Christine Beier • Michaela Schuller-Juckes (Hg.)
Europäische
Bild- und Buchkultur
im 13. Jahrhundert
EuropäischE
Bild- und Buchkultur
im 13. JahrhundErt
Herausgegeben von Christine Beier und Michaela Schuller-Juckes
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Veröffentlicht mit Unterstützung des
Austrian Science Fund ( FWF ): PUB 719-G
Open Access: Wo nicht anders festgehalten, ist diese Publikation lizenziert unter
der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung 4.0;
siehe http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Die Publikation wurde einem anonymen, internationalen Peer-Review-Verfahren unterzogen.
Die Tagung „Europäische Bild- und Buchkultur im 13. Jahrhundert“
(Wien, 28.6.–30.6.2017) wurde von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung
unterstützt
Übersetzungen: Christine Jakobi-Mirwald (aus dem Englischen: Beitrag von Paul Binski);
Tim Juckes (aus dem Deutschen: Beitrag von Michaela Schuller-Juckes)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
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Umschlagabbildung:: „Mainzer Evangeliar“, Hofbibliothek Aschaffenburg, Ms. 13, fol. 17r
Korrektor: Verena M. Schirl
Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien
Satz und Layout: Bettina Waringer, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN (Print) 978-3-205-21192-1
ISBN (OpenAccess) 978-3-205-21193-8
Inhalt
Einleitung
7
Medialität
Paul Binski
Affekt in der Gotik
13
Michael Viktor schwarz
Zackenstil des Südens: Zur Höllenlandschaft im Florentiner
Baptisterium, ihren Voraussetzungen und ihrer Rezeption
33
Michael a Michael
The Emotional Charge and Humanistic Effect of the Crucifixion in
some Thirteenth-century English Illuminated Manuscripts
51
christine JakoBi-Mirwald
Aus der Zeit gefallen – Das Weingartner Berthold-Sakramentar
73
transfer
Michaela schuller-Juckes
Encounters in Books Superregional Collaboration in
Illuminated Manuscripts Around 1300
93
Beatrice alai
Al di là del Mediterraneo, al di qua delle Alpi: il dialogo con la
miniatura francese e outremer nei Vangeli della Bibbia de’ Cerchi
117
katharina hranitzky
Das Bibelcompendium des Petrus von Poitiers in einer Handschrift
aus Baumgartenberg: Zur Verbreitung eines Ausstattungstyps
139
eVelyn theresia kuBina
Für Recht und Ordnung Fleuronnée-Initialen in Handschriften
und Urkunden des vierten Viertels des 13 Jahrhunderts in
Wien und Niederösterreich
167
5
innoVation
dušan Buran
Das Tabernakel aus Kreig (Vojňany, Zips) . . . . . . . . . . . . . . . 181
daVid Ganz
Distanz und Nähe des Heiligen. Rezeptionsangebote
des Hornplatteneinbands, am Beispiel des Bamberger Psalters . . . . . 201
christinE BEiEr
Zwischen Eigenleistung und gewerblicher Serienfertigung:
Psalter aus Augsburg und Regensburg . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
stElla panayotoVa
Close-up: Illuminators’ Materials and Techniques . . . . . . . . . . 243
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
dušan Buran
Das Tabernakel aus Kreig (Vojňany, Zips)
Die Sammlung gotischer Kunst in der Slowakischen Nationalgalerie bewahrt eines
der ältesten liturgischen Holzbildwerke Mitteleuropas: Es handelt sich um einen
Altarschrein, an dem zwei Paare beweglicher Flügel mit insgesamt vier farbig gefassten Heiligenreliefs befestigt sind (Abb. 1).1 Er stammt aus der Kirche St. Katharina
in Vojňany (deutsch: Kreig), einer kleinen Ortschaft im Norden der Zips, nahe der
heutigen slowakisch-polnischen Grenze.
Forschungsstand
Das Tabernakel fand in der Forschungsliteratur erst relativ spät Beachtung.2 Einer
der ersten, die sich intensiver mit dem Werk befassten, war Vladimír Wagner,
der zwischen 1930 und 1948 mehrere Publikationen vorlegte. Während er den
„archaisch“ und „ausdruckslos“ wirkenden Stil dem ausgehenden 13. Jahrhundert zuordnete, deuteten Architektur- und Gewanddetails für ihn bereits in das
14. Jahrhundert.3 In einer umfassenden Abhandlung zur hochgotischen Skulptur
in der Slowakei führte er das „Retabel“ schließlich als einen der ältesten Repräsentanten seiner Art an und datierte es in die Zeit um 1320 bis 1330. Wegen der
gedrehten, durch ein kleines Fragment bezeugten Säulen, die den Baldachin tragen (heute rekonstruiert), und auf der Basis von stilistischen Vergleichen mit einigen lokalen Wandmalereien (Drautz/Dravce, Zipser Kapitel/Spišská Kapitula)
ging Wagner davon aus, dass bei dem Entwurf des Tabernakels italienische Werke
als Inspirationsquelle dienten. Diese seien im mittelalterlichen Ungarn gerade in
dieser Zeit mit französischen Entwicklungen verbunden worden, was sich in der
Herkunft der seit 1308 das Königreich Ungarn regierenden französisch-neapolitanischen Anjou-Dynastie spiegele.4 Für die monumentale Ausstellung zur mit1
2
3
4
Slovenská národná galéria Bratislava, P 131–134. Altararchitektur und Flügel: Nadelholz,
Reliefs: Lindenholz. Schrein: 147 × 52 × 36 cm; Innenflügel: 107,7 × 31,5 cm bzw. 106,5
× 31,5 cm; Außenflügel: 122,5 × 26 cm bzw. 120,5 × 26,5 cm. Höhe der Heiligenfiguren:
ca. 65–66 cm. Vgl. die Dokumentation der letzten Restaurierung: Bedrich Hoffstädter:
Tabernákulový oltár z Vojnian. P 131‒4. Dokumentácia vykonaných reštaurátorských
prác. Bratislava 2015 (Archiv der Slowakischen Nationalgalerie Bratislava). Teils publiziert: Bedrich Hoffstädter: Reštaurovanie tabernákulového oltára z Vojnian (okolo 1190
– po 1232) zo zbierok SNG. In: Zborník prednášok XV. medzinárodného seminára o
reštaurovaní. Štúrovo 2016 [Bratislava 2017], S. 52‒60.
Zu den konkreten Forschungsergebnissen wird im Folgenden im jeweiligen Zusammenhang Stellung genommen. Beiträge, in denen das Tabernakel lediglich erwähnt wird
bzw. nur die bis dahin bekannten Kenntnisse resümiert werden, sind nicht aufgeführt.
Vladimír Wagner: Dejiny výtvarného umenia na Slovensku. Trnava 1930, S. 73.
Ders.: Vrcholne gotická drevená plastika na Slovensku. In: Sborník Matice slovenskej,
História 14 (1936), S. 252–254 (hier zitiert nach der zweiten Ausgabe in: Umenie dávne
181
dušan Buran
telalterlichen Kunst, die 1937 in der Prager Burg stattfand, restaurierte Bohuslav
Slánský das Kreiger Tabernakel und Wagner wiederholte im Ausstellungskatalog
seine bis dahin geäußerten Überlegungen zur Symbiose von norditalienischen
und französischen Elementen in diesem Werk. Darüber hinaus ging er auf den
ungewöhnlichen Typus des Altaraufsatzes ein, den er als zwischen einem archaischen Baldachinaltar und einem moderneren Retabel stehend ansah.5 Später klassifizierte er ihn als „frühen Typus eines Flügelaltars aus Krig“, den er ‒ angesichts
der von ihm vermuteten späten Entstehungszeit um 1340 wenig überraschend –
mit Blick auf den Entwicklungsstand der Bildhauerei für ein rückständiges Werk
hielt, das jedoch in Mitteleuropa einmalig war und unter italienischem Einfluss
stand.6
Mittlerweile war das Tabernakel auch von deutscher Seite diskutiert worden.7
Erich Wiese schlug vor, dass unter dem Baldachin ursprünglich nicht die zu diesem
Zeitpunkt dort platzierte Skulptur einer unbekannten Heiligen, sondern ein heiliger Nikolaus stand (Bratislava, Slowakisches Nationalmuseum – Historisches Museum, UH 154)8 und polemisierte gegen den von Wagner betonten Bezug zur italienischen Kunst: Er reihte die Reliefs „ganz in die westeuropäische Kunstübung“
ein und führte als Vergleich das Dreifigurengrab Ernst des Gleichen in Erfurt an.
Darüber hinaus schlug er eine frühere Datierung um oder kurz nach 1300 vor, was
das Kreiger Werk „zum vielleicht frühesten bisher bekannten Schreinaltar“ machen
würde.9 Zu den wenigen ungarischen Forschern, die sich mit dem Tabernakel befassten, gehörten László Gerevich und Dénes Radocsay, die in den Reliefs Analogien zur französischen Kathedralplastik sahen, und Antal Kampis, der eine Datierung in das späte 13. Jahrhundert wagte.10
Die bis dahin ausführlichste Untersuchung führte Anton Glatz für den Samm-
5
6
7
8
9
10
182
i nedávne. Výber z diela Vladimíra Wagnera, hg. von Fedor Kresák, Bratislava 1972,
S. 15–41, hierzu S. 22–24).
Umění na Slovensku – odkaz země a lidu, hg. von Karel Šourek, Praha 1938, S. 23 (Vladimír Wagner), Abb. 335–338. Im Essay datiert Wagner das Werk um 1330, an anderer
Stelle wird im Zusammenhang mit einer knappen Beschreibung (S. 28, wohl von einem
anderen Autor) um 1320 als Entstehungszeit angegeben.
Vladimír Wagner: Vývin výtvarného umenia na Slovensku. Bratislava 1948, S. 26.
Oskar Schürer / Erich Wiese: Deutsche Kunst in der Zips. Brünn / Wien / Leipzig 1938,
S. 180, Kat. No. 172.
Vgl. Gotické umenie z bratislavských zbierok. Ausstellungskatalog, hg. von Anton C.
Glatz, Bratislava 1999, S. 62–63 (Anton C. Glatz). Der Autor hielt die Statue für eine
Kopie aus dem 17. Jahrhundert.
Schürer / Wiese, Deutsche Kunst (zit. Anm. 7), S. 180.
László Gerevich: A felvidéki szobrászat stilusfejlődése. In: Szépművészét 2 (1941), S. 299;
Antal Kampis: Art in Hungary. Budapest 1966, S. 77; Dénes Radocsay: A közepkóri
Magyarország faszobrai. Budapest 1967, S. 21, 186. – Eine knappe Zusammenfassung
ungarischer und slowakischer Forschung zum Kreiger Schreinaltar bietet auch das von
Ernő Marosi herausgegebene Überblickswerk zur ungarischen Kunst im Mittelalter Magyarországi Művészet 1300–1470 körül, Budapest 1987, Bd. 1, S. 342–343 (János Eisler).
Nach einer kurzen Beschreibung wird die noch romanische Formgebung der Reliefs
herausgearbeitet, mit Hinweis auf Verbindungen zur italienischen Kunst. Der Gesamtaufbau des Altars wird hingegen mit der in Ungarn auf breiterer Ebene rezipierten Formensprache der französischen Gotik in Zusammenhang gebracht.
das taBErnakEl aus krEiG
lungskatalog der Slowakischen Nationalgalerie durch.11 Er erkannte, dass weder die
als Mittelfigur überlieferte unbekannte Heilige noch der von Wiese vorgeschlagene
heilige Nikolaus zum originalen Bestand des Retabels gehörten, sondern dass die
Hauptfigur verschollen war.12 Darüber hinaus machte er auf geringfügige Farbreste
aufmerksam, die für eine Bemalung auch der Rückseite der Flügel sprachen. Als
Entstehungsort nahm Glatz Kreig an, und aufgrund des Stils, den er noch der ro11
12
Anton C. Glatz: Gotické umenie v zbierkach Slovenskej národnej galérie. Bratislava 1983
(Fontes I), S. 15–18 (mit detaillierten Hinweisen auf die ältere Literatur). Für eine deutsche Zusammenfassung siehe Anton C. Glatz: Gotische Kunst. In: Kunst der Slowakei.
Ständige Ausstellung der Slowakischen Nationalgalerie, hg. von Juraj Žáry, Bratislava
1995, S. 15, 22–23.
Außer dem heiligen Nikolaus (vgl. Anm. 8) war vorübergehend die Skulptur einer unbekannten Heiligen aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in den Schrein gestellt worden: Bratislava, Slowakische Nationalgalerie, P 141. Glatz Gotické umenie (zit. Anm. 11),
S. 47–48.
Abb. 1: Tabernakel von Kreig/
Vojňany, Zustand bei geöffneten
Flügeln. Bratislava, Slowakische
Nationalgalerie, P 131–134, drittes
Viertel des 13. Jahrhunderts
183
dušan Buran
manischen Tradition zuordnete, schlug er eine Datierung um bzw. kurz nach 1300
vor. Als Vergleichsbeispiel diente ihm ein nur als Fragment erhaltenes Tafelbild aus
Dębno mit zwei Heiligen,13 von dem er annahm, dass es zusammen mit mehreren
Altären erst im 18. Jahrhundert aus seinem slowakischen Ursprungsort in das polnische Grenzgebiet transferiert worden war.14 Mit dieser örtlichen und zeitlichen
Verankerung standen die Reliefs des Tabernakels für Glatz am Anfang der lokalen Zipser Skulpturtradition des 14. Jahrhunderts. An den Einordnungsvorschlag
von Glatz knüpfte Milan Togner an und wies auf die älteste, damals nur teilweise
freigelegte Schicht der Wandmalereien in der Pfarrkirche St. Katharina in Großlomnitz/Veľká Lomnica hin. Togner hielt alle drei Werke ‒ die Wandmalereien, die
Dębno-Tafel und das Kreiger Tabernakel ‒ für Produkte derselben Werkstatt, deren
Tätigkeit er in das späte 13. Jahrhundert bzw. in die Zeit um 1300 datierte.15
Der Kreiger „Schreinaltar“ bildete schließlich den Ausgangspunkt des Beitrags
über Altäre in der bislang letzten zusammenfassenden Darstellung zur gotischen
Kunst in der Slowakei: Robert Suckale und der Verfasser des vorliegenden Beitrages widmeten dem Werk eine Katalognummer und schlugen als ursprüngliche
Mittelfigur eine nicht mehr erhaltene thronende Madonna (sedes sapientiae) vor.
Darin wurde das Werk in die Zeit um 1260 datiert, also wesentlich früher als von
Glatz und Togner vorgeschlagen, und auch deren Lokalisierungsvorschlag und der
Zusammenhang mit der Dębno-Tafel wurde in Frage gestellt.16
13
14
15
16
184
Dębno Podhalańskie, Pfarrkirche St. Michael (deponiert in Kraków, Muzeum Archidijecezalne). – Wawel 1000–2000. Ausstellungskatalog, hg. von Józef Andrzej Nowobilski,
Kraków 2000, Bd. 2, S. 43–45, Bd. 3, Abb. 406.
Glatz, Gotické umenie (zit. Anm. 11), S. 17 (ohne Quellenangabe). Bei dem massiven
Exodus von Kunstwerken aus der Zips nach Kleinpolen handelt es sich um einen Mythos, wie neuere Forschungen zeigen, vgl. zum Beispiel Barbara Ciciora: „Tempore belli
transportata“. Történetek késő gótikus műalkotások vándorlásáról felső-magyarország és
Pogorze között. In: Művészettörténeti Értesítö 50 (2001), S. 117–124.
Milan Togner: Fragment aus Dębno – älteste Tafelmalerei auf polnischem Gebiet und
die Anfänge der Zipser Malerei. In: Umění XLI, 1993, S. 281–286. Auch abgesehen von
dem durch weitere Freilegung der Großlomnitzer Wandmalereien vergrößerten Denkmälerbestand und der damit veränderten Forschungssituation, ist diese Interpretation
nicht unproblematisch. Der Autor erkennt zum Beispiel, dass es wenig plausibel ist,
als ursprünglichen Aufstellungsort des Tafelbildfragments aus Dębno eine Kirche anzugeben, die jünger ist als das Werk selbst ‒ bei dem Tabernakel in Kreig lässt er den
gleichen Umstand jedoch außer Acht. Seinen stilistischen Vergleichen ist nur schwer zu
folgen, und die These, dass eine einzige Werkstatt sowohl Wand- und Tafelmalerei als
auch Skulpturen und Altarschreine ausführte, erscheint ohne eine gründlichere methodische Fundierung etwas willkürlich. Zu den Wandmalereien vgl. zuletzt Milan Togner
/ Vladimír Plekanec: Stredoveká nástenná maľba na Spiši. Bratislava 2012, S. 66–97. Die
Verfasser halten die Wandmalerei mit dem heiligen Nikolaus in Großlomnitz und die
Dębno-Tafel nach wie vor für Arbeiten derselben Werkstatt, jedoch erwähnen sie den
Zusammenhang mit dem Kreiger Tabernakel nicht mehr (hierzu ebd., S. 69).
Dejiny slovenského výtvarného umenia – Gotika, hg. von Dušan Buran, Bratislava
2003, S. 689–690 (Dušan Buran / Robert Suckale). Siehe auch Robert Suckale: Počiatky
gotickej skulptúry. In: ebd., S. 121–127, hierzu S. 126, und János Végh: O krídlových
oltároch. In: ebd., S. 351–363, hierzu S. 358 (der Autor datiert den Altar in das 13. Jahrhundert und hält ihn für ein von den angesiedelten Deutschen importiertes Werk). – Ich
widmete dem Tabernakel eine Katalognummer in dem Jubiläumsband der Slowakischen
Nationalgalerie und bildete Aufnahmen des Altars ab, die während der Restaurierung
das taBErnakEl aus krEiG
Die jüngsten Überlegungen zum Kreiger Tabernakel stellte Zoltán Gyalókay in
seiner 2015 vorgelegten Dissertation über hölzerne Madonnenfiguren aus der ersten
Hälfte des 14. Jahrhunderts vor.17 Im Kapitel über Funktion und liturgischen Gebrauch weist er auf den bereits von János Végh vorgeschlagenen Zusammenhang
mit den steinernen Pfeilernischen der Klosterkirche St. Benedikt/Hronský Beňadik
hin. Er stellt außerdem die Zipser Holzmadonnen ‒ und damit auch das Kreiger Tabernakel ‒ in den ikonographisch-funktionalen Kontext der Elfenbein-Polyptychen französischer Herkunft und einiger Reste monumentaler Altarschreine
des 14. Jahrhunderts in Deutschland (Erfurt, Angermuseum, Schrein-Madonna;
Berlin, Bode-Museum, Schrein mit heiligem Pankratius aus Lübben-Steinkirchen).
Seiner Meinung nach ist das Tabernakel der letzte erhaltene Zeuge einer umfangreichen Altarproduktion des 13. Jahrhunderts in der Zips und, zumindest implizit,
in Kleinpolen.
Die bisherige Forschung konzentrierte sich demnach vor allem auf die kunsthistorische Einordnung des Tabernakels. Über dessen regionale Verankerung konnte keine Einigkeit erzielt werden, doch herrscht ein weitgehender Konsens über
die relativ frühe Entstehungszeit und die daraus folgende Einzigartigkeit, auch im
überregionalen Kontext.
Die in den jüngeren Veröffentlichungen vorgeschlagene frühe Datierung resultiert in erster Linie aus einer neuen Chronologie einer ganzen Reihe von Zipser
Skulpturen: Die zuvor eher der Mitte des 14. Jahrhunderts zugeordneten Madonnen aus Rissdorf/Ruskinovce,18 Toppertz/Toporec19 und Nehre/Strážky20 bilden
eine relativ umfangreiche Gruppe von Skulpturen, die zwar nicht in derselben
Werkstatt entstanden sind, aber vor allem hinsichtlich der Rezeption französischer
gemacht wurden. Hier sind auch die Ergebnisse der dendrochronologischen Analyse
nachzulesen, siehe Slovenská národná galéria. 111 diel zo zbierok / Slovak National Gallery. 111 Works of Art from the Collections, hg. von Dušan Buran / Katarína Müllerová,
Bratislava 2008, S. 44–45.
17 Zoltán Gyalókay: Rzeźby Marii z Dzieciątkiem o francuskiej proweniencji stylowej w
Małopolsce i na Spiszu w pierwszej połowie XIV wieku. Kraków 2015 (Studia z historii sztuki Średniowiecznej Instytutu historii sztuki Universytetu Jagiellonskiego VI),
S. 141–148.
18 Heute: Bratislava, Slovenská národná galéria (Slowakische Nationalgalerie), Inv.-Nr. P
1700.
19 Heute: Budapest, Magyar Nemzeti Galéria (Ungarische Nationalgalerie) bzw. Szépmüvészeti Múzeum (Museum der Bildenden Künste), Inv.-Nr. 55.900.
20 Heute: Bratislava, Slovenská národná galéria (Slowakische Nationalgalerie), Inv.-Nr. P
137. ‒ Hierzu: Gotické umenie (zit. Anm. 11), S. 18–27 (mit älterer Lit.). Die neue Diskussion geht aus von Suckale, Počiatky gotickej skulptúry (zit. Anm. 16), S. 121–127;
Romuald Kaczmarek: Kleinpolen – Schlesien – Zips. Einige Bemerkungen zur Skulptur
am Ende des 13. und im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts. In: Galéria – Ročenka
Slovenskej národnej galérie 2004 / 2005. Bratislava 2006 (Beiträge des Internationalen Colloquiums Gotik in der Slowakei und ihr mitteleuropäischer Kontext), S. 45–56;
Zoltán Gyalókay: Die Madonnenfigur von Dominikowice. Zu den künstlerischen Beziehungen zwischen Kleinpolen und Oberungarn im 14. Jahrhundert. In: ebd., S. 35–43;
Gyöngyi Török: Die Madonna von Toppertz, um 1320–1330, in der Ungarischen Nationalgalerie und das Phänomen der beweglichen Christkindköpfe. In: Annales de la Galerie Nationale Hongroise / A Magyar Nemzeti Galéria Évkönyve 2005–2007, Budapest
2008, S. 76–89 und Gyalókay, Rzeźby Marii (zit. Anm. 17).
185
dušan Buran
Elfenbeinplastik Gemeinsamkeiten aufweisen. Da in den Reliefs des Kreiger Tabernakels von französischen Elementen noch nichts zu spüren ist, sind sie früher
anzusetzen. Dies hat eine dendrochronologische Untersuchung bestätigt, die 1232
als das Jahr festlegt, in dem der Baum gefällt wurde, dessen Holz für das Relief des
heiligen Petrus Verwendung fand.21 Damit wird zwar die wichtige Position der
Reliefs als älteste Holzskulpturen in der Zips belegt, doch wegen fehlender zeitnaher Vergleichsbeispiele lokaler Produktion bleibt die kunstgeographische Frage und
damit die Frage nach ihrer entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung offen: Handelt
es sich um ein vor Ort entstandenes Unikat ohne Vorgänger und Nachfolger oder
nicht vielleicht doch um ein importiertes Werk?
Provenienz
Die erste relativ sichere Information über die Kirche St. Katharina in Kreig als Aufstellungsort des Tabernakels stammt von Kornél Divald, der 1905 eine Zeichnung
des verschließbaren „St. Nikolaus-Retabels“ veröffentlichte.22 Die Bezeichnung
bezieht sich auf die Skulptur des heiligen Nikolaus, die zu einem unbekannten
Zeitpunkt, auf jeden Fall aber nachträglich unter dem Baldachin platziert worden
ist.23 Die archivalische Überlieferung zum Dorf Kreig (in den Quellen auch Krig
oder Kyrig, slowakisch Vojňany, ungarisch Krigh) setzt 1296 ein, also erst einige
Jahrzehnte nach der hier vermuteten Anfertigung des Tabernakels. Sie bietet keine
verwertbaren Hinweise auf dieses Werk.24
Bei der Kirche St. Katharina handelt es sich um den Typus kleiner bis mittelgroßer Dorfkirchen, wie sie, mit geringfügigen Abweichungen, an der Wende
21
186
Die erste dendrochronologische Datierung wurde 2004 durchgeführt: Vladimír Bahýl /
Peter Stadtdrucker / Anna Žideková: Určenie veku artefaktu „oltár z Vojnian“ dendrochronologickou metódou. Technická správa. Zvolen 2004 (Bestandteil der Restaurierungsdokumentation, siehe Hoffstädter, Tabernákulový oltár z Vojnian [zit. Anm. 1]).
Wegen der wenig differenzierten Daten wird die dendrochronologische Untersuchung
im Rahmen einer komplexeren Analyse in der nahen Zukunft wiederholt.
22 Kornél Divald / János Vajdovszky: Szepesvármegye művészeti emlékei. Bd. 1, Budapest
1905, S. 58; vgl.: A „szentek fuvarosa“. Divald Kornél felső-magyarországi topográfiája
és fenyképei 1900–1919, hg. von Ibolya Plank, Budapest 1999, S. 334. Hier wird darauf
hingewiesen, dass der St.-Nikolaus-Altar identisch sein könnte mit dem gleichnamigen
Altar in dem Visitationsprotokoll des Zipser Bischofs Johannes Szigray von 1700, veröffentlicht in Additamenta ad Initia, progressus ac praesens status Capituli Scepusiensis,
hg. von Josephus Hradszky, Szepesváralyae 1903–1904, S. 115–273, hierzu S. 243. – In
den früheren Visitationsberichten tauchen die Altäre in Kreig nicht auf. Vgl. Vladimír
Olejník: Spišské prepošstvo na prelome stredoveku a novoveku II. Visitatio Ecclessiarum Terrae Scepusiensis 1655–1656. Trnava / Kraków 2015. – Mehrere Werke aus der
Katharinenkirche gelangten um 1925 in das Slowakische Museum (später Slowakisches
Nationalmuseum). 1952 wurden sie – samt dem Tabernakelaltar – in den Bestand der
neugegründeten Slowakischen Nationalgalerie überführt (Inv.-Nr. P 131–134; P 135–136,
P 141–142). Nur die Figur des heiligen Nikolaus ist im Bestand des Slowakischen Nationalmuseums verblieben (Inv.-Nr. UH 154).
23 Vgl. Anm. 8.
24 Súpis pamiatok na Slovensku. 3 Bde., hg. von Alžbeta Güntherová-Mayerová, Bratislava
1968–1969, hierzu Bd. 3, S. 414.
das taBErnakEl aus krEiG
vom 13. zum 14. Jahrhundert auch in anderen Orten der Region entstanden sind.
Als Beispiele lassen sich die Kirchenbauten der unweit gelegenen Dörfer Toppertz/
Toporec, Kreuz/Krížová Ves, Richwald/Veľká Lesná, Großlomnitz/Veľká Lomnica,
Kleinlomnitz/Lomnička, oder Matzan/Matiašovce anführen.25 Von der Erstausstattung dieser Gotteshäuser ist so gut wie nichts überliefert, und die ältesten Schichten der in einigen Fällen erhaltenen Wandmalereien zeigen in ihrem narrativen
Anspruch einen anderen, bereits dynamischeren Figurenstil als das Tabernakel.26
Das legt auch für die jeweiligen Bauten und die mit ihnen in Verbindung stehende
Kirche in Kreig eine spätere Datierung nahe. Es erscheint deshalb unwahrscheinlich, dass das Tabernakel von Anfang an für St. Katharina bestimmt war, auch wenn
wegen des lückenhaften Denkmälerbestandes vor allem aus dem 13. Jahrhundert
eine sichere Aussage kaum zu treffen ist.27
Geht man von einer lokalen, Zipser Herkunft des Tabernakels aus, kommen
im Grunde nur zwei Bauten in Betracht, in denen bereits im dritten Viertel des
13. Jahrhunderts Werke dieser Qualität beheimatet gewesen sein können: die im
Jahr 1209 urkundlich belegte romanische Propsteikirche St. Martin im Zipser Kapitel/Spišská Kapitula28 und die 1223 gegründete Zisterzienserabtei in Schevnyk/
Spišský Štiavnik, bei der es sich um eine Tochtergründung von Morimond handelte und deren Klosterkirche der Jungfrau Maria geweiht war.29 Die ursprüngliche
Ausstattung beider Kirchen könnte seit dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts für
andere Verwendungen zur Verfügung gestanden haben. Die Kapitelkirche wurde
zwischen 1470 und 1480 baulich erweitert und mit mindestens fünf neuen Retabeln bestückt.30 Die Zisterzienserkirche in Schevnyk wurde 1433 von den Hussiten
geplündert, und die meisten Mönche scheinen das Kloster verlassen zu haben, das
sich davon nicht mehr erholte. Nachdem die Gebäude 1530 erneut ausgebrannt
sind, wird es 1531 in einer Urkunde als verlassen bezeichnet.31 Heute belegen neben
25
26
27
28
29
30
31
Zu den erwähnten Kirchen siehe Denkmalinventare Súpis pamiatok (zit. Anm. 24),
Bd. 3, S. 292 (Toporec), Bd. 2, S. 146 (Krížová Ves); Bd. 3, S. 369 (Veľká Lesná); Bd. 2,
S. 305 (Matiašovce); Bd. 3, S. 370–371 (Veľká Lomnica).
Großlomnitz/Veľká Lomnica, mindestens drei Schichten in der Sakristei und im Chor,
spätes 13. Jahrhundert bzw. Anfang des 14. Jahrhunderts, siehe Togner/Plekanec, Stredoveká nástenná maľba (zit. Anm. 15), S. 66–96.
Allgemein zur Kunst bzw. Skulptur des 13. Jahrhunderts in Mitteleuropa siehe Ernő
Marosi: Die Anfänge der Gotik in Ungarn. Esztergom in der Kunst des 12.–13. Jahrhunderts. Budapest 1984, hierzu vor allem S. 167–180; für die Situation in Böhmen siehe Aleš
Mudra: Kapitoly k počátkům řezbářské tradice ve střední Evropě. Řezbářství 13. století v
Čechách a na Moravě. Praha 2006.
Katedrála sv. Martina v Spišskej Kapitule, hg. von Magdaléna Janovská / Vladimír Olejník, Spišské Podhradie 2017; vgl. auch Terra Scepusiensis – Terra Christiana 1209–2009.
Spišský hrad, Spišská Kapitula. Dve centrá v dejinách Spiša. Ausstellungskatalog, hg.
von Mária Novotná, Levoča 2009.
Für die Architektur vgl. Bibiana Pomfyová: Spišský Štiavnik. Zaniknutý cisterciánsky
Kláštor Panny Márie. In: Stredoveký kostol. Historické a funkčné premeny architektúry
I, hg. von Bibiana Pomfyová, Bratislava 2015, S. 556–558 (mit älterer Literatur); zur Quellenlage und Geschichte vor kurzem Pavol Jakubčin: Kláštor cistercitov v Spišskom Štiavniku. Trnava 2017 (Monasteriologia Slovaca III).
Mária Novotná: Umeleckohistorické diela. In: Janovská / Olejník, Katedrála sv. Martina
(zit. Anm. 28), S. 274–302.
Jakubčin, Kláštor cistercitov (zit. Anm. 29), S. 58–61.
187
dušan Buran
den Schriftquellen nur archäologische Untersuchungen seine Existenz. Über die
Ausstattung der Klosterkirche schweigen die Quellen, auch die Visitationsprotokolle enthalten keinerlei Hinweise auf Verkauf oder Weitergabe von liturgischem
Mobiliar. Die Bedeutung der Abtei für die frühgotische Architektur und Skulptur in der Zips konnte jedoch anhand mehrerer Sakralbauten aus der Umgebung
nachgewiesen werden, bei deren Errichtung und Ausstattung Elemente der älteren
Anlage rezipiert wurden.32 Für die Entwicklung der Retabel kann wegen der fehlenden Denkmäler keine vergleichbare Vorbildwirkung dokumentiert werden, doch
dürften wie in anderen europäischen Regionen33 auch in der Zips die Zisterzienser ‒ trotz der kritischen Einstellung des Ordensgründers Bernhard von Clairvaux
zu Bildwerken ‒ als bedeutende Förderer christlicher Kunst aufgetreten sein und
eine wichtige Rolle in deren Entwicklung gespielt haben. Eine gute Vorstellung
nicht nur von der künstlerischen und technischen Qualität, sondern auch von den
Funktionen von Holzskulpturen in der Liturgie der Zisterzienser in der Zeit um
1300 vermittelt zum Beispiel die Ausstattung der norddeutschen Klosterkirche in
Doberan.34
Für eine relativ frühe Präsenz des Tabernakels in Kreig bzw. in dessen näherer
Umgebung lassen sich ebenfalls Argumente anführen: So stammen zwei um die
Mitte des 14. Jahrhunderts entstandene Tafeln mit je zwei weiblichen Figuren aus
St. Katharina in Kreig. Sie wurden in den 1920er Jahren in das Slowakische Nationalmuseum und nach dem zweiten Weltkrieg in die Nationalgalerie überführt
(Abb. 2).35 Auch wenn sie offensichtlich jünger sind, scheint die architektonische
Struktur der Flügel im Wesentlichen die des Kreiger Tabernakels aufzugreifen, das
demnach vor Ort zugänglich gewesen ist. Drei weitere Reliefs der Heiligen Katharina, Margarete und Agnes(?), die aus dem benachbarten Dorf Maldur/Podhorany
stammen und sich heute in der Ungarischen Nationalgalerie bzw. im Museum der
Bildenden Künste befinden,36 stellen einen weiteren Anhaltspunkt für eine mögliche lokale Produktion dar. Ihr originaler Kontext ist zwar unklar, aber sie entsprechen in ihrer Funktionalität weitgehend den genannten Altarflügelreliefs. Es
könnte sich bei diesen Werken durchaus um die Reste einer geschlossenen lokalen
Entwicklung des Mediums der ganzfigurigen Heiligen im Relief handeln, die von
einem bestimmten Prototypen ‒ möglicherweise vom Kreiger Tabernakel ‒ ausging
und diese Form des liturgischen Möbels nach und nach etablierte.
32
33
188
Pomfyová, Spišský Štiavnik (zit. Anm. 29), S. 558.
Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Zisterzienser vgl. Die Zisterzienser. Das Europa der Klöster. Ausstellungskatalog, hg. von Lothar Altringer u. a., Bonn 2017, weiterhin
insbesondere Annegret Laabs: Malerei und Plastik im Zisterzienserorden. Zum Bildgebrauch zwischen sakralem Zeremoniell und Stiftermemoria 1250–1430. Petersberg 2000.
34 Ebd., S. 19–29, 74–84, 97–102; vgl. außerdem Norbert Wolf: Deutsche Schnitzretabel
des 14. Jahrhunderts. Berlin 2002, S. 22–39 und die Studien des jüngst erschienenen
Tagungsbandes Die Ausstattung des Doberaner Münsters. Kunst im Kontext, hg. von
Gerhard Weilandt / Kaja von Cossart, Petersberg 2018.
35 Bratislava, Slowakische Nationalgalerie, P 135–136. Vgl. Glatz, Gotické umenie (zit.
Anm. 11), S. 27–29.
36 Budapest, Magyar Nemzeti Galéria (Ungarische Nationalgalerie) bzw. Szépművészeti
Múzeum (Museum der Bildenden Künste), Inv.-Nr. 55892.1–3. Vgl. Ungarische Nationalgalerie. Alte Sammlung, hg. von Miklós Mojzer, Budapest 1984, [unpag.] Kat. 13 (Gy.
Török). Die Montage des „Trios“ gemeinsam auf einer Tafel ist modern.
das taBErnakEl aus krEiG
Abb. 2: Zwei Flügel eines jüngeren Altars aus Kreig/Vojňany.
Slowakische Nationalgalerie,
Mitte des 14. Jahrhunderts
Auch wenn die Frage nach dem Ursprung des Tabernakels bisher nicht zufriedenstellend zu beantworten ist, kann man mit Anton Glatz davon ausgehen, dass der
Kreiger Tabernakelaltar in der Entwicklung und Typologie der Zipser Skulptur des
14. und 15. Jahrhunderts einen Anfang markiert.37 Für Richtung und das Ende der
Entwicklung stehen zum Beispiel Werke wie das Reliquiar-Triptychon38 der Dominikaner in Kaschau/Košice aus der Zeit um 1360 und der St.-Kosmas- und Damian-Altar39 von Šiba (Ostslowakei) aus dem späten 14. Jahrhundert.40
Restaurierungen und Beobachtungen zur Technik
Der Tabernakelaltar aus Kreig wurde mehrfach überarbeitet und im Zuge dessen
auch häufig mit Farbe ausgebessert, wobei die originale Fassung in der Regel res-
37 Glatz, Gotické umenie (zit. Anm. 11), S. 16 f.
38 Der Mittelteil des Triptychons befindet sich im Ostslowakischen Museum in Kaschau
(Východoslovenské múzeum Košice) (Inv.-Nr. S 2397); die beiden Flügel hingegen gelangten in die Sammlung der Ungarischen Nationalgalerie (Budapest, Magyar Nemzeti
Galéria), heute auch Szépművészeti Múzeum (Budapest, Museum der Bildenden Künste), Inv.-Nr. F 6524.
39 Košice (Kaschau), Východoslovenské múzeum (Ostslowakisches Museum), Inv.-Nr.
S 195/1‒11.
40 Gotické umenie z Košických zbierok. Ausstellungskatalog, hg. von Anton C. Glatz, Bratislava / Košice 1995, S. 24–26, 95–97 (Anton C. Glatz); vgl. Végh, O krídlových oltároch
(zit. Anm. 16), S. 357–360, Abb. S. 352.
189
dušan Buran
Abb. 3: wie Abb. 1, halb
geschlossener Zustand
pektiert wurde. Um die Farben zu konservieren, hat man bei der vorletzten Restaurierung in den 1970er Jahren die vier Flügel mit einer Wachsschicht überzogen, von
der sie bei der letzten, 2015 abgeschlossenen Restaurierung wieder befreit wurden.41
Die älteste Farbschicht, zu der auch das Inkarnat gehört, blieb dennoch in verhältnismäßig großem Umfang erhalten, während von der Silberfolie des Hintergrundes, die ursprünglich mit einer gelblichen Lasur überzogen gewesen war, nur noch
wenig vorhanden ist (Abb. 3).42
Die architektonischen Teile des Altars bestehen aus Nadelholz, die Relieffiguren
hingegen sind aus Lindenholz geschnitzt. Dies und Reste einer älteren(?) Fassung
veranlassten den Restaurator zu der Vermutung, die Figuren seien erst in zweiter
Verwendung auf die Flügel montiert worden.43 Ich denke jedoch, dass der Materialunterschied und Unstimmigkeiten in der Anbringung der Figuren auf einen
Herstellungsprozess zurückzuführen sind, bei dem Bildschnitzer und Schreiner getrennt arbeiteten.44
190
41 Hoffstädter, Tabernákulový oltár z Vojnian (zit. Anm. 1).
42 Zur Verwendung von Lasuren im weiteren Umfeld vgl. Peter Tångeberg: Mittelalterliche
Holzskulpturen und Altarschreine in Schweden. Studien zu Form, Material und Technik. Stockholm 1986, S. 78.
43 Eine Beobachtung, die bereits 1938 in dem Prager Katalog geäußert wurde – Umění na
1938 (zit. Anm. 5), S. 28.
44 Ähnliche Arbeitsabläufe wurden auch bei den meisten skandinavischen Tabernakeln do-
das taBErnakEl aus krEiG
Die Figuren haben jeweils einen gemalten roten Heiligenschein, dessen Rand
eine einfache Bogenreihe ziert (Abb. 4–6). Der Heiligenschein auf der Rückwand
des Schreins ist größer, im Übrigen aber annähernd identisch angelegt. Er gehörte
zu der davor aufgestellten Madonna, deren Gestalt noch in der sich nach oben
verjüngenden Form der Farbaussparung zu erahnen ist.
Das Formvokabular der Flügel und des Schreins erscheint auf den ersten Blick
einheitlich: Die Figuren stehen jeweils unter einem spitzen Kleeblattbogen, ähnlich
dem flacher angelegten Bogen, der den Giebel des Schreins trägt, dessen Schmalseiten vergleichbar aufgebaut sind. Die Ornamentik der Flügel und des Baldachins
wird von gemalten rundbogigen Fenstern sowie Drei- und Vierpässen dominiert.
Doch gibt es auch Unterschiede, die die Vermutung aufkommen lassen, dass es sich
um Bestandteile unterschiedlicher, wenn auch zeitnah angefertigter Altäre handelt,
die erst in Zweitverwendung zusammengefügt worden sind. Im Prinzip sind es drei
Aspekte, die in diese Richtung deuten: die vom Giebel des Baldachins abweichende
Form der Flügel, die zwar perfekt verschließbar sind, doch den Baldachin-Giebel
nicht restlos abdecken (Abb. 18); die Farbkombination aus Weiß, Schwarz und Rot,
die für den Baldachin verwendet wurde und mit der auf Rot, Grün und Schwarz
abgestimmten Farbigkeit der Flügel kontrastiert (Abb. 1, 7, 8); das weiße Rankenornament auf den rahmenden Seitenleisten des Schreins (Abb. 8), das auf den Flügeln
nicht vorkommt. Während man die kleineren Unstimmigkeiten auf die arbeitsteilige Herstellung in einer Werkstatt zurückführen kann, ist demnach bei der Rekonstruktion der ursprünglichen Intention und möglicher späterer Veränderungen
Vorsicht geboten. Bis weitere naturwissenschaftliche Analysen vorliegen, müssen
diesbezügliche Fragen offenbleiben.45
Wovon man aber mit guten Gründen ausgehen kann, ist die ursprüngliche Aufstellung einer thronenden Madonna in der Mitte des Schreins. Neben dem Heiligenschein und der Form der Farbaussparung an der Rückwand sprechen auch vier
Löcher für diese These, die als Spuren einer ehemaligen Befestigung der Skulptur ‒
vermutlich mit dünnen Dübeln46 ‒ interpretiert werden können. Sie befinden sich
am unteren Rand sowie ungefähr auf der Höhe einer Sitzbank. Eine Fotomontage
mit einer wohl aus Süddeutschland stammenden sedes sapientiae in der Sammlung
der Slowakischen Nationalgalerie zeigt, wie dies ausgesehen haben könnte (Abb. 9).
Die gedrehten Säulen des Tabernakels sind eine Rekonstruktion, die auf einem
Fragment der linken Säule beruht, von der ungefähr das obere Drittel erhalten ist
kumentiert, siehe Tångeberg, Mittelalterliche Holzskulpturen (zit. Anm. 42), S. 32–41;
zum weiteren Kontext vgl. auch Peter Tångeberg: Retabel und Altarschreine des 14. Jahrhunderts. Schwedische Altarausstattungen in ihrem europäischen Kontext. Stockholm
2005.
45 Die Forschung an dem Kreiger Tabernakel wird noch fortgesetzt. Weitere Erkenntnisse
aus der C14-Radiokarbonanalyse sind von Peter Barta, Philosophische Fakultät der Comenius Universität in Bratislava, zu erwarten. Es wurden Stichproben sowohl vom Holz
der Flügel, der Reliefs und des Schreins, als auch von den Textilien vom Baldachin und
von einem der Flügel gemacht. Darüber hinaus ist die Untersuchung der chemischen
Zusammensetzung der Pigmente geplant.
46 Die Position dieser Löcher und ihre Abstände stimmen nicht mit denen auf der Rückseite der Skulptur des heiligen Nikolaus überein, die nachträglich unter den Baldachin
– wohl ohne Befestigung – gestellt wurde, wo sie sich noch im frühen 20. Jahrhundert
befunden hat (vgl. Anm. 8).
Abb. 4: wie Abb. 1, heiliger Petrus
(Detail)
Abb. 5: wie Abb. 1, heiliger Paulus
(Detail)
Abb. 6: wie Abb. 1, weibliche
Heilige mit Palmzweig (Detail)
191
dušan Buran
Abb. 7: wie Abb. 1, Flügel mit
dem heiligen Paulus
Abb. 8: wie Abb. 1, Schrein des
Tabernakels
(Abb. 8). Neu ist auch die Bodenplatte, die gemeinsam mit den Säulen das Werk
soweit stabilisiert, dass es ohne weitere Abstützung stehen kann.47
Sowohl am Baldachin als auch an den Flügeln haben sich Reste von unterschiedlichen gewebten Leinenarten erhalten. Das Dach des Baldachins war zur Festigung
der Konstruktion nahezu vollständig mit Stoff bezogen, der von der Farbfassung
überdeckt wurde (Abb. 10). Ein zunächst unauffälliger Stab, der aus der linken Seite
des Daches ragt (Abb. 11), ist der Rest eines ursprünglich reichen Aufsatzes, dessen
Form man anhand von Vergleichsbeispielen als krönende Bogenreihe rekonstruie-
192
47 Zwar lässt sich dies nicht mehr nachweisen, doch sehr wahrscheinlich ruhte auch das
Kreiger Tabernakel ursprünglich auf einem mittleren Sockel, wie es mehrere der erhaltenen schwedischen Altarschreine zeigen, vgl. Tångeberg, Mittelalterliche Holzskulpturen
(zit. Anm. 42), S. 35–40.
das taBErnakEl aus krEiG
Abb. 9: wie Abb. 1, Rekonstruktionsvorschlag des Altarschreins
unter Verwendung einer zeitgenössischen, digital der Größe des
Schreins angepassten Madonna
(Bratislava, Slowakische Nationalgalerie, P 2699)
ren kann (Abb. 9).48 Dieses angestückte „Gesprenge“ ist vermutlich einer späteren
Nutzung des Altarschreins zum Opfer gefallen.49
Ähnlich wie die oben beschriebene Rekonstruktion der Säulchen tragen auch
die neu angebrachten Eisenhaken und -ringe zur Rekonstruktion der ursprünglichen Funktionalität bei, zu der das Schließen und Öffnen des Tabernakels gehörte
(Abb. 7, 8). Die Fragmente von ledernen Riemchen an den Flügeln und an der
Rückwand des Schreins, bei denen es sich um Reste von relativ primitiven Scharnieren handelt, wurden nicht rekonstruiert. Zum einen lässt sich nicht bestimmen,
aus welcher Zeit sie stammen und zum anderen muss man gerade für die besonders beanspruchten Gelenke mit mehrfachen Reparaturen in der Vergangenheit
rechnen. Darauf deuten Beschädigungen der Farbfassung gerade im Bereich der
48 Vgl. die Gestalt eines jüngeren Reliquiar-Altärchens der Sammlung des Germanischen
Nationalmuseums in Nürnberg von ca. 1360, Inv.-Nr. KG 1, dessen zentraler Schrein
oberhalb des Giebels von einem ähnlichen Aufsatz geziert wird: http://objektkatalog.
gnm.de/objekt/KG1.
49 Doch kamen im 13. Jahrhundert bei der Gestaltung der Altarschreine bzw. ihrer Baldachine verschiedene Varianten zum Einsatz. So zeigt zum Beispiel der rekonstruierte
Tabernakelaltar aus Hedalen (Norwegen, Stabkirche, Retabel am Hochaltar) bereits
ca. 1240–1260 einen aufwendigen Aufsatz in Form einer kirchturmähnlichen Architektur, siehe Katja Kollandsrud: Systematic Mapping of Norwegian Polychrome Wooden
Sculpture, Dating from 1100 to 1350. In: Polychrome Skulptur in Europa. Technologie.
Konservierung. Restaurierung, Dresden 1999, S. 40–46, hierzu S. 42‒43. Ein nordfranzösisches Beispiel aus der St. Blasius Kirche zu Grandrif (Puy-de-Dôme): Les Premiers
Retables (XIIe – début du XVe siècle). Une mise en scène du sacré. Ausstellungskatalog,
hg. von Pierre-Yves Le Pogam, Paris 2009, S. 68 f.
Abb. 10: wie Abb. 1, Dach des
Baldachins mit Stoffbezug
Abb. 11: wie Abb. 1, Rest des
originalen Dachaufsatzes
193
dušan Buran
Flügelkanten hin. Es stellt sich die Frage, ob ein häufiges Schließen und Öffnen der
fragilen Konstruktion überhaupt möglich und vorgesehen war.
Rekonstruktion des Programms
Abb. 12: wie Abb. 1, unbekannte
Heilige, Detail von der Farbfassung des Untergewandes
194
Gehen wir vom Erhaltenen aus: Die vier Flügel tragen jeweils eine Heiligenfigur, die
in eine flache Nische eingepasst ist und barfüßig auf einer Konsole steht (Abb. 1).
Auf den beiden äußeren, hierarchisch höher zu bewertenden Flügeln erkennt man
links Petrus, identifizierbar dank Schlüssel und Buch, und rechts Paulus, ebenfalls
mit einem Buch in der einen und dem Griff des ansonsten verlorenen Schwerts
in der anderen Hand. Die wahrscheinlich weiblichen Heiligen auf den inneren
Flügeln konnten bisher nicht eindeutig identifiziert werden. Die linke hält einen
Palmzweig und einen Apfel,50 die Attribute der rechten sind nicht mehr vorhanden.
Alle vier Heiligen sind streng frontal dargestellt. Die beiden linken tragen jeweils
ein Gewand in kräftigem Rot und darüber einen Mantel, dessen farbige Fassung
wegen der Verluste schwer zu rekonstruieren ist. Die meisten Farbfragmente haben
jedoch einen olivgrünen Ton. Auf den Flügeln der gegenüberliegenden Seite wiederholt sich diese Farbkombination, nur wurde hier Grün für die Untergewänder
und Rot für die darüber getragenen Kleidungsstücke verwendet. An mehreren Stellen, besonders deutlich an den V-förmigen Halsausschnitten, ist eine Konturierung
der Säume mit schwarzen Linien sichtbar (Abb. 4–6), und auf dem grünen Kleid
der rechts angeordneten weiblichen Heiligen lässt sich eine Musterung aus roten
Punkten erkennen, die in Dreiergruppen angeordnet sind (Abb. 12). Während Petrus und die rechte Heilige einen Teil ihres Umhangs so angehoben haben, dass
die Stoffbahnen diagonal vor ihrem Körper verlaufen, sind die Mäntel der beiden
anderen Heiligen in senkrechte parallele Falten gelegt. Durch diese Variationen
in der Kombination der wenigen Farben und der auf zwei Motive beschränkten
Gewandkompositionen entsteht der Eindruck einer abwechslungsreich gestalteten
Heiligenreihe.
Die meisten Tabernakel bzw. Altarschreine, die aus dem 13. Jahrhundert überliefert sind, zeigen auf den Flügeln Szenen aus dem Leben Mariens oder anderer
Heiliger. Das Tabernakel aus Kreig ist tatsächlich das einzige mir bekannte Beispiel,
das auf jedem Flügel nur eine Figur zeigt.51 Am nächsten stehen ihm Beispiele,
50 Glatz, Gotické umenie (zit. Anm. 11), S. 15 identifiziert sie hypothetisch mit der heiligen
Agnes von Rom, was sich allerdings allein anhand dieser Attribute nicht sicher belegen
lässt. Vgl. Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. von Wolfgang Braunfels, Rom /
Freiburg / Basel / Wien 21994, Bd. 5, Sp. 58–63 (K. Zimmermanns).
51 Nur einige wenige gemalte Altartafeln zeigen schon früher ein vergleichbares Arrangement. Ein Beispiel aus Italien ist das Salvator-Triptychon von Viterbo mit je einer Heiligenfigur pro Flügel, siehe Klaus Krüger: Der frühe Bildkult des Franziskus in Italien.
Gestalt- und Funktionswandel des Tafelbildes im 13. und 14. Jahrhundert. Berlin 1992,
Abb. 143 f. Aus Deutschland lässt sich die noch in die Zeit um 1170–1180 zu datierende
Tafel von Soest oder die um 1260 entstandene Gnadenstuhl-Tafel (heute: Berlin, Gemäldegalerie, Inv.-Nr. 1216B) von ebendort anführen. In beiden Fällen wird die zentrale
Darstellung von ganzfigurigen Heiligen flankiert. Stephan Kemperdick: Altar Panels in
Northern Germany, 1180–1350. In: The Altar and its Environment 1150–1400, hg. von
Justin E. A. Kroesen / Victor M. Schmidt, Turnhout 2009, S. 125–146. Zu den ikono-
das taBErnakEl aus krEiG
Abb. 13: Westportal der Kirche
des Zisterzienserinnenklosters
Tischnowitz/Předklášteří u Tišnova (Mähren), vor 1240
die die Apostel oder andere Heilige in zwei Registern präsentieren (zum Beispiel
Norra Ny52, Fröskog53 und Dädesjö54 in Schweden).55 Erst im Verlauf des 14. Jahrhunderts wurden die Flügel zunehmend einzelnen Figuren vorbehalten, was eine
Nivellierung des hierarchischen Unterschieds zwischen Schrein- und Flügelfiguren
zur Folge hatte und wohl mit einer Anlehnung an die Architekturplastik zusammenhängt, insbesondere an die Skulpturenportale der Gotik. Als eine geographisch
naheliegende Analogie lässt sich das Portal des Zisterzienserinnenklosters Tischnowitz (Předklášteří u Tišnova) in Südmähren anführen (Abb. 13).56 Dieser Bezug ist
sicher auch für die Interpretation des Tabernakelaltars von Bedeutung, was hier
aber nicht im Detail erörtert werden kann.
graphischen Varianten siehe auch Les Premiers Retables (zit. Anm. 49), S. 51–83. Einen
Überblick zur Verbreitung der Heiligenreihen in einem Register an späteren Altären
bietet Wolf, Deutsche Schnitzretabel (zit. Anm. 34), S. 69–79 (Kirchdornberg, erstes
Drittel des 14. Jahrhunderts und Bosau, um 1335).
52 Norra Ny (Schweden, Värmland), Pfarrkirche, Marienschrein, Seitenaltar.
53 Schreinaltar aus Fröskog, heute in: Stockholm, Statens Historiska Museum (Staatliches
historisches Museum), Inv.-Nr. 14965.
54 Dädesjö (Schweden, Småland), Alte Kirche (Gamla Kyrka), St. Olof Seitenaltar.
55 Tångeberg, Mittelalterliche Holzskulpturen (zit. Anm. 42), S. 33–37. Alexandra Fried:
The Swedish Madonnas: A Comparative Study of Wooden Sculptures of the Virgin
and Child between 1250 and 1350. Dissertation, Leicester University 2012, Abb. 59, 61,
109, 112–115, 158‒159 und die entsprechenden Katalognummern; Elisabeth Andersen:
Madonna Tabernacles in Scandinavia c. 1150 – c. 1350. In: Journal of the British Archaeological Association 168 (2015), S. 165–185; Donald L. Ehresmann: The Iconography of the
Cismar Altarpiece and the Role of Relics in an Early Winged Altarpiece. In: Zeitschrift
für Kunstgeschichte 64 (2001), S. 1–36, hierzu S. 31 (Abb. 33).
56 Zuletzt Aleš Flídr: Stavební omyly, záměrné návraty či snahy po modernitě? Osudy nejen západního portálu baziliky Porta coeli v Předklášteří u Tišnova. In: Opuscula historiae artium 59 (2010), S. 4–29 (mit Literaturhinweisen).
195
dušan Buran
Abb. 14: Elfenbeintabernakel.
New York, Metropolitan Museum
of Art, Frankreich, viertes Viertel
des 13. Jahrhunderts(?)
Abb. 15: Wandaltar mit der Thronenden Madonna, flankiert von
Heiligen. Rom, Santa Balbina,
um 1280
Leider ist es bisher nicht gelungen, die verlorene Hauptfigur des Kreiger Altarschreins aufzuspüren. Dafür, dass es sich um eine thronende Madonna gehandelt haben könnte, sprechen die bereits vorgestellten Spuren der Befestigung und
die Farbaussparung an der Rückwand. Auch die architektonische Form des Baldachins kann in diese Richtung interpretiert werden: Sie verweist auf die Vierung
einer Kirche und würde eine darunter befindliche Madonna als Ecclesia inszenieren.57 Hierzu passen die Heiligen Petrus und Paulus, die unter anderem die Patrone
der Lateranbasilika in Rom sind.58 Die Giebelform selbst war in der bildenden
Kunst des 13. und 14. Jahrhunderts eine wichtige, bedeutungstragende Form. Klaus
Krüger hat in seiner Arbeit über die ältesten Franziskustafeln gezeigt, wie in der
italienischen Malerei des 13. Jahrhunderts das Prinzip des Tabernakels absorbiert
wurde und die gemalten Giebel der ältesten Franziskustafeln auf den Typus des
Altarschreins rekurrieren. Auch die Inszenierung der Ognissanti-Madonna Giottos,
die zudem unter einen reich instrumentierten Baldachin platziert ist, kann als Erbe
der Marientabernakel bezeichnet werden.59 In anderen Medien sind Madonnenbilder, die die Gottesmutter in einer schreinartigen Architektur präsentieren, ebenfalls
bereits vor 1300 häufiger nachweisbar, einschließlich der flankierenden Heiligen
Petrus und Paulus:60 Entsprechende Werke in Form von Goldschmiedearbeiten,
Elfenbeinskulpturen (Abb. 14) sowie Buch-, Tafel- und Wandmalerei sind erhalten
geblieben (zum Beispiel Abb. 15). Bei der Auswahl zusätzlicher Heiliger gibt es eine
große Variationsbreite. Hier dürften die jeweiligen Patrone der Kirche oder der
Auftraggeber ebenso eine Rolle gespielt haben wie regionale Vorlieben.
57
196
Buran / Suckale (zit. Anm. 16). Im Kontext von Retabeln untersuchte die Schreinmadonnen Wolf, Deutsche Schnitzretabel (zit. Anm. 34), S. 296–299. Vgl. auch Fried, The
Swedish Madonnas (zit. Anm. 55), passim.
58 Wenn es sich bei einer der weiblichen Heiligen des Kreiger Tabernakels tatsächlich um
die heilige Agnes handelt, würde das den „römischen Bezug“ der Ikonographie noch
stärken.
59 Krüger, Der frühe Bildkult (zit. Anm. 51), hierzu S. 17–24, 82–96, vgl. auch den Katalog
der erhaltenen Madonnenschreine des 13. und 14. Jahrhunderts, S. 219–230.
60 Zu den romanischen und frühgotischen Altären vgl. Les Premiers Retables (zit.
Anm. 49), S. 21–29.
das taBErnakEl aus krEiG
Abb. 16: Tabernakel aus Kreig
(wie Abb. 1), architektonischer
Dekor des Flügels mit dem heiligen Paulus
Abb. 17: Apostelreihe (Detail). Sillein/Žilina (Slowakei),
St. Stephanskirche, Ende des
13. Jahrhunderts
Auch wenn die Seitenflügel des Schreins von den Heiligen dominiert werden,
sollte die dekorative Rahmung der Reliefs nicht ganz aus dem Blick geraten. Sie ist
durchaus anspruchsvoll gemacht. So wurden die rund- oder spitzbogig begrenzten Flächen oberhalb der Heiligen durch gemalte architektonische Elemente weiter strukturiert. Der gelblich lasierte Grund, vor dem sich die Heiligen befinden,
wird oben durch rot konturierte Kleeblattbögen abgeschlossen, deren mittlerer Bogen spitz zuläuft. Darüber sind auf grünem Grund schmale Doppelfenster sowie
Drei- und Vierpässe angedeutet (Abb. 16). Vergleichbare architektonische Rahmen
lassen sich bis in die Spätantike zurückverfolgen und sie waren in der Mitte des
13. Jahrhunderts in Skulptur, Wand- und Buchmalerei durchaus üblich. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde das Motiv auch für die
mitteleuropäische Wandmalerei adaptiert, meistens in Form von Arkadenreihen,
wie zahlreiche Beispiele in der Zips und in angrenzenden Regionen zeigen (unter
anderem Sillein/Žilina,61 spätes 13. Jahrhundert, Abb. 17; Pudlein/Podolínec,62 erste
61 Pfarrkirche St. Stephan.
62 Pfarrkirche Maria Himmelfahrt.
197
dušan Buran
Hälfte des 14. Jahrhunderts).63 Die Ordnung der Fläche mithilfe architektonischer
Formen war jedoch keinesfalls nur Dekoration. Ihre Bedeutung hat vielleicht am
treffendsten Oleg Grabar beschrieben: „Images of architecture […] were shown to
be unusually rich in their variants, but also psychologically and emotionally active
as protectors of the holy and of the valuable; organizers into hierarchies, and glorifiers of the powerful, the rich, or the significant.“64
Schlussbemerkung: Funktion und überregionaler Kontext
Ohne ins Detail gehen zu wollen, sei am Ende noch die Frage nach der Nutzung
des Tabernakels aus Kreig gestellt. War es tatsächlich konstruiert worden, um das
Schließen und Öffnen anlässlich der Fastenzeit bzw. der Kirchenfeste zu ermöglichen, wie man, ausgehend von den spätgotischen Flügelaltären, vermutet hat?
Oder handelt es sich hier um eine Projektion späteren Gebrauchs, der für das ältere
Tabernakel noch keine Rolle spielte?
Die schmucklosen Rückseiten der Flügel sorgen dafür, dass das Kreiger Tabernakel im geschlossenen Zustand nur geringe visuelle Präsenz in einem Kirchenraum
beansprucht (Abb. 18). Man hat vielmehr den Eindruck, dass seine wichtigste Aufgabe darin bestand, die Skulptur in seinem Inneren zu schützen, gleichsam den
Blicken der Gläubigen temporär zu entziehen. Umso wirkungsvoller konnte dann
bei festlichen Gelegenheiten die von wichtigen Heiligen begleitete Gottesmutter
in Szene gesetzt werden. Dank der Forschungen von Peter Tångeberg und Andrea
Fried sind wir verhältnismäßig gut über die Funktionen der skandinavischen, insbesondere der schwedischen Altarschreine des 13. und 14. Jahrhunderts informiert.
Von dort gibt es besonders viele Baldachinaltäre, die eine Madonna oder die Skulptur eines anderen Heiligen beherbergen, sodass auch sie eher wie das Behältnis für
ein kostbares Kleinod wirken und ihre Funktion nicht mit jener der späteren Altäre vergleichbar scheint.65 Tatsächlich wurden die konstruktiven Elemente der Altarschreine, die seltener erhalten blieben als die zugehörigen Madonnen, mehrfach
überarbeitet, um sie den veränderten Funktionen anzupassen ‒ wie das auch beim
Kreiger Tabernakel der Fall ist, dessen letzte dokumentierte Mittelstatuen zudem
ganz offensichtlich nicht zu seinem originalen Programm gehörten.
In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, die frühen Altarschreine den
zeitgenössischen Elfenbeintriptychen (oder -polyptychen) französischer Herkunft
198
63 Zu Wandmalerei in Sillein siehe Dušan Buran: Nástenné maľby v Kostole sv. Štefana v
Žiline. In: Pamiatky a múzeá 59 (2010), S. 14–19 (mit älterer Literatur); zu Pudlein siehe
Togner / Plekanec, Stredoveká nástenná maľba (zit. Anm. 15), S. 246–253 (mit Literatur).
Die beiden Freskenkomplexe wurden übermalt, teilweise stark. Dennoch lassen sich
besonders für die Pudleiner Wandmalereien (um 1350?) den architektonischen Motiven
des Kreiger Altarschreins verwandte Formen nachweisen, wie zum Beispiel die Kleeblattbögen der Gewölbeschilder im Chorabschluss, einschließlich der kleinen Fenster
und Rosetten (ebd., Abb. S. 248–249, 252).
64 Oleg Grabar: Mediation of Ornament. Princeton 1989 (The A. W. Mellon Lectures in
the Fine Arts 40), S. 228.
65 Tångeberg, Mittelalterliche Holzskulpturen (zit. Anm. 42) und Fried, The Swedish Madonnas (zit. Anm. 55).
das taBErnakEl aus krEiG
gegenüberzustellen, wie dies häufiger getan wurde.66 Die repräsentative Fassadenwirkung in geöffnetem Zustand und die Art, wie die mittlere Figur (meistens eine
Madonna) zur Schau gestellt wird, kontrastieren mit den kargen, häufig nicht einmal ornamental verzierten Rückseiten der Flügel. Es liegt nahe, dass diese leicht
transportierbaren Objekte aus Elfenbein eine Vorbildwirkung auf die Gestaltung
der Altarschreine ausübten und sowohl deren Konstruktion als auch ikonographische Leitlinien und die spezifische Inszenierung vorgaben. Doch sollte man in den
Altarschreinen nicht einfach vergrößerte Ebenbilder in anderem Material sehen:
Für deren Entwicklung, Verbreitung und Erfolg spielten weitere Faktoren eine Rolle, wie zum Beispiel die lokalen liturgischen Gebräuche.
Beschäftigt man sich mit der Holzskulptur bzw. der Altarkunst des 13. Jahrhunderts in Mitteleuropa,67 steht man immer noch weitgehend am Anfang. Aus
diesem Grund wird immer wieder auf besser dokumentierte Beispiele aus Italien68 und Skandinavien69 zurückgegriffen, nicht selten auch auf jüngere Werke aus
anderen medialen Zusammenhängen. Diese Vorgehensweise ist für das Tabernakel
von Kreig versucht worden, doch stößt sie hier an ihre Grenzen. Obwohl nur in
fragmentarischem Zustand erhalten, lässt sich sagen, dass es sich bei dem Werk um
ein Unikat handelt, nicht nur in der Zips, sondern auch überregional. Von ihm auf
weitere, verlorene Werke zu schließen, erscheint angesichts der Überlieferungssituation hinsichtlich zeitgenössischer Bau- und Kunstwerke allzu optimistisch. Die
Region der Zips und zum großen Teil auch das benachbarte Kleinpolen waren
in jener Zeit kirchenpolitisch noch wenig entwickelt und man kann nicht davon
ausgehen, dass in jedem Ort eine komplett ausgestattete Kirche vorhanden war.
Nur in größeren städtischen oder kirchlichen Zentren wie Krakau/Kraków, Zipser
Kapitel/Spišská Kapitula oder in Klöstern wie der Zisterzienserabtei in Schevnyk/
66 Gyalókay, Rzeźby Marii (zit. Anm. 17), S. 142–145. Für westeuropäische Altäre siehe Les
Premiers Retables (zit. Anm. 49), S. 70 f.
67 Einen Forschungsstand zur Geschichte des mittelalterlichen Retabels zu skizzieren, würde an dieser Stelle zu weit führen. Nach dem grundlegenden Werk von Joseph Braun:
Der christliche Altar in seiner geschichtlichen Entwicklung. 2 Bde., München 1924,
sorgte vor allem der einflussreiche Aufsatz von Harald Keller für Diskussionen: Der
Flügelaltar als Reliquienschrein. In: Studien zur Geschichte der europäischen Plastik.
Festschrift Theodor Müller, München 1965, S. 125–144. Die Kritik an seinen Thesen, die
voraussetzen, dass alle Altäre Reliquien enthielten, entzündete sich an der Interpretation
der Retabel des frühen 14. Jahrhunderts in Doberan und Cismar: vgl. Laabs, Malerei
und Plastik (zit. Anm. 33) und Ehresmann, The Iconography of the Cismar Altarpiece
(zit. Anm. 55). Eine ausführliche methodenkritische Diskussion bietet Wolf, Deutsche
Schnitzretabel (zit. Anm. 34), S. 11–20 und 255–305.
68 Italian Altarpieces 1250–1550. Function and Design, hg. von Eve Borsook / Fiorella Superbi Gioffredi, Oxford 1994; Sible De Blaauw: Altar Imagery in Italy Before the Altarpiece. In: The Altar and its Environment (zit. Anm. 51), S. 47–55.
69 Tångeberg, Mittelalterliche Holzskulpturen (zit. Anm 42) und ders.: Retables and Winged Altarpieces from the Fourteenth Century: Swedish Altar Decorations in their European Context. In: The Altar and its Environment (zit. Anm. 51), S. 223–240. Zu diesen
Zusammenhängen siehe auch den jüngst erschienenen Band von Fernando Gutiérez
Baños / Justin Kroesen / Elisabeth Andersen (Hg.): The Saint enshrined: European
Tabernacle-Altarpieces, c. 1150–1400. In: Medievalia. Revista d’estudis medievals 23/1
(2020).
Abb. 18: Tabernakel aus Kreig (wie
Abb. 1), geschlossener Zustand
199
dušan Buran
Spišský Štiavnik lassen sich komplexere Kirchenmobiliare vermuten.70 Auch wenn
damit das Potenzial des Tabernakels aus Kreig für generalisierende kunstgeographische Interpretationen begrenzt ist, kann die Bedeutung insbesondere seiner Relieffiguren für die Zipser gotische Skulptur kaum überschätzt werden.
Bildrechte: Abb. 1, 3–8, 10–12, 16, 18: Fotoarchív Slovenskej národnej galérie Bratislava, Martin Deko / Vratko Tóth; Abb. 2: Fotoarchív Slovenskej národnej galérie Bratislava, Robert
Kočan / Vratko Tóth; Abb. 9: digitale Rekonstruktion Dušan Buran / Peter Nosáľ; Abb. 13:
Brno, Národní památkový ústav (creative commons); Abb. 14: New York, Metropolitan Museum of Art (creative commons); Abb. 15, 17: Dušan Buran.
200
70 Auch anhand besser erhaltener Kirchenausstattungen in anderen deutschen Gebieten
lässt sich zeigen, dass Retabel aus dem 14. Jahrhundert vor allem aus den Stifts- und
Klosterkirchen überliefert sind, nicht aus dörflichen Pfarreien. Wolf, Deutsche Schnitzretabel (zit. Anm. 34), S. 20.