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www.ssoar.info "Miteinander statt übereinander": Ergebnisse einer Begleitstudie zum Weddinger Psychoseseminar und Erfahrungen mit der Forschungspartizipation von Psychoseerfahrenen Hermann, Anja; Partenfelder, Frank; Raabe, Sabine; Riedel, Bärbel; Ruszetzki, Rolf Veröffentlichungsversion / Published Version Zeitschriftenartikel / journal article Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Hermann, A., Partenfelder, F., Raabe, S., Riedel, B., & Ruszetzki, R. (2004). "Miteinander statt übereinander": Ergebnisse einer Begleitstudie zum Weddinger Psychoseseminar und Erfahrungen mit der Forschungspartizipation von Psychoseerfahrenen. Journal für Psychologie, 12(4), 295-325. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168ssoar-17286 Nutzungsbedingungen: Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (Keine Weiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt. Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares, persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung dieses Dokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt. Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alle Urheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichen Schutz beibehalten werden. Sie dürfen dieses Dokument nicht in irgendeiner Weise abändern, noch dürfen Sie dieses Dokument für öffentliche oder kommerzielle Zwecke vervielfältigen, öffentlich ausstellen, aufführen, vertreiben oder anderweitig nutzen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an. Terms of use: This document is made available under Deposit Licence (No Redistribution - no modifications). We grant a non-exclusive, nontransferable, individual and limited right to using this document. This document is solely intended for your personal, noncommercial use. All of the copies of this documents must retain all copyright information and other information regarding legal protection. You are not allowed to alter this document in any way, to copy it for public or commercial purposes, to exhibit the document in public, to perform, distribute or otherwise use the document in public. By using this particular document, you accept the above-stated conditions of use. Themenschwerpunkt: Psychiatrie-Innenansichten „Miteinander statt übereinander“ Ergebnisse einer Begleitstudie zum Weddinger Psychoseseminar und Erfahrungen mit der Forschungspartizipation von Psychoseerfahrenen Anja Hermann, Frank Partenfelder, Sabine Raabe, Bärbel Riedel und Rolf Ruszetzki Zusammenfassung Im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht das Experimentieren mit Möglichkeiten kommunikativer Forschungspartizipation [klingt richtig wissenschaftlich, nicht wahr?] von Psychoseerfahrenen, die bisher in psychologischer und psychiatrischer Forschung als Untersuchungsobjekte beforscht wurden. Ausgangsbasis hierfür ist eine Begleitstudie zum Weddinger (dem ersten Berliner) Psychoseseminar. Das Weddinger Psychoseseminar wird als ein öffentliches Forum beschrieben, in dem alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen als Experten bzw. Expertinnen ihrer selbst gemeinsam etwas voneinander lernen können. Es wird ein Entwicklungsprozess des Weddinger Psychoseseminars rekonstruiert, in dem sich dessen Teilnehmer und Teilnehmerinnen (Psychoseerfahrene, Angehörige, im psychiatrischen Bereich Tätige und Student/innen) an den normativen Forderungen des Seminars nach Gleichberechtigung und Offenheit orientierten und diese zu verwirklichen suchten. Dieser Prozess wird als nicht abgeschlossen beschrieben, er bedarf immer wieder der Vergewisserung und Entmystifizierung. Besondere Impulse gaben ihm Psychoseerfahrene, die mit wachsendem Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein beispielsweise darauf hinwiesen, wenn Teilnehmer und Teilnehmerinnen die oben genannten normativen Forderungen oder den Bezug zum Alltag und zur Praxis aus dem Auge verloren. Anschließend werden die Möglichkeiten und Grenzen kommunikativer Forschungspartizipation, mit der im Rahmen einer Arbeitsgruppe zum Psychoseseminar experimentiert wurde, aus der Sicht der Beteiligten drei J. f. Psych., 12, 4 (2004), 295–325, ISSN 0942-2285 © Vandenhoeck & Ruprecht 2005 296 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki Jahre nach Abschluss der Studie in ihren Auswirkungen auf das Psychoseseminar und vor allem auf die eigene Entwicklung diskutiert. Mit dem Schreiben dieses Artikels verwirklichen die Autorinnen und Autoren erstmals das seit Gründung der Arbeitsgruppe bestehende Anliegen einer pluralen Autorenschaft (Clifford, in Berg u. Fuchs 1993). Schlagwörter Psychoseseminar, Forschungspartizipation, Psychose. Summary „Together instead of on top of each other“. Results of an accompanying study of the „Weddinger Psychoseseminar“ (Weddinger psychosis seminar) and our experiences with participative research Experimenting with possibilities of a communicative participant research [sounds really scientific, doesn’t it?] is in the focus of this contribution. The research partner were people with psychotic experiences, who were till than examination objects in psychological and psychiatric research, and one student of psychology. Starting point for discussing participant research is an accompanying study of the first Berlin „Psychoseseminar“ in the district Wedding. The „Weddinger Psychoseseminar“ is described as a public forum, in which all participants as experts can learn something from each other. We reconstruct the developing process of the „Weddinger Psychoseseminar“. All participants (“Psychoseerfahrene“ – psychosis experienced –, relatives, professionals and students) orientate themselves at the normative demands of the „Psychoseseminar“ for equal rights and openess. The participants tried to realize these claims. This process is described as not completed. Prerequisites for realizing these claims are demystification of psychosis and that the participants reassure themselves of taking each other seriously. This process was stimulated particularly by the psychosis experienced. They became more and more self-confident and began to point out for instance if participants lost the normative demands of the seminar or the reference to everyday life respectively to practice. Following we discuss the possibilities and limits to communicative participant research, with which we experimented in the context of a working group for the psychosis seminar. Three years after finishing the study, we discuss the effects on the „Psychoseseminar“ and primarily on our own development from the view of the ones involved. We – the authors – realize our intension of plural authorship (Clifford, in Berg and Fuchs 1993) at the first time by writing this article. „Miteinander statt übereinander“ 297 Keywords “Psychoseseminar“, participative research, psychosis. Eine Lesehilfe L iebe Leser und Leserinnen, im Verlauf unserer Zusammenarbeit kristallisierte sich heraus, dass wir mit dieser Veröffentlichung für ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Ansichten, Deutungen, Erklärungsansätzen plädieren wollen. Es soll erkennbar bleiben, welche Abschnitte wir gemeinsam verfasst haben bzw. welche von wem stammen. Sie sollen nachvollziehen können, wer spricht, wer mit wem diskutiert, wer etwas zu bedenken gibt. Hier eine Orientierungshilfe: • Die Abschnitte von uns Psychoseerfahrenen sind in kursiver Schrift gedruckt und an unseren jeweiligen Initialen in Klammern zu erkennen. • Die von Anja Hermann verfassten Abschnitte erkennt man an dieser Schrift. • Abschnitte, die wir gemeinsam erarbeitet haben, sind in dieser Schrift verfasst. Dieser Artikel hat eine sehr lange Entstehungsgeschichte und wartet schon seit einiger Zeit auf seine Veröffentlichung. Wir Autorinnen und Autoren gehen (nach jahrelanger Teilnahme) inzwischen nicht mehr zum Psychoseseminar und andere Themen und Felder beschäftigen uns. Nichts desto trotz freuen wir uns sehr, dass wir diese uns wichtige Auseinandersetzung nachträglich veröffentlichen können, denn sie erscheint uns nach wie vor aktuell. Zur Einführung: Was ist ein Psychoseseminar? W ährend bisher Psychoseerfahrene1 in Selbsthilfe-, Angehörige in Angehörigengruppen und im Bereich [Gemeinde-]Psychiatrie Tätige und Forschende in Supervisionen und Weiterbildungsveranstaltungen jeweils im eigenen Saft schmorten, treffen sie in einem Psychoseseminar aufeinander. 1 Die Bezeichnung „Psychoseerfahrene“ betont die Erfahrung der Menschen, die durch Psychosen gegangen sind, und rückt die Frage, ob sie in diesem Zustand erkrankt sind, in den Hintergrund. 298 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki Das heißt, das Psychoseseminar bietet als Diskursarena allen, die mit Psychosen konfrontiert waren oder sind, Anregung, Information, Austausch und die Möglichkeit, eigene Gedanken, Fragen und Erfahrungen zu veröffentlichen. Diese Form der Begegnung und des Austausches setzt völlig neue Diskussionen in Gang. Für mich als Psychoseerfahrenen (R.R.) war die Atmosphäre von entscheidender Bedeutung. Ich habe im Psychoseseminar von Angehörigen und von Mitarbeitern der Freien Universität mit und nicht trotz meiner Psychoseerfahrungen Anerkennung gefunden. Besonders hervorzuheben ist die Freiwilligkeit, die beispielsweise in der Möglichkeit der anonymen Teilnahme zum Ausdruck kommt. Mit dem Psychoseseminar ist keinerlei therapeutischer Anspruch verknüpft (obwohl es nach den Erfahrungen von uns psychoseerfahrenen Teilnehmer/innen durchaus therapeutisch wirken kann)2. Ein Seminarleiter bzw. eine Seminarleiterin moderiert die Diskussion, achtet darauf, dass alle Gruppen zum jeweiligen Thema zu Wort kommen (können) sowie auf die Einhaltung der Pause. Das Weddinger Psychoseseminar findet 14-tägig in den Räumen einer Außenstelle der Freien Universität Berlin im Bezirk Wedding statt, d. h. an einem für alle Gruppen neutralen Ort, und wird von dem dort tätigen Professor Manfred Zaumseil geleitet. Die Sitzungen werden protokolliert. Fragestellung N ach der Lektüre des Buches „Stimmenreich“ (Bock, Deranders u. Esterer 1992) fuhren im November 1993 Gründungsmitglieder des Weddinger Psychoseseminars (Psychoseerfahrene und im Psychiatrischen Bereich Tätige bzw. Forschende) nach Hamburg, um das von Thomas Bock und Dorothea Buck ins Leben gerufene Hamburger Psychoseseminar zu besuchen. Das Weddinger Psychoseseminar wurde im Januar 1994 als erstes Berliner Psychoseseminar gegründet. Ich nahm als Psychologiestudentin regelmäßig daran teil. Ich traf dort einige Psychoseerfahrene wieder, die ich während eines Praktikums in einer Berliner Kontakt- und Beratungsstelle kennen gelernt hatte. Für zwei Monate überschnitten sich das Praktikum und der Besuch des Weddinger Psychoseseminars, und ich traf die Psychoseerfahrenen sowohl in der Kontakt- und Beratungsstelle als auch im Psychoseseminar. 2 Siehe Diskussion. „Miteinander statt übereinander“ Während sie in der Kontakt- und Beratungsstelle als „Besucher“ und „Besucherinnen“ bzw. „Betroffene“ von Professionellen als hilfs- und unterstützungsbedürftige psychisch Kranke betreut wurden, räumte man ihnen im Psychoseseminar als „Psychoseerfahrenen“ normativ das gleiche Recht ein wie allen anderen Gruppen (d. h. den Angehörigen, im Bereich [Gemeinde-] Psychiatrie Tätigen und Forschenden sowie den Studentinnen und Studenten), ihre eigene Perspektive als Expertinnen bzw. Experten ihrer selbst zu vertreten. 299 Diese Beschreibung deckt sich mit meiner Erfahrung als Besucher dieser Einrichtung. Ich erlebte es immer als herabwürdigend, wenn ich von den Mitarbeitern gebeten wurde, pünktlich zu gehen, damit noch genügend Zeit vor Arbeitsschluss für sie bliebe, um eine Nachbesprechung über uns Besucher durchzuführen – selbst wenn es vielleicht gar nicht um mich ging. Auch wenn ich schon länger ohne akute psychotische Erlebnisse war, für die Mitarbeiter schien es immer nötig, sich über meine psychische Verfassung auszutauschen und mich davon auszuschließen. (R.R.) Die Kluft zwischen dem Status der Psychoseerfahrenen innerhalb der psychosozialen Versorgungslandschaft und innerhalb des Psychoseseminars war enorm. Als Praktikantin in der Kontakt- und Beratungsstelle wurde ich beispielsweise angewiesen, in dieser Einrichtung die Psychoseerfahrenen anders als im Psychoseseminar zu behandeln. Ausgehend von meinem Konflikt zwischen den im Psychoseseminar gesammelten Erfahrungen und denen als Praktikantin einer gemeindepsychiatrischen Einrichtung interessierte mich, wie die Psychoseerfahrenen damit umgingen, sich einerseits im Psychoseseminar als gleichberechtigte Mitglieder einer Gemeinschaft verstehen und emanzipieren zu können und andererseits in der (Gemeinde-)Psychiatrie mit Strukturen und Ideologien konfrontiert zu sein, die ihnen die Möglichkeit der Entwicklung dieses Selbstverständnis versagten. Im Psychoseseminar begegnete ich auch Psychoseerfahrenen, die in den von ihnen besuchten psychosozialen Einrichtungen andere Erfahrungen machten. Zwei Psychoseerfahrene fühlten sich beispielsweise von Professionellen stark unterstützt, selbst ein Psychoseseminar zu gründen. Sie besuchten als Gründungsmitglieder des zweiten Berliner Psychoseseminars in Weißensee auch das Weddinger Psychoseseminar. Bei der Konzeption der Forschungsarbeit ließ ich mich von Heiner Keupp (1994) leiten: „Endlich die Subjekte fragen“ wählte ich als Titel der Begleitstudie zum Weddinger Psychoseseminar. Aus Überlegungen zu dem oben umrissenen Konflikt entwickelte ich folgende Fragestellungen: Was prägt die mikrosoziale Konstellation Psychoseseminar? Inwieweit werden durch das Psychoseseminar Recovery- und Empowermentprozesse bei den teilnehmenden Psychoseerfahrenen initiiert, beeinflusst und verändert? 300 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki Um sicherzustellen, dass die Psychoseerfahrenen die Kontrolle über ihre eigenen Stimmen in dieser Studie behalten, untersuchte ich in einer als Arbeitsund Diskurspartnerschaft konzipierten Arbeitsgruppe zum Psychoseseminar gemeinsam mit Psychoseerfahrenen, welche der Studie angemessenen Möglichkeiten ihrer kommunikativen Forschungspartizipation sich verwirklichen ließen. Doppeldeutig! Anja wusste, als sie diesen Satz in ihr Konzept schrieb, gar nicht, was er für mich bedeutet. Es ist mein größter Wunsch, die Kontrolle über meine Stimmen zu behalten. (B.R.) Methodischer Zugang W arum bediente ich mich der Methoden qualitativer Sozialforschung, konkret der aktiv teilnehmenden Beobachtung, zur Beantwortung der eingangs gestellten Fragen? Die teilnehmende Beobachtung ist eine Methode der Qualitativen Forschung, mit Hilfe derer die Feldforscher und -forscherinnen „im Sinne einer ,construction of reality‘“ versuchen, „die Sinnstrukturen der Feldsubjekte situativ zu erschließen“, sie wird vornehmlich dort eingesetzt, wo es darum geht, „soziales Verhalten zu dem Zeitpunkt festzuhalten, zu dem dieses tatsächlich geschieht“ (Lamnek 1993, 239 ff.). Das eigene Verhalten ist schwer zu beschreiben und einzuschätzen, denn den „Menschen sind die biologischen, psychischen und ökologischsozialen Bedingungen ihres Handelns nur zum Teil durchschaubar. Sie sind immer auch Erleidende, die der Situation mehr oder weniger ausgeliefert sind“ (Legewie 1988, 4). Das heißt, mit Hilfe der aktiv teilnehmenden Beobachtung können (durch die Dauer der Beobachtungsphase zeitlich begrenzt) Ausschnitte aus der sozialen Realität von Untersuchungspersonen erfasst werden. Will ich beispielsweise erfahren, ob und wie Psychoseerfahrene die anderen Teilnehmer und Teilnehmerinnen im Psychoseseminar zum Umdenken auffordern, muss ich sie dabei beobachten. Das gilt auch, wenn ich die folgenden Fragen, die ich im Konzept der Arbeit stellte, beantworten möchte: Welche Stellung haben die Psychoseerfahrenen im Psychoseseminar, in dem Gleichberechtigung zwischen den Gruppen gefordert wird? Wie verhalten sich die Psychoseerfahrenen gegenüber Professionellen, Studentinnen und Studenten sowie Angehörigen im Psychoseseminar? Hat sich ihr Auftreten und Verhalten im Laufe der Teilnahme geändert? Wann und wem gegenüber? „Miteinander statt übereinander“ 301 Konkretes Vorgehen im Feld O ffen zu beobachten, d. h. die Personen des Feldes von meinem Vorhaben zu unterrichten und um ihr Einverständnis zu bitten, stand nicht nur aus ethischen Gründen von vornherein fest. Das Motto der Arbeit „Miteinander statt Übereinander“ verpflichtete geradezu zu offener aktiver Teilnahme. Ich begleitete 5 Weddinger Psychoseseminare aktiv teilnehmend. Ich besuchte die Sitzungen (wie zuvor) als Studentin, meine Aufmerksamkeit richtete sich jedoch nun weniger auf das Einbringen meiner Fragen, Vorstellungen und Erfahrungen. Vielmehr ließ ich das Seminar auf mich wirken und folgte dabei keinen zuvor festgelegten Beobachtungskategorien.3 Eine gewisse Lust an voyeuristischem Verhalten, das Feldbeobachtung ausmacht, konnte ich mir erst nach und nach zugestehen. Probleme der Teilnehmenden mit meiner neuen Rolle im Seminar bemerkte ich kaum. Diejenigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die neben mir saßen, verhielten sich oft wie F.: „F. neben mir schaut, was ich in mein kleines Notizbuch schreibe. Er beobachtet mich beim Beobachten.“ „Diese Erkenntnis zwingt uns – zumindest in einem naiven Sinne –, die Vorstellung aufzugeben, die Grundoperation der Verhaltenswissenschaft sei die Beobachtung eines Objekts durch einen Beobachter. An ihre Stelle muss die Vorstellung treten, dass es um die Analyse der Interaktion zwischen beiden geht, wie sie in einer Situation stattfindet, in der beide zugleich für sich Beobachter und für den anderen Objekt sind.“ (Devereux 1976, 309) Während der aktiv teilnehmenden Beobachtung strömten so viele Signale (Redebeiträge, Räuspern, Kaffee nachschenken, Lachen, Flüstern, sich unruhig auf dem Stuhl Hinundherbewegen, Gesten, Blicke, Gesichtsausdruck, Körperhaltungen, Schweigen, Anspannung, schwer zu fassende Atmosphäre im Raum ...) auf mich ein, dass ich nicht zu entscheiden vermochte, was festzuhalten wichtig ist. Dies verführte zunächst dazu, vor allem Redebeiträge mitzuschreiben. Ich rechtfertigte damit, dass ich authentische Daten in wörtlicher Rede erhalte, die für die Auswertung von Bedeutung sind. Nach einigen Psychoseseminarsitzungen begann ich zu notieren, an welchen Stellen ich Widerstände hatte, mich offen auf eine Beobachtung einzulassen. Die Notizen aus dem Seminar und meine Erinnerungen schrieb ich anschließend chronologisch als ein Beobachtungs- 3 Bei (aktiv) teilnehmender Beobachtung ist nach Girtler ein kindlich naives Erobern der (Feld-)Welt gefragt und erlaubt: „Die durchaus kindliche Frage nach dem ,Warum‘ bewahrt dem Forschenden ein offenes kindliches Herz, welches schließlich, so glaube ich, gerade für eine Forschung in ,teilnehmender Beobachtung‘ unabdingbar ist“ (Zitiert nach Lamnek 1993, 96). 302 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki protokoll nieder. Diese Protokolle haben jeweils einen Umfang von 5 bis 10 eng beschriebenen A4-Seiten. Die Treffen der Arbeitsgruppe zum Psychoseseminar D ie theoretischen Überlegungen, die eine Dialog- und Arbeitspartnerschaft anregten, gehen auf die Forderung Sampsons (1993) nach einer Diskurs- und Arbeitspartnerschaft zwischen Vertretern und Vertreterinnen einer Randgruppe und Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen zurück. Ich hielt seine Forderung nach Identity Politics für übertragbar auf Psychoseerfahrene und deren sich gestaltende Betroffenenbewegungen4, „eine Politik, die auf den besonderen Lebenserfahrungen von Menschen basiert, die versuchen, die Kontrolle über ihre eigene Identität und Subjektivität zu bekommen und die reklamieren, dass die sozial dominanten Gruppen ihnen dies absprechen“ (Sampson 1993, 1219, übersetzt durch A.H.). In der psychiatrischen und psychologischen Forschung spielt(e) die Perspektive und Stimme der Beforschten in der Regel keine Rolle – im Gegenteil: in der psychiatrischen Praxis haben sogar viele Betroffene die Fremdperspektive verinnerlicht. Sampson setzt gegen wechselseitiges Ignorieren die Forderung nach Diskurspartnerschaften, „in denen die Psychologinnen und Psychologen mit den Subjekten ihrer Forschung bzw. ihren Klienten zu Co-Autoren werden und in denen sie weder ihre noch die Ansicht der anderen privilegieren“ (Sampson 1993, 1227, übersetzt durch A.H.). Das Ziel von Identitätspolitik besteht nach Sampson darin, Machtbeziehungen, die wenigen erlauben, die Stimme und das Leben anderer zu bestimmen, so zu transformieren, dass sie in einen aufrichtigen Dialog münden, in dem verschiedene Standpunkte unangetastet nebeneinander bestehen bleiben. Das bedeutet nach Sampson, dass Personen weder so sehr ineinander aufgehen, dass sie ihren eigenen Standpunkt verlieren, noch einen als Dialog ausgegebenen 4 Ein verstärktes öffentlichkeitswirksames Auftreten von Psychoseerfahrenen im Zeitraum der Studie zeigte sich u. a. bei der Gründung des Landesverbandes Psychiatrieerfahrener Berlin-Brandenburg am 12.8.95. Er hatte das Ziel, die Aufgaben, die sich der Bundesverband Psychiatrieerfahrener e.V. gestellt hat, für Berlin und Brandenburg zu spezifizieren und umzusetzen. Drei von uns psychoseerfahrenen Arbeitsgruppenmitgliedern waren Gründungsmitglieder des Landesverbandes Berlin-Brandenburg. „Miteinander statt übereinander“ 303 Monolog halten, in dem sie andere einem zur Durchsetzung der eigenen Ziele entworfenen Bild unterordnen. Die Arbeitspartnerschaft hat also sowohl wissenschaftliche als auch politische Funktionen. Auf der wissenschaftlichen Ebene fordert Sampson eine Analyse der Beziehung zwischen Diskurs und Macht. Um erkennen zu können, inwieweit die Diskurspraktiken einer Gruppe die Identität anderer bestimmen, müsse rekonstruiert werden, wie die jeweiligen Gruppen des Feldes welche Diskurspraktiken nutzen, um ihren gesellschaftlichen Einfluss zu erhalten. Auf der politischen Ebene könnten die Psychoseerfahrenen, sofern dies in ihrem Interesse ist, mit Hilfe von Forschenden herausfinden, wie sie ihrer Position besser Gewicht verleihen können. Es muss betont werden, dass die politische Ebene u. a. über Konzepte wie das von Sampson einseitig von mir in den Arbeitsgruppendiskurs eingeführt und als solche angesprochen wurde. Bei der Konzeption der Arbeit tendierte ich zunächst dazu, einzelne Psychoseerfahrene anzusprechen, um sie für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Ich überlegte, mit welchen Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Psychoseseminars ich eine Arbeit „methodisch verantworten“ könne und schloss in Gedanken meine Bekannten unter den Psychoseerfahrenen aus. Dahinter stand die Angst vor einer Auseinandersetzung um Nähe und Distanz, die auch meine Tabuzonen berühren würde. Die Auseinandersetzung mit meiner Angst ließ mich einen anderen Weg gehen: Ich stellte mein Vorhaben mit Herzklopfen im Psychoseseminar vor. Wer an einer Zusammenarbeit interessiert sein könnte, brauchte daraufhin nicht ich zu überlegen, sondern ich stellte mich den Psychoseerfahrenen als Arbeitspartnerin zur Verfügung. Uns Psychoseerfahrene bewog die von Beginn an in den Raum gestellte Möglichkeit einer gemeinsamen Veröffentlichung an der Arbeitsgruppe teilzunehmen. Wir wollten eine Artikelgruppe. Es stand die Idee im Raum, selber etwas zu veröffentlichen. Wir Psychoseerfahrenen sehen eher, daß wir uns letzten Endes Dir, Anja, als Arbeitspartner/innen zur Verfügung gestellt haben. Die Arbeitsgruppe nannten wir einfach „Anja-Gruppe“. Allen von einem Arbeitsgruppenteilnehmer bzw. einer -teilnehmerin aufgeworfenen Fragen wollten wir nachgehen, solange sie die Mehrheit interessierten bzw. sich niemand dagegen aussprach. 304 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki Die normativen Anliegen des Psychoseseminars übernahmen wir für die Arbeitsgruppe, d. h.: – wir arbeiten gleichberechtigt, – der Erfahrungsaustausch sowie der Versuch, nicht die Perspektive und Erfahrungen einer Person (Gruppe) zu privilegieren, stehen im Mittelpunkt und – wir verbinden keinerlei therapeutisches Anliegen mit dieser Form der Begegnung. Das mag ja stimmen, aber diese Wissenschaftssprache läßt unseren sehr lebendigen Austausch in der Arbeitsgruppe blutleer erscheinen. Weil wir so wenige waren, konnten wir uns richtig kennenlernen und unserem Mitteilungsbedürfnis freien Lauf lassen. (S.R.) Zur konkreten Arbeitsweise der Arbeitsgruppe A uf universitärem Boden trafen sich eine Studentin mit dem Anliegen, Fragen, die Psychoseerfahrene betreffen, in ihrer Untersuchung nachzugehen und zu beantworten, und Psychoseerfahrene mit dem Anliegen, sich auf neue Weise über Psychosen, eigene Psychose- und Lebenserfahrungen, Begegnungsmöglichkeiten und anderes mehr auseinander zu setzen. Wie kann es gelingen, uns alle interessierende Problematiken gemeinsam zu untersuchen? Gemeinsam suchten wir Formen des wissenschaftlichen bzw. reflektierenden Miteinanders. Wir gaben jeweils unsere Erfahrungen und Meinungen in die Gesprächsrunde und ließen uns von dem leiten, was gerade „oben auf“ lag. Als Psychologiestudentin und zum damaligen Zeitpunkt als Anfängerin in bezug auf praktische wissenschaftliche Tätigkeit, bot ich Einblick in mein Vorgehen, die im Konzept gestellten Fragen zu beantworten. Mich interessierte, inwieweit sich die Psychoseerfahrenen in meinen Darstellungen wiederfinden können: Sind ihnen alle Schritte nachvollziehbar und die herangezogenen Theorien verständlich und brauchbar? Zum damaligen Zeitpunkt verstand ich das Prozedere nicht. Ich fragte mich immer, wann wir endlich zu arbeiten beginnen würden. (R.R.) Zentral war, festzustellen und festzuhalten, wann wir einer Meinung waren, wann sich Wahrnehmungen und/bzw. Deutungen deckten, wann sie sich zwischen wem unterschieden oder unvereinbar waren. Gelang es, verschiedene Standpunkte nebeneinander stehen zu lassen? Welche Tendenzen bemerkten wir, eine andere Sicht oder Meinung zu ignorieren, wegschieben zu wollen bzw. unhinterfragt zu übernehmen? 305 „Miteinander statt übereinander“ Nach jeder Sitzung schrieb ich ein Gedächtnisprotokoll, vergleichbar mit dem Beobachtungsprotokoll zu den Psychoseseminarsitzungen. Während der Arbeitstreffen machte ich mir jedoch kaum bzw. keine Notizen, sondern konzentrierte mich ganz auf die inhaltliche Zusammenarbeit. Das von den Teilnehmenden neugierig erwartete Gedächtnisprotokoll gab ich beim jeweils nächsten Treffen der Gruppe, um mein Vorgehen transparent zu machen und dieses Datenmaterial kommunikativ validieren zu können. Die Gedächtnisprotokolle überhaupt zu bekommen und Veränderungen darin vornehmen zu können war etwas völlig Neues und für mich besonders wichtig. Als Untersuchungsperson bei allen anderen Forschungsarbeiten bekam ich höchstens die Ergebnisse der analysierten Interviews zu lesen. (R.R.) Die Psychoseerfahrenen validierten nicht nur als im Psychoseseminar und in der Arbeitsgruppe Beobachtete das Datenmaterial, das ich als Beobachterin gewann. Vielmehr wurden in der Arbeitsgruppe die festgeschriebenen Rollen (Beobachtete und Beobachter bzw. Beobachterinnen) aufgehoben. Es stand jedem bzw. jeder frei, die Anwesenden und sich zu beobachten und seine bzw. ihre darüber gewonnenen Erkenntnisse den anderen vorzustellen. Die Gedächtnisprotokolle schrieb ich aus meiner subjektiven Wahrnehmung als Beteiligte heraus, nicht aus der Perspektive einer um Distanz und einen naiven Blick bemühten Beobachterin. Gerade dadurch bot sie eine Grundlage, Wahrnehmungen und Deutungen der besprochenen Themen und Vorhaben zu vergleichen und zu diskutieren, und somit die Möglichkeit, den Schleier des Geheimnisvollen von psychologischer Forschung zu nehmen. Vor allem für mich (F.P.) war es sehr wichtig, zu überprüfen, inwieweit meine Erinnerungen mit denen der Protokollantin und der anderen übereinstimmen. Ich gab zu jedem Protokoll Rückmeldungen über meinen Eindruck, verbesserte, wenn ich mich falsch wiedergegeben fand, und machte Anmerkungen. Ich hatte Ängste und Hemmungen, den Psychoseerfahrenen, meine Wahrnehmungen und Deutungen vorzustellen. Einerseits glaubte ich Tabuzonen zu berühren und setzte mich mit Regeln aus der psychologischen Praxis auseinander, die mir z. B. während meiner Praktika nahegelegt wurden. Andererseits gingen meine Ängste in eine methodische Richtung: Inwieweit wird mich das Wissen um kritische Leser und Leserinnen in meinem Schreiben und Nichtschreiben beeinflussen? Ich sah die Gefahr der Selbstzensur. Mit Hilfe der Forschungssupervision lernte ich, damit folgendermaßen umzugehen: Das Protokoll schrieb ich konzentriert auf die Inhalte hintereinander nieder. Sobald ich stockte, d. h. Widerstände bemerkte, etwas aufzuschreiben, vermerkte ich im Text „Selbstzensurimpuls“, „Stocken“ bzw. „Widerstand“. Wenn ich bemerkte, dass neben der Wiedergabe des Ab- 306 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki laufs, der Statements, des Verhaltens, der Haltungen, Gesten, der Atmosphäre usw. meine Deutungen einflossen und meine persönliche Verfassung, meine Geschichte, verinnerlichte Verhaltensregeln, eigene Ängste usw. ausschlaggebend für die Art der Darstellung waren, fügte ich in eckigen Klammern einen persönlichen Kommentar mit meinen Gedanken, meinen Zweifeln, Metagedanken und -diskussionen an. Es liegen Gedächtnisprotokolle zu sechs Sitzungen vor. In der siebenten Sitzung besprachen wir, dass mir, wenn ich mit dem Schreiben der Diplomarbeit beginne, keine Zeit für ausführliche Gedächtnisprotokolle bleibt. Wie zuvor die Gedächtnisprotokolle wurden von diesem Zeitpunkt an die Entwürfe zur Diplomarbeit behandelt. Das war für mich der wichtigste Abschnitt. Hier hatte ich das Gefühl zu arbeiten. (R.R.) Die Kommentare der Psychoseerfahrenen zu den von mir vorgelegten Texten schrieb ich in den Sitzungen mit. Die Arbeit wurde aus der Perspektive der Forscherin5 geschrieben, d. h. sie stellt meine (Re)Konstruktion von Wirklichkeit vor. Um den Psychoseerfahrenen zur Darstellung ihrer Positionen und zur Beantwortung der gestellten Frage den von ihnen geforderten und in der Zusammenarbeit angestrebten Raum zu geben, wurden ihre Kommentare oder unsere Diskussionen in der Arbeitsgruppe an entsprechender Stelle in den Text der Arbeit eingefügt. Davon versprachen wir uns, daß die Leserin bzw. der Leser sowohl den Erkenntnisprozess der Schreiberin als auch den der Psychoseerfahrenen entweder als gemeinsamen oder gruppenspezifischen oder auch individuell besonderen identifizieren kann. Dies war ein Versuch, die Art und Weise der Zusammenarbeit sowie Analyse- und Bewertungsvorgänge explizit und transparent zu machen. Der Wunsch von uns Psychoseerfahrenen, uns in pluraler Autorenschaft zu versuchen, konnte im Rahmen der Diplomarbeit aus formal-rechtlichen Gründen nicht verwirklicht werden. 5 Im Spiel der diversen Rollen, die ich im Forschungsfeld innehatte, musste der Fokus der Forscherin die Oberhand gewinnen. (A.H.) „Miteinander statt übereinander“ 307 Ergebnisse Für die Auswertung stand folgendes Datenmaterial zur Verfügung: • • • • • die von Teilnehmern und Teilnehmerinnen angefertigten Protokolle des Weddinger Psychoseseminars vom Vorbereitungstreffen an bis zum Protokoll des 28. Weddinger Psychoseseminars6, 5 Beobachtungsprotokolle zum Weddinger Psychoseseminar, Gedächtnisprotokolle von 6 Arbeitstreffen mit den Psychoseerfahrenen, Feldnotizen, Forschungstagebuchaufzeichnungen. Aus der Protokoll-7 und Beobachtungsprotokoll8auswertung läßt sich ersehen, inwieweit der programmatische Anspruch der Gleichberechtigung aller teilnehmenden Gruppen „als Experten ihrer jeweiligen Perspektiven“ verwirklicht wurde. Folgende Entwicklung im Weddinger Psychoseseminar ließ sich für den Untersuchungszeitraum rekonstruieren: Zu Beginn bestimmten die „mehrheitlich anwesenden“ Psychoseerfahrenen den Diskurs, hauptsächlich durch die Darstellung ihrer Erlebnisse und Erfahrungen in und nach einer Psychose.9 Sie antworteten mit ihren Redebeiträgen auf das jeweilige Thema bzw. auf Fragen der anderen Gruppen. In der Arbeitsgruppe erklärten wir dieses Verhalten einerseits mit verinnerlichten Rollenzuweisungen (z. B.: TherapeutIn – KlientIn). Andererseits 6 Es liegen 22 von 26 verfassten Protokollen vor. Bei der Protokollauswertung stützte ich mich, wie bereits dargestellt, auf ein Material, das von verschiedenen Personen mit unterschiedlichen Perspektiven, Wertevorstellungen und Vermögen, mitzuschreiben und zu formulieren, zusammengetragen wurde; daher konnte keine „Wahrheit“ über die Entwicklung des Weddinger Psychoseseminars rekonstruiert werden, sondern ein Puzzle unterschiedlichster Darstellungen. (A.H.) 8 Ziel der Beobachtungsprotokollauswertung war es, die Ergebnisse der Protokollauswertung für die Sitzungen im Beobachtungszeitraum zu differenzieren. Mit der aktiv teilnehmenden Beobachtung begann ich nach 10monatigem Bestehen des Seminars. Ein Grundstock von regelmäßigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, zu dem unter anderem wir Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Arbeitsgruppe gehörten, hatte sich bereits herausgebildet. Neue Teilnehmende kamen immer wieder hinzu, einige frühere blieben weg. Meine Beobachtungen fallen in eine Phase, in der ein persönlicherer, offenerer Austausch aller teilnehmenden Gruppen weg von theoretischen Diskussionen angestrebt wurde. Die Protokollauswertung konnte anhand der Beobachtungsprotokolle für den Beobachtungszeitraum in großen Teilen bestätigt werden. Die Beobachtungen des Feldes und die ausführlicheren Mitschriften der Redebeiträge ermöglichten für den Beobachtungszeitraum jedoch differenziertere Darstellungen. 9 Die meisten protokollierten Diskursimpulse aus der Gruppe der Psychoseerfahrenen stammten von den psychoseerfahrenen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Arbeitsgruppe. 7 308 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki deutet dies auf ein Wissensdefizit über Psychoseerfahrungen hin, das mit Hilfe von Fachliteratur nicht zu überwinden ist. Durch Fragen werden die Psychoseerfahrenen des Weiteren kommunikativ als „Experten“ und „Expertinnen“ in Psychosefragen konstituiert. Von ihrem jeweiligen Expertenstatus zeigen sich die Redenden (aller Gruppen) durchaus überzeugt. Es finden sich in den Protokollen darüber hinaus immer wieder Beispiele dafür, dass der Expertenstatus der gesellschaftlich anerkannten, im Psychoseseminar abwesenden Experten angezweifelt wird, da deren Aussagen nicht mit persönlichen Erfahrungen in Einklang zu bringen sind. Dass diese Zweifel in der Diskursarena Psychoseseminar und in den Protokollen öffentlich gemacht, ausgetauscht und diskutiert werden können, ist eine weitere Besonderheit des Seminars. Der Seminarleiter und ein geladener Psychosentherapeut wurden hingegen als Experten genutzt und als „positive Autoritäten“ gesetzt. Die Psychoseerfahrenen haben im Untersuchungszeitraum bis auf wenige Ausnahmen zeitlich und/oder emotional Distanz zu ihren Psychoseerfahrungen, wenn sie ins Seminar kommen. Im Verlauf des Weddinger Psychoseseminars weisen die Psychoseerfahrenen die ihnen zugeschriebene Rolle von Personen, für die das Reden über Persönliches, ja Intimes als normal vorausgesetzt wird, immer häufiger zurück. Was ihnen am Anfang nur über Schweigen10 gelang, findet in dieser Phase Ausdruck im Einfordern von Themen, in Gegenfragen, in selbständigen Resümees und in Hinweisen auf Widersprüche bei Angehörigen und Professionellen. Sie demonstrieren, dass ihrer Meinung nach ein gleichberechtigtes Einbringen unterschiedlicher Perspektiven nicht bedeuten sollte, dass bestimmte Diskursebenen einzelnen Gruppen vorbehalten bleiben. Auf derartige Aufforderungen gingen Studentinnen und Studenten, Angehörige und Professionelle teilweise ein. Auch sie schienen dabei mit verinnerlichten und/oder unklaren Rollenzuschreibungen zu ringen: • die Professionellen mit der Rolle, Experte und selbst „psychisch gesund“ zu sein, • die Angehörigen, mit der Rolle der „guten“ Eltern, die ihre psychoseerfahrenen Angehörigen immer lieben und sich in jedem Fall um sie kümmern (müssen), • die Student/inn/en mit der Unklarheit ihrer Rolle; sie zeigten teilweise Unsicherheiten, mit welcher Gruppe sie sich identifizieren bzw. auseinandersetzen dürfen/können/sollen. 10 Das Schweigen der anderen kann je nach Zusammenhang z. B. als Zuhören, als Abwesenheit, als Sprachlosigkeit oder als nonverbaler Protest verstanden werden. „Miteinander statt übereinander“ 309 Eine für das Weddinger Psychoseseminar im Untersuchungszeitraum charakteristische Ausdrucksform ist das Lachen, über das Parteinahme, Empörung und Widerspruch ebenso gezeigt wird wie Gruppenzugehörigkeit oder Sprachlosigkeit angesichts der Realität. Das Verbalisieren von emotionaler Involviertheit (z. B. dass ein Redebeitrag oder eine Reaktion verunsichert oder erfreut) hat im Seminar keine Tradition. Darüber verständigten sich einige Teilnehmende in kleineren Kreisen im Nachhinein, z. B. anschließend bei einem Restaurantbesuch. In einem Seminar mit meist mehr als dreißig Teilnehmenden wären ein offeneres Verbalisieren beängstigender, tabuisierter Themen und ein freierer Umgang mit Gefühlen zwar möglicherweise wünschenswert, aber schwer umsetzbar. Die Problematik/Thematik Psychose wurde auf den verschiedensten Ebenen behandelt. Doch die Besonderheit des Psychoseseminars und des Tetralogs sehe ich darin, dass die Diskussion (in der Hauptsache von den Psychoseerfahrenen) immer wieder auf eine persönliche, alltagsnahe, praxisrelevante Ebene gebracht wird. Die Redebeiträge werden an ihrer Allgemeinverständlichkeit und Relevanz für die Teilnehmenden gemessen. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen nutzen ein differenziertes und metaphernreiches Vokabular für die zu verhandelnde Problematik, das zum Dialog auffordert. Allerdings wird der Dialog verweigert, wenn die Metaphern die Illusion nähren, die Teilnehmenden könnten von einer geteilten Verstehensbasis ausgehen. In den Beobachtungsprotokollen fällt auf, dass sich selten alle teilnehmenden Gruppen an Diskussionen beteiligten. In der Hauptsache prägen Monologe und Dialoge den Diskurs. Der Seminarleiter bringt eine Reflexion über den Sprachgebrauch ins Seminar ein und stellt Implikationen vor. Das Seminar ist von eher distanzierter Betrachtung geprägt bzw. von der Schilderung von Psychoseerfahrungen aus zumindest zeitlichem Abstand. Abstraktion, Reflexion und Einbeziehung von Weiterbildungselementen spielen im Weddinger Diskurs eine große Rolle. Auffällig ist, dass die Studentinnen und Studenten im Seminar verbal vergleichsweise wenig Raum einnehmen. Dennoch haben sie wichtige Funktionen: Sie garantieren ein Stück „Normalität“ und Öffentlichkeit. Bei ihnen werden keine Psychiatrieerfahrungen bzw. keine Begegnungen mit Psychose vorausgesetzt. Teilweise können mit ihnen Begegnungs- und Austauschformen gelebt werden, die mit Professionellen nicht selbstverständlich und doch gewünscht sind. Ich denke dabei nicht nur an die Psychoseerfahrenen, sondern auch an die Angehörigen. Die Studentinnen und Studenten haben nach meiner Rekonstruktion eine StellvertreterInnen- und ZeugInnenfunktion. Ein teilnehmender Journalist trat einerseits wie die 310 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki Student/inn/en vor allem als Lernender auf und garantierte „Normalität“. Andererseits wurde er schon mit der Begründung im Seminar willkommen geheißen, er könne Öffentlichkeitsarbeit für das Seminar bzw. Aufklärungsarbeit über Psychoseerfahrungen in Rundfunk und Fernsehen leisten. Es entwickelten sich verschiedenste Formen der Zusammenarbeit und Begegnung: vom gemeinsamen Protokollschreiben über ein Interviewgespräch, das der teilnehmende Journalist für eine Rundfunksendung aufnahm, bis hin zum Anbieten des „Du“ von Angehörigen und der Gründung der Arbeitsgruppe. Entscheidenden Einfluss auf die Atmosphäre des Psychoseseminars hatten die privateren Begegnungen und Gespräche vor der Sitzung, in der Pause und im Anschluss an die Sitzung sowie der gemeinsame Restaurantbesuch einiger Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Dies sowie das Vorbereiten von Kaffee und Tee und das Umräumen des Seminarraumes schafften einen persönlicheren Rahmen. Bei der Themenfindung am Ende einer Sitzung wurden alle Anwesenden angesprochen: Es beteiligten sich daran im Beobachtungszeitraum der Seminarleiter, einige Psychoseerfahrene, eine Professionelle und eine Studentin. Die anderen beschwiegen, benickten oder bejahten die Vorschläge. Die Formulierung der Themen spiegelt die Bemühung wieder, allen Perspektiven gleichberechtigt Raum zu geben. Das wesentlichste Charak teristikum des Psychoseseminars sehe ich in der Konkretheit der verhandelten Themen. Im gemeinsamen Diskurs der vier teilnehmenden Gruppen werden die Redebeiträge auf ihre Praxisrelevanz bzw. Alltagsnähe hin befragt. Die konkrete Erfahrung ist das einzige sichere Kapital, das (allein schon über die Bezeichnung Psychoseerfahrene herausgefordert) vor allem die Psychoseerfahrenen einbringen. Im Psychoseseminar können sich die Psychoseerfahrenen als Experten und Expertinnen verstehen, wenn sie Redebeiträge an ihren konkreten Erfahrungen überprüfen. | Zur Arbeitsgruppe W ir begannen die Zusammenarbeit in dem Bewusstsein, etwas Neues zu probieren. Vom ersten Treffen an bestand ein enormes Mitteilungs- und Austauschbedürfnis. Allein dieser angeregte Austausch über alle möglichen Themen, die uns beschäftigten, führte nicht zu dem Gefühl, gearbeitet zu haben. „Richtige“ Arbeit bedeutete für die Arbeitsgruppe, auf ein Ergebnis bzw. Produkt verweisen zu können. In diesem Sinne waren „richtige“ Arbeiten: „Miteinander statt übereinander“ 311 – Reflektieren über das letzte Psychoseseminar – die Erörterung allgemeiner Psychose(-seminare) betreffende Fragen – die kommunikative Validierung der Gedächtnisprotokolle und der Diplomarbeit – Interviews mit behandelnden Psychiatern.11 Zur Annäherung an zentrale Themen gehörte das Bekanntmachen mit Methoden und Theorien psychologischer Empirie, die zuvor nur in Studien über Psychoseerfahrene angewendet worden waren bzw. auf die ich mich stützte. Dabei ging es uns Psychoseerfahrenen nicht darum, wissenschaftliche Texte zu lesen und zu verstehen, sondern einen ins Alltagsverständnis übersetzten Überblick zu bekommen. Dass ich als Studierende das empirische Material allein auswertete, stellte sich als selbstverständlich heraus und wurde nicht im negativen Sinne „als Arbeit über“ Psychoseerfahrene verstanden, solange die Ergebnisse vorund zur Diskussion gestellt wurden. Daneben blieb immer genügend Raum für Begegnung und einen (neben der „richtigen Arbeit“ als legitim empfundenen und genutzten) aktuellen und persönlichen Austausch und das Loswerden von Erlebnissen und Erfahrungen. Das Abklären individueller Wahrnehmungen und persönlicher Deutungen wurde zentraler Bestandteil des Diskurses. Unsere Beziehungen und einige Beziehungserwartungen wurden nach und nach in die Reflexionen einbezogen. Begegnung kristallisierte sich immer stärker als zentrales Interesse an der Arbeitsgruppe und als Motivation aller Beteiligten heraus. Vor allem in den ersten Sitzungen übernahm ich die Rolle der Leiterin. Je selbstverständlicher die Arbeitstreffen wurden, desto selbstbewusster beteiligten wir uns alle und brachten unsere Ideen und Interessen ein. Die Leitungsfunktion erübrigte sich, doch A.H. nutzte sie teilweise weiterhin als ein Mittel, ihre Fragen, Bitten und Vorschläge in Hinblick auf die Diplomarbeit zu verfolgen. 11 Wir interviewten unsere behandelnden Psychiater, da wir uns u. a. mit der Frage auseinandersetzen wollten, warum gerade Psychiater nicht ins Psychoseseminar kommen. Auf diesem Wege machten wir uns praktisch mit Methoden der qualitativen Sozialforschung vertraut. Die Auswertung dieser Interviews wurde jedoch nicht weiter verfolgt, da der Abschluss der Untersuchung für A.H. immer mehr in den Vordergrund rückte und wir feststellten, dass z. B. die Transkription der Interviews mehr Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, als wir in unserer Freizeit aufbringen konnten und wollten. 312 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki Die Spezifik des Arbeitsgruppendiskurses B ei der Auswertung der in der Arbeitsgruppe verhandelten Themen kristallisierte sich heraus, dass die Spezifik des Diskurses nicht so sehr aus der Besonderheit der Themen, sondern aus der Art und Weise der Verhandlung herzuleiten ist. Dasselbe Thema erfuhr in Arbeitsgruppe und Psychoseseminar eine unterschiedliche Behandlung: In der Arbeitsgruppe war mehr Raum für die Entfaltung einer Erzählung, d. h. die Darstellung der eigenen Konstruktion von Wirklichkeit.12 1. Aus Erlebnissen wurden persönliche Erklärungsansätze entwickelt. Die Erfahrungen und Theorien der einzelnen Arbeitsgruppenteilnehmer und -teilnehmerinnen wurden ausgetauscht und verglichen. Durch die Akkumulation der individuellen Beiträge verfügten alle Arbeitsgruppenmitglieder über ein Spektrum von in der Gruppe zusammengetragenen Erfahrungen und konnten daran ihre ursprünglichen Theorien überprüfen und unter Umständen neue Erklärungsansätze entwickeln. 2. Die Arbeitsgruppe wurde zum Forum der Veröffentlichung, Bearbeitung und gemeinsamer Erkenntnisentwicklung: Das eigene Selbstverständnis wurde reflektiert und durchlief, indem es der Gruppe vorgestellt wurde, einen öffentlichen Prozess der Aneignung. An den Reaktionen der Gruppe konnten eigene Vorstellungen überprüft werden, teilweise veränderten sie sich. In der Arbeitsgruppe wurde einigen Fragen erstmals in einem öffentlichen Diskurs nachgegangen – im Psychoseseminar wurden diese im Untersuchungszeitraum nicht ausgesprochen. 3. Neben der Etablierung der eigenen Person und individuellen Meinung entstand im Diskurs ein Wir-Gefühl über die Grenzen der eigenen Gruppenzugehörigkeit hinaus: „wir in der Arbeitsgruppe“ und nicht „wir Psychoseerfahrene“. Die Frage, ob dieses Wir-Gefühl mit einem Verwischen von existierenden Gegensätzen bzw. Unterschieden einherging, haben wir erörtert: Die Annahme der Möglichkeit einer gemeinsamen Verstehensbasis wird von uns als Voraussetzung für ein Miteinander, d. h. einen Dialog betrachtet. Das Ziel unseres Diskurses ist weniger Konsens, sondern vielmehr der Vergleich unserer jeweils individuellen Wahrnehmungen und Deutungen, dessen Ergebnis Konsens oder Differenz sein kann. Die Anerkennung der Differenz kann nur praktiziert werden, wenn die Person sich in ihrer Subjektivität, egal welche Position sie vertritt, weiterhin grundsätzlicher Anerkennung sicher sein kann (vgl. Honneth 1994). „Wir in der Arbeitsgruppe“ bedeutet demnach ein Spek- 12 Bei einer Gruppengröße von 5–6 Personen in teilweise mehr als 2 Stunden bleibt viel mehr Zeit für eine persönliche Entfaltung als in weniger als 2 Stunden bei 20–30 Personen. „Miteinander statt übereinander“ 313 trum von Geteiltem und Differentem, das allen Beteiligten als geteiltes Wissen zur Verfügung steht. Eine Arbeitsgruppe kann die Demokratisierungsversuche im Psychoseseminar stärken: Es können sich in diesem Rahmen Aktivisten und Aktivistinnen zusammenfinden, die sich der Darstellung des Psychoseseminars, der Organisation, der Gewinnung von Experten und Expertinnen widmen und im Seminar Problematiken ansprechen, die ihnen aufgefallen sind. Über das ausgewertete Datenmaterial zum Psychoseseminar hinaus wurde in der Arbeitsgruppe deutlich, dass eine Demokratisierung des Umgangs zwischen den Gruppen – wie im Psychoseseminar angestrebt – auf Prozessen der Begegnung, der gegenseitigen Anerkennung (Vergewisserung13) und Kritik, der Veröffentlichung und Entmystifizierung14 basiert. Der Prozesscharakter weist darauf hin, dass Gleichberechtigung innerpsychischer und sozialer Lernprozesse bedarf. Die Mitglieder einer Gruppe können die Art und Weise der Berücksichtigung unterschiedlicher Fähigkeiten und Interessen nur gemeinsam aushandeln. Diese genannten Prozesse wurden in Arbeitsgruppensitzungen als für das Psychoseseminar fundamental nachgewiesen. Sie wurden als Lernprozesse identifiziert, die im Untersuchungszeitraum im vollen Gange (und nicht abgeschlossen) waren. Abschließend soll die Frage erörtert werden, inwieweit die Arbeitsgruppe als Forschungsgemeinschaft, dem Ziel, Möglichkeiten der Forschungspartizipation von Psychoseerfahrenen zu erproben, und dem Anspruch gerecht werden konnte, miteinander statt übereinander zu forschen. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit dieses Miteinander sinnvoll und möglich ist? 13 Vergewisserung betrachte ich als zentrales Moment des Arbeitsgruppendiskurses: mit der Veröffentlichung der eigenen Konstruktion von Wirklichkeit ist immer eine Überprüfung verbunden, ob und wie diese vom Auditorium angenommen wird. Die Erfahrung von Ernstnehmen und Anerkennung ermöglicht Vergewisserung, die zu weiteren Beiträgen und Stellungnahmen ermuntert. 14 Entmystifizierung bedeutet: Tabus wurden gebrochen und die Folgen abgewartet. Was in anderen Zusammenhängen als Regelverletzung verstanden und teilweise geahndet wurde, erlebten und kultivierten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Arbeitsgruppe als möglich und normal. Das konspirative Moment (das Gefühl, sich im Widerspruch zu in der [Gemeinde-]Psychiatrie üblichen Formen des Umgangs zu begegnen und auszutauschen) wich einer immer selbstverständlicheren Atmosphäre der Begegnung und des Austauschs. Solche Tabus waren beispielsweise: – die psychische Gesundheit von (werdenden) „Psychoarbeitern und -arbeiterinnen“ – „Niemand kann mit Sicherheit ausschließen, selbst einmal psychotisch zu werden“. – Ängste in Bezug auf die Arbeitsgruppe – eine Karriere als Berufspsychischkranke/r – Wahrnehmungen und Bedeutung unserer Männlich- bzw. Weiblichkeit – Annäherung an Beziehungserwartungen. 314 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki Die Tatsache, dass ich innerhalb (wenn als Studentin auch am Rande) der scientific community positioniert meine ganze Arbeitskraft dem Projekt widmete, während die psychoseerfahrenen Arbeitsgruppenmitglieder dafür ihre Freizeit opferten, weist von vornherein auf ein Ungleichgewicht in der Zusammenarbeit hin. Vier der fünf psychoseerfahrenen Arbeitsgruppenmitglieder äußerten größte Bedenken, in die Rolle von Berufspsychischkranken zu geraten, d. h. in die Situation, dass die Psychoseerfahrung ihnen einen Status innerhalb einer Gemeinschaft ermöglicht, der sie zwingt, immer als Psychoseerfahrene erkennbar zu bleiben. Das Erproben, inwieweit ein Miteinander innerhalb empirischer psychologischer Forschung möglich ist, ist von uns nur als beständige Gratwanderung bzw. andauernder Balanceakt zu beschreiben. In der Arbeitsgruppe kristallisierte sich bald heraus, dass miteinander zu arbeiten die Forderung nach Transparenz des Vorgehens beinhaltet und nicht eine quantitativ gleiche Aufteilung der Arbeit. Miteinander im hier erprobten Sinne bedeutet: • soweit gewünscht, in Ziele und Inhalte von Theorie und Empirie psychologischer Forschung eingeführt werden (Passiv!) • Transparenz in allen Arbeitsschritten: d. h. Kenntnisnahme und Diskussion des Konzepts, der während der Zusammenarbeit gewonnenen Daten sowie der Kapitel der Arbeit waren möglich. • Die individuellen Kompetenzen und Bedürfnisse sollen geachtet und berücksichtigt werden, d. h. Person wollen Anerkennung erfahren und nicht auf Psychoseerfahrung bzw. Psychologiestudium reduziert werden. Ich widersprach in der Diskussion dieses Abschnittes, da ich die Arbeitsgruppe auch als Möglichkeit zur Weiterbildung nutzte (aktiv!)15.(R.R.) Ich merkte in der Diskussion dieses Abschnittes der Diplomarbeit an, dass Anja eigentlich die meiste Vergewisserung betrieben hat, da sie ihre Texte in jedem Stadium von uns kritisch lesen und bewerten ließ. (F.P.) Die Mitarbeit der Psychoseerfahrenen an dieser Arbeit umfasste • die gemeinsame Etablierung des Diskursforums Arbeitsgruppe, • den Erfahrungsaustausch, der die Grundlage für einen Teil des Datenmaterials bildete, • und lief auf eine kommunikative Validierung der von mir erstellten Texte hinaus. 15 Holpriges Deutsch. (R.R.) „Miteinander statt übereinander“ 315 In der Diskussion dieses Abschnittes der Arbeit erinnerten wir psychoseerfahrenen Arbeitsgruppenmitglieder uns noch einmal an unsere bisherigen Erfahrungen mit psychologischer Forschung: Wir empfanden die Forscher und Forscherinnen bisher immer als ziemlich unverschämt. Sie stellten oft ziemlich intime Fragen, nutzten unsere Zeit oft lang und intensiv, meist ohne uns eine Aufwandsentschädigung anzubieten, und – was wir am meisten bemängelten – wir erfuhren nicht, was mit dem Datenmaterial geschah und wie die Daten ausgewertet wurden. In den Gedächtnisprotokollen problematisierte ich häufig, die von mir zeitweise angenommene Rolle der Leiterin. Die Psychoseerfahrenen sprachen dies nie als Problem an. Wir versuchten statt dessen, wie z. B. R.R. und B.R. in der Diskussion dieses Abschnittes der Untersuchung anmerkten, gegenzusteuern. In der Arbeitsgruppe waren hierarchische Unterschiede von vornherein vorhanden, jedoch vergleichsweise gering: Ich bin die jüngste und verfügte über weniger Lebenserfahrungen, war Studentin und hatte geringere finanzielle Mittel zu Verfügung. Drei von uns psychoseerfahrenen Arbeitsgruppenmitgliedern hatten ein Hochschulstudium abgeschlossen, zwei eine Berufsausbildung, während ich zum damaligen Zeitpunkt noch keinen Abschluss vorweisen konnte. Der (nicht vernachlässigte) Unterschied bestand allerdings darin, dass ich perspektivisch noch alle Chancen hatte, mich in Beruf und Privatleben nach meinen Vorstellungen zu entfalten, während dies für uns Psychoseerfahrene weitaus schwieriger und teilweise unmöglich schien. Zum Zeitpunkt der gemeinsamen Teilnahme an der Arbeitsgruppe verband uns jedoch gerade die (individuell unterschiedlich starke) Unsicherheit, ob und welche Vorstellungen zukünftig zu verwirklichen sein würden. Ich habe keine Psychoseerfahrungen – der wesentlichste Unterschied –, doch ich war und bin bemüht, mich solchen Erfahrungen so weit als möglich anzunähern. Wir verglichen unsere Erfahrungen und unser Wissen, und auf diese Weise wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf der geteilten Basis von Erzählungen und wechselseitiger Anerkennung sichtbar und zur Grundlage von Zusammenarbeit. 316 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki Diskussion E ine unabgeschlossene Diskussion innerhalb der Arbeitsgruppe ist die um Recovery- und Empowermentimpulse, die vom Psychoseseminar ausge- hen. Daher bleiben unsere Überlegungen fragmentarisch. Wir wagen dennoch diese Fragmente vorzustellen. Wir hoffen, dass zukünftig in wissenschaftlichen Diskussionen und in der Theoriebildung zu diesen Themen die Erfahrungen von Psychoseerfahrenen nicht nur zum Ausgangspunkt genommen werden, sondern Psychoseerfahrene den gesamten Prozess kritisch begleiten. In der Studie über das Weddinger Psychoseseminar und dessen Auswirkungen auf psychoseerfahrene Teilnehmer und Teilnehmerinnen zog ich die Begriffe Recovery und Empowerment bereits in der Fragestellung heran. Zum damaligen Zeitpunkt stellte ich den Psychoseerfahrenen in der Arbeitsgruppe vor allem vor, wie ich diese Begriffe aus der Literatur rezipierte und wie ich sie in der Untersuchung verwendete. Dieses Vorgehen begann ich beim Schreiben dieses Artikels zu wiederholen. Doch diesmal wurden wir Psychoseerfahrenen, als wir unseren Artikelentwurf mit anderen AutorInnen dieses Bandes diskutierten, darauf aufmerksam gemacht und ermutigt, vor allem unsere Auseinandersetzung mit Recovery und Empowerment offensiver zu vertreten. Uns beschäftigt: Was bedeuten Begriffe wie Empowerment und Recovery eigentlich für uns Psychoseerfahrene in unserem Alltag? Können wir sie aus den wissenschaftlichen Diskursen übernehmen? Oder wie können wir in unserem Sprachgebrauch angemessener beschreiben, was unter Empowerment und Recovery verstanden wird? Es ist nicht uninteressant, unter welche Begriffe unsere Lebenswirklichkeit von Psycho-Pflegekräften u. a. auf Kongressen subsumiert wird. Mir scheint, jeder versteht die Begriffe so, wie es ihm gerade passt. (R.R.) [und von Psychologiestudentinnen und -professoren, aber nicht in der nackten Realität des Psychiatriealltags, S.R.] Mich interessieren diese Begriffe nicht.(B.R.) 317 „Miteinander statt übereinander“ Empowerment Die Selbstdarstellungen und -befriedigungen der wissenschaftlichen Welt bilden unsere Lebenswirklichkeit nicht ab. In der Praxis sind Fälle von Empowerment doch höchst selten. Ich sehe eher verordnete Selbständigkeit. (F.P.) Ich wette, dass viele Betroffene den Begriff noch nie gehört haben und nichts mit ihm anfangen können. (S.R.) Aber das dürfte auch auf etliche Professionelle zutreffen? (R.R.) Meine Gruppe zum Beispiel wurde zu einer Selbsthilfegruppe, weil die Kontakt- und Begegnungsstätte trotz unseres starken Widerstandes geschlossen wurde, und wir uns als Gruppe dringend brauch(t)en. Wir hatten gar keine andere Wahl (B.R.). Im Grunde genommen ist Empowerment doch eine Wunschvorstellung, eine Sehnsucht von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen. Als Fachchinesisch finde ich den Begriff Empowerment akzeptabel. Es wäre natürlich besser, wir hätten einen, der nicht erst mühsam in Alltagssprache übersetzt werden muss. Ich verstehe Empowerment ausschließlich als politischen Begriff. (R.R.) Ich bringe Empowerment in Zusammenhang mit meiner Erfahrung in der Schule und im Studium: ich fühlte mich ab den 60er Jahren zu politischer Aktivität regelrecht angetrieben. Inzwischen erscheinen mir die eigenen Interessen oft von außen aufgedrückt. Deshalb kann ich ein „empowere dich!“ nicht akzeptieren. Für mich steht vielmehr der Wunsch im Vordergrund, dass verschiedene Lebenswirklichkeiten und Wahrnehmungen nebeneinander bestehen bleiben können. Und doch brauche ich manchmal auch ein Gegenüber, das mir hilft, zu erkennen, was real ist und was psychotische Phantasien sind, mit denen ich allein bin. (F.P.) Ich muss F. an dieser Stelle ausdrücklich zustimmen. Die Aufforderung zu Empowerment ist ein Widerspruch in sich. (B.R.) 318 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki Laut normativem Anspruch des Psychoseseminars und der Arbeitsgruppe bekamen die Psychoseerfahrenen in diesen Settings Macht und Kontrolle über ihre eigene Stimme von vornherein zugesprochen. Im Psychoseseminar verweigerten sich jedoch die Psychoseerfahrenen deutlich allen ihnen von anderen Gruppen vorgeschlagenen Empowermentinitiativen und wiesen stattdessen auf ihre Unterstützungsbedüftigkeit hin. Unterstützungsbedürftigkeit ist für mich ein Wort mit drei schwarzen Punkten auf gelbem Grund. (R.R.) In der Arbeitsgruppe und später im Psychoseseminar lieferten wir eine Erklärung: So wie Psychoseseminare müssen auch Veränderungen in der (Gemeinde-)Psychiatrie von unten wachsen und machen erst Sinn, wenn Psychoseerfahrene von sich aus den Wunsch nach Veränderung spüren und sich zutrauen, sich für Veränderungen einzusetzen. Solidarität (Vertrauensfähigkeit und Verbindlichkeit) scheint mir unter Psychoseerfahrenen vergleichsweise gering zu sein, was solche Prozesse noch schwieriger gestaltet als in anderen Gruppen. (F.P.) Ich sehe das genauso. (R.R.) Im Untersuchungszeitraum identifizierte ich Empowerment für fast alle Psychoseerfahrenen als ein unangenehmes bzw. ein Tabuthema, obwohl sie selbst gleichzeitig immer mehr Macht und Kontrolle über ihre eigene Stimme forderten und gewannen. Wir lehnen Empowerment, einseitig als Gegenmachtbildung verstanden, ab. Deshalb können wir uns auch nicht mit der dogmatischen Art z. B. der „Irrenoffensive“ 16 einverstanden erklären. Wir suchen nach Veränderungsmöglichkeiten, die eine Beziehung zu denjenigen nicht abschneidet, deren professionelle Hilfe wir weiterhin in Anspruch nehmen möchten. Dabei ist uns das Psychoseseminar eine erste Hilfe und Motivation, da dort alle Gruppen regelmäßig zusammentreffen und nach Verständigungsmöglichkeiten suchen. Eine Diskrepanz fällt uns stark auf: Vor unserer Entwicklung und Veränderung (u. a. durch das Psychoseseminar) war die Beziehung zu Profis einfacher. Viele Profis halten derzeit unserer Entwicklung nicht stand: Sie sind nicht bereit, mit uns als Expert/inn/en unserer selbst einen gleichberechtigten Umgang zu kultivieren. Wo sind die Profis, mit denen wir in Kooperation treten können? 16 Die Irrenoffensive hat sich, wenn ich nicht irre, 1980 gegründet. Sie ist ein Zusammenschluss „Psychiatrie-Erfahrener“. Die Mitglieder verbindet neben der gemeinsamen Psychiatrieerfahrung eine antipsychiatrische Grundhaltung, die strikte Ablehnung von Neuroleptika und die Verweigerung der Anerkennung psychiatrischer Diagnosen. Wir haben Probleme mit der mangelnden Toleranz und dem aggressiven Auftreten einiger Mitglieder der Irrenoffensive gegenüber anderen „Psychiatrie-Erfahrenen“, die einen anderen Weg gehen und z. B. Medikamente nicht ablehnen. 319 „Miteinander statt übereinander“ Anmerkung zwischen Empowerment und Recovery Was nun zu dem Phänomen Schizophrenie führt, ist auch für mich ein Rätsel. Nach meinem Wissensstand gibt es keine Schizophrenie ohne soziale Fehlentwicklung. Das heißt zweierlei. Zum einen erlernen wir (wie auch immer) eine falsche Strategie, um Konflikte angemessen zu bewältigen. Zum anderen können wir in unserer Umwelt, in der wir uns entwickeln, keine stabile Persönlichkeitsstruktur ausbilden. Recovery und Empowerment sind immer nur als dualer Entwicklungsprozess denkbar. Dabei gibt es keinen Zweifel, dass zuallererst ein Recoveryprozess in Gang kommen muss. Die vordringlichste Aufgabe, die die Beruflichen (diese Bezeichnung übernehme ich von Simone Möhrle 1997) haben, ist neben der Lebenssicherung Unterstützung bei der Persönlichkeitsentwicklung zu leisten. Stattdessen wird der Fokus auf unsere „Unfähigkeiten“ gerichtet und wir werden mit Trainingsprogrammen traktiert. So werden Ressourcen auf beiden Seiten vergeudet. Ich möchte nochmal wiederholen, dass der Empowermentprozess immer an eine Entwicklung psychosozialer Gesundheit gekoppelt ist. (R.R.) Recovery Ich bin mit dem Begriff nicht glücklich, da er meiner Meinung nach nicht berücksichtigt, dass wir über unsere Psychoseerfahrungen – aber auch unabhängig davon – ganz etwas Neues und Unbekanntes entdecken und lernen können. Es geht doch gar nicht unbedingt um Wiederherstellung des Zustandes, in dem wir uns vor der Psychose befanden, sondern auch um ein Reifen und Wachsen: das finden, was einem/einer entspricht. (R.R.) Und es geht uns um Genesung, was im Diagnoseschlüssel nicht vorgesehen ist, wie wir im Psychoseseminar anhand des ICD 10 gelernt haben. Um der Diagnose Schizophrenie zu entrinnen, brechen manche die Kontakte zur Psychiatrie bzw. zur psychosozialen Szene ab. Die Kontaktabbrüche, die eine Hoffnung auf Recovery darstellen, können in der Biographie vieler Psychoseerfahrener Stationen auf dem Weg in die Krankheit sein.(F.P.) Ich bin in meinem Leben nicht mit dem Begriff Recovery, sondern mit dem Begriff Rehabilitation konfrontiert worden. Meinen nicht eigentlich beide Begriffe Wiederherstellung? Aber bei uns Psychoseerfahrenen läuft es anders: Wir dachten, wir würden befähigt, in unserem alten Beruf wieder arbeiten zu können. 320 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki In der ehemaligen DDR war es so, ich bin immer wieder an meine alte Arbeitsstätte zurückgekehrt. Erst nach der Wende wurde eine Berentung diskutiert. Also Rehabilitation bedeutet auf uns angewendet höchstens Umschulung. Du brauchst eine diagnostizierte „Behinderung“, um für eine RehaMaßnahme zugelassen zu werden.17 Recovery bedeutet nach meiner Interpretation unserer Arbeitsgruppengespräche, nicht mehr von Psychosen und deren Auswirkungen gelebt zu werden, sondern selbstbestimmt mit beispielsweise existierenden Symptomen der Krankheit, Nebenwirkungen der Medikamente und als verletzend erlebten Reaktionen des (sozialen) Umfeldes umgehen zu lernen. Hierfür bietet sich das Psychoseseminar als Übungsfeld und Spielwiese (R.R.) bereits von seiner Programmatik her an: – Es können eigene Erfahrungen (Perspektiven) vorgestellt, vertreten und mit denen anderer verglichen werden. – Es kann zur Weiterbildung genutzt werden. – Veränderungs- und Schutzmöglichkeiten können antizipiert, diskutiert und auch vor Ort erprobt werden. Die Erfahrung von sozialer Wertschätzung (Honneth 1994) rekonstruierte ich als zentrale Voraussetzung für eine positive Einstellung gegenüber der eigenen Person und damit für Veränderung. Das Psychoseseminar läßt sich nach meiner Auswertung der Daten mit Honneth als ein öffentliches Forum beschreiben, in dem die psychoseerfahrenen Arbeitsgruppenmitglieder Anerkennung und Wertschätzung erfahren, wodurch sich mangelndes Selbstvertrauen (durch emotionale Zuwendung), geringe Selbstachtung (durch kognitive Achtung) und Selbstwertschätzung (durch soziale Wertschätzung) erhöhen. Durch die Erfahrung der Wertschätzung und Anerkennung können im Psychoseseminar Entwicklungsprozesse initiiert und gefördert werden. Die psychoseerfahrenen Arbeitsgruppenmitglieder machten mich nach Abschluss der Untersuchung darauf aufmerksam, dass sie meine positive Einschätzung von in Gang gesetzten Entwicklungen nicht teilen können: Es werde sich erst mit der Zeit zeigen, wie substantiell sie sind. Auch bei der Erfahrung Psychoseseminar sind Krisen zu bewältigen. 17 Die Diskussion um Rehabilitation verlangt nach einem eigenen Artikel, wir können unsere Auseinandersetzung hier nur andeuten. „Miteinander statt übereinander“ 321 Resümee M it zeitlicher Distanz, drei Jahre nach Abschluss der Untersuchung, haben wir gemeinsam über das Psychoseseminar, die Arbeitsgruppe zum Psychoseseminar und in diesem Zusammenhang über Möglichkeiten und Grenzen kommunikativer Forschungspartizipation nachgedacht: Zunächst: Warum halten wir es für wichtig, dass es das Psychoseseminar gibt? Anhand des folgenden Beispiels soll ein Kardinalproblem psychiatrischer Behandlung dargestellt werden: Eine Patientin ist psychotisch in die Klinik gekommen. Nach drei Wochen ist sie stabil. Obwohl sie zunächst einem Besuch ihres Vaters zugestimmt hatte, äußert sie jetzt, dass sie doch lieber nicht von ihm besucht werden möchte. Dieser Äußerung wird wenig Beachtung geschenkt und wird stattdessen mit wohlmeinendem Zureden beiseite geschoben. Am darauffolgenden Tag kommt es aus Sicht des Personals „aus heiterem Himmel“ zu aggressiven Ausbrüchen. Die Patientin wird fixiert und medikamentös höher eingestellt. Hätte man sich zum richtigen Zeitpunkt unvoreingenommen auf sie eingelassen, hätte der Stellenwert des Konflikts mit dem Vater im Erleben der Patientin erkannt und von der Patientin auf andere Weise zum Thema gemacht werden können. Es könnte vermieden werden, dass einund derselbe Konflikt immer wieder unreflektiert ausgetragen werden muss. Es wird nicht nachgefragt, stattdessen wird beobachtet und interpretiert. Weil es sich, um es einmal provokant zu formulieren, nicht lohnt, mit uns Psychoseerfahrenen zu reden. Anhand eines solchen Beispiels können im Psychoseseminar alle beteiligten Gruppen für die Problematik sensibilisiert werden: Im ersten Jahr des Bestehens des Weddinger Psychoseseminars erlebten und praktizierten wir das Einfordern eines gleichberechtigten Austausches. So forderte ich immer wieder, dass alle Themen so formuliert werden, dass alle beteiligten Gruppen gefragt sind, ihr Involviertsein in das Thema und ihre Erfahrungen beizutragen. (F.P.) Im Psychoseseminar kann ein Diskurs „Miteinander statt Übereinander“ eingefordert werden. Hieran schließen sich jedoch auch sofort kritische Überlegungen an: Professionelle und Angehörige äußerten sich oft sehr abstrakt und erwarteten aber von uns Psychoseerfahrenen „Seelenstriptease“. Es scheint schwer, die gewohnten Rollenzuschreibungen hinter sich zu lassen und über deren Funktion in Anwesenheit von Psychoseerfahrenen zu reflektieren. Auf der Ebene persönlicher Erfahrung ins Gespräch zu kommen war und ist unser Anspruch an das Psychoseseminar. Beispielsweise war Konsens, dass der Übergang zwischen Normalität und Verrücktheit fließend sein 322 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki kann: Viele haben doch schon einmal Erfahrungen gemacht, die am Rande des Wahnsinns waren. Und ich war froh, wenn Profis oder StudentInnen den Mut hatten, von solchen Erfahrungen zu erzählen.(F.P.) Es kann kein Zufall sein, dass keine PsychiaterInnen ins Psychoseseminar kommen. Was auch immer ihre Begründungen bedeuten,18 sie hätten keine Zeit oder sie könnten dort nichts Relevantes erfahren – fest steht, es kommen zu wenig neugierige und offene Profis. ÄrztInnen im Praktikum erlebten wir als eine große Bereicherung für das Psychoseseminar, da sie einerseits Erfahrungen als Profi in der Psychiatrie mitteilen konnten und sich aber andererseits als Lernende verstanden. Auch wenn andere ÄrztInnen höchstens als ExpertInnen kamen, die Erfahrung Psychoseseminar hat uns auch in ihrer Abwesenheit dazu gebracht, Arztgläubigkeit abzubauen (B.R.). Wir haben nachzufragen gelernt, sind selbstbewusster, aber auch nachdenklicher geworden. Es erscheint uns wichtig, darauf hinzuweisen: Das Psychoseseminar kann aufwühlen und zuspitzen. In dem Moment, wo Klarheit gewonnen wird, kann es auch riskant werden. In mir stiegen zum Beispiel immer wieder Wut und Trauer auf. (S.R.) Ich sah deutlich, welche Kompromisse ich schließen musste, welche Ungerechtigkeiten ich erlebte. Es geht wohl um die Spannbreite von Intensität / einander sehr nahe Kommen bis hin zur Notwendigkeit von emotionalem / zeitlichem Abstand (Schutz) und Erholung. Das Psychoseseminar bietet keinen Schutz. Man braucht, wenn man hingeht, Abstand zu eigenen psychotischen Erfahrungen. Deshalb wollen wir nicht vergessen, den Restaurantbesuch nach dem Psychoseseminar zu erwähnen: Im anschließenden Gespräch und Miteinander haben wir Abstand gewonnen, auch durch persönlicheren Austausch, Lachen ... Nach 3–4 Jahren stellten wir alle unabhängig voneinander eine „Psychoseseminarmüdigkeit“ fest. Wir fragten uns, ob wir dies als Hinweis darauf deuten können, dass nach 3–4 Jahren Teilnahme ausgeschöpft ist, was man dort lernen, erfahren, mitnehmen, einbringen kann. Oder machte uns müde, dass der Austausch streckenweise zu theoretisch wurde und wir die Erfahrungsebene verließen? Auch stellten wir fest, dass wir müde wurden, immer neue Kontakte zu knüpfen. Es erscheint uns schwer möglich, immer in der gleichen Intensität auf Leute zuzugehen. So mag es wohl Profis im beruflichen Alltag gehen. Interessanterweise wurden wir durch unsere erneute intensive Beschäftigung mit dem Thema Psychoseseminar im Rahmen der Arbeit an diesem Artikel noch einmal neugierig auf das Weddinger Psychoseseminar. Was bleibt, ist die Frage, wohin führt uns die Teilnahme am Psychoseseminar bzw. was kommt nach dem Psychoseseminar? Eine Vision, die wir entwar18 Wenn wir sie überhaupt in Erfahrung bringen konnten. „Miteinander statt übereinander“ 323 fen: Begegnung aufgrund eines gemeinsamen Interesses; jede/r wird als Erfahrene/r behandelt, welche Erfahrung er oder sie auch immer hat. Das heißt, unsere Hoffnung ist, die Psychoseerfahrung bzw. der Umgang mit Psychoseerfahrenen muss u. a. mit Hilfe des Psychoseseminars nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sondern kann als etwas behandelt werden, was als Erfahrungsmöglichkeit selbstverständlich dazu gehört. Zur Forschungspartizipation bleibt anzumerken, dass in der „Anjagruppe“ das Ausprobieren eines neuen Rahmens und unsere Auseinandersetzungen mit den Möglichkeiten von gemeinsamer gleichberechtigter Arbeit wichtiger als der Inhalt waren. Die Gruppe hat die inhaltliche Auseinandersetzung angestossen, die dann für einzelne bei vielen anderen Gelegenheiten andernorts möglich wurde. Mit der Anja-Gruppe bekam ich erstmals einen Fuß in die Tür der Forschung und begann zu verstehen und zu reflektieren (R.R.). Inzwischen kann ich mein Interesse an Forschung benennen: Mich interessiert keine abgehobene Modell- bzw. Theoriebildung, sondern dass wissenschaftlich fundiert praxisorientierte Grundlagen geschaffen werden. Und dabei darf auf das Einbeziehen von Psychoseerfahrenen als ExpertInnen nicht verzichtet werden, die auf ganz andere Weise auf die Praxisorientierung achten. Es geht mir darum, dass wir Psychoseerfahrene in den Forschungsprozess integriert sind, d. h. uns mitentwickeln können. Mit dem Fortsetzen der Arbeitsgruppe als AutorInnenkollektiv für diesen Artikel erlebten wir noch einmal die Möglichkeiten und Schwierigkeiten gleichberechtigten Zusammenarbeitens. Unsere Treffen wühlten mich vergleichbar auf wie lange Zeit das Psychoseseminar (F.P.). Ich bestand seinerzeit darauf, dass das Psychoseseminar freitags veranstaltet wird, da es dann möglich ist, sich am Wochenende zu erholen. Ebenso brauche ich nach der Beteiligung an der Arbeitsgruppe einen freien Tag. Abschließend möchten wir an unser 6. Arbeitsgruppenmitglied erinnern. Eckart Pengel beging Selbstmord, und sein Tod ging uns sehr nah. Es fällt uns noch heute schwer, Worte zu finden. Eckart kämpfte sehr mit der Rolle des psychisch Kranken und litt darunter. Durch die Krankheit wurde sowohl sein privates als auch sein Berufsleben zerstört und er verlor immer mehr den Boden unter den Füßen. Wir hätten noch so viele Fragen an ihn gehabt und vermissen ihn sehr. Literatur Aster, Rainer u. Michael Repp (1989): Teilnehmende Beobachtung – zwischen Anspruch und Wirklichkeit. In Rainer Aster, Hans Merkens u. Michael Repp (Hg.), Teilneh- 324 A. Hermann, F. Partenfelder, S. Raabe, B. Riedel und R. Ruszetzki mende Beobachtung. Werkstattberichte und methodologische Reflexionen (122–133). Frankfurt/Main: Campus. Berg, Eberhard u. Martin Fuchs (1993): Kultur, Soziale Praxis, Text. Die Krise der Ethnographischen Repräsentation. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Bock, Thomas, J. E. Deranders u. Ingeborg Esterer (Hg.) (1992): Stimmenreich. Mitteilungen über den Wahnsinn. Bonn: Psychiatrie-Verlag. Devereux, George (1976): Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Frankfurt/Main: Ullstein. Flick, Uwe, Ernst von Kardorff, Heiner Keupp, Lutz von Rosenstiel u. Stephan Wolff (Hg.) (1995): Handbuch qualitative Sozialforschung. München: Psychologie Verlags Union. Girtler, Roland (1989): Die „teilnehmende unstrukturierte Beobachtung“ – ihr Vorteil bei der Erforschung des sozialen Handelns und des in ihm enthaltenen Sinns. In Rainer Aster, Hans Merkens u. Michael Repp (Hg.), Teilnehmende Beobachtung. Werkstattberichte und methodologische Reflexionen (103–113). Frankfurt/Main: Campus. Jaeggi, Eva, Angelika Faas u. Katja Mruck (1998): Denkverbote gibt es nicht! Vorschlag zur interpretativen Auswertung kommunikativ gewonnener Daten. Forschungsbericht aus der Abteilung Psychologie im Institut für Sozialwissenschaften der Technischen Universität Berlin, Nr. 98–2. Keupp, Heiner (1994): Psychologisches Handeln in der Risikogesellschaft – Gemeindepsychologische Perspektiven. München: Quintessenz. Lamnek, Siegfried (1993): Qualitative Sozialforschung. Band 2: Methoden und Techniken. Weinheim: Beltz, Psychologie Verlags Union (2., überarbeitete Auflage). Legewie, Heiner (1988): „Dichte Beschreibung“: Zur Bedeutung der Feldforschung für eine Psychologie des Alltagslebens. Vortrag auf dem 36. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, 3.–6.10. 1988. Druckvorlage. Legewie, Heiner (1993): Zur Gestaltbarkeit von Lebenswelten. Diskursanalyse in Technik, Stadtentwicklung und Gesundheitsförderung. In Joachim Hohl u. Günter Reisbeck (Hg.), Individuum, Lebenswelt Gesellschaft: Texte zur Sozialpsychologie und Soziologie. Heiner Keupp zum 50. Geburtstag (271–294). München: Profil. Möhrle, Simone (1997): Empowermentprozesse bei Psychiatrieerfahrenen: Eine Betrachtung aus ökologischer Perspektive. Berlin: Freie Universität Berlin, unveröffentlichte Diplomarbeit. Sampson, Edward. E. (1993): Challenges to Psychology’s Understanding. American Psychologist, December 1993, S. 1219–1230. Anja Hermann, Freie Universität Berlin, Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie Habelschwerdter Allee 45, D-14195 Berlin. Diplompsychologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität, Institut für Klinische Psychologie und Gesundheitsförderung, Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Forschung, Psychosoziale Versorgungsstrukturen, Kooperations- und Dialogmodelle. „Miteinander statt übereinander“ 325 Partenfelder, Frank, Dipl.-Verkehrsingeneur, Industriekaufmann, berentet, arbeitet derzeit im Zuverdienst als Lagerverwalter in einem Elektronikbetrieb, psychoseerfahren seit 1979, nach 12 psychosefreien Jahren leider wieder zahlreiche Psychosen, war ehrenamtlicher Leiter einer Ausflugsgruppe in einem Kontakt- und Begegnungszentrum für psychisch Kranke, Gründungsmitglied des Weddinger Psychoseseminars. Raabe, Sabine, Dipl.-Sozialpädagogin, Umschulung zur Büroangestellten, seit 15 Jahren in einem Übergangswohnheim für psychisch Kranke tätig, psychoseerfahren seit 1977, Gründungsmitglied des Weddinger Psychoseseminars, seit 13 Jahren keine erneute Psychose. Riedel, Bärbel, ausgebildete Krankenschwester, berentet, psychoseerfahren seit 1984, arbeitet derzeit in einem integrativen Bioladen, aktives Mitglied einer Selbsthilfegruppe psychisch Kranker, war Gründungsmitglied eines weiteren Berliner Psychoseseminars (des Weißenseer Psychoseseminars). Ruszetzki, Rolf, Dreher, berentet, psychoseerfahren seit 1972, seit 1994 bot er Fortbildungen für Fachpfleger in der Psychiatrie sowie für Sozialhelfer in einem Berliner Betreib an, Teilnahme an Kongressen zu sozialpsychiatrischen Fragestellungen und Gasthörer an der FU-Berlin, z. B. in Seminaren zum Thema Schizophrenie, Gründungsmitglied des Weddinger Psychoseseminars, ausgelöst im Psychoseseminar und in dessen Umfeld bis dahin für unmöglich gehaltene, große persönliche Veränderungen hin zu mehr Lebensqualität, Selbstbewusstsein und -sicherheit und neuen Interessensgebieten, derzeit leidenschaftlicher Computer-Interessierter. Manuskriptendfassung eingegangen am 29. Oktober 2004.