezifisches Feld der
Politik – die spezifische Politik der Intellektuellen und der Wahrheit. Gleichwohl
sprechen sie von dieser Politik nicht oder kaum in Begriffen der Politik.« Siehe
Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle, S. 71.
17
Imperativs, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein
erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches
Wesen ist«,28 vermerken etwa Horkheimer und Marcuse, ebenfalls in einer der programmatischen Frühschriften, dass die von
ihnen angestrebte Kritische Theorie »ein unablösbares Moment
der historischen Anstrengung [ist], eine Welt zu schaffen, die den
Bedürfnissen und Kräften der Menschen genügt«.29 Kritische Theorie ist insofern also stets politische Theorie, als sie parteiisch ist,
getragen von einem »Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts«, und damit beansprucht, »Theorie als Moment
einer auf neue gesellschaftliche Formen abzielenden Praxis«30 zu
sein. Politisch wirksam wird sie jedoch nur dann, wenn sich ein
erkenntnisfähiger Adressat findet, der es der Theorie erlaubt, sich
an der Wirklichkeit zu bewähren, ihre historische Gültigkeit unter
Beweis zu stellen: »Die Erfüllung von Möglichkeiten«, die die Theoriearbeit eröffnet, »hängt von geschichtlichen Kämpfen ab«.31 Die
Ambivalenz besteht somit nicht hinsichtlich der (beanspruchten)
Politizität der Kritischen Theorie, sondern mit Blick auf die (mögliche) Suche nach und den Umgang mit potenziellen Adressaten
der Theorie. Ist einerseits die eher resignative, auf ›Überwinterung‹
zielende Flaschenpost-Variante denkbar, die den theoretischen Annahmen einer total verwalteten Welt korrespondiert und passiv
möglicher künftiger Adressaten harrt,32 so kann andererseits die
eher aktivistisch-offensive Variante in Betracht gezogen werden, die
Horkheimer in einem Gespräch mit Adorno etwas hemdsärmelig,
28 Karl Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in:
MEW 1, Berlin 1981, S. 378-391, hier S. 385.
29 Max Horkheimer, Herbert Marcuse, »Philosophie und kritische Theorie«, in:
Zeitschrift für Sozialforschung 6 (1937), S. 625-647, hier S. 626.
30 Horkheimer, »Traditionelle und kritische Theorie«, hier S. 216, 190.
31 Ebd., S. 224.
32 Die Metapher der Flaschenpost wird zu Recht Adorno zugeschrieben, findet sich
allerdings nur an zwei Stellen explizit erwähnt. Sinngemäß kann zur Erläuterung auf eine Passage der Dialektik der Aufklärung verwiesen werden: »Wenn
die Rede heute an einen sich wenden kann, so sind es weder die sogenannten
Massen, noch der Einzelne, der ohnmächtig ist, sondern eher ein eingebildeter
Zeuge, dem wir es hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht.«
(Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische
Fragmente, Frankfurt/M. 1988, S. 273). Eine nochmals andere Frage ist, ob die
Flaschenpost Adornos theoretischen Prämissen zufolge überhaupt entkorkbar
ist. Siehe dazu auch Salzborn, »Großer Highway und kleine Trampelpfade«, S. 5.
18
aber durchaus pointiert formuliert (wenn auch nicht forciert): »Es
ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, den Gedanken mit
der richtigen Praxis zu verheiraten.«33
I.2. Kritische Theorie der Politik
»… zugleich Ideologie und das Allerrealste«
(Theodor W. Adorno)34
Wie aber steht es um ein systematisches Nachdenken über Politik, wie ist es um eine Kritische Theorie der Politik selbst bestellt?
Begibt man sich auf die Suche, so scheinen sich die oben angeführten Defizit-Diagnosen schnell zu bestätigen: Die Kritische
Theorie bleibt in eigentümlicher Weise frei von Reflexionen über
Politik und das Politische. Zwar wurden immer wieder politische
Fragen und Sachverhalte adressiert – man denke etwa an die intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus,35 die
allgemeiner gehaltenen Studies on Prejudice,36 in denen es nicht
zuletzt um die Frage ging, inwiefern und warum demokratische
Gesellschaften in diktatorische umschlagen, oder auch die demokratietheoretisch lesbare Racket-Theorie Horkheimers37 –, aber ein
systematisches Nachdenken über Politik findet sich letztlich nur
– mit einem Wort Axel Honneths – in der Peripherie des Traditionszusammenhangs, namentlich bei Franz L. Neumann und Otto
Kirchheimer.38 So vermeinte etwa Alfons Söllner bei seiner »Su33 Horkheimer/Adorno, »Diskussion über Theorie und Praxis«, hier S. 59.
34 Ebd., S. 47.
35 Vgl. dazu Helmut Dubiel, Alfons Söllner (Hg.), Wirtschaft, Recht und Staat im
Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung 1939-1942, Frankfurt/M. 1981.
36 Vgl. Theodor W. Adorno u. a., The Authoritarian Personality, New York 1950.
37 Vgl. z. B. Michael Th. Greven, »Zur Kontinuität der ›Racket-Theorie‹. Max
Horkheimers politisches Denken nach 1945«, in: ders., Kritische Theorie und
historische Politik. Theoriegeschichtliche Beiträge zur gegenwärtigen Gesellschaft,
Opladen 1994, S. 157-184.
38 Vgl. Honneth, »Kritische Theorie«. Eine Ausnahme stellt Horkheimers knapp
gehaltener, erstmals 1942 veröffentlichter Aufsatz »Autoritärer Staat« dar (Max
Horkheimer, »Autoritärer Staat«, in: ders. Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt/M. 1987, S. 293-319). Dieser Befund gilt im Übrigen ebenso für Honneths
eigene Überlegungen, wobei zu konstatieren wäre, dass er sich spätestens mit
seinem Recht der Freiheit (Axel Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer
demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011) und Sozialismus (Axel Honneth, Die Idee
19
che nach der politischen Theorie der Kritischen Theorie«, in den
Schriften Neumanns und Kirchheimers eine »Reformulierung der
Dialektik der Aufklärung auf dem Gebiete der Politik, die Formulierung der ›politischen Dialektik der Aufklärung‹ zu erblicken«.39
Die Studien Kirchheimers und Neumanns können gewiss als die
einschlägigsten explizit politiktheoretischen Zugriffe im Kontext
der frühen Kritischen Theorie gelten und beide werden auch heute
noch als ausdrückliche Gewährsmänner für eine ›Kritische Theorie der Politik‹ verhandelt.40 Gleichwohl ist jedoch in historischer
Hinsicht hervorzuheben, dass Neumann bezeichnenderweise bereits 1942 im Nachgang einer Kontroverse um die adäquate Einordnung und Bewertung des Verhältnisses von Kapitalismus und
Faschismus aus dem Institut für Sozialforschung ausschied41 und
auch Kirchheimer sich zunehmend intellektuell wie persönlich entfernte. Politische Theorie, so scheint es, vermochte im ›interdisziplinären Materialismus‹42 des Horkheimer-Kreises keinen rechten
Platz zu finden.
So gesehen haben die Defizitdiagnosen also durchaus etwas für
sich, insofern in den Arbeiten der historischen Frankfurter Schule tatsächlich eine politikwissenschaftliche Leerstelle klafft. Wie
lässt sich das erklären? Eine (zu) einfache Deutung könnte lauten:
39
40
41
42
20
des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung, Berlin 2015) zwar vorsichtig, aber
zunehmend auf das Feld der Politischen Theorie vorwagt.
Alfons Söllner, »Politische Dialektik der Aufklärung. Zum Spätwerk von Franz
Neumann und Otto Kirchheimer«, in: Wolfgang Bonß, Axel Honneth (Hg.),
Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potenzial der Kritischen
Theorie, Frankfurt/M. 1982, S. 281-326, hier S. 282 und 320.
Vgl. Mattias Iser, David Strecker (Hg.), Kritische Theorie der Politik. Franz L.
Neumann – eine Bilanz, Baden-Baden 2002. Siehe auch William E. Scheuerman,
Between Norm and the Exception. The Frankfurt School and the Rule of Law, Cambridge/Ma. 1997; Bernd Ladwig, »Die politische Theorie der Frankfurter Schule:
Franz L. Neumann«, in: André Brodocz, Gary S. Schaal (Hg.), Politische Theorien
der Gegenwart I, Opladen 2009, S. 33-74, sowie Sonja Buckel, Subjektivierung
und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts, Weilerswist 2007, S. 80 ff.
Vgl. dazu Michael Wilson, Das Institut für Sozialforschung und seine Faschismusanalysen, Frankfurt/M., New York 1982.
Wolfgang Bonß, Norbert Schindler, »Kritische Theorie als interdisziplinärer Materialismus«, in: Wolfgang Bonß, Axel Honneth (Hg.), Sozialforschung als Kritik.
Zum sozialwissenschaftlichen Potenzial der kritischen Theorie, Frankfurt/M. 1982,
S. 31-66.
Wenn widerständiges politisches Handeln ohnehin obsolet oder
vergeblich ist, dann ist es die theoretische Reflexion über Politik
und das Politische allemal. Bei näherer Betrachtung stellt sich der
Sachverhalt allerdings komplexer dar und womöglich verweist die
Leerstelle in ernst zu nehmender Weise darauf, dass dem Verhältnis
von Kritischer Theorie und Politik respektive Politischer Theorie
sachlich bedingt etwas Problematisches innewohnt. Die Abstinenz
wäre dann weniger bloß einem resignativen Desinteresse geschuldet. Vielmehr hat man es womöglich auch hier mit einer Ambivalenzkonstellation zu tun, die in der dialektischen Beschaffenheit
des Gegenstandes selbst – der Politik – gründet und welche damit
auch die Basis für die zuvor explizierten Ambivalenzkonstellationen der anderen Ebene bildet.
In diese Richtung weist eine Sentenz Adornos von 1956, der
auf eine Frage Horkheimers nach dem Sinn und Wesen von Politik
antwortet: »Auf der einen Seite ist sie Ideologie, auf der anderen
sind alle Vorgänge, durch die eine Änderung möglich wäre, politische Vorgänge. Sie ist zugleich Ideologie und das Allerrealste.«43
Diese problematische, paradoxe Verquickung erneut aufgreifend,
versuchte Adorno Horkheimer im Folgejahr dazu zu ermuntern,
im Rahmen einer Vortragsreihe am Institut für Sozialforschung
einen Vortrag über Politik zu halten: »Man könnte in einem solchen Vortrag einfach das dialektische Verhältnis entwickeln, daß
einerseits die Politik Fassade, Ideologie ist, und die Gesellschaft
die tragende Realität, daß aber andererseits die verändernde gesellschaftliche Praxis die Form der Politik hat: Politik zur Abschaffung
der Politik.«44
In einem solchermaßen dialektischen Verständnis von Politik
43 Horkheimer/Adorno, »Diskussion über Theorie und Praxis«, S. 47.
44 Theodor W. Adorno, »Adorno an Horkheimer, 25. 10. 1957«, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 18, Frankfurt/M. 1996, S. 399. Diese Überlegungen nehmen Alex Demirović und Oliver Marchart für ihre in diesem
Band unterbreiteten Gedanken zu einer Kritischen Theorie der Politik zum
Ausgangspunkt. Im Lichte dieser Adorno’schen Bestimmung kann auch Michael
Th. Grevens Zurückweisung des Vorwurfs eines Politikdefizits gelesen werden,
den er auf den spezifischen Politikbegriff der akademischen Politikwissenschaft
zurückführt und als inkompatibel mit jenem Verständnis von Politik ausweist,
das der Kritischen Theorie zugrunde läge. Vgl. Michael Th. Greven, »Kritische
Theorie, historische Politik und Politikwissenschaft«, in: ders., Kritische Theorie
und historische Politik, S. 7-18, hier insb. S. 14 f.
21
scheinen sich interessanterweise auch einige der zentralen Spannungsfelder des kritisch-theoretischen Selbstverständnisses bzw.
Selbstverständigungsdiskurses widerzuspiegeln. So korrespondiert
ihm in gewisser Weise die Ungewissheit hinsichtlich des sogenannten ›Bilderverbots‹, welches, anders als häufig kolportiert, als durchaus umstritten gelten kann. Am prägnantesten tritt diese Ungewissheit wohl in einem Gespräch Adornos mit Ernst Bloch zutage.
Spricht Adorno sich dort zunächst für ein »Verbot des ›Auspinselns‹
der Utopie […] um der Utopie willen«45 aus, so erkennt er im ›Bilderverbot‹ nur wenige Seiten später etwas »sehr Vertracktes«:
[D]enn dadurch, daß es uns verboten ist, das Bild zu machen, passiert
auch etwas sehr Schlimmes, nämlich daß man zunächst einmal sich dann
unter dem, was da sein soll, je mehr es nur als Negatives gesagt werden
kann, umso weniger Bestimmtes vorstellen kann. Dann aber – und das
ist wahrscheinlich noch viel beängstigender – tendiert dieses Verbot einer
konkreten Aussage über die Utopie dazu, das utopische Bewußtsein selber
zu diffamieren und das zu verschlucken, worauf es eigentlich ankäme, nämlich diesen Willen, daß es anders ist.46
Gleichermaßen mit Politik – bzw. dem Politikbegriff – in zumindest verwandtschaftlicher Beziehung stehend und von einer internen dialektischen Spannung gekennzeichnet, ist die Idee des
45 Ernst Bloch, »Etwas fehlt … Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht.
Ein Rundfunkgespräch mit Theodor W. Adorno, 1964«, in: ders., Tendenz – Latenz – Utopie, Frankfurt/M. 1978, S. 350-367, hier S. 361.
46 Ebd., S. 363. Eine ähnlich gelagerte Überlegung findet sich auch in Adornos Vorwort zu Charles Fouriers, vom Institut für Sozialforschung 1966 neu aufgelegten,
utopischen Schrift Theorie der vier Bewegungen: »Das Verbot auszudenken, wie
es sein solle, die Verwissenschaftlichung des Sozialismus, ist diesem nicht nur
zum Guten angeschlagen. Das Verdikt über Phantasie als Phantasterei fügte sich
einer Praxis ein, die sich Selbstzweck war und mehr stets im Bestehenden verstrickte, über das sie einmal hinauswollte.« Theodor W. Adorno, »Vorwort«, in:
Charles Fourier, Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen,
Frankfurt/M. 1966, S. 5-6, hier S. 6. Diese Überlegung aufgreifend hat unlängst
Bini Adamczak fulminant eine Lanze für ein auch utopisches Denken und eine
utopische Praxis gebrochen. Vgl. Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution.
1917, 1968 und kommende, Berlin 2017, u. a. S. 95 und S. 264 f. Für eine kritische
Auseinandersetzung mit der Thematisierung von Utopie und Utopismus in der
dritten Generation der Kritischen Theorie siehe S. D. Chrostowska, »Serious,
not at all serious: Utopia beyond Realism and Normativity in Contemporary
Critical Theory«, in: Constellations 26 (2019), S. 330-343.
22
Fortschritts, der spätestens mit der Dialektik der Aufklärung ein hervorgehobener Status als zu problematisierendes Untersuchungsobjekt zukommt und die erneut auch die gegenwärtigen Debatten im
Feld der Kritischen Theorie umtreibt.47 Ebenfalls aus Perspektive
der Kritischen Theorie als dialektisch verfasst zu begreifen sowie
in alle drei genannten Felder – Politik, Utopie, Fortschritt – hineinreichend (bzw. von diesen berührt), ist zudem der Topos der
Normativität. Ganz konkret betrifft das auch die Normativität der
Kritischen Theorie selbst, kann diese doch den eigenen erkenntnistheoretischen Grundannahmen nach weder in einem einfachen
Sinne normativ noch schlicht nicht-normativ sein.48 Wenn auch
nicht dem Namen nach, stehen im Hintergrund der für die Kritische Theorie zweifellos prägenden Fragen nach der Utopie, dem
Fortschritt und der Normativität, so unsere Vermutung, doch immer auch Fragen nach der Politik. Ganz gewiss jedenfalls kann ein
zumindest impliziter Verweisungszusammenhang angenommen
werden.
Es bestand also, so wäre daraus zu schließen, ein zum Teil direktes, zum Teil vermitteltes Interesse an einer kritisch-theoretischen
Durchdringung von Politik und Politischem, wenngleich in den
knappen Verlautbarungen Adornos bereits erkennbar wird, wie
komplex – bei aller ›Einfachheit‹ der Darstellung – eine Kritische
Theorie der Politik beschaffen zu sein hätte. Nur weil etwas schwierig ist, so könnte man in Abwandlung Wittgensteins formulieren,
heißt das jedoch nicht, dass ›man darüber schweigen muss‹ oder
nicht darüber nachdenken könnte oder sollte, woraus sich auch
die Motivation des vorliegenden Bandes speist. Als zusätzlicher
Anstoß zur Entwicklung einer Kritischen Theorie der Politik kann
47 Vgl. exemplarisch Claus Offe, »Was (falls überhaupt etwas) können wir uns heute unter politischem ›Fortschritt‹ vorstellen?«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für
Sozialforschung 7 (2010), S. 3-14; Amy Allen, The End of Progress. Decolonizing the
Normative Foundations of Critical Theory, New York 2016; Thomas McCarthy,
Rassismus, Imperialismus und die Idee menschlicher Entwicklung, Berlin 2015; Rahel Jaeggi, Fortschritt und Regression, Berlin 2019.
48 Vgl. für eine gute Darstellung Uwe H. Bittlingmayer u. a., »Normativität in der
Kritischen Theorie«, in: Johannes Ahrens u. a. (Hg.), Normativität. Über die
Hintergründe sozialwissenschaftlicher Theoriebildung, Wiesbaden 2011, S. 189-220.
Für einen lesenswerten Beitrag zur jüngeren Debatte kann u. a. verwiesen werden
auf Fabian Freyenhagen, »Was ist orthodoxe Kritische Theorie?«, in: Deutsche
Zeitschrift für Philosophie 65 (2017), S. 456-469.
23
schließlich auch Adornos die Vorlesung über die Probleme der Moralphilosophie von 1963 beschließende Aussage gelten, dass das, »was
Moral heute vielleicht überhaupt noch heißen darf, über[geht] an
die Frage nach der Einrichtung der Welt – man könnte sagen: die
Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der richtigen
Politik«.49 Wenngleich Adorno auch hier daran zweifelt, ob »eine
solche richtige Politik selber heute im Bereich des zu Verwirklichenden gelegen«50 sei, so kann dies durchaus als Aufforderung
verstanden werden, über die (gute) Politik im Geiste Kritischer
Theorie nachzudenken.
II. Kritische Theorie der Politik heute: Ein Panorama
»Ist die Frage der Politik zu einer Zeit aktuell, in der man
sie nicht machen kann?«
(Max Horkheimer)51
In diesem Licht betrachtet stellt sich das Vorhaben einer Kritischen
Theorie der Politik innerhalb des ursprünglichen Forschungszusammenhangs um Horkheimer und Adorno womöglich etwas anders
dar. Nicht als ein ungewolltes, als sinnfrei erachtetes Projekt, sondern vielmehr als eine unerledigte, bis auf Weiteres aufgeschobene
Aufgabe. Sieht man von den peripheren Beiträgen Kirchheimers
und Neumanns ab, so kommen jedoch erst deutlich später, mit der
sogenannten zweiten Generation, eigenständige rechts- und demokratietheoretische Ansätze im Kontext der Kritischen Theorie ins
Spiel. Explizit politiktheoretische Reflexionen finden insbesondere über die staats-, rechts- und demokratietheoretischen Arbeiten
Oskar Negts,52 Claus Offes53 und vor allem Ingeborg Maus’54 und
49
50
51
52
Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie (1963), Berlin 2010, S. 262.
Ebd.
Horkheimer/Adorno, »Diskussion über Theorie und Praxis«, S. 47.
Unlängst bspw. Oskar Negt, Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform,
Göttingen 2006.
53 Vgl. z. B. Claus Offe, Herausforderungen der Demokratie. Zur Integrations- und
Leistungsfähigkeit politischer Institutionen, Frankfurt/M., New York 2003, sowie
Jens Borchert, Stephan Lessenich, Claus Offe and the Critical Theory of the Capitalist State, New York 2016.
54 Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluss an Kant, Frankfurt/M. 1992.
24
III. Aufbau und Kurzdarstellungen
Das skizzierte Panorama der Beiträge ist zu vielfältig, um daraus
unmittelbar den Aufbau dieses Bandes abzuleiten. Die Texte sind
zu facettenreich, um jeweils genau einer Kategorie und nur dieser zu entsprechen. Sie sind durchweg auf mehrere Themen und
Motive bezogen und in verschiedene Debatten zugleich verstrickt.
Eine Vereinfachung, ohne den Texten Gewalt anzutun, ist mithin
vonnöten. Zur Sortierung haben wir sechs Felder eingeteilt: Feld
(I) gruppiert sich theoretikerbezogen um Referenzen und Gewährsleute. Hier werden Beiträge versammelt, die sich auf die Bearbeitung und Aktualisierung des Kanons der Kritischen Theorie (samt
Marx als gemeinhin aufgerufenem Bahnbrecher) fokussieren. Feld
(II), Politische Theorie als/oder Theorie der Gesellschaft, behandelt die angemessene Rolle der Disziplin und ihre theoretischen
Reichweitenansprüche. Die Texte in Feld (III) befassen sich mit
den kontrovers verbundenen Sachthemen Gerechtigkeit, Kritik der
Rechte und Normativität. In Feld (IV) wird die Frage gestellt: Im
Widerspruch? Negativismus, Fortschritt und das gute Leben. Behandelt wird somit die Streitfrage des Anspruchs, wie eine Kritische
Theorie der Politik vorgehen darf und sollte. In Feld (V) werden
diejenigen Texte versammelt, die sich mit dem politiktheoretisch
unerlässlichen Thema Kritische Theorie der Demokratie und der
Autorität beschäftigen. Schließlich geht es in Feld (VI) um theoretische wie praktische Grenzverschiebungen und Grenzüberschreitungen, mithin um Herausforderungen für die Theoriebildung wie
auch die politische Praxis infolge zunehmender transnationaler
Verflechtungen. Neben dem Bemühen um thematische Gruppierung wurde zudem darauf geachtet, dass gerade nicht möglichst homogene und konsensuale Strukturen entstehen, sondern
vielmehr jeweils ein Spannungsfeld eröffnet oder Weggabelungen
sichtbar werden. Die Reihenfolge der Beiträge entspringt dabei
mal offenkundiger, mal versteckter einer Dramaturgie, welche die
Texte aufeinander aufbauen oder einander antworten respektive
ausdrücklich widersprechen lässt. Zwischen den Feldern eröffnen
sich theoretische Übergänge, die so angelegt sind, dass der jeweils
letzte Text bereits das nächste Feld vorbereitet und gewissermaßen
auf Antwort drängt. Einzelne Themen und Motive werden dabei
unter veränderten theoretischen Vorzeichen im Laufe des Bandes
40
immer wieder aufgegriffen, so dass es zu weiteren Korrespondenzen kommt.
Nun folgen die Beiträge zur Kritischen Theorie der Politik im
Einzelnen. Erneut sei darauf hingewiesen, dass die Verwendung des
kleinen k und großen K variiert, je nachdem, ob ein Frankfurter
Kontext oder andere kritische Zugänge gemeint sind; insofern ist
stets darauf zu achten, wann die Autor*innen die klassische Kritische Theorie rekonstruieren oder sich auf zeitgenössische Fortführungen beziehen, und wann sie – auf die eine oder andere Weise –
von ihrem eigenen Zugang sprechen.
(I) Referenzen und Gewährsleute. Nancy Fraser setzt mit der
knappsten Formel des allgemeinen Anspruchs Kritischer Theorie
ein – dem Marx’schen Diktum der ›Verständigung der Zeit über
ihre Kämpfe und Wünsche‹. Für Fraser muss eine überzeugende
Kritische Theorie der Politik unter gegenwärtigen Bedingungen
notwendig auf angemessener Kapitalismusanalyse und -kritik
fußen. Sie fordert im Sinne des ursprünglichen Frankfurter Programms, nicht ökonomistisch, sondern vielmehr multidimensional und interdisziplinär vorzugehen. Fraser ist mithin der Überzeugung, dass auch und gerade politische, soziale, kulturelle und
ökologische Probleme unserer Zeit in der Tiefenstruktur des globalen und neoliberalen (Finanzmarkt-)Kapitalismus wurzeln. Dafür bringt sie zum einen eben Karl Marx in Stellung, stellt ihm
aber zum anderen die Kapitalismustheorie von Karl Polanyi zur
Seite, bei dem sie entscheidende Impulse für die Ausarbeitung einer
umfassenden Theorieperspektive identifiziert. Ihre Argumentation
erfolgt in drei Schritten: Zunächst argumentiert sie für eine ihrer
Auffassung nach kontraintuitive Lesart Polanyis, und zwar dahingehend, dass er eine strukturelle Perspektive der kapitalistischen
Krise biete. Dabei stützt sie sich insbesondere auf Polanyis Ansatz
der ›fiktiven Kommodifizierung‹. Das Ergebnis sei eine Theorie der
kapitalistischen Krise, die von drei intersystemischen Widersprüchen der sozialen Ordnung ausgehe und über das Ökonomische
hinausweise. In einem zweiten Schritt legt Fraser dar, dass Polanyi
ferner eine handlungstheoretische Perspektive aufzeige, welche die
sozialen Kämpfe als Reaktion auf die herausgearbeiteten Widersprüche in den Blick nehme. Diese Perspektive könne einige der
blinden Flecken bei Marx überwinden, weise dabei jedoch gleichzeitig selbst einige Schwachstellen auf, die wiederum mit Marx be41
hoben werden könnten. So gelangt Fraser in einem dritten Schritt
schließlich zu einer integrierenden Perspektive, die ihr als notwendige Voraussetzung erscheint, die kapitalistische Krise neu zu denken und konkrete emanzipatorische Ziele zu erkennen.
William Scheuerman konzediert ebenso, dass es für eine heutige Kritische Theorie der Politik keine drängendere Aufgabe gibt
als die systematische Erforschung der Krise liberaler Demokratien der Gegenwart. Seine Herangehensweise kennzeichnet dabei,
sich auf einen ›vergessenen Frankfurter‹ zu besinnen, der dezidiert
politiktheoretisch arbeitete: Franz Neumann. Trotz zahlreicher
theoretischer und politischer Überschneidungen seien spätere
Generationen der Kritischen Theorie, allen voran Habermas, zu
Scheuermans Bedauern anderen Wegen gefolgt. Auch wenn Neumanns theoretische Ansätze nicht mechanisch auf heutige Verhältnisse anwendbar seien, wären seine Nachkriegsschriften nichtsdestotrotz von verblüffender Aktualität. So diagnostizierte Neumann
bereits frühzeitig eine zunehmende Entfremdung des Bürgers von
der demokratischen politischen Macht und der daraus resultierende massenhafte Anstieg der Politikverdrossenheit wiederum spiele
den Demagogen in die Hände. Seine Botschaft sei eindeutig: Solange die liberale Demokratie keine adäquaten Mittel für eine informierte, aktive und wirkmächtige Staatsbürgerschaft bereitstelle,
würden autoritäre Bewegungen immer einen fruchtbaren Nährboden aus Furcht und Angst vorfinden. Neumanns einschlägige Begriffe – wie Entfremdung, Angst, Freiheit, Staatsbürgerschaft und
Rechtsstaatlichkeit – und die Darstellung seines Ringens um eine
angemessene Verbindung von Marxismus und Liberalismus durchziehen entsprechend Scheuermans Plädoyer für eine zeitgemäße
Wiederentdeckung des zu Unrecht vergessenen Franz Neumann.
Hubertus Buchstein beleuchtet geradezu komplementär das
Wirken eines weiteren politiktheoretisch maßgeblichen Vertreters
der Frankfurter Schule, namentlich das von Otto Kirchheimer. In
diesem erkennt er einen wesentlichen Gewährsmann für die Eigenständigkeit politischer Phänomene unter der ersten Generation
der Frankfurter Schule und portraitiert ihn als einen durch und
durch politischen Juristen. Buchstein verfolgt insbesondere die
für das Institut für Sozialforschung politiktheoretisch folgenreiche
Entwicklung des Verhältnisses von Kirchheimer und Horkheimer,
das sich nach anfänglichem Optimismus zusehends verschlechter42
te. Dies wird gegenstandsbezogen etwa anhand der Arbeiten zur
›politischen Kompromissstruktur‹ und der Theorie des ›Rackets‹
nachgezeichnet. Das letztendliche Scheitern und Auseinandergehen hilft dabei, zumindest teilweise zu erklären, wie es zu einem
politiktheoretischen Defizit am Institut kommen konnte, und
warum Kirchheimers zum damaligen Zeitpunkt vielversprechende
Souveränitätsanalyse – ein verstecktes Kernstück der politischen
Theorie der Frankfurter Schule – nicht mehr im Institutskontext
publiziert wurde. Buchstein belässt es jedoch nicht bei einer historischen Aufarbeitung: Aus heutiger Sicht seien Kirchheimers Arbeiten nicht mehr unmittelbar instruktiv, anschlussfähig sei jedoch
die von Kirchheimer eingenommene institutionenbezogene und
gruppentheoretische Analyseperspektive. Abschließend plädiert
Buchstein mithin dafür, Kirchheimers Fragen heute wieder stärker
ins Zentrum zu rücken – also für eine neue institutionalistische
Wende einer Kritischen Theorie der Politik.
Oliver Marchart bietet demgegenüber einen klaren theoretischen Kontrapunkt, obwohl er ebenfalls an die erste Generation
der Frankfurter Schule anschließt. Nur diese biete eine dezidiert
Kritische Theorie der Gesellschaft, die einen Begriff von Totalität
aufweise und ein anschlussfähiges antagonistisches wie auch negativistisches Erbe anbiete. Dies sei, so die Positionierung Marcharts,
schlichtweg der einzig erfolgversprechende Weg für eine (heutige)
Kritische Theorie. Entsprechend argumentiert Marchart ausdrücklich für eine Kritische Theorie ›des Politischen‹, die mithin in postmarxistischen, oder in seiner präzisierenden Diktion: ›postfundamentalistischen‹ Bahnen verläuft. Er setzt dabei aber nicht etwa
auf Adorno, dessen zögerliches Denken des Politischen an seiner
Praxisaversion kranke, sondern auf seinen ›feindlichen Zwilling‹
innerhalb der ersten Generation: Herbert Marcuse. Nur mit dessen
Hilfe gebe es Chancen, auf der Suche nach einer Kritischen Theorie
politischer Praxis fündig zu werden, auch wenn seine Theorie zutiefst ambivalent sei. Als Fortführung schlägt Marchart sodann ein
Konzept des ›demokratischen Horizonts‹ als hegemonial gefestigte
Bezugsfolie politischen Handelns vor. Abschließend argumentiert
er, dass Marcuses wesentlicher Beitrag zu einer kritischen Theorie
radikaldemokratischer Politik in seiner am Modell konkreter Utopie ausgerichteten Konzeption einer untrennbaren Verbindung des
Prinzips der Freiheit mit der Praxis der Befreiung bestehe.
43
(II) Politische Theorie als/oder Theorie der Gesellschaft. Alex
Demirović nimmt seinen Ausgang bei den multiplen Krisen der
Gegenwart. In politiktheoretischer Hinsicht sieht er zwei einander
widersprechende Reaktionen auf ebenjene Krisen: Einerseits die
Forderung nach der (Neu-)Erfindung der Politik oder die Beobachtung einer Rückkehr des Politischen und andererseits die These vom Verschwinden der Politik oder vom Eintritt in die Phase
der Post-Politik. Im Zuge entsprechender Zeitdiagnosen werden
jedoch immer auch prinzipielle Merkmale von Politik respektive
des Politischen mitverhandelt. Demirović argumentiert, dass eine
Theorie des Politischen ohne Gesellschaftstheorie gegenüber den
krisenhaften gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart
überfordert sei und scheitern müsse. Er zeigt zunächst, dass in den
gegensätzlichen politischen Theorien Carl Schmitts und Hannah
Arendts der Begriff des Politischen zu eng gefasst sei. Sodann laufe
auch der neuere Versuch, das Projekt des Politischen zu erneuern
und als konstitutives Handeln zu reformulieren, aufgrund seines
formalen und transzendentalen Charakters fehl. Demirović zieht
dafür beispielhaft den Ansatz von Chantal Mouffe heran. Schließlich werden politiktheoretische Überlegungen der älteren Kritischen Theorie skizziert, um ein Modell eines anspruchsvollen herrschaftskritischen Begriffs des Politischen zu entwerfen. Demirović
gibt dabei zu erkennen, dass er bei Adorno die avancierteste und
überzeugendste (Gesellschafts-)Theorie des Politischen erblickt.
Hartmut Rosa weist die neueren Theorien des Politischen insgesamt vehement zurück, da deren antagonistische Essenz notwendig
zu einem Zerrbild der Demokratie führe. Statt umgekehrt ins Harmonistische umzuschlagen, fokussiert Rosa auf die Art der Beziehung unter politischen Subjekten, die er wiederum als Ergebnis
des politischen Prozesses versteht. Um ebenjene Beziehung in den
Mittelpunkt zu rücken, setzt er auf den sozial- und gesellschaftstheoretischen Begriff der (demokratischen) ›Resonanz‹ – als gegenseitiges (Zu-)Hören und Antworten der Mitglieder einer institutionell verfassten Lebensform, die um die Gestaltung ihrer politischen
Gemeinschaft und um das Gemeinwohl ringen. Rosa arbeitet vier
konstitutive Merkmale von Resonanzverhältnissen heraus: erstens
Affizierung als Aufnahmebereitschaft gegenüber Aussagen und
Argumenten anderer; zweitens Selbstwirksamkeit als Mitgestaltung durch erfolgreiches Einbringen der eigenen Stimme; drittens
44
Transformation als Verwandlung der am Dialog beteiligten; sowie
viertens Unverfügbarkeit als prinzipielle Nichterzwingbarkeit von
Mitgestaltungsergebnissen. Welchen Unterschied das Herstellen
oder Abbauen von Resonanzverhältnissen in ganz konkreten politischen Streitfragen macht, diskutiert Rosa am aktuellen Beispiel
des Rechtspopulismus. In gesellschaftstheoretischer Hinsicht wird
gefolgert, dass es einer Kritischen Theorie der Politik um nicht weniger gehen darf als um Totalität, um die Weltbeziehungen einer
Gesellschaft im Ganzen. Entsprechend ließen sich die vielfältigen
Krisentendenzen der Gegenwart in einem integrierten theoretischen Vokabular als eine umfassende Resonanzkrise analysieren.
Dafür entwickelt Rosa eine differenzierte, sechsgliedrige Heuristik,
die jeweils Analyse, Diagnose und Therapie sowohl in struktureller als auch kultureller Perspektive beschreiben kann. Eine wirklich
vollständige Kritische (Gesellschafts-)Theorie der Politik, so der
Anspruch, benötige alle sechs dieser Bausteine.
Sonja Buckel und Dirk Martin begeben sich wiederum auf die
Suche nach einer nichtsystematischen gesellschaftskritischen Theorie der Politik. Eine solche Theorie solle als eine spezifische Praxis
verstanden werden, die auf eine fundamentale Demokratisierung
aller gesellschaftlichen Verhältnisse abziele. Dabei gehen Buckel
und Martin in drei Schritten vor: Zunächst werden die Entstehung
und strukturelle Bedeutung der relativen Autonomie der Politik
und des Staates in der bürgerlichen Gesellschaft rekonstruiert. Mithilfe einer materialistischen Staatstheorie wird herausgearbeitet,
dass Politik und Staat in der Moderne stets Formen und Ausdruck
kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse seien. In einem zweiten
Schritt wird problematisiert, dass gegenwärtige Politik- und Sozialwissenschaften aufgrund der derzeit dominanten Paradigmen
affirmativ blieben. Die Autor*innen ziehen dafür exemplarisch Renate Mayntz, Niklas Luhmann und Rainer Forst heran. Durch den
Umstand, dass dabei entweder eine deskriptive oder eine normative
Zugangsweise erfolge, würden gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse ausgeblendet oder normalisiert werden. Buckel und Martin
bringen dagegen in einem dritten Schritt eine ›Politik der Herrschaftskritik‹ in Stellung. Dafür bedienen sie sich maßgeblich bei
zwei Theoretikern, die zusammengenommen als für dieses Unterfangen wesentlich dargestellt werden: Max Horkheimer, von dem
vor allem die Idee des Emanzipationsinteresses entliehen wird, und
45
Antonio Gramsci, der hegemonietheoretisch zur Erarbeitung einer
neuen Weltauffassung herangezogen wird.
Bernd Ladwig behandelt einen Typus gegenwärtig maßgeblicher Theorieangebote, nämlich solche, die aus einer Teilnehmer*innenperspektive fragen würden, was legitime von illegitimer
Herrschaft und gerechte von ungerechten gesellschaftlichen Grundstrukturen und Praktiken unterscheide. Seine Diagnose lautet, dass
weit und breit keine umfassende Gesellschaftstheorie zu erkennen
sei, die das von der Kritischen Theorie gegebene Versprechen der
normativen Rekonstruktion einlösen würde. Entsprechende Defizite will Ladwig aus einer Kontrastierung der neueren Kritischen
Theorie mit dem Politischen Liberalismus entwickeln, wobei ein
Prinzip politischer Rechtfertigung als gemeinsame Vergleichsgrundlage dient. Ladwig identifiziert dabei eine Reihe von Gegensätzen, die zwar weit verbreitet, aber als falsch zurückzuweisen
seien. Er möchte zeigen, dass ein ganz bestimmter Gegensatz in der
Art der normativen Rekonstruktion letztlich entscheidend sei. Die
Kritische Theorie vertrete in ihren Konzeptionen rekonstruktiver
Kritik einen normativen Funktionalismus und wecke damit unerfüllbare Erwartungen, was er ausführlicher am Beispiel von Axel
Honneth zu demonstrieren sucht. Insbesondere verleugne die Kritische Theorie damit auf geradezu gewaltsame Weise die Grundspannung zwischen Ideal und Praxis, zwischen dem Sich-Einlassen
auf und dem Sich-Entfernen von gegebenen gesellschaftlichen
Verhältnissen. Entsprechend lautet sein Urteil, dass die Zeit der
Kritischen Theorie abgelaufen sei. Ihre Vorzüge sollten vielmehr –
näher an Kant denn an Hegel – arbeitsteilig in eine erweiterte und
vertiefte normative Politische Theorie liberalen Typs sowie in eine
selbstreflexive empirische Politikwissenschaft und Sozialforschung
aufgehen.
(III) Gerechtigkeit, Kritik der Rechte und Normativität. Rainer
Forst hat sich das Ziel gesetzt, über den Politischen Liberalismus
Rawls’scher Prägung hinauszugehen, indem er den Ansatz einer
kritischen Theorie transnationaler Gerechtigkeit weiterentwickelt.
Dafür sei eine Theorie der Gerechtigkeit als Rechtfertigung vonnöten, die die konstruktivistische Vernunft mit dem Blick auf reale
Beherrschung kombiniert – sich also als ein ›kritischer Realismus‹
versteht. Forst will auf diese Weise typische Einseitigkeiten und
Reduktionismen überwinden: Eine überzeugende Gerechtigkeits46
theorie dürfe weder auf ein realistisches Bild von der Wirklichkeit
struktureller Ungerechtigkeiten noch auf eine kontext-transzendierende normative Idee von Gerechtigkeit verzichten. Sie müsse
des Weiteren sowohl einen liberalem Parochialismus vermeiden,
der nicht liberale Kulturen stiefmütterlich behandelt, als auch einen kulturellen Positivismus, der verdinglichend in ›westlich‹ und
›nicht westlich‹ trennt. Eine solche Theorie habe zudem ebenso auf
die Praxis des Widerstands gegen Ungerechtigkeit wie auch auf die
Herrschafts- und Beherrschungspraktiken zu blicken. Was kritische
von positivistischer Theorie unterscheide, sei dabei jedoch stets die
zu klärende Frage, ob sie gerechtfertigte Formen des Kampfes gegen Ungerechtigkeit identifizieren könne. Schließlich umfasse eine
überzeugende Theorie der Gerechtigkeit sowohl (auf die Art sozialer Beziehung fokussierende) relationale als auch (das universale
Recht auf Rechtfertigung betonende) nicht relationale Gerechtigkeitsverständnisse. Im Manövrieren durch diese Theoriewege diskutiert Forst Stärken und Schwächen einschlägiger Theorieangebote, um abschließend die Perspektive fundamentaler transnationaler
Gerechtigkeit zu skizzieren.
Daniel Loick verschiebt den Fokus von Gerechtigkeit und
Rechtfertigung zum Recht selbst, das nur allzu häufig das Paradigma unserer Vorstellungen von Normativität insgesamt abgebe.
Er diagnostiziert eine weitgehende, wohl von Marx herrührende
Staats- und Rechtsvergessenheit der Frankfurter Schule, was angesichts der Zentralstellung dieser Themen in der (europäischen)
politischen Philosophie verwundere. Mit Habermas ändere sich
dies zwar, jedoch würden entsprechende Ansätze einseitig die
emanzipatorischen, zivilisierenden und einhegenden Eigenschaften des Rechts betonen und somit dazu neigen, seine gewaltförmigen, entfremdenden oder unterdrückenden Effekte zu übersehen. Trotz der allgemeinen Vernachlässigung des Rechts fänden
sich innerhalb der Ansätze der ›klassischen‹ Frankfurter Schule
aber vielversprechende Spuren: Kirchheimers politische Kritik der
Verrechtlichung als Neutralisierung des Klassenkampfs, Adornos
ethische Kritik des Subsumtionscharakters des Rechts sowie Benjamins moralische Kritik der Gewaltangewiesenheit des modernen
Rechts. Loick argumentiert für die anhaltende Produktivität dieser Überlegungen, kommt jedoch zum Schluss, dass keine dieser
Kritiken mehr in ihrer ursprünglichen Form überzeugen könne.
47
Vielmehr müssten sie für die gegenwärtigen Verhältnisse und unter
Konsultation poststrukturalistischer, feministischer oder dekonstruktiver Ansätze reformuliert werden. So benennt Loick abschließend drei maßgebliche Aufgaben für eine heutige kritische Theorie
des Rechts: die Formulierung eines post-staatlichen Politikbegriffs,
die Konturierung eines post-juridischen Begriffs von Ethik sowie
die Erforschung der Bedingungen für eine möglichst gewaltfreie
menschliche Interaktion.
Raymond Geuss setzt noch grundsätzlicher an, indem er sich
keinem bestimmten Gegenstand, sondern den fundamentalen
begrifflichen Theorieelementen in kritischer Absicht zuwendet.
So identifiziert er ›Normativität‹ unumwunden als ideologische
Hauptschutzfunktion des gesellschaftlichen Status quo. Entsprechende Theorie suche ihr Heil mithin in der Rechtfertigung
verbindlicher Normen und sei damit selbst zugleich performativer politischer Akt sowie Fortschreibung ›traditioneller‹ Theorie.
Er diskutiert dabei zwei Varianten eines normativen Ansatzes, da
entweder auf gängige normative Prinzipien (wie etwa Recht und
Gerechtigkeit) oder auf idealisierte Methoden der Rechtfertigung
rekurriert werde. Für beide gelte jedoch gleichermaßen: Normativität sei für die Kritische Theorie nur insofern interessant, als es
sich bei dieser spezifischen Begriffsbildung um ein pathologisches
Phänomen handele, das es zu analysieren gelte. Geuss skizziert den
Weg dafür, indem er die begrifflichen Grundelemente fokussiert
und sich zur Prüfung vornimmt. Schließlich folgert er daraus zwei
wesentliche Aufgaben einer Kritischen Theorie der Politik: Einerseits komme es darauf an, die angeblich dichotomische Unterscheidung zwischen ›deskriptiv‹ und ›normativ‹ (wie sie etwa der nach
wie vor virulenten ›idealen Theorie‹ der Politik entstamme) beständig zu unterwandern oder zu relativieren; andererseits sei geboten,
die drei maßgeblichen Kontexte der Macht, der Ideologie und der
Utopie zu adressieren – ohne je vollkommen rein, geschichtslos
und abgeschlossen zu sein.
(IV) Im Widerspruch? Negativismus, Fortschritt und das gute
Leben. Michael Hirsch positioniert sich klar auf Seiten eines normativen Emanzipationsinteresses. Seine Überzeugung ist, dass eine
breit verstandene kritische Theorie mithilfe einer synthetischen
Traditionsverknüpfung einen bedeutsamen politischen Beitrag zur
Bildung eines intellektuell attraktiven wie auch progressiven Nar48
rativs leisten könne und solle. Dafür sei notwendig, lange Zeit für
fruchtbar gehaltene Alternativen wie ›Gerechtigkeit oder das gute
Leben?‹ oder ›Umverteilung oder Anerkennung?‹ als prinzipiell
falsch zurückzuweisen. Hirsch zielt vielmehr auf eine Verflechtung
symbolischer (Normen, Lebensentwürfe, ideés-forces) und materialistischer (Staat, Sozialstruktur, Habitus, Arbeit) Perspektiven; dafür bezieht er sich soziologisch insbesondere auf Pierre Bourdieu
und Didier Eribon, politiktheoretisch insbesondere auf Ingeborg
Maus. Hirschs entscheidende Leitdifferenz lautet: progressive oder
regressive Gesellschaftsveränderung? Aus vergebenen Möglichkeiten der ersteren erwüchsen die gegenwärtigen Realitäten der letzteren. Da der Autor sowohl auf dem Felde der Theorie als auch
der Politik eine gewisse Resignation diagnostiziert, plädiert er umso
nachdrücklicher für ein doppeltes Gegengift: erstens für einen progressiven Etatismus im Sinne einer linkskantianischen Tradition
und somit für eine fortschrittliche gesellschaftsgestaltende Funktion demokratischen Rechts auf dem Weg der Umprogrammierung des Staatsapparats; und zweitens für konkrete Utopien eines
anderen Lebens: eines guten Lebens für alle. Ein entsprechendes
Narrativ könne heute nur ein ökosozialistisches und feministisches
Postwachstumsnarrativ sein. Dessen Entwicklung sei mithin die
vornehmste und dringlichste Aufgabe einer zeitgemäßen Kritischen Theorie der Politik.
Robin Celikates erkennt eine prinzipielle Gefahr in den seiner
Auffassung nach jüngst wieder populären Narrativen moralischen
Fortschritts, wie sie auch in der Kritischen Theorie einen gewissen Widerhall gefunden hätten. Sie gingen mit dem Risiko einher, soziale Transformationsprozesse und Emanzipationskämpfe
durch Moralisierung zu entpolitisieren; zugleich werde systematisch die vermeintlich fortschrittsbefördernde ›subtile‹ Kraft der
Kritik überschätzt. Eine Kritische Theorie der Politik müsse dagegen die Marx’sche ›materielle Gewalt‹ sowohl der umzustürzenden
Verhältnisse als auch der Kämpfe um Emanzipation ins Zentrum
ihrer Analyse stellen, wolle sie die Frage nach der richtigen Politik
anders beantworten, als es ein idealtheoretischer und normativistischer Mainstream der politischen Theorie oder neue Realismen
täten. Celikates problematisiert dabei vor allem solche Narrative
des moralischen Fortschritts, deren Subjekt Gesellschaften oder die
Menschheit als Ganzes sind. In einem ersten Schritt diskutiert er
49
drei Beispiele einfacherer, selbstzufriedener oder unkritisch Vorurteile reproduzierender Narrative, namentlich Peter Singers ›ausdehnenden Kreis moralischer Berücksichtigung‹, Steven Pinkers
Bestseller über die zunehmende Zurückdrängung von Gewalt und
Philip Kitchers komplexere pragmatisch-funktionalistische Fortschrittskonzeption der zunehmenden Problemlösungskapazität
moralischer Normsysteme. In einem zweiten Schritt argumentiert
Celikates, dass die systematischen Probleme auch auf neuere Theorien zuträfen, die nicht ideal und mit Blick auf soziale Kämpfe arbeiten, etwa Elizabeth Andersons Ansatz der fundamentalen
Transformation des moralischen Bewusstseins in Bezug auf Sklaverei oder Anthony Appiahs Theorie ›moralischer Revolutionen‹. In
einem dritten Schritt skizziert Celikates schließlich vier verschiedene Arten von Emanzipationsblockaden, die Fortschritt entgegenstünden: Koordinations- und Kooperationsprobleme, Ideologie,
blockierte oder verzerrte Artikulationen sowie Unter- und ÜberInstitutionalisierung. Historisch gesehen hätte sich die Kritische
Theorie zu schnell auf eine von ihnen festgelegt, es gelte jedoch,
dies für zeitgenössische Analysen durch systematische Integration
zu beheben.
Amy Allen geht der Frage auf den Grund, warum die frühe Kritische Theorie die Psychoanalyse für entscheidend in Hinblick auf
die Politik hielt. Sie identifiziert drei Ebenen gemeinsamer Interessen: inhaltlich zu erklären, warum die ausgebeutete Arbeiterklasse
einerseits daran gescheitert sei, den Kapitalismus zu stürzen, und
andererseits dem Faschismus in die Arme lief; formal aufgrund des
Umstandes, dass die Psychoanalyse Modell gestanden hätte für die
Methodologie der Kritischen Theorie, verstanden als Ideologiekritik; und schließlich zielbezogen, da beide eine Art Heilung anstreben würden, hier der neurotischen Krankheiten, dort der sozialen
Pathologien. Allen problematisiert jedoch, dass die reifere Kritische
Theorie – namentlich Habermas und Honneth – einer Fehldeutung der Psychoanalyse aufsäßen. Daher schlägt sie eine alternative
Konzeption sozialer und politischer Emanzipation vor. Allen entfaltet dies konzentriert bei Habermas und Honneth und kontrastiert deren Lesart, die nach ihrem Dafürhalten zu sehr auf rationale
Einsicht baue, mit den Verständnissen von Sigmund Freud und
Jacques Lacan. Letzterem folgend, stelle sich die utopische Vorstellung einer vollständig vernünftigen Gesellschaft als Illusion dar.
50
Für eine Kritische Theorie der Politik zielt Allen mithin zum einen
auf eine offenere ›Emanzipation ohne Utopie‹, auf eine Negation bestehender Herrschaftsverhältnisse und Leidenserfahrungen.
Zum anderen plädiert sie dafür, der affektiven Dimension und den
transformativen Effekten welterschließender ästhetischer Praktiken einen gebührenden Platz einzuräumen, etwa im Rahmen eines
›feministischen Imaginären‹. Kritik auf diese Weise affektiv neu
zu denken, könnte laut Allen wiederum eine Brücke zur QueerTheorie schlagen, die in der Frankfurter Schule allzu unbeachtet
geblieben sei.
Oliver Flügel-Martinsen verschreibt sich noch entschiedener einer dezidiert negativistischen Perspektive. Er rekonstruiert im Ausgangspunkt jüngerer Diskurse die Konturen einer kritischen Theorie des Politischen, die sich in den Bahnen einer negativen Kritik
bewege, wie sie maßgeblich auch in Adornos Schriften zu finden
sei. Diese vollziehe sich wesentlich in der Form einer Befragung
gegebener semantischer, epistemischer, sozialer und institutioneller
Ordnungen. Flügel-Martinsen konzentriert sich auf vier programmatisch ausgeleuchtete Dimensionen. In einem ersten Schritt legt
der Autor dar, wie sich das Modell einer befragenden Kritik aus
der Unterscheidung von Politik und Politischem gewinnen lasse.
Er skizziert zweitens das damit notwendig einhergehende Kontingenzpostulat, das auf die Grundlosigkeit von sozialen und politischen Strukturen ebenso wie von Subjektformen verweise. Drittens
arbeitet Flügel-Martinsen heraus, dass eine negative Kritikform auf
Begründungen oder Rechtfertigungen normativer Referenzpunkte
ausdrücklich verzichten solle. Viertens folge aus der Negativität jedoch keineswegs, dass es einer solchen Theorie an entscheidenden
Impulsen für ein emanzipatorisches Demokratieverständnis fehle.
Vielmehr ermögliche eine kritische Theorie des Politischen, die
sowohl auf die spezifische Konstitution als auch auf die mögliche
Subversion gegebener Ordnungen und Subjektformen hinweist,
gleichsam ex negativo eine Theorie radikaler Demokratie. Die
entscheidende Frage sei somit nicht, ob das Mittel der negativen
kritischen Befragung zu bescheiden für das Ziel einer Demokratisierung wäre, sondern vielmehr, wie mehr radikale Befragungen im
Namen einer kommenden radikaldemokratischen Praxis erfolgen
könnten.
(V) Kritische Theorie der Demokratie und der Autorität. Mar51
tin Saar widmet sich zugleich dem Kernbestand der Demokratie
und dem weitverbreiteten Diskurs einer heutigen Demokratiekrise. Er hält programmatisch fest: Eine kritische Theorie der gegenwärtigen Politik müsse eine kritische Theorie demokratischer
Legitimation und demokratischer Macht sein und Demokratie
zugleich als in sich krisenhafte sowie bedrohte Größe verstehen.
Um dies zu entwickeln, setzt Saar zunächst bei solchen Diagnosen an, die den Verfall, die Ambivalenz oder sogar die Regression
des Demokratischen behaupten und mit der Formel der ›Postdemokratie‹ beim Namen nennen. Er beleuchtet dafür die prägnanten (aber inkompatiblen) Ansätze von Colin Crouch und Jacques
Rancière genauer und argumentiert, dass diese zwar triftige, aber
unvollständige Beschreibungen des internen Krisenmoments der
Demokratie böten. Eine vollständige kritische Theorie demokratischer Politik, so Saar, würde dieses Krisenmoment weder verzeitlichen (wie Crouch) noch verabsolutieren (wie Rancière), sondern
als konstitutiv und zugleich problematisch beschreiben. Dies hätte
in zweierlei Hinsicht weitreichende Konsequenzen: einerseits für
die zeitgenössische Demokratietheorie, in der die Frage der Macht
in der Demokratie oft sekundär erscheine, und andererseits für die
Theorien der Frankfurter Schule, in der die Demokratie als Legitimationsform oft nur sekundär gegenüber ihren gesellschaftlichen
Kontextbedingungen vorkomme. Entscheidend für eine kritische
Theorie der Politik sei jedoch, der methodischen Aufforderung der
Postdemokratiediagnose in radikalisierter Form zu folgen und auf
die prinzipielle Negativität der Demokratie zu fokussieren: auf die
Dialektik von Ohnmacht und Unfreiheit im Herzen der in sich
gespaltenen Demokratie höchstselbst.
Regina Kreide postuliert, dass eine Kritische Theorie der Politik
nicht ohne eine Auseinandersetzung mit dem Demokratiebegriff
auskomme. Die Verbindung zur Demokratietheorie liege dabei jedoch weniger in der – positiven – normativen Begründung demokratischer Prinzipien als vielmehr im – negativen – Aufdecken von
Handlungs- und Kommunikationsblockaden, die einer demokratischen Politik im Wege stünden. Um die gegenwärtige Doppelherausforderung durch (Finanzmarkt-)Kapitalismus und Autokratie
angemessen angehen zu können, sei dabei eine Verknüpfung von
normativer Politischer Theorie und empirisch informierter Gesellschaftstheorie unerlässlich. Unter den vorhandenen Theorieange52
boten biete sich dafür nach wie vor zuallererst die Habermas’sche
Theorie des kommunikativen Handelns an, auf deren Basis Kreide
ihr Programm entfaltet. Dafür wendet sie sich zunächst der ›Kolonialisierungsthese‹ zu, an der sie einige Revisionen vornimmt.
Sodann analysiert Kreide drei gegenwärtige Formen systemischer
sozialer Beherrschung, namentlich ökonomische und emotionale Ausbeutung, kulturelle Ökonomisierung, sowie transnationale
Verrechtlichung. Sie kommt zum Ergebnis, dass die ›Kolonialisierungsthese‹ allein bestehende Partizipationsblockaden nicht hinreichend darstellen könne, da sie insbesondere die massiven Handlungshindernisse der interaktivistischen Dominanz (Rassismus
und Sexismus) wie auch der wachsenden sozialen und kulturellen
Ungleichheit vernachlässige. Kreide argumentiert, dass sich die demokratischen Potentiale durch ›kommunikative Macht‹ auch dort
entfalten könnten, wo sie sich nicht in institutionalisierten Bahnen
bewegten und Partizipationsrestriktionen entmutigend erschienen.
Maeve Cooke entwickelt einen Begriff der autoritativen, aber
nicht autoritären Autorität, der auf einem spezifischen Verständnis
von Freiheit und Macht fußt. Autoritative Autorität ist für Cooke sowohl die zentrale Komponente der demokratischen Politik als auch
in der theoretischen Bekämpfung des gegenwärtigen Autoritarismus behilflich, den sie als eine ernstzunehmende Herausforderung
für die zeitgenössische politische Theorie insgesamt betrachtet. Um
eine derartige Programmatik zu entwickeln, versammelt Cooke in
einem ersten Schritt fünf Kernelemente und Überzeugungen einer
kritischen Gesellschaftstheorie: den emanzipatorischen Zug, die
Abhängigkeit des menschlichen Wohlergehens von strukturellen
und institutionellen Bedingungen, die Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse, die erschließende Kraft der Theorie sowie
die empirische Explikation normativer Thesen. Dieses Verständnis grenzt sie sodann von den im Feld der zeitgenössischen politischen Theorie als vorherrschend identifizierten Ansätzen – John
Rawls, Philip Pettit und Jürgen Habermas – ab. In einem zweiten
Schritt verknüpft Cooke den Autoritätsbegriff mit einer These der
gesellschaftlichen Subjektivitätsbildung. Dafür setzt sie zunächst
mit Charles Taylor bei einer Explikation des Selbstbilds an, das
die Identität von Subjekten in modernen Demokratien forme und
präge, und stellt dem ein bestimmtes Verständnis der individuellen
Freiheit als bürgerliches Subjekt zur Seite. Im dritten Teil möch53
te Cooke zeigen, wie einerseits die Freiheit des Einzelnen innerhalb von sozialen Institutionen und andererseits die Identität der
jeweiligen Institution durch Ausübung dieser Freiheit konstituiert
werde. In der ethischen Imprägnierung von Institutionen verortet
Cooke auch ihre autoritative Dimension, die ihnen aufgrund ihrer
bildenden, befördernden und orientierenden Funktionen hinsichtlich der Frage des guten Lebens zukomme. Zusammengenommen
sei so die Grundlage für ihre Vision von kritischer Theorie und
demokratischer Politik geschaffen.
Wendy Brown benennt und bearbeitet die für sie gegenwärtig
größte Bedrohung der Demokratie: die ›rechte Reaktion‹. Durch
die gebotene analytische Öffnung gegenüber derartigen Neuerungen der aktuellen politischen Ära würden nicht nur die verdeckten,
sondern auch die verdrängten Aspekte der bisherigen Arbeit an
der Kritischen Theorie in den Fokus rücken. Brown hat sich zum
Ziel gesetzt, die momentan unübersichtliche politische Gemengelage aus einem integrierten Blickwinkel zu betrachten und die
zugleich antipolitischen, libertären und autoritären Dimensionen
der heutzutage weitverbreiteten rechtsgerichteten Reaktionen zu
ergründen. Konkreter geht sie der Frage nach, welcher eigentümliche Typus von Freiheit aus der Kombination von neoliberaler Rationalität, gekränktem männlich-weißen Stolz, Nationalismus und
bisher beispiellosem Nihilismus hervorgehe. Brown bietet Ansätze
einer Genealogie dieser neoliberalen ›autoritären Freiheit‹, indem
sie sich in drei Schritten eingehend einem ungleichen Denkertrio
widmet: Friedrich August von Hayek, Friedrich Nietzsche und
Herbert Marcuse. Von Hayek trage eine Theorie der politischen
Rationalität unserer Zeit bei, die sich im Kern als eine demokratiezersetzende Kombination aus ökonomischer Privatisierung und
›reaktionär-familiären‹ Moralvorstellungen darstelle. Nietzsche
und Marcuse wiederum böten ausgehend von ihren Begriffen des
›Ressentiments‹ und der ›repressiven Entsublimierung‹ überzeugende Erklärungen der damit einhergehenden hasserfüllten, enthemmten, antisozialen und nihilistischen Aggression. Zusammengenommen wird somit ein theoretisch elaborierter und unmittelbar
politischer Beitrag zu dem geleistet, was Brown mit Tocqueville als
eine ›neue Kritische Theorie für eine neue Welt‹ bezeichnet.
(VI) Grenzverschiebungen und Grenzüberschreitungen. David
Owen leistet einen Beitrag zur Entwicklung einer kritischen po54
litischen Theorie transnationaler Migration. Eine kritische Theorie der Politik, die sich in gegenwärtig hitzigen öffentlichen wie
philosophischen Auseinandersetzungen behaupten will, müsse sich
an einer Genealogie des (im wittgensteinschen Sinne verstandenen) ›Bildes‹ von Migration versuchen. Durch das Aufzeigen des
Zusammenhangs zwischen diesem ›Bild‹ und der Reproduktion
von Strukturen der Herrschaft und der Benachteiligung könne
eine tiefgreifende (foucaultsche) ›Problematisierung‹ in Anschlag
gebracht werden. Dafür identifiziert und analysiert Owen drei
maßgebliche Konventionen, auf denen das ›Bild‹ der Migration
scheinbar natürlich beruhe: dem unilateralen Recht eines Staates
auf Kontrolle seiner territorialen Grenzen, dem Geburtsortsprinzip
der Staatsbürgerschaft und dem Recht auf Verlassen jedes Staates.
Gegenwärtig vorherrschende Migrationspolitik reproduziere eine
strukturelle Ungerechtigkeit, die in der imperialen und kolonialen
Vergangenheit der aktuellen internationalen Staatenordnung wurzeln würde. Diese Ungerechtigkeit zeige sich insbesondere durch
bestehende Zwangsarbeitsmigration, koloniale Siedlungsmigration
und ›rassifizierte‹ Einwanderungskontrollen. Demgegenüber böten
sich neue Möglichkeiten zur Entwicklung eines anderen Migrationsregimes durch die fortschreitende Transnationalisierung des
Staates. Ein besonderes Augenmerk legt Owen dabei auf drei Indikatoren dieser Entwicklung: den relativen Zusammenbruch der
Norm der einfachen Staatsangehörigkeit, die Zunahme der Wahlberechtigung für im Ausland lebende Staatsbürger*innen sowie die
Zunahme der Wahlberechtigung für Nichtstaatsangehörige. Die
genealogisch informierte Infragestellung des herrschenden ›Bildes‹
von Migration ermögliche schließlich zweierlei: Zum einen könne aufgedeckt werden, dass der ursprüngliche Zweck des liberalen
Rechts auf Verlassen eines Staates verkehrt und die Verkehrung
selbst verschleiert worden sei; und zum anderen könne ein Impuls
für eine konkrete Wandlung gegeben werden, nämlich weg von der
bloßen Freiheit, auszuwandern, hin zu einem veritablen Vermögen,
auszuwandern und woanders einzuwandern.
Svenja Ahlhaus und Peter Niesen nehmen die Grenzfunktion des
Staatsbürgerschaftsrechts für demokratische Gemeinschaften unter
die Lupe. Sie gehen zunächst von der Beobachtung aus, dass derzeit
wesentliche demokratische Errungenschaften in vielen politischen
Bereichen zurückgenommen werden. Ihre Analyse zielt jedoch
55
nicht auf einen umfassenden pathologischen Gesamtzusammenhang, sondern auf punktuelle Regressionsphänomene in Form von
konkret feststellbaren rechtlichen Rückschritten. Dabei sei unter
normativen Gesichtspunkten nicht jeglicher Abbau individueller
Rechte per se als Regression zu deuten, die Rückabwicklung der
staats- und völkerrechtlichen Modernisierung aber sehr wohl, da
sie geradezu die Negation des kosmopolitischen Fortschritts darstelle. Letzterer werde gegenwärtig vor allem durch zwei Ansätze in
den Blick genommen: einem globalen ›Kosmopolitismus von oben‹
und einem einzelstaatlichen ›Kosmopolitismus von unten‹, der
sich wiederum in eine kontestatorische und eine iterative Variante aufteilen lasse. Am Beispiel der Verleihung und Beraubung von
Mitgliedschaftsrechten erörtern Ahlhaus und Niesen jedoch, wie
bestehende Ansätze daran scheitern würden, regressive Tendenzen
angemessen zu diagnostizieren und mit Forderungen der Kosmopolitisierung in Einklang zu bringen. Jenseits bloß restaurativer Positionen entwickeln Ahlhaus und Niesen das Konzept eines ›Kosmopolitismus von innen‹, das unter anderem am Beispiel des Brexit
diskutiert wird. Zwei zentrale Elemente zeichnen dieses Konzept
aus: prinzipielle Teilhabe aller Weltbürgerinnen an den Prozessen
der Festlegung von Mitgliedschaftsstatus sowie die institutionelle
Einrichtung von Repräsentationsrechten und Begründungspflichten. Mit einem derart verstandenen Kosmopolitismus könnten
nicht nur Regressionen identifiziert, sondern auch Gegenmaßnahmen und fortschrittliche Weiterentwicklungen konzipiert werden.
Hauke Brunkhorst begibt sich auf das Feld der Theorien internationaler Beziehungen. Er setzt bei der stabilen Paradigmenkonkurrenz zwischen realistischen (nationalstaatlich orientierten) und normativen (kosmopolitisch orientierten) Theorien an,
die jeweils komplementäre Schwächen aufweisen würden. Unter
Rückgriff auf die holistische Gesellschaftstheorie von Talcott
Parsons möchte Brunkhorst zunächst aufzeigen, dass die realistischen Theorien schlichtweg wenig realistisch seien und in einer
umfassenden Theorie aufgehoben werden könnten. Sodann wird
umgekehrt argumentiert, dass eine Kritische Theorie auf diesem
Feld als ein an Marx anschließender Versuch zu verstehen sei, die
strukturellen Schwächen normativer Theorien in einem progressiven Forschungsprogramm zu überwinden. In einem weiteren
Schritt versucht Brunkhorst, unter Beachtung der jeweiligen Er56
kenntnisvoraussetzungen, normative und realistische Theorien in
einer schlüssigen Theorie zu vermitteln. In dieser Theorie stünden
Klassenkämpfe und andere Konflikte zwischen sozialen Gruppen,
die soziokulturelle Lernprozesse – phasenweise revolutionär oder
evolutionär – auslösten, im Mittelpunkt des epistemischen Interesses. Dabei werden vier Typen struktureller Konflikte identifiziert,
die in eine einheitliche Kritische Theorie Eingang finden müssten.
Während sich kapitalorientierte und staatsorientierte Konflikte,
Glaubenskriege sowie Inklusionskämpfe auf vielfältige Weise widerstreiten, überschneiden und verbinden würden, sei ihnen doch
gemein, dass sie als Kämpfe um Recht wie auch als Kämpfe im
Recht bisher ungekannte normative Lernchancen böten. Abschließend beleuchtet Brunkhorst, inwiefern die internationale Politik
im 21. Jahrhundert mit dem Problem ihres Endes als internationale
Politik konfrontiert sei, und zwar aufgrund einer weit fortgeschrittenen und ohne unabsehbare Regressionen kaum noch reversiblen
Transnationalisierung. Ob das Lernpotential der Gesellschaft ausreiche, um selbige in demokratische Bahnen zu lenken, sei eine
offene Frage.
Ina Kerner erkundet, inwiefern postkoloniale Theorie als wesentlicher Teil eines transdisziplinär ausgerichteten Projekts einer
globalen kritischen Theorie zu verstehen sei. Während die klassische Frankfurter Schule noch wenig Interesse für den Kolonialismus aufgebracht habe, könne die kritische Theorie heute nicht
mehr auf eine explizite Thematisierung verzichten. Postkoloniale
Macht- und Herrschaftsverhältnisse seien auf vielfältige Weisen mit
der ganzen Einrichtung des globalen Gesellschaftsbaus verknüpft
und daher nicht als singuläre Missstände zu betrachten. Kerner
geht in ihrem Beitrag in vier Schritten vor. Zunächst behandelt
sie Aníbal Quijanos maßgebliches Theorem der ›Kolonialität der
Macht‹. Damit meine er eine Herrschaftsform, die mit dem europäischen Kolonialismus etabliert wurde und sich des Eurozentrismus als spezifischer Rationalität bediene, die das Ende der formalen Kolonialherrschaft jedoch überlebt habe und weiterhin aktuell
bleibe. In einem zweiten Schritt wird Achille Mbembes Analyse
des Fortdauerns des ›Prinzips der Rasse‹, samt zeitgenössischer Aktualisierungen, aufgegriffen. Rassismus habe nicht lediglich der Legitimierung kolonialer Landnahme, Unterdrückung und Ausbeutung gedient, sondern ferner Wirtschaft, Politik und Gesellschaft
57
der Kolonien wie auch der Kolonialmächte strukturiert. Von einer
lateinamerikanischen und afrikanischen Perspektive wechselt Kerner nun drittens zum kanadischen Politiktheoretiker James Tully,
der weniger an den Einsätzen rassistischer Differenzierungen als
an der Etablierung von rechtlichen und politischen Institutionen
interessiert sei, die der westlichen Vorherrschaft dienten. Er unterscheide dabei den klassischen Kolonialimperialismus und den
jüngeren, ohne Kolonien auskommenden ›informellen Imperialismus‹. Schließlich zeigt Kerner viertens, inwiefern Postkolonialpolitik auch Geschlechterpolitik sei. Dazu betrachtet sie die Logik des
›Othering‹ von Sexismus und stützt sich insbesondere auf Gayatri
Spivak und Frantz Fanon. Als Schlussfolgerung hält Kerner fest:
Der Ort einer heutigen kritischen Theorie der Politik könne nur
unsere globalisierte Welt sein; zugleich gelte es, unsere Gegenwart
als postkoloniale Zeit anzuerkennen.
Volker Heins postuliert: Wenn es eine politische Theorie der
Frankfurter Schule gebe, dann sei ihr zentrales Motiv der Verlust
der modernen Vielheit und Vielfalt von Kultur, der sich aus dem
Verlust der Freiheit in der kapitalistischen Moderne ergebe. Die
politische Geschichte der Moderne könne wiederum als eine Reihe
von Versuchen gewertet werden, die freigesetzte Vielheit im Sinne
eines ›E pluribus unum‹ in Einheit zu überführen. Heins erkundet
nun das Verhältnis von Freiheit und kulturellem Pluralismus in vier
Schritten. Wie in einem ersten Schritt dargelegt wird, stellte sich
für Adorno und Horkheimer die Frage nach dem Wert eines kulturellen Pluralismus gar nicht; vielmehr lautete ihre These, dass alle
Kultur von der Kulturindustrie aufgesogen werden würde, und der
›melting pot‹ eher als grausige Metapher eines entindividualisierten
nationalen Kollektives tauge. Ganz ähnlich hätte Marcuse den Begriff der Assimilation verwendet, um die kulturelle Eingliederung
und Anpassung der Subjekte an die Erfordernisse der spätkapitalistischen Gesellschaft zu beschreiben. Im zweiten Abschnitt rekonstruiert Heins nun explizite und avancierte Theorien des ›Multikulturalismus‹, und fokussiert sich dabei auf die Kontroverse zwischen
Habermas und Taylor. In einem dritten Abschnitt analysiert Heins
einschlägige Texte von Honneth, der in der Nachfolge von Habermas derjenige Repräsentant der Kritischen Theorie sei, der sich –
trotz starker Bezüge zu Taylor – am deutlichsten von der Idee des
kulturellen Pluralismus abzuwenden scheine. Abschließend ver58
sucht Heins auszuloten, wie zugleich das Erbe des kulturellen Pluralismus angenommen und wesentliche Elemente der Kritischen
Theorie bewahrt werden könnten. Dafür greift er auf maßgebliche
Hinweise von Tully zurück, der erstaunlicherweise in Fragen des
Minderheitenschutzes an Franz Neumann erinnere. Für moderne,
plurale, postimperiale Demokratien müsse gelten, so Heins konkludierend, dass Vielheit nicht länger in Einheit überführt werden
sollte, sondern in andere Aggregatzustände von Vielheit, im Sinne
eines ›E pluribus plures‹.
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