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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2013 ”Zürcher Hausbesegnung”. Auch ”Alemannische Hausbesegnung” oder ”St. Galler Haussegen”, Ad signandum domum contra diabolum Nievergelt, Andreas DOI: https://doi.org/10.1515/9783110245509.263 Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-140633 Book Section Published Version Originally published at: Nievergelt, Andreas (2013). ”Zürcher Hausbesegnung”. Auch ”Alemannische Hausbesegnung” oder ”St. Galler Haussegen”, Ad signandum domum contra diabolum. In: Bergmann, Rolf. Althochdeutsche und altsächsische Literatur. Berlin: De Gruyter, 534-541. DOI: https://doi.org/10.1515/9783110245509.263 534 ‘Zürcher Hausbesegnung’ Literatur: Chr. M. Haeseli, Magische Performativität; Chr. M. Haeseli, Das Mittelalter 16 (2011) S. 126-141, hier S. 128; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 427; E. Hellgardt, in: Atti della Accademia Peloritana 71 (1997) S. 5-62, hier S. 17 und 23; H. Hoffmann, Schreibschulen, S. 230f.; A. Masser, in: 2RL IV, S. 957-965, hier S. 964; E. Meineke – J. Schwerdt, Einführung, 2001, S. 119; L. C. Mohlberg, Mittelalterl. Hss., S. 181, Nr. 418; F. Ohrt, Die ältesten Segen über Christi Taufe u. Christi Tod, Kopenhagen 1938, S. 45-72, hier S. 51, 54f.; J. Riecke, Die Frühgeschichte, I, S. 96 (mit Textwiedergabe); R. Schützeichel, Grenzen des Althochdeutschen, in: FS für Ingeborg Schröbler zum 65. Geburtstag, Tübingen 1973, S. 2338, hier S. 36; B. M. von Scarpatetti, Katalog der datierten Handschriften in der Schweiz in lateinischer Schrift vom Anfang des Mittelalters bis 1550, III. Die Handschriften der Bibliotheken St. Gallen – Zürich, Text- und Abbildungsband, Dietikon/Zürich 1991, S. 254, Nr. 817; M. Schulz, Beschwörungen; H.-H. Steinhoff, in: 2VL I, Sp. 6. STEFANIE STRICKER ‘Zürcher Hausbesegnung’ auch ‘Alemannische Hausbesegnung’ oder ‘St. Galler Haussegen’, Ad signandum domum contra diabolum 1. Überlieferung: Zürich, ZB Car. C 176, f. 154r, Z. 3-5. f. 154 befindet sich im letzten Teil der vierteiligen Sammelhandschrift (Beschreibungen der Hs. bei L. C. Mohlberg, Mittelalterl. Hss., S. 146-149, 378 [Nr. 346]; E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 389-394; H. Hoffmann, Schreibschulen, S. 359f.), PadRep. Die Herkunft des Codex ist die mit dem Zürcher Großmünster verbundene Probstei; keiner der vier Teile ist jedoch zürcherisch: Teil I, Halitgar von Cambrai, Poenitentiale, Elsass oder Ostfrankreich, 2. Hälfte 9. Jh., Teil II, Martyrologium, letztes Drittel 9./Anfang 10. Jh. Die Teile I und II tragen Zürcher Einträge des 10. und 11. Jh.s. Teil III Canones, 3. Viertel 9. Jh.; Teil IV, der Teil, der den ahd. Segen enthält, Miscellanea: Kalender, Beda-Exzerpte, Notker III. ‘Computus’, Rezepte, darin ahd. Glossen als deren Bestandteile, lat.-ahd. Monatsbezeichnungen (BStK-Nr. 1019d), St. Gallen 10. Jh. (H. Hoffmann, Schreibschulen, S. 359f.; A. Bruckner, Scriptoria helv., IV, S. 84 und Anm. 35; Datierungen in das 11. Jh. bei E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 389-394 und J. C. King – P. W. Tax (Hgg.), Notker der Deutsche, S. CVII). E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 389f. und L. C. Mohlberg, Mittelalterl. Hss., S. 147 (auch H. Stuart – F. Walla, ZDA 111 [1987] S. 53-79, S. 64) behandeln die erste Lage von Teil IV, die den Segen enthält, als eigenen Handschriftenteil IV, dem noch Teil V folgt. Teil IV in der Steinmeyerschen Aufteilung ist bei Chr. M. Haeseli, Magische Performativität, S. 73 als „eine Art Kompendium magisch-auratischen Wissens“ bezeichnet. Der deutsche Spruch ist umgeben von lat. Beschwörungen und Rezepten von derselben Hand. Er besteht aus einer lat. Überschrift (Z. 3) und zwei ahd. Langzeilen (Z. 4f.) und lautet: AD SIGNANDUM DOMUM CONTRA DIABOLUM / Uuola uuiht taz tu uueist taz tu uuiht heizist / taz tune uueist noch ne chanst cheden chnospinci, mit Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 13.10.17 16:54 ‘Zürcher Hausbesegnung’ 535 Punkten am Ende jeder Zeile sowie nach uueist in Z. 4, vielleicht auch nach zweitem ne in Z. 5; die Spatien nach dem handschriftlichen Befund. Über -in- von chnospinci steht von feinem Griffel ein kurzer ansteigender Schrägstrich mit unbekannter Bedeutung. Von demselben Griffel stammen Abgrenzungsquerlinien schwach über Z. 3 und deutlich unter Z. 5. Abbildungen: Photographien bei N. Flüeler – M. Grauwiler, S. 144; E. Hellgardt, in: Atti della Accademie Peloritana 71 (1997) S. 62; C. M. Korsmeier, S. 49f. Elektronische Faksimile-Abbildung: http://www.marburger-repertorien.de/abbildungen/pr/Zuerich_ZB_Cod_Car_C176_ Bl154r.jpg 2. Ausgaben: Zum ersten Mal und in präziser Wiedergabe in M. Büdinger – E. Grünauer, S. 41, Anm. 3. Weitere Ausgaben (Auswahl): E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., Nr. LXXV, S. 389; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb. S. 90 (Nr. XXXI, 5); V. Holzmann, „Ich beswer dich“, S. 133; R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 252f.; E. Cianci, Incantesimi, S. 211; St. Müller, Ahd. Lit., S. 282. Der Text ist ganz unterschiedlich wiedergegeben, je nach Zusatz von Interpunktion und diakritischen Zeichen. Die mancherorts gegebenen Zusammenschreibungen neuueist und nechanst sind am handschriftlichen Original nicht nachzuweisen. Da und dort begegnen Fehllesungen und ist die Signatur der Handschrift nicht richtig angegeben (fälschlich als C 176). 3. Charakterisierung: In auffälligem Kontrast zu seiner Kürze liegt zu dem „rätselhaften Segen“ (H. Stuart – F. Walla, S. 70) eine umfangreiche Forschung vor. Das Hauptinteresse gilt dem Hapax legomenon chnospinci, das im Text eine Schlüsselposition zu besetzen scheint, aber dunkel ist. Das geheimnisvolle Wort ist jedoch bei weitem nicht allein verantwortlich für die erheblichen Verständnisschwierigkeiten. Nebst der Bedeutung einiger anderer Wörter sind auch die Satzkonstruktion, der Sinngehalt und die Kontextualität des Spruchs alles andere als eindeutig. Die auseinanderlaufenden Auffassungen und Erklärungsansätze der Forschung widerspiegeln sich unter anderem in der Divergenz der jeweils gebotenen Übersetzungen, wie die folgenden Beispiele zeigen: „Gut, Wicht, dass du weißt, dass du Wicht heißt, dass du nicht vermagst und auch nicht kannst sagen: chnospinci.“ (St. Müller, Ahd. Lit., S. 283); „Wohlan Wicht, dass du weißt, dass du Wicht heiß(e)st, dass du nicht weißt noch kannst sprechen, du Spränzel.“ (St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 76); „Wohl, Wicht, dass du weißt, dass du ‘Wicht’ heißt! Dass du nicht weißt oder kannst besprechen die Knospung.“ (Chr. Kühnhold, S. 102). – Eine wechselhafte Forschungsgeschichte reflektieren auch die unterschiedlichen Benennungen des Denkmals. F. Vetter, dem statt der Handschrift nur eine fehlerhafte Abschrift mit dem Schlusswort chuospinci statt chnospinci vorlag – F. Vetter suchte die Handschrift vergeblich, da er sie irrtümlich unter den im Zuge der Toggenburgerkriege nach Zürich gelangten St. Galler Beständen vermutete – , schloss auf einen Kuhoder Milchzauber und veröffentlichte 1877 den Segen als ‘Milchsegen’ (F. Vetter, S. Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 13.10.17 16:54 536 ‘Zürcher Hausbesegnung’ 352), eine Bezeichnung, die dem Denkmal bis zur Richtigstellung und Umbenennung zu ‘Hausbesegnung’ durch E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 389, 394, anhaftete (vgl. M. Müller, S. 20, Nr. 15; MSD, II, S. 305; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt. 1, S. 267). Der in der germanistischen Forschung seither traditionell als ‘Zür(i)cher Hausbesegnung’ bekannte Spruch wird wegen seiner Herkunft seit P. Ochsenbein, S. 119 und C. M. Korsmeier, S. 215, da und dort auch als ‘St. Galler Haussegen’ bezeichnet. Sinn und Zweck dieser Umbenennung sind allerdings umstritten (H. U. Schmid, BNF NF 34 [1999] S. 489f.). 4. Zur Gattungsfrage: Das Denkmal reiht sich ein unter die ahd. Zaubersprüche und wird zur Sprechaktgattung der Segen gezählt. Als ‘Hausbesegnung’ steht es in der ahd. Fluchdichtung allein und gilt als erstes deutsches Denkmal dieser Art (H. Harmjanz, S. 127; E. Meineke, S. 250). Dass es sich beim ahd. Text um eine Hausbesegnung handelt, war dem Schreiber offenbar bekannt. Für den heutigen Leser geht dies indes nur aus dem lat. Titel hervor, insbesondere solange das Wort chnospinci nicht geklärt ist. Titel und Inhalt weisen den Segen als Abwehrspruch (St. Müller, Ahd. Lit., S. 402) und Bannspruch (H.-H. Steinhoff, in: 2VL X, Sp. 1603) aus: Er richtet sich gegen den ‘Teufel’ (Titel) bzw. einen ‘Wicht’ (Text; das st. M. N. ahd. wiht hat ein breites Bedeutungsspektrum: ‘Wesen, Ding, Substanz, Mensch, unbedeutendes Wesen, Nichtsnutz’ – J. Splett, Althochdeutsches Wörterbuch. Analyse der Wortfamilienstrukturen des Althochdeutschen, I, 2, Berlin/New York 1993, S. 1123) und ‘bespricht’ diesen, wobei die Bedeutsamkeit des Namens eine zentrale Rolle spielt. Möglicherweise steckt im ahd. Text vorchristliches Material von hoher Altertümlichkeit (R. Wisniewski, Dt. Lit., S. 252), während der Titel die christliche Anverwandlung belegt. In seinem Textaufbau ist der Spruch schwierig einzuordnen, da ihm im Vergleich zu anderen ahd. Zaubersprüchen typische Elemente fehlen. Weder wird ein christlich-liturgisches Formmodell sichtbar, da der Spruch keinen Invokations- und Gebetteil aufweist, (allerdings sieht C. M. Korsmeier, S. 202, die Invokation in den Titel integriert und weist B. Murdoch, S. 30, darauf hin, dass das dem Segen folgende Rezept mit einem Gebet schließt), noch ist das vorchristliche zweiteilige Modell aus epischer Eingangsformel und Befehls- bzw. Beschwörungsformel nachzuzeichnen (H. Harmjanz, S. 126, bezeichnet beide Teile als fehlend und F. Genzmer, S. 25, konstatiert, dass „weder gewünscht noch befohlen“ werde, während V. Holzmann, „Ich beswer dich“, S. 61, sehr wohl einen Befehlstyp erkennt und K. Helm, S. 360, die „vermißte Beschwörung“ in der zweiten Zeile ausfindig macht). Die ‘Zürcher Hausbesegnung’ zeichnet sich dadurch aus, der einzige ahd. Zauberspruch zu sein, in dem der Teufel (Dämon) allein und Gott nicht vorkommt (St. Sonderegger, Germania selecta, S. 287). Die Umstände, die zur Aufzeichnung des Spruchs führten, sind unbekannt (J. Bächthold, II, S. 14; J. M. Clark, S. 231, vermuten, dass der Schreiber Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 13.10.17 16:54 ‘Zürcher Hausbesegnung’ 537 ihn in der bäuerlichen Nachbarschaft der Abtei gehört oder gelesen und der Bewahrung würdig empfunden habe; P. Ochsenbein, S. 119, erkennt in der Aufzeichnung antiquarisches Interesse). 5. Form und Sprache: Der dreizeilige Segen gliedert sich in eine lat. Überschrift und zwei volkssprachige alliterative Langzeilen. Die Gestaltung der Langzeilen zeigt mit dem Muster a a / a x und x b / b b ungewöhnliche, aber regelgerechte Alliteration (F. Vetter, S. 353, der die Möglichkeit einer deutschen Ljóðaháttrstrophe nicht ausschließt), eine monopodische Übergangsform vom Stabreimvers zum Reimvers mit freien Stäben und ohne Endreim (A. Heusler, S. 7), die für Zauber- und Segenssprüche typisch ist. Die eigenwillige Stabreimsetzung, für welche sich metrische Parallelen im ‘Muspilli’ und im ‘Hildebrandslied’ aufzeigen lassen, könnte in kunstvoller Weise im Hinsteuern auf die Pointe dem Zweck besonderer Herausstellung des Sinngehaltes dienen (St. Sonderegger, Germania selecta, S. 288f.). – Die Sprache des Spruchs ist als spätaltalem. zu bestimmen. Obd. Charakter erscheint in verschobenem anlautendem k- als <ch>, und der Ausfall von w in cheden (quedan) zeigt auf das Alem. Auf späte ahd. Zeit weisen die Vokalabschwächungen in ne und cheden, die Endung -st der 2. Pers. Sg., die im Obd. erst seit dem 10. Jh. auftritt sowie -ch für auslautendes h in noch, dessen Schreibung -h bis ins 11. Jh. die Regel bleibt. Die Schreibung t in taz und tu folgt konsequent Notkers Anlautgesetz (F. Vetter, S. 353). 6. Sinngehalt: Der genaue Sinn des Spruchs ist wegen mehrfacher Probleme unklar. Von entscheidender Bedeutung für das Verständnis (nach K. Helm, S. 358, wichtiger als die Etymologie von chnospinci) ist die syntaktische Klärung, insbesondere des Verhältnisses der beiden Zeilen zueinander. Während die erste Zeile als Aussagesatz mit einleitender Interjektion und der Anrede uuiht verständlich erscheint, enthält die zweite Zeile mehrere Schwierigkeiten. Eine erste liegt in taz zu Beginn der Zeile. Je nach Deutung als Konjunktion oder Pronomen kann ein anderer Satztyp vorliegen, ein zur ersten Zeile paralleler Aussagesatz, ein Finalsatz „auf dass du …“ mit imperativischem Charakter (C. M. Korsmeier, S. 39; V. Holzmann, „Ich beswer dich“, S. 61; K. Helm, S. 359f.), oder ein Relativsatz „welches du …“ (St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 76), jeweils mit anderer Auswirkung auf die Rolle des Schlusswortes chnospinci (Akkusativ-Objekt zu cheden, oder vokativisch in Anredefunktion). Zudem kann taz als Konjunktion zur ersten Zeile („dass du weißt, dass du Wicht heißt“) unterschiedliche Konsekutiv-Anschlüsse wie eine Folge („und dass du deshalb nicht kannst …“), oder einen Vergleich („dass du desgleichen beziehungsweise im Unterschied dazu nicht kannst …“) herstellen. Unterschiedliche Lesarten bietet auch das Hendiadyoin ne weist noch ne chanst, in welchem sowohl Gegensätzliches (F. Ohrt, S. 41) als auch Synonymie ausgedrückt sein kann (chanst kann die Bedeutung ‘können’ [posse] oder ‘kennen’ [nosse] tragen. H. Eichner – R. Nedoma, S. 133). Schließ- Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 13.10.17 16:54 538 ‘Zürcher Hausbesegnung’ lich ist auch nach der kontextuellen Bedeutung von cheden (neutrales ‘aussprechen’, oder magisches ‘besprechen’) zu fragen. Schlüsselfaktor ist und bleibt aber das Schlusswort chnospinci, ohne dessen befriedigende Erklärung der Sinn des Spruchs in der Luft hängt (W. v. Unwerth – Th. Siebs, S. 52). Die Lesung des Wortes in der Handschrift als chnospinci ist eindeutig. Die Schreibung wird in der Forschung durchgängig auf die Lautung normalahd. knospingƯ bezogen, also zweites <c> als Graphie für verschobenes /g/ gelesen, trotz seiner Stellung vor hohem Vokal, wo man dafür die Graphie <k> bzw. <g> erwartet. Nur gerade S. Singer, S. 5, geht von Affrikatenschreibung aus (chnospinzi). Die vielfältigen Versuche, die Bedeutung des Wortes zu erklären, gehen in zwei Richtungen und deuten chnospinci entweder als bannendes Wort bzw. den eigentlichen Segensspruch, oder als Bezeichnung dessen, was abgewehrt und gebannt werden soll. – Die Annahme, dass chnospinci ein Bannwort ist, lässt sich vertreten mit Blick auf die einst geläufige Vorstellung, dass teuflische Wesen gewisse Wörter, insbesondere heilige nicht auszusprechen vermögen (W. v. Unwerth – Th. Siebs, S. 52). chnospinci wäre dann christlichen Inhalts, beispielsweise ein akronymisch kodierter christlicher Spruch (M. Büdinger – E. Grünauer, S. 41, Anm. 3 und F. Ohrt, der S. 41 in chnospinci ein christliches Gegenwort zum heidnischen wiht vermutet und S. 42f. einen konkreten Vorschlag macht, wie das Wort in einen lat. Satz aufzulösen sei). Genausogut kann chnospinci aber auch ein rein magisches Wort sein (ein Geheimwort als impliziter Befehl vermutet W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 352), zumal unverständliche, weil entstellte oder gänzlich künstliche Wörter oft in Zaubersprüchen begegnen, wie einige Wörter in dem Rezept, das der Hausbesegnung folgt, belegen (B. Murdoch, S. 29f. Nach H. U. Gumbrecht, S. 7, erfüllt chnospinci mit seiner phonetischen Komplexität die Erwartungen an ein wirkmächtiges Zauberwort). Dies würde aber alle etymologischen Bemühungen zwecklos machen (K. Helm, S. 360). Als Kunstwort muss chnospinci nicht zwingend wortmagisch, sondern kann auch in beliebiger Weise geheimsprachlich sein (G. Ehrismann, S. 116), oder als unsinniges Rätselwort eine unlösbare Aufgabe darstellen, die den Dämon zum Verstummen bringen soll (St. Müller, Ahd. Lit., S. 402. F. Ohrt, S. 42 weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Teufel im Volksglauben dumm ist). – Bedeutet chnospinci aber dasjenige, das abgewehrt werden soll, so kann es dreierlei sein: Name des Dämons, ein schadenstiftendes Wort des Dämons, oder Bezeichnung des Schadens. Für die Deutung als Name des Dämons spricht der im Spruch aufscheinende Namenzauber. In der ersten Zeile wird das sogenannte Rumpelstilzchen-Motiv (J. Bolte – G. Polívka, S. 490-498) sichtbar: Ein schädliches Wesen wird entmachtet, wenn der Mensch seinen Namen kennt und ausspricht. Ist chnospinci aber der Name des Dämons, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von chnospinci zu uuiht. St. Sonderegger, Ahd. in St. Gallen, S. 76, sieht in wiht das Sachwort und in chnospinci den Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 13.10.17 16:54 ‘Zürcher Hausbesegnung’ 539 individualisierend-herabsetzenden Ausdruck (chnosp-ing-î, ‘kleiner Wicht’, ‘Knösperich’, als hypokoristische Weiterbildung zum Stamm von Knospe, mit Verweis auf den Personennamen Chnosp des 14. und 15. Jh.s und den Umstand, dass Eigennamen sich erst allmählich vom Appellativum lösten). chnosp- taucht mittelalterlich bis neuzeitlich in Bezeichnungen für plumpe, tölpelhafte Menschen auf, und schweizerdeutsches chnospen / chnosplen bedeutet ‘polternd, schwerfällig herumgehen’ (Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache, III, Sp. 764), weshalb H. Harmjanz, S. 126, auf die Bezeichnung eines unruhestiftenden Wesens schließt, das im Haus herumrumpelt und -poltert. Ist chnospinci Akkusativobjekt von cheden, ergeben sich inhaltliche Fragen: Warum soll der Dämon seinen individuellen Namen nicht kennen, und warum verrät ihn der Sprecher? Statt Name des Dämons könnte chnospinci darum das schadenstiftende Wort sein, das der Dämon nicht mehr sagen soll (C. L. Miller, S. 154; V. Holzmann, ZLL 33 [2003] S. 25-47, S. 29; F. Genzmer, S. 25), oder aber ein Wort für den Schaden, für das vom Dämon drohende Unheil, selber. Als eine solche Bezeichnung ist chnospinci mehrfach gedeutet worden, jeweils etymologisch von idg. *gen- ‘zusammendrücken’, ‘zusammenballen’ ausgehend, unter Annahme von sich mischenden Wurzelerweiterungen und unterschiedlichen Ableitungen: Als ja-Abstraktum und Ableitung zum Wort für den polternden Geist knosping in der Bedeutung ‘Bosheit, Zanksucht, Hinterhältigkeit’ (H. Harmjanz, S. 127), als seltene -ingi-Ableitung zur Bildung von st. F. und N. zu Knospe und knuspern in der möglichen Bedeutung ‘Zerschmetterung’ (E. v. Steinmeyer, Sprachdenkm., S. 389), als vom schweizerdeutschen chnosperen ‘krachen’, ‘knirschen’, ‘ein zermalmendes Geräusch hervorbringen’ (Schweizerisches Idiotikon, III, Sp. 764) abgeleitetes chnospinzi in der Bedeutung ‘Krachen im Gebälk’ (S. Singer, S. 5 und S. 92, Anm. 1), als Bezeichnung für einen knospenförmig sich ausbildenden Pilzbefall eines Hauses, ein Schädling, der von den Menschen als von einem teuflischen Wesen zugesprochener Schaden empfunden wurde (C. M. Korsmeier, S. 215), also als sonst nicht belegtes ahd. Wort für den Hausschwamm, dessen deutsche Bezeichnung man erst aus mhd. Zeit kennt (H. Tiefenbach, S. 167). – I. Hampp, S. 24, und J. K. Bostock, S. 42, vermuten den Schaden selber nicht in der Wortbedeutung, und Chr. Kühnhold, S. 101f., sieht das negative Element nicht in chnospinci, sondern in cheden ‘einen Schadenzauber rezitieren’ und vermutet in chnospinci das, was bedroht ist: Das Knospen, das Austreiben im Frühling. – Bislang vermochte keiner der Erklärungsversuche sowohl sprachlich-etymologisch als auch inhaltlich-funktional zu überzeugen. Es bietet sich daher nicht an, eine bestimmte Deutung bevorzugt zu behandeln, wie dies die Wörterbucheinträge in SchW, S. 179, und AWB V, Sp. 287, nahelegen. Vielmehr ist an dem früheren Eintrag in AWB II, Sp. 8, festzuhalten, dass chnospinci „ungedeutet“ ist. Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 13.10.17 16:54 540 ‘Zürcher Hausbesegnung’ Die ‘Zürcher Hausbesegnung’ wurde auch außerhalb der Wissenschaft wiederholt rezipiert, beispielsweise in historischen Romanen. An moderner künstlerischer Rezeption sind die Vertonung von Alexander Strauch, CHNOSPINCI. Althochdeutsche Blut- und Segenssprüche für Viola und Mezzosopran, 1997-1999 (Kürschners Musikerhandbuch 2006, S. 463) sowie die literarische Verarbeitung in Heinz G. Hahs, Grübelungen, Frankfurt a. M. 1997, S. 76-86 zu erwähnen. 7. Literatur: AWB, II, Sp. 8; V, Sp. 287; J. Bächtold, Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz, II, Anmerkungen, Frauenfeld 1892, S. 14; J. Bolte – G. Polívka, Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Grüder Grimm. Neu bearbeitet von J. Bolte und G. Polívka, Bd. I (Nr. 1-60), Leipzig 1913, S. 490-498; J. K. Bostock, Handbook, S. 41f.; M. Büdinger – E. Grünauer, Älteste Denkmale der Zürcher Literatur, Zürich 1866, S. 41, Anm. 3; W. Braune – E. A. Ebbinghaus, Ahd. Lb., S. 90, 174; A. Bruckner, Scriptoria helv., IV, S. 84, Anm. 35; BStK-Nr. 1019d; E. Cianci, Incantesimi, S. 210-212; J. M. Clark, The Abbey of St. Gall as a centre of literature and art, Cambridge 1926, S. 230f.; G. Ehrismann, Gesch. d. dt. Lit., S. 116; H. Eichner – R. Nedoma, Die Sprache 42 (2000/01) S. 1-195, S. 133; N. Flüeler – M. Flüeler-Grauwiler, Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 1: Frühzeit bis Spätmittelalter, Zürich 1995, S. 144; F. Genzmer, Germanische Zaubersprüche, GRM NF 1 (1950) S. 21-35, S. 25; H. U. Gumbrecht, The Charm of Charms, in: D. E. Wellbery, A New History of German Literature, Cambridge/Mass./London 2004, S. 1-7, S. 6f.; Chr. M. Haeseli, Magische Performativität, S. 73; I. Hampp, Beschwörung Segen Gebet. Untersuchungen zum Zauberspruch aus dem Bereich der Volksheilkunde, Stuttgart 1961, S. 24; H. Harmjanz, Chnospinci, ZDPh 62 (1937) S. 124-127; W. Haubrichs, Die Anfänge, S. 352f.; E. Hellgardt, in: Deutsche Handschriften 1100-1400, S. 55 (Nr. 19); E. Hellgardt, in: Atti della Accademia Peloritana 71 (1997) S. 17, 39; K. Helm, Zur ahd. ‘Hausbesegnung’, PBB 69 (1947) S. 358360; A. Heusler, Deutsche Versgeschichte. Mit Einschluß des altenglischen und altnordischen Stabreimverses, Grundriß der germanischen Philologie 8, 2. unveränderte Auflage Berlin 1925-1929, (Nachdruck Berlin 1968), S. 6f.; H. Hoffmann, Schreibschulen, S. 359f.; V. Holzmann, „Ich beswer dich“, S. 34, 60f., 133; V. Holzmann, „Ich beswer dich wurm vnd wyrmin ...“ – Die magische Kunst des Besprechens, ZLL 33 (2003), Heft 130, S. 25-47, S. 29; J. C. King – P. W. Tax (Hgg.), Notker der Deutsche, Die kleineren Schriften, Die Werke Notkers des Deutschen 7, ATB 109, Tübingen 1996, S. CVIf.; R. Kögel, Gesch. d. dt. Litt. 1, S. 267; C. M. Korsmeier, Knuspern an einem Wort. Aus einem Jahrhundert germanistischer Wortforschung, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. philol.-hist. Klasse, Jg. 1997, Nr. 5, Göttingen 1997; Ch. Kühnhold, Wortbildung und Sprachinnenraum: Zur Semantik sprachlicher Ausdrucksformen am Beispiel nominaler Stammbildungen (1), NOWELE 1 (1983) S. 3-48; 3 (1984) S. 89-112, S. 101f.; E. 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