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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2019 Zur Identität der Psychiatrie: Positionspapier einer DGPPN-Task-Force zum Thema Identität Sass, Henning ; Maier, Wolfgang ; Bormuth, Matthias ; Brüne, Martin ; Deister, Arno ; Fuchs, Thomas ; Hasan, Alkomiet ; Hauth, Iris ; Hoff, Paul ; Hohagen, Fritz ; Köhler, Sabine ; Kronsbein, Julia-Maleen ; Mayer-Lindenberg, Andreas ; Schramme, Thomas Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-177484 Scientific Publication in Electronic Form Published Version Originally published at: Sass, Henning; Maier, Wolfgang; Bormuth, Matthias; Brüne, Martin; Deister, Arno; Fuchs, Thomas; Hasan, Alkomiet; Hauth, Iris; Hoff, Paul; Hohagen, Fritz; Köhler, Sabine; Kronsbein, Julia-Maleen; Mayer-Lindenberg, Andreas; Schramme, Thomas (2019). Zur Identität der Psychiatrie: Positionspapier einer DGPPN-Task-Force zum Thema Identität. Berlin: DGPPN. Zur Identität der Psychiatrie Positionspapier einer DGPPN-Task-Force zum Thema Identität November 2019 Vorwort Die psychische Gesundheit und die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen haben in den vergangenen Jahren stetig an Relevanz für die Gesellschaft gewonnen. Psychische Gesundheit wird zunehmend nicht nur als wichtiger Bestandteil, sondern auch als Voraussetzung für die generelle Gesundheit anerkannt – entsprechend dem Grundsatz: No health without mental health. Der gewachsenen Bedeutung psychischer Gesundheit und Krankheit folgend, hat sich eine Vielfalt von Angeboten, Methoden und Verfahren entwickelt, und immer mehr Menschen engagieren sich für die Förderung, den Erhalt und die Wiedererlangung der psychischen Gesundheit. Für die hier kooperativ tätigen Berufsgruppen erfordert diese Vielfalt eine klare Positionierung des jeweiligen Selbstverständnisses und der Angebote. Die Psychiatrie ist die älteste wissenschaftsbasierte medizinische Disziplin in diesem Feld. In den mehr als 200 Jahren ihres Bestehens hat sich ein erheblicher Wandel des verfügbaren Wissens, der Behandlungskonzepte und der Leistungsangebote entwickelt. Die bleibende Grundlage ist dabei, dass psychische Störungen in der Regel medizinische Erkrankungen sind. Psychisch erkrankte Menschen haben ein Recht auf gleichwertige Beachtung und Behandlung wie körperlich Erkrankte. Diagnostik, Therapie und Prävention psychischer Störungen sind ein Bestandteil der Medizin und müssen am medizinischen Fortschritt teilhaben. Die Veränderung gesellschaftlicher Herausforderungen und Erwartungen, der medizinische Fortschritt, die sich wandelnden strukturellen und gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie die Erwartungen der Hilfesuchenden erfordern neue Orientierungen. Dies betrifft die Versorgung, die Erforschung psychischer Störungen, die Prävention und die Entwicklung wirksamer Therapien. Diesem Wandel muss sich auch das Selbstverständnis der Psychiaterinnen und Psychiater1 stellen. Daher hat die DGPPN eine Task-Force etabliert, die das vorliegende Positionspapier erarbeitet hat. Das Ziel ist dabei, einen Diskussionsprozess unter Psychiatern anzustoßen, um verbindliche Gemeinsamkeiten, Beständiges und Zukunftsweisendes herauszuarbeiten. Vielfach finden sich im Text männliche personenbezogene Hauptwörter, die für alle Geschlechter gelten sollen (z. B. Psychiater). Dies dient der besseren Lesbarkeit und wir bitten freundlich darum, hieran keinen Anstoß zu nehmen. 1 2 Inhalt 1. Zum Gegenstand der Psychiatrie ............................................................................................... 4 1.1 Aufgaben der Psychiatrie .................................................................................................... 4 1.2 Die Bezeichnung des Faches „Psychiatrie und Psychotherapie“ ......................................... 6 1.3 Zum Begriff der Psychosomatik.......................................................................................... 6 1.4 Zum Begriff des Psychischen .............................................................................................. 7 1.5 Zum Begriff der psychischen Krankheit ............................................................................. 7 1.6 Zum Begriff der psychischen Störung ................................................................................ 8 1.7 Kategoriale versus dimensionale Konzepte psychischer Störungen ................................. 10 1.8 Probleme der Medikalisierung/Pathologisierung .............................................................. 11 1.9 Ziele der psychiatrischen Behandlung .............................................................................. 12 1.10 Die Vielfalt der Perspektiven und ihre Integration ......................................................... 12 2. Fachärztliche Kompetenzen in Psychiatrie und Psychotherapie ..............................................14 2.1 Kompetenzen in Interaktion und Kommunikation............................................................ 14 2.2 Kompetenzen in der psychiatrischen Diagnostik und Therapie ....................................... 19 2.3 Kompetenzen in Gesundheitsförderung und Prävention .................................................. 25 3. Psychiatrie und Gesellschaft ....................................................................................................27 3.1 Die Stellung von Psychiatrie und psychischen Störungen in der Gesellschaft ................. 27 3.2 Die Psychiatrie im gesellschaftlichen Wandel .................................................................. 29 3.3 Selbstbestimmungsfähigkeit und freiheitseinschränkende Maßnahmen......................... 30 3.4 Gesellschaftliche Ansprüche ............................................................................................. 32 3.5 Künftige Herausforderungen ............................................................................................ 35 Resümee .......................................................................................................................................38 Vertiefungen ................................................................................................................................40 3 1. Zum Gegenstand der Psychiatrie Übersicht: Kapitel I beschreibt zunächst den Gegenstand der Psychiatrie. Als medizinische Disziplin befasst sie sich mit der Erkennung, Erforschung, Behandlung, Rehabilitation und Prävention psychischer Störungen. Hauptziel ist die Heilung psychischen Leidens und die Wiedererlangung sozialer Teilhabe. Im Zentrum psychiatrischen Handelns steht der Patient, das Verständnis und die Behandlung seines Leidens sowie die therapeutische Beziehung zu ihm (→1.1). Es folgt eine Klärung wesentlicher Begrifflichkeiten. Die heutige Psychiatrie verbindet die somato-medizinische und psychische Sicht auf das Leiden des Patienten (→1.2). Ganz im Vordergrund stehen die Wechselwirkungen zwischen somatischen und psychischen Funktionen im Bereich der Psychosomatik (→1.3). Dabei beschreibt das „Psychische“ (inter-)subjektive Erlebnisse sowie emotionale und kognitive Prozesse, deren neuronale Basis das Gehirn darstellt (→1.4). Der Begriff „Störung“ wird dem der „Krankheit“ vorgezogen, da ersterer den Schwerpunkt auf Beschwerden und Verhaltensweisen legt und nicht auf in sich geschlossene Krankheitskonzepte (→1.5, 1.6). Darauf aufbauend wird die Ergänzung eines zunächst strikt kategorialen Störungsmodells um eine dimensionale Konzeptualisierung beschrieben, was eine Tendenz zur Verabschiedung tradierter Krankheitseinheiten erkennen lässt (→1.7). Dies birgt zum einen das Risiko, dass psychiatrische Diagnosen in den Bereich leichter Verhaltensabweichungen ausgeweitet werden. Neben die Behandlung von psychischen Störungen tritt damit auch die Prävention und die Unterstützung bei der Bewältigung von Lebensproblemen und die Sicherung von Teilhabe (→1.8, 1.9). Eine Vielfältigkeit der Perspektiven ist der Psychiatrie immanent. Sie stellt sie zum einen vor die Herausforderung durch Schulenbildung und Identitätskrisen, vermag jedoch zum anderen auch der Komplexität des Menschen in einzigartiger Weise gerecht zu werden (→1.10). 1.1 Aufgaben der Psychiatrie Als wissenschaftliche Disziplin und als Teilgebiet der Humanmedizin befasst sich die Psychiatrie mit der Erkennung, Erforschung, Behandlung, Rehabilitation und Prävention psychischer Störungen. Ziel psychiatrischer Arbeit ist es, Menschen mit psychischen Störungen dabei zu helfen, ihr Leben wieder frei von belastenden Symptomen und deren sozialen Folgen zu führen. Sie sollen von ihrer personalen Autonomie wieder in vollem Umfang Gebrauch machen können. Im Zentrum der Psychiatrie steht zum einen der Patient in der Vielfalt seiner Erlebnisse, Verhaltensweisen, Beziehungen, Lebensziele und biographischen Erfahrungen, zum zweiten das Verständnis seines psychischen Leidens und zum dritten die Behandlung mit einer zentralen Stellung der therapeutischen Beziehung zwischen Psychiater und Patient: ▪ Den Mittelpunkt des psychiatrischen Erkennens und Handelns bildet der Patient mit seinem psychischen Erleben, seinen zwischenmenschlichen Beziehungen und den damit einhergehenden sozialen Auswirkungen. Die gegenwärtige Symptomatik ist auch immer vor dem Hintergrund biographisch-individueller Erfahrungen und Entwicklungen zu sehen. Ebenso bedeutsam sind ihre somatischen wie sozialen Bedingungen und Ursachen. 4 Schließlich gilt die Aufmerksamkeit des Psychiaters immer auch den individuellen Ressourcen, Potenzialen und künftigen Lebensmöglichkeiten des Patienten, deren Aktivierung wesentlich zur Heilung oder Besserung beizutragen vermag. ▪ Die subjektive und zugleich intersubjektive Dimension einer psychischen Störung lässt sich nur in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient erfassen, in der Erleben zur Sprache kommt; sie geht nicht vollständig in einer objektiven Beschreibung auf. Die psychopathologische Anamnese auf der Grundlage klinischer Erfahrung ist daher die Voraussetzung einer Diagnostik, die dem Patienten als Person gerecht wird. Die empathische, vertrauensvolle und ethisch reflektierte Beziehung von Psychiater und Patient stellt schließlich auch die Grundlage der weiteren Therapie dar. ▪ Für die Psychiatrie sind das subjektive Erleben, die somatischen und psychischen Bedingungen sowie die sozialen Beziehungen des Patienten gleichermaßen bedeutsam. Sie betrachtet und erforscht den Menschen ganzheitlich in diesen verschiedenen Dimensionen. In der methodologischen, heute weithin akzeptierten Tradition von Karl Jaspers verknüpft die Psychiatrie daher natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Ansätze zu einer Vielfalt von Perspektiven. Die folgenden Abschnitte thematisieren zentrale Bestandteile dessen, was aus der Sicht der DGPPN-Task-Force die Identität der Psychiatrie im 21. Jahrhundert ausmacht. Dazu gehören die Frage des Krankheitsbegriffs, die Vielfalt und Integration von Perspektiven, die Methoden in Diagnostik und Therapie, Aufgaben und Kompetenzen des Psychiaters und schließlich das Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft. Prävention, Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation sind die zentralen Aspekte des medizinischen Handelns in Psychiatrie und Psychotherapie. Dies geschieht in den Praxen niedergelassener Ärzte, in Krankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen sowie den gemeindenahen therapeutischen Einrichtungen der Wiedereingliederung. Im Sinne eines multiprofessionellen Ansatzes kann in einem therapeutischen Team eine Vielzahl von verschiedenen Kompetenzen abgebildet sein. Den Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie kommt die Aufgabe zu, die individuellen psychischen, körperlichen und sozialen Aspekte zu einer ganzheitlichen Sicht auf den jeweiligen Menschen zusammenzuführen. Dabei arbeiten sie zusammen mit anderen Berufsgruppen, wie etwa Fachärzten für Neurologie, psychologischen Psychotherapeuten, Fachärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Fachärzten für psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Fachärzten für Allgemeinmedizin, Pflegekräften, Sozialarbeitern, Ergotherapeuten, Kunsttherapeuten, Sport-, Physio- und Bewegungstherapeuten oder Diätassistenten. Die Situation eines Menschen muss in seinem sozialen Umfeld mit allen medizinischen und psychologischen Aspekten im psychischen wie im körperlichen Bereich erfasst und analysiert werden. Von besonderer Bedeutung ist dabei das stete Bemühen um personenbezogene Kontinuität in der Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten, auch über längere Zeiträume hinweg. 5 1.2 Die Bezeichnung des Faches „Psychiatrie und Psychotherapie“ Der Begriff der Psychiatrie umfasst seit seiner Einführung durch Johann Christoph Reil (1808) die gesamte „Seelenheilkunde“ einschließlich der „psychischen Kurmethode“, also auch die Psychotherapie. Aus Gründen der Fachentwicklung und Fächerabgrenzung wurde 1994 in Deutschland der Facharzt für „Psychiatrie und Psychotherapie“ eingeführt, eine Terminologie, die auch im Folgenden gebraucht wird, wenn die Einbeziehung der Psychotherapie betont werden soll. Nach heutigem Verständnis kann es eine Psychiatrie ohne Psychotherapie gar nicht geben. Allerdings kommt in dieser heutigen Bezeichnung nicht zum Ausdruck, dass in der Psychiatrie – im Unterschied zu anderen psychotherapeutischen Disziplinen – die Pharmakotherapie und andere somatische Behandlungsverfahren ebenso Kernbestandteile darstellen. Wenn psychische Vorgänge strukturell und funktionell mit differentieller Aktivität des Gehirns in Interaktion mit Körper- und Umweltprozessen einhergehen, wird das Fach Psychiatrie besonders in Forschungskontexten heute auch den klinischen Neurowissenschaften zugerechnet. 1.3 Zum Begriff der Psychosomatik Es gibt zusätzliche, den Themen der Psychiatrie nahestehende Bereiche. Im Jahr 1992 wurde der Facharzt für Psychotherapeutische Medizin von der Deutschen Ärztekammer neu eingeführt, 2003 wurde er umbenannt in Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Darüber hinaus gibt es Aus- und Weiterbildungsgänge zum Psychologischen Psychotherapeuten, die am Ende der Weiterbildung z. B. Richtlinien-Psychotherapie ausüben können. Das Fach „Psychiatrie und Psychotherapie“ hat hier die größte Breite. Psychologische Psychotherapeuten müssen ein abgeschlossenes Psychologiestudium mit Zusatzausbildung/Weiterbildung aufweisen, sind also keine Ärzte. „Psychiatrie und Psychotherapie“ sowie „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ sind Facharztbezeichnungen. Das Gebiet „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ umfasst nach der Definition der Bundeärztekammer (Musterweiterbildungsordnung) „die Erkennung, psychotherapeutische Behandlung, Prävention und Rehabilitation von Krankheiten und Leidenszuständen, an deren Verursachung psychosoziale und psychosomatische Faktoren einschließlich dadurch bedingter körperlich-seelischer Wechselwirkungen maßgeblich beteiligt sind“. Die Überschneidungen zu den Weiterbildungsvorschriften für „Psychologische Psychotherapeuten“, Fachärzte für „Psychiatrie und Psychotherapie“ und Fachärzte für „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ sind nicht unbeträchtlich. Die wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaft der Psychiatrie (DGPPN) hat die offizielle Bezeichnung „Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.“. In der Bezeichnung finden sich somit sowohl das Psychosomatische als auch das Psychotherapeutische. Für Patienten und Angehörige werden guter Rat und Guidance durch niedergelassene Ärzte und die Ärztekammer hier nötig und hilfreich sein, damit der Patient die richtige Behandlung erhält. Im Bereich der Psychotherapie gab es und gibt es noch verschiedene Therapieschulen, deren Unterschiede zum Teil auf Glaubenssätzen beruhten. Hier gab es in den letzten 20 Jahren eindeu- 6 tig eine Entwicklung in Richtung evidenzbasierter Psychotherapie. Das bedeutet, dass Glaubenssätze hier verschwinden werden und Therapiearten für die Behandlung bestimmter Erkrankungen nur dann (auch für die Bezahlung durch Krankenkassen) anerkannt werden, wenn sie wissenschaftlich gut untersucht und ihre Wirksamkeit empirisch nachgewiesen ist. 1.4 Zum Begriff des Psychischen Eine verbindliche Begriffsklärung in diesem komplexen, historisch vom Leib-Seele-Problem geprägten Feld ist schwierig. Es lässt sich sagen, dass dualistische Entgegensetzungen von „Psyche“ und „Soma“ nicht zuletzt angesichts der Fortschritte der Neurowissenschaften an Plausibilität verloren haben. Der Begriff der Psyche bzw. des Psychischen wird daher im Folgenden zur Bezeichnung subjektiver und intersubjektiver Erlebnisse sowie Prozesse der Emotionen, des Denkens, des Willens, der Motivation und anderer kognitiver Prozesse, etwa der Aufmerksamkeit oder des Gedächtnisses, gebraucht. Das Gehirn stellt deren neuronale Basis dar. Es vermittelt dabei die Einflüsse psychischer Zustände auf den Körper und umgekehrt. Das Gehirn wird durch diese psychischen Prozesse, also Auswirkungen von Biografie und Lernerfahrungen, fortwährend neuroplastisch verändert. An die Stelle eines Gegensatzes oder einer Wechselwirkung von „Psyche“ und „Soma“ treten damit unterschiedliche Ausschnitte oder Aspekte eines Geschehens, das als differenzierte Einheit angesehen wird. Verschiedene integrative Konzeptionen versuchen diese Einheit darzustellen (→1.8) Die philosophisch und theologisch vielfältig vorgeprägten Begriffe „Seele“ und „Geist“, die früher das Fach prägten, sind heute im fachlichen Sprachgebrauch obsolet. Die in der internationalen Psychiatrie bedeutsamen englischen Begriffe mind, mental bzw. mental disorder (vgl. deren Definition im DSM 5) sind eher an bewussten und kognitiven Prozessen orientiert. Demgegenüber umfasst der weitere deutsche Begriff des „Psychischen“ oder der „psychischen Störung“ auch das emotionale Erleben und die darin liegenden basalen affektiven Zustände. Zudem geht mit der Beschränkung auf das Mentale auch ein Verlust einher, der sich auf personale Aspekte der psychischen Prozesse bezieht, ohne die Psychiatrie nicht denkbar ist. Psychische Erkrankungen bzw. Störungen sind eingebettet in einen komplexen Hintergrund, zu dem die biographische Entwicklung, die Persönlichkeitseigenschaften und die aktuelle Lebenssituation gehören. Dabei sind die im Verlauf der individuellen Biographie ausgebildeten Merkmale der Persönlichkeit und ihre eventuellen Störungen zum einen als Risikofaktoren für die Entstehung der psychischen Störung und ihren Verlauf anzusehen, zum anderen aber liegen darin auch Potentiale für ihre Überwindung und Bewältigung. 1.5 Zum Begriff der psychischen Krankheit Der psychiatrische Krankheitsbegriff wird im Folgenden noch ausführlich erörtert. An dieser Stelle sollen zur Vorklärung nur drei Dimensionen des allgemeinen Krankheitsbegriffs unterschieden werden, die die Komplexität des Themas deutlich machen: ▪ Der Begriff des „Krankseins“ bezieht sich auf die subjektive Perspektive, in der eine Krankheit als Beeinträchtigung des Wohlbefindens, als Entfremdung, Leid oder 7 „Nicht-Mehr-Können“ erfahren wird. Im amerikanischen Sprachgebrauch entspricht dies dem Begriff „illness“. ▪ Der Begriff der „Krankheit“ (disease) beruht auf einem medizinischen Modell, das Fehlanpassungen und Funktionsstörungen des Organismus beschreibt. Bei psychischen Störungen betreffen diese insbesondere die Wahrnehmung, das Denken, die Emotionen und ihre Regulation, den Realitätsbezug, das Gedächtnis, die Motivation und das Verhalten sowie seine Steuerung. ▪ Aus der sozialen Perspektive schließlich zeigt sich eine psychische Erkrankung in abweichendem Verhalten, als Störung der sozialen Anpassung und Partizipation oder der Alltagsbewältigung (disability). Dabei ist zu beachten, dass sich psychische Erkrankungen in abweichendem Verhalten zeigen (können), sozial abweichendes Verhalten aber niemals per se eine psychische Erkrankung ausmacht. Das Zusammenspiel dieser Dimensionen bei psychischen Störungen und die Abgrenzungen zur psychischen Gesundheit ist Gegenstand intensiver Debatten, auf den im Folgenden noch eingegangen wird. Die in der gesamten Medizin zu beobachtende Ausweitung des Krankheitsbegriffs auf allgemeine Leidens- und Risikozustände (etwa Hypertonie, Adipositas, Alter) betrifft auch die Psychiatrie: Leichtere Beeinträchtigungen, die sich zu ausgeprägten entwickeln können, sind bisweilen behandlungsbedürftig, obwohl sie meist aus Lebenskrisen, Verlusten oder Enttäuschungen resultieren, für die auch Möglichkeiten der Selbstregulation bestehen. Beratungs- und Interventionsbedarf besteht insbesondere dann, wenn die individuellen Verarbeitungsmöglichkeiten nicht ausreichen, um eine längerfristige Problemlösung zu erreichen. Viele Krisen können aber auch ohne professionelle Behandlung bewältigt werden. 1.6 Zum Begriff der psychischen Störung Heute wird in den international gängigen Diagnosemanualen (derzeit ICD-10, DSM-5) statt von „Krankheit“ generell von „psychischen Störungen“ gesprochen. Diese Änderung geschah in Hinblick auf den ungeklärten Krankheitsstatus vieler Formen psychischer Störungen und sollte Ausdruck einer möglichst theoriearmen Herangehensweise sein, auch wurde der Störungsbegriff als milder und weniger belastend für die Betroffenen angesehen. Ein solch weites Verständnis kommt auch einer kontext- und beziehungsorientierten Betrachtungsweise entgegen, die die Krankheit nicht ausschließlich im Patienten lokalisiert. Allerdings ist mit der Offenheit auch die Gefahr einer konturlosen Begrifflichkeit verbunden. Als medizinische Disziplin orientiert sich die Psychiatrie zunächst am medizinischen Krankheitsbegriff. Das Krankheitskonzept der Psychiatrie unterscheidet sich jedoch von dem anderer medizinischer Disziplinen durch die vorrangige Bezugnahme auf subjektives Erleben und Verhalten. Zudem gelingt es bei vielen somatischen Krankheiten, einen distinkten pathologischen Prozess zu postulieren und darauf aufbauend klinische oder Biomarker für die Abgrenzung von „krank“ und „gesund“ einzusetzen („natürliche Einheiten“). Solche störungsspezifischen somatischen 8 Krankheitsmechanismen sind jedoch aufgrund der Komplexität psychischer Störungen, die ja Störungen der Interaktion von Gehirn, Organismus und Umwelt darstellen, meist nicht formulierbar. Eine Ausnahme stellt derzeit die Alzheimer-Krankheit dar, die zunehmend über Biomarker diagnostizierbar wird. Psychische Störungen bilden somit ganz überwiegend keine natürlichen Einheiten. Es bestehen daher auch keine klaren biologischen Grenzen zwischen Krankheit und den Variationen gesunden bzw. noch-gesunden Lebens. Medizinische Tests, Biomarker oder Bildgebungstechniken lassen auch zumindest bislang keine einzelfallbezogenen klinischen Diagnosen zu. Damit erfolgt die Diagnose psychischer Störungen bzw. Erkrankungen durch die psychopathologische Beschreibung des berichteten Selbsterlebens, des beobachtbaren Ausdrucks und Verhaltens. Psychopathologisch fassbare Qualitäten subjektiven Erlebens (z. B. „depressiv“, „manisch“, „wahnhaft“) lassen sich allerdings oft nicht eindeutig bzw. trennscharf identifizieren, sie sind fließender, kontinuierlicher Natur. Außerdem orientiert sich subjektives Erleben und seine Beurteilung an sozialen Normen, die kulturabhängig variieren. Eine am Erleben und Verhalten orientierte Diagnostik sollte also auch die Individualität subjektiven Erlebens und den kulturellen Rahmen der Krankheitszuschreibung beachten. Insofern lassen sich psychische Störungen analog zu somatischen Krankheiten (Hypertonie, Rheuma, u. v. a. m.) zumeist nur durch Konventionen (z. B. Fixierung einer Mindestzahl von Beschwerden aus einem Symptomkatalog mit zusätzlichen Zeitund Schweregradbedingungen), durch kulturgebundene Überlegungen (z. B. unkomplizierte Trauer ist keine psychische Störung) und durch erlebte Beeinträchtigung definieren und von anderen psychischen Leidenszuständen abgrenzen. Zudem ist die häufig stigmatisierende und exkludierende Wirkung eines psychiatrischen Krankheitsbegriffs zu bedenken, der nicht nur von antipsychiatrischen Strömungen immer wieder als sozial-diskriminierend kritisiert wurde. Die diagnostische Zuordnung der individuellen Symptomkonstellationen zu einer psychischen Störung gemäß Kapitel V der Internationalen Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bestimmt noch nicht hinreichend den individuellen Hilfebedarf. Dieser orientiert sich auch an den vorhandenen Fähigkeiten, Ressourcen und Kontextfaktoren sowie der individuellen Biografie. Die Sozialpsychiatrie hat ein System entwickelt, um die individuellen Einschränkungen und den daraus folgenden Hilfebedarf systematisch abzudecken. Hierzu ist die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO in international verbindlicher Form entwickelt worden. Die ICF bezieht sich etwa auf die persönliche Wohn- oder Beziehungssituation. Diese personalisierte Betrachtungsweise begrenzt die Reichweite vereinheitlichender und psychopathologisch generalisierender Diagnosen. Sie ist die Grundlage für die individuumsbezogene Behandlung in der Psychiatrie. Der Begriff der Störung (engl. disorder) trägt diesen unterschiedlichen Problemen Rechnung, insofern er unabhängig von ätiologischen Annahmen und Krankheitskategorien die diagnostischen Einheiten deskriptiv aus subjektiven Beschwerden (illness) sowie dysfunktionalen Verhaltens- und Anpassungsweisen (sickness, disability) zusammensetzt. Nur bei eindeutig organischer Ätiologie 9 (z. B. Demenz, Delir) werden die diagnostischen Einheiten streng dem medizinischen Krankheitsbegriff (disease) zugeordnet. Eine „Störung“ hebt sich allgemein gegen funktions- und anpassungsfähige Zustände bzw. Entwicklungen ab, die das Leben als gesund angesehener Personen charakterisieren. Die Diagnose besagt dann aber noch nichts über die möglichen Bedingungen oder Ursachen, die primär biologischer, psychologischer oder sozialer Natur sein können, also z. B. auch emotionale Reaktionen auf Partnerschaftskonflikte, Verlusterlebnisse etc. einschließen. Der Begriff der Störung eignet sich damit auch für Krankheitszustände, deren Ursachen nicht primär im Patienten sondern in seinen sozialen Beziehungen liegen. Freilich weist der Begriff damit auch eine konstitutive Unschärfe auf. Zudem ist kritisch darauf hinzuweisen, dass im allgemeinen Sprachgebrauch auch der Störungsbegriff eine negative Konnotation besitzt und so ebenfalls zur Stigmatisierung beitragen kann. Demgegenüber kann der Krankheitsbegriff durchaus eine entlastende Wirkung entfalten, da mit der Zuschreibung von Krankheit bestimmte soziale Schutzfunktionen verbunden sind, etwa die Annahme, dass der Betroffene Anspruch auf Hilfe und Behandlung hat und von der Erfüllung seiner üblichen Pflichten entbunden wird. Von daher erscheint bei eindeutig pathologischen Verfassungen der Begriff der psychischen Krankheit treffender als der Begriff einer psychischen Störung. Trotz der beschriebenen Problematik wird im Folgenden der Begriff „Störungen“ verwendet. 1.7 Kategoriale versus dimensionale Konzepte psychischer Störungen Die Orientierung der Psychiatrie an einem strikt kategorialen Krankheits- bzw. Störungsmodell wird nach den bisherigen Ausführungen heute von vielen Fachvertretern als überholt angesehen, v. a. im Hinblick auf die oft fließenden Übergänge zwischen als „gesund“ und als „krank“ bewerteten Verhaltens- und Erlebensformen. Insbesondere bei überdauernden Störungen des zwischenmenschlichen Verhaltens, wie etwa bei Persönlichkeitsstörungen, werden daher häufig dimensionale Beschreibungssysteme favorisiert, um ein umfassenderes Bild der Person zu erhalten. Dabei können zu diesen überdauernden, dimensional zu beschreibenden Verfassungen im Querschnittsbild häufig zusätzliche psychische Störungen hinzutreten. Die kategorialen klinischen Krankheitsdefinitionen sind neuerdings auch seitens der neuropsychiatrischen Forschung in Frage gestellt worden. Zweifelsohne gehen alle psychischen Störungen mit funktionellen, u. U. auch strukturellen Veränderungen in neuronalen Netzwerken einher. Die neurobiologische Bezugsebene hilft jedoch bei der Abgrenzung zwischen „gesund“ und „krank“ kaum weiter, denn die meisten der Normabweichungen sind reaktiver Natur und an sich noch nicht notwendigerweise „krankhaft“. Die gegenwärtige Entwicklung in der Medizin, ausgehend von der individualisierten Therapie von Krebserkrankungen auf der Basis von genetischen Biomarkern, geht deutlich über die diagnostische Klassifikation von Störungen hinaus und versucht, durch Individualisierung eine Optimierung von Therapieergebnissen zu erreichen. Diese Entwicklung nimmt auch auf die Psychiatrie Einfluss und hat zum Konzept der sogenannten Precision Medicine und zum Vorschlag einer Diagnostik gemäß Research Domain Criteria (RDoC) geführt. Ein anderes sich entwickelndes dimensionales System ist die Hierarchische Taxonomie der Psychopathologie (HiTOP). Daher wird inzwischen zumindest für Forschungskontexte eine funktionsbezogene, dimensionale Diagnostik gefordert, die im Gegensatz zur nosologischen auf den 10 Krankheits- und Störungsbegriff verzichtet. Auch wenn eine solche Diagnostik im klinischen Kontext bislang umstritten ist, zeigt sich darin zumindest eine Tendenz der neurowissenschaftlichen Forschung zur Verabschiedung tradierter Krankheitseinheiten. 1.8 Probleme der Medikalisierung/Pathologisierung In der gegenwärtigen Psychiatrie findet sich auf der einen Seite die genannte Tendenz zu einer Relativierung von Krankheitskategorien, die sich sowohl in klinischer, sozialwissenschaftlicher als auch neurowissenschaftlicher Hinsicht beobachten lässt. Diese Tendenz dürfte die künftige Identitätsentwicklung des Faches erheblich beeinflussen. Allerdings stehen ihr – im genau gegenläufigen Sinn – auch erkennbare Risiken der Ausweitung psychiatrischer Diagnosen in den Bereich leichter Verhaltensabweichungen und normalpsychischer Probleme gegenüber. Diese zunehmende „Medikalisierung“ persönlicher Leidenszustände und sozialer Konfliktlagen hat erhebliche Kritik hervorgerufen. Es wird befürchtet, dass Menschen in Lebenskrisen eine nicht indizierte Behandlung suchen, die eigenen Lebensprobleme aggravieren und das Vertrauen in ihre Selbstwirksamkeit verlieren. Der Verzicht auf medizinisch-ätiologisch charakterisierte Krankheitseinheiten eröffnet ein prinzipiell unbegrenztes Feld deskriptiv erfassbarer Störungsmuster. Damit aber rücken naturgemäß Störungen, Krisen oder auch nur Risikosituationen in den Bereich der Psychiatrie, die durch Eigeninitiative, Selbstregulation, Selbsthilfe, Änderung des Lebensstils oder auch durch Unterstützung im Familien- und Freundeskreis durchaus bewältigt werden können. Die Psychiatrie liefe dann Gefahr, weit über ihren ursprünglichen Aufgabenbereich hinaus Zuständigkeit für einen großen Bereich allgemeiner Lebensschwierigkeiten oder gar gesellschaftlicher Konflikte zu erhalten. Insbesondere die Medikalisierung von Verhaltens- und Beziehungsproblemen im Kindes- und Jugendalter ist vielfach kritisiert worden. Eine Möglichkeit, dem hier zutage tretenden Dilemma zu begegnen, besteht in der Umgehung des Krankheits- oder Störungsbegriffs zugunsten des weniger stigmatisierenden, allerdings auch noch unbestimmteren Begriffs der Mental Health Problems, also der „Probleme der psychischen Gesundheit“, die damit in das Themenfeld der Psychiatrie rücken. In der ICD gibt es für derartige Lebensbelastungen die „Z-Klassifikation“, die immer dann gerade auch in der Psychiatrie genutzt werden sollte, wenn Menschen mit Lebensbelastungen konfrontiert sind, ohne deshalb krank zu sein. Dadurch würden die Aktivierung von Ressourcen, die Förderung von Resilienz und vor allem die Prävention psychischer Störungen stärker in den Vordergrund psychiatrischen Erkennens und Handelns treten. Die Orientierung an der „Psychischen Gesundheit“ würde aber auch ein anderes Versorgungs- und Sozialversicherungssystem erfordern, das Hilfeleistungen auch ohne eine Etikettierung als „krank“ gewährleistet und Gesundheitsförderung finanziert (→2.3). Nicht umsonst sind Mental Health Services bislang vor allem in Ländern mit einem traditionell stark ausgebauten gemeindepsychiatrischen Versorgungssystem (z. B. Kanada) angesiedelt. Die Anforderungen an die Psychiater ändern sich damit: Sie werden mit einer Vielzahl von Problemen betraut, die von der Behandlung schwerer psychischer Störungen und ihrer Folgen über Möglichkeiten der Prävention bis zu Problemen der Lebensbewältigung und der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben 11 reichen. Die Relativierung des Krankheitsbegriffs könnte damit zu einem Vorteil werden, ohne notwendig zu einer Medikalisierung von individuellem Leiden zu führen. 1.9 Ziele der psychiatrischen Behandlung Primäres Ziel einer psychiatrischen Behandlung ist, wie überall sonst in der Medizin, die Genesung des Patienten. Dieser Prozess hat verschiedene Dimensionen: Es geht zunächst um Symptomreduktion, aber auch um die Einbindung des Patienten in die Therapieplanung, um die Art seines Umgangs mit der Störung sowie um einen starken Fokus auf dem Erhalt bzw. der Wiederherstellung der sozialen Teilhabe. Bei der Behandlung von schweren und chronischen psychischen Störungen kommt es vor, dass eine vollständige Genesung im Sinne der Abwesenheit der Symptome nicht möglich ist. Viele psychische Störungen sind ihrer Natur nach Langzeitstörungen, wie beispielsweise hirnorganische Störungen, Suchterkrankungen, schizophrene Erkrankungen, Depressionen, Angststörungen oder Persönlichkeitsstörungen. Dabei tritt eine Vielzahl von psychischen, somatischen und sozialen Faktoren zugleich auf – in komplexer Wechselwirkung. In diesem Fall werden im Sinne des Recovery-Konzeptes gemeinsam mit dem Patienten konkrete Behandlungsziele definiert und im weiteren Verlauf kontinuierlich überprüft. Recovery meint weit mehr als die Kontrolle der Symptome, stattdessen geht es um einen persönlichen Prozess von Wachstum und Entwicklung zur Überwindung persönlicher, sozialer und gesellschaftlicher Folgen einer psychischen Störung und um die Rückkehr zu einem erfüllten, sinnhaften und selbstbestimmten Leben sowie der Möglichkeit, einen positiven Beitrag in der Gesellschaft zu leisten. Hierbei wird die persönliche, subjektive, personenzentrierte oder auch rehabilitative Perspektive von Recovery betont. Zentrale Zielgrößen recovery-orientierter Behandlung sind daher neben der Reduktion von psychopathologischen Symptomen und Rezidiven etwa die Teilhabe an Ausbildung und beruflicher Tätigkeit, unabhängige Lebensformen, persönliches Wohlbefinden und ein Ausfüllen normativer sozialer Rollen. Einen konzeptuellen Rahmen für eine recovery-orientierte Behandlung bietet das erweiterte Stress-Vulnerabilitätsmodell. In dessen Fokus steht zum einen die stringente Stärkung der Betroffenen im Umgang mit der Störung, um den Behandlungsprozess an eigens formulierten Zielen auszurichten. Zum anderen betont es eine stärkere Partizipation in den verschiedenen Lebensbereichen. Das Recovery-Konzept erlaubt die Integration verschiedener diagnoseübergreifender Interventionen in der Behandlung von Menschen mit schweren psychischen Störungen, die sich allein an den krankheitsbedingten Funktionsstörungen und Teilhabeeinschränkungen in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren bzw. dem jeweiligen Bedarf und Präferenzen der Betroffenen und ihrer Angehörigen orientieren. 1.10 Die Vielfalt der Perspektiven und ihre Integration Die Psychiatrie hat es mit einem Gegenstandsbereich zu tun, der sich grundsätzlich nur durch verschiedene Perspektiven erfahren und beschreiben lässt. Er umfasst 12 ▪ subjektive Erlebnisse und Erfahrungen einschließlich selbstreflexiver Prozesse, die aus der Perspektive der 1. Person erlebt werden, wobei es zu den Besonderheiten psychischer Störungen gehört, dass sie zur Bedrohung oder zum Zerfall des Selbst und somit zum Verlust der Ich-Identität führen können; ▪ intersubjektive Beziehungen, die primär in der 2. Person-Perspektive erfahren werden, aber auch in die jeweilige soziokulturelle Umwelt eingebettet sind; ▪ organische, insbesondere neuronale Strukturen und Prozesse, mit denen subjektive und intersubjektive Erfahrungen korrelieren, die jedoch nur einer 3. Person-Perspektive zugänglich sind. Aus dieser (Beobachter-)Perspektive lassen sich auch emotionale, motivationale, kognitive und verhaltensbezogene Prozesse bzw. Störungen erfassen. Diese Ebenen lassen sich nicht aufeinander reduzieren. Der Vielfalt von Phänomenen und Zugängen entspricht die Mehrdimensionalität der Psychiatrie. Ihr Gegenstand erfordert gleichermaßen medizinisch-biologische, psychologische, soziologische, philosophische und kulturwissenschaftliche Ansätze. Zentrale Teilgebiete des Faches reichen von der Psychopathologie über die Neurowissenschaften, Psychopharmakologie, Psychotherapie, Forensik bis zur Epidemiologie, Sozialpsychiatrie, Sexualmedizin oder transkulturellen Psychiatrie. Die therapeutischen Interventionen umfassen biologische, psychotherapeutische ebenso wie psychosoziale Methoden. Diese Konstellation beinhaltet Risiken und Chancen zugleich. Sie kann zu einer zunehmenden Heterogenität, Schulenbildung, Identitätskrise und Desintegration des Faches führen, aber auch zu einer sachgemäßen Integration von Aspekten, die der Komplexität des Menschen in einzigartiger Weise gerecht zu werden vermag. Die Psychiatrie hat im letzten Jahrhundert immer wieder ausgeprägte Paradigmenwechsel durchlaufen, mit dominierenden Theorierahmen wie der Psychoanalyse, des Behaviorismus, der Anthropologie, der Sozialpsychiatrie oder der biologischen Psychiatrie. Dabei birgt jede Verabsolutierung eines Aspektes das Risiko von Irrwegen, die zu Nachteilen für Patienten führen können. Für die künftige Identität der Psychiatrie erscheint es wesentlich vorteilhafter – und der Komplexität ihres Gegenstandes angemessener –, gerade die enorme Spannbreite des Faches zu seiner eigentlichen Stärke zu machen. Dazu bedarf es jedoch integrativer Konzeptionen, die die verschiedenen Zugänge pragmatisch zu verknüpfen verstehen, um innerhalb und außerhalb des Faches überzeugend wirken zu können. Integrierende Konzepte sollten der Individualität und Subjektivität der Patienten, ihrer sozialen Bezogenheit ebenso wie den biologischen Komponenten ihrer Störungen gleichermaßen Rechnung tragen. Sie sollten ermöglichen zu verstehen, in welchen übergreifenden Zusammenhängen sich psychische Störungen entwickeln und wie biologische, psychotherapeutische und -soziale Behandlungsansätze ineinandergreifen. Das in diesem Zusammenhang häufig genannte „biopsychosoziale Modell“ stellt allerdings eher eine Kompromissformel dar und begnügt sich zumeist mit einer bloßen Addition von relevanten Komponenten und ursächlichen Faktoren. Demgegenüber werden in der Vertiefung (→A.2) beispielhaft einige mögliche Konzepte vorgestellt, die auch neuere theoretische und empirische Entwicklungen zu integrieren bestrebt sind. 13 2. Fachärztliche Kompetenzen in Psychiatrie und Psychotherapie Übersicht: Zu den wesentlichen Bestandteilen psychiatrischer Tätigkeit gehört es, eine gemeinsame Gesprächs- und Entscheidungsebene herzustellen und ein gemeinsames Verständnis des individuellen psychischen Leidens zu erarbeiten (→2.1). Im Sinne der partizipativen Entscheidungsfindung entwickelt der Psychiater gemeinsam mit dem Betroffenen die Therapieziele und therapeutischen Entscheidungen. Ein wesentliches Element in Diagnostik und Therapie ist dabei die Arzt-Patienten-Beziehung, die auch einen eigenständigen Wirkfaktor darstellt (→2.1.1). Aufbau und Aufrechterhaltung dieser Beziehung erfordern Kommunikationskompetenzen und müssen von einem Bemühen um Einfühlung und Verstehen geprägt sein. In der „sprechenden Medizin“ besitzt die Dimension Zeit daher eine besondere Bedeutung. Darüber hinaus erfordern Gesprächssituationen, die durch psychische Krisen oder krankheitsbedingte Störungen des Verhaltens und Erlebens geprägt sind, besondere verhaltenssteuernde und verständnisvermittelnde Kompetenzen, die den Psychiater spezielle Aufgaben innerhalb der medizinischen Disziplinen erfüllen lassen (→2.1.2). Eine Herausforderung für die therapeutische Beziehung wird in Zukunft verstärkt die Digitalisierung darstellen (→2.1.3). Zur Therapie setzt der Psychiater pharmakologische sowie andere somatische, psychotherapeutische und psychosoziale Methoden ein (→2.2). Somato-medizinische und neurowissenschaftliche Kompetenzen sind erforderlich, da psychische Störungen oft im Kontext somatischer Erkrankungen auftreten (→2.2.1 und 2.2.2). Im Vordergrund der diagnostischen Tätigkeit steht die detaillierte Erfassung des psychopathologischen Befundes mit einer Fokussierung auf das subjektive Erleben und Befinden des Patienten (→2.2.3). Eine evidenzbasierte Pharmakotherapie ist (abgesehen von Persönlichkeitsstörungen) für die meisten psychischen Störungen etabliert. Zudem ermöglicht sie oft erst andere, insbesondere psychotherapeutische, Maßnahmen (→2.2.4). Letztere sind sowohl essenzieller Bestandteil der psychiatrischen Grundhaltung als auch eine Kernkompetenz zur Veränderung von Erleben und Verhalten (→2.2.5). Psychosoziale Interventionen zielen auf eine soziale Inklusion insbesondere chronisch und psychisch schwer erkrankter Menschen und die größtmögliche Lebensqualität der Betroffenen ab (→2.2.6). Schließlich ergänzen präventive Interventionen und die Förderung psychischer Gesundheit bei Menschen, die noch kein Vollbild einer Störung zeigen, das psychiatrische Kompetenzfeld (→2.3). 2.1 Kompetenzen in Interaktion und Kommunikation Der Psychiater erarbeitet mit dem Patienten ein Verständnis seines individuellen psychischen Leidens unter Berücksichtigung von zwischenmenschlicher Bindung und Beziehung, der geschlechtsspezifischen, sozio-kulturellen und wirtschaftlichen Lebenssituation und der Lebensziele. Er entwickelt im Sinne der partizipativen Entscheidungsfindung gemeinsam mit dem Patienten die Therapieziele und die therapeutischen Entscheidungen. Die sozialen und kommunikativen Kompetenzen des Psychiaters sind schließlich für die Arbeit mit Angehörigen und Bezugspersonen, multiprofessionellen Behandlungsteams sowie weiteren an der Betreuung beteiligten Berufsgruppen wesentlich, wobei die eigene umfassende medizinisch-psychiatrisch-psychotherapeutische Kompetenz in den wertschätzenden Austausch einzubringen ist. 14 Für die Therapie verfügt der Psychiater über verschiedene Handlungskompetenzen, wobei auch die eigene Rolle als Wirkfaktor zu reflektieren ist. Die regelmäßige Überprüfung des psychischen Befundes und die Verständigung mit dem Patienten über die Veränderungen seines Erlebens ermöglicht die sachgemäße Modifikation der biologischen wie der psychotherapeutischen Therapieansätze. Die dichotome Einteilung in biologische und psychosoziale Therapieformen wird dem Handlungsbereich des Psychiaters nicht gerecht, da jede biologische Therapieform in einen psychosozialen Gesamtkontext gesetzt werden muss und jede psychosoziale Therapieform biologische Effekte im Gehirn der betroffenen Person induziert. Wesentliches Ziel der Therapie ist die Linderung des Leidens des Patienten und die Wiederherstellung psychischer wie sozialer Funktionen. Hierzu gehören gegebenenfalls auch umfassende Maßnahmen der Rehabilitation, um so wieder eine möglichst vollständige Teilhabe am familiären, beruflichen und gesellschaftlichen Leben herbeizuführen. 2.1.1 Die Gestaltung der Arzt-Patienten Beziehung In der Psychiatrie stellt die Arzt-Patienten-Beziehung ein Kernelement in Diagnostik und Therapie dar. Sie ist geprägt von einer Vielzahl unterschiedlicher Einflüsse, die sowohl situative, persönlichkeitsimmanente und erfahrungsabhängige Aspekte umfassen. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist im Kontext psychiatrischer und psychotherapeutischer Fragestellungen mit besonderen Anforderungen an die kommunikativen Kompetenzen des Arztes verbunden. Diese Kompetenzen umfassen der Situation angepasste Techniken der Gesprächsführung, des Beziehungsaufbaus und des einfühlsamen Umgangs mit Patienten in Lebenskrisen, psychotisch-verkennenden Zuständen, mit kognitiven Störungen, die etwa die Aufmerksamkeit oder das Gedächtnis betreffen und mit Patienten, die im Rahmen ihrer psychischen Störung sich selbst oder andere Personen gefährden – um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Auf die hierbei und bei anderen herausfordernden Situationen erforderlichen Kompetenzen wird weiter unten gezielt eingegangen (→2.1.2). Zu den Techniken der Gesprächsführung gehört das Stellen vorzugsweise offener Fragen, zumindest zu Beginn des Gesprächs, die dem Patienten genügend Raum geben, seine Gedanken, Empfindungen und Beschwerden zu formulieren. Es hat daher im Kontext psychiatrischer und psychotherapeutischer Fragestellungen absoluten Vorrang, dass sich der Arzt genügend Zeit für das Gespräch nehmen kann, sich zuwendet und dem Patienten ggf. auch Hilfestellung bei der Verbalisierung seiner Anliegen anbietet, ohne dabei suggestiv zu sein. Nur so wird es gelingen, eine auf Vertrauen basierende Arzt-Patienten Beziehung aufzubauen, deren Qualität Grundlage für sämtliche diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen darstellt. Der Beziehungsaufbau und die weitere Beziehungsgestaltung im Sinne der Arzt-Patienten-Beziehung sind geprägt von dem empathischen Bemühen um Einfühlung und Verstehen. Wesentliche Voraussetzungen hierfür sind Authentizität und Verlässlichkeit. Einfühlung und Verstehen hinsichtlich des subjektiven Erlebens und der Symptome und Beschwerden sind die Grundlage für das Erfassen und die Beschreibung der krankheitswertigen Störung. Dabei geht es um zu- 15 nächst um den Aufbau einer Gesprächssituation, in der sich der Patient bezüglich seiner psychischen Probleme öffnet. Sodann geht es um das Verständnis des aktuellen psychischen Leidens der Person, ihrer biographischen Entwicklung, sowie der Interaktion mit der Umwelt. Der Psychiater soll Gefühlszustände, Hoffnungen, Ängste, Enttäuschungen, Werte, aber auch Potenziale (Ressourcen) und Möglichkeiten des Patienten erkennen, mit ihm gemeinsam entwickeln und ihm gegenüber benennen. Eine Kommunikation über oft sehr persönliche Inhalte setzt Vertrauen voraus, zu dessen Aufbau und Aufrechterhaltung der Psychiater befähigt sein sollte. Dabei muss die Beziehungsgestaltung zum Patienten authentisch, zugewandt, glaubwürdig und überzeugend sein. Von besonderer Bedeutung ist eine fachlich geschulte Empathie in dem Sinne, dass der Psychiater sich in die Lebenswelt des Patienten hineinversetzen kann, ohne gleichzeitig seine Sicht zu übernehmen. Gegenseitiges Vertrauen ist für die Arzt-Patienten-Beziehung auch deshalb wichtig, weil sich therapeutische Prozesse im Kontext von Psychiatrie und insbesondere Psychotherapie oft über längere Behandlungszeiträume erstrecken, wobei nicht selten auch das Gespräch mit zumindest phasenweise sehr schwierigen Patienten erforderlich wird. Dies ist besonders relevant in der Behandlung von Patienten mit fehlender Krankheitseinsicht, die sich unter Umständen durch die Beurteilung des Arztes in ihrer Autonomie beschnitten fühlen. Derartige therapeutische Situationen sind stets auch vor dem Hintergrund der individuellen Biografie des Patienten zu werten und aufzufangen, etwa bei besonderen Erschwernissen wie Migration und Traumatisierung in Verbindung mit Flucht und Vertreibung, insbesondere dann, wenn die Kommunikation aufgrund von Sprachbarrieren und kulturellen Unterschieden eingeschränkt ist. Die Dimension „Zeit“ besitzt in der Psychiatrie eine besondere Bedeutung. Diagnostik und Therapie benötigen eine Vertrauensbasis, deren Entstehung Zeit erfordert, ebenso wie das darauf aufbauende persönliche Gespräch. Zeitverkürzende technische Hilfsmittel, wie sie in weiten Teilen der Medizin zur Verfügung stehen, sind für die Behandlung psychischer Störungen nicht gegeben. Zum Verstehen des Patienten und der Leidensgeschichte, des biografischen Hintergrundes und des sozialen Umfelds sowie zur Erläuterung des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens müssen dem Arzt ausreichende zeitliche Ressourcen zur Verfügung stehen. Dies wird besonders vor dem Hintergrund der Kommunikation unter erschwerten Bedingungen deutlich. Die umfassende Kenntnis biografischer Zusammenhänge einschließlich der Strukturen der Ursprungsfamilie, der emotionalen Beziehungen und Bindungsstile, der Bewältigung wichtiger Entwicklungsschritte (schulische Entwicklung, Verhalten in der Peergroup, Pubertät, Partnerschaften usw.) sowie etwaiger Entwicklungsverzögerungen und traumatischer Erlebnisse wie Trennung oder Verlust wichtiger Bezugspersonen im Kindesalter stellt einen wegweisenden Faktor für die Einordnung und das Verständnis aktueller psychischer Störungsbilder dar. Abgesehen vom verbalen Wechselspiel kommen der Kenntnis und Wahrnehmung nonverbaler Signale in der Arzt-Patienten-Beziehung große Bedeutung zu, die zwar qualitativ universell sind, also für den Menschen typische Ausdrucksmuster umfassen, aber kulturell durchaus erheblich in ihrer Ausprägung und Ausgestaltung differieren können. Beispielsweise kann die Dauer des Blick- 16 kontakts – neben dem intuitiven Verständnis von Mimik, Körperhaltung usw. – in der Arzt-Patienten-Beziehung anzeigen, ob die Interaktion als bedrohlich (bei starrendem und verharrendem Blickkontakt) wahrgenommen wird, oder als Ausdruck von Verlegenheit, Schüchternheit, Ängstlichkeit oder Depressivität (bei Meiden von Blickkontakt und gesenktem Blick). Auch persönliche Erfahrungen und die situative Gestimmtheit des Arztes selbst stellen ein wichtiges diagnostisches Hilfsmittel dar. Die erzeugte Resonanz in der konkreten Arzt-Patienten-Interaktion sollte prinzipiell bewusstgemacht und kritisch reflektiert werden. Somit besitzt die Qualität der psychiatrisch-psychotherapeutischen Arzt-Patienten-Beziehung einen hohen Stellenwert in Diagnostik und Therapie psychischer Störungen. Sie hängt in ebenso hohem Maß von den Kompetenzen des Arztes hinsichtlich Gesprächsführung, Empathie, Beziehungsaufbau und Schaffen einer vertrauensvollen Atmosphäre ab. Die spezielle Form der Intersubjektivität in der Arzt-Patienten-Beziehung umfasst stets auch ein Wechselspiel von Attribution und Resonanz, deren notwendige Reflexion Teil aller diagnostischen und therapeutischen Schritte darstellt. 2.1.2 Kommunikation und Handeln unter erschwerten Bedingungen Psychische Krisen und krankheitsbedingte Störungen von Erleben, Denken und Verhalten können die Kommunikation zwischen dem Patienten und seiner Umgebung erheblich erschweren. Solche Gesprächssituationen erfordern besondere verhaltenssteuernde und verständnisvermittelnde Kompetenzen des Psychiaters. Einige Beispiele sind die Kommunikation mit und Beruhigung von verzweifelten Menschen; die Besänftigung von Menschen mit aggressiven und anderem herausfordernden Verhalten (Deeskalierung); der Aufbau und die Aufrechterhaltung einer Kommunikation mit Menschen mit Wahnsymptomen bzw. Halluzinationen mit dem Ziel, einen Zugang zum Betroffenen zu finden. Besondere Probleme bereiten die fehlende Einsicht in die vorhandene Störung und die Notwendigkeit spezifischer Maßnahmen zur Abwendung eines gesundheitlichen Schadens sowie schließlich die Kommunikation mit Menschen, deren Sprachverstehen und Sprachgebrauch störungsbedingt schwindet (wie bei fortschreitender Demenz). Unberechenbares, herausforderndes und aggressives Verhalten kommt in einer Minderheit von psychisch Erkrankten vor, aber krankheits- bzw. anlassbedingt auch bei Menschen nach Operationen, bei Rauschzuständen und in Delirien, dies häufig auch in den Interaktionen mit Ärzten und Pflegern. Der Psychiater ist dabei häufig gefordert, deeskalierend zu wirken. Hierzu ist die Fähigkeit zu erlernen, auch in solch schwierigen Situationen Verständnis für den Erkrankten aufzubringen und daraufhin eine Verhaltensänderung über Vertrauensaufbau zu erreichen. Richtet sich die Aggression gegen den Patienten selbst, liegen also suizidale oder selbstbeschädigende Tendenzen vor, sind vertrauensbildende und kommunikative Fähigkeiten des Psychiaters gefragt, um einen Zugang zu gewinnen und die Gefährdung vom Patienten abzuwenden. Zur Gefahrenabwehr in unbeherrschbaren Situationen kommt unter Umständen die Anwendung von Zwang als letztes Mittel in Frage. Dabei ist eine Balance zwischen einem verständnisvollen Zugehen und einem nachdrücklichen Einwirken mit verbalen und mimischen Mitteln zu finden. Geduld ist gefordert, mit diesen Mitteln die Anwendung von Zwang möglichst zu vermeiden. 17 Schlagen alle Versuche fehl, den Patienten aus seiner Gefährdung herauszuführen, ist es zuweilen erforderlich, unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zum Wohle des Patienten, freiheitseinschränkende Maßnahmen anzukündigen und einzusetzen. Der Psychiater muss darauf bedacht sein, nach Anwendung von Zwangsmaßnahmen ein nachträgliches Verständnis für das jeweilige Handeln beim Patienten zu erwirken, um damit langfristig wirkende Traumatisierungen zu vermeiden. Wegen dieses Repertoires an kommunikativen und interaktiven Fertigkeiten und Fähigkeiten erfüllt der Psychiater spezielle Aufgaben innerhalb der medizinischen Disziplinen. Vor allem auf Intensivstationen ist oftmals ein Bedarf an Umgang mit verwirrtem, uneinsichtigem, gefährdendem und sonstigem schwierigem Verhalten von Patienten gegeben. Hier ist es häufig die Aufgabe des Psychiaters und des psychiatrischen Fachpersonals, für Beruhigung zu sorgen, Gefährdungen abzuwenden und Verständnis zu vermitteln. 2.1.3 Herausforderungen durch die Digitalisierung Hilfe für psychisch erkrankte Menschen kann heute nicht nur über eine persönliche Behandlungssituation erbracht werden. Die Entwicklung des Internets und dessen Präsenz in der heutigen Gesellschaft eröffnet auch in der Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen neue Möglichkeiten. Zu unterscheiden sind synchrone Kommunikationsformen, wie eine Videosprechstunde, asynchrone Kommunikation via E-Mail, nicht angeleitete Selbstmanagementinterventionen und angeleitete Selbstmanagementinterventionen bzw. internetbasierte Interventionen. In anderen europäischen Ländern wie in den Niederlanden, Großbritannien und Skandinavien werden E-Mental-Health-Angebote mittlerweile ins Gesundheitswesen integriert. Als Vorteil von internetbasierten Interventionen werden Hilfe auf Distanz mit zeitlicher Flexibilität beschrieben und die Möglichkeit, Betroffene zu erreichen, die bisher aufgrund geographischer Gegebenheiten, beschränkter Mobilität oder zeitlicher Einschränkung keine Unterstützung finden. Zahlreiche Studien belegen die Wirksamkeit bei einem breiten Spektrum psychischer Störungen, insbesondere bei Depressionen und Angststörungen. Die Qualitätssicherung und vor allem auch die Forschung, für welche Patienten in welchem Setting internetbasierte Ansätze in Zukunft implementiert werden sollen, stehen noch aus. Bisher haben internetbasierte Interventionen in Kombination mit Face-to-Face-Behandlung die beste Wirksamkeit nachgewiesen. Über die therapeutische Allianz ist aufgrund einer geringen Anzahl von Studien noch wenig bekannt. Eine positive und stabile therapeutische Arbeitsallianz konnte in Studien zur Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen ermittelt werden. Aufgrund der weiter zunehmenden Ausbreitung von E-Health sollte der Einfluss der internetbasierten Interventionen auf die ArztPatienten-Beziehung weiter erforscht werden, vor allem wie internetbasierte Interventionen die traditionelle Kommunikation und die Interaktionen zwischen Psychiatern und Patienten beeinflussen wird. Selbstverantwortung und Empowerment der Patienten könnte gestärkt werden. Das Bedürfnis nach Bindung, Einfühlung und Verständnis, nach analoger Kommunikation wird die persönliche Kommunikation in der direkten Arzt-Patienten-Beziehung auch weiterhin bestim- 18 men. Digitale Anwendungen werden die psychiatrischen Kompetenzen auch in Zukunft nicht ersetzen können. Es ist zu beachten, dass digitale Anwendungen stets das höchste Maß an Datenschutz gewährleisten müssen, da es sich in diesem Zusammenhang um sehr sensible Daten handelt. 2.2 Kompetenzen in der psychiatrischen Diagnostik und Therapie 2.2.1 Diagnostische Kompetenzen Im Vordergrund der diagnostischen Tätigkeit steht der Kontakt zum und das Gespräch mit dem Patienten und gegebenenfalls seinen Bezugspersonen. Die Anamnese dient einer Einbettung der geschilderten Beschwerden und Konflikte in die biografische Entwicklung und einen möglichen somatischen Erkrankungskontext. Dabei sind die Persönlichkeit, fremdanamnestische Information, Besonderheiten der interpersonellen Kommunikation und der Lebenssituation sowie Belastungsfaktoren zu berücksichtigen. Von Bedeutung ist dabei die deskriptive Erfassung des psychopathologischen Befundes, die sowohl das subjektive Erleben des Patienten in seiner Selbstwahrnehmung, aber auch Symptome berücksichtigt, die nur durch einen Beobachter erfasst werden können. Diese ausführliche Befundung, die in einer reliablen und validen Terminologie erfasst wird, liefert die wesentliche Grundlage zur Diagnosestellung, Therapieentscheidung und Verlaufsbeobachtung für alle weiteren Maßnahmen. Hierzu sind die Selbstbestimmungs- bzw. Einwilligungsfähigkeit zu berücksichtigen. Diagnostische Kompetenzen müssen auch umfassen: die Prüfung des körperlichen und neurologi- schen Status, die Bewertung von Ergebnissen laborchemischer und bildgebender Zusatzuntersuchungen, Anwendung von Erhebungsinstrumenten zur Selbst- und Fremdbeurteilung mit Skalen (inklusive standardisierter diagnostischer Interviews) sowie von objektivierenden Leistungsprüfungen mit testpsychologischen und neuropsychologischen Messmethoden. Vielfach gebräuchlich zur standardisierten Erfassung des psychopathologischen Befundes sind das AMDP-System sowie das SKID-Interview für die kategoriale Diagnostik nach ICD. Die internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit nach ICF dient der Unterscheidung zwischen Funktionsstörungen (Krankheitssymptomatik), Fähigkeitsbeeinträchtigungen, Kontexteinschränkungen und Teilhabe. Voraussetzung für ein gezieltes therapeutisches Handeln in der Medizin ist eine umfassende Diagnostik (Symptomerfassung, Krankheits- und Störungsklassifikation). In den Tätigkeitsbereich der Psychiatrie fallen sämtliche Störungen, die das Erleben und Verhalten verändern, unabhängig davon, ob es einen eindeutigen Bezug zu somatischen Phänomenen gibt. Oft haben diese Veränderungen einen erlebnisreaktiven Bezug oder treten als Folgen somatischer Erkrankungen auf. Für nahezu alle psychischen Störungsbilder lassen sich Veränderungen in der Hirnstruktur, im Hirnstoffwechsel und auf neuronaler oder molekularer Ebene finden und viele Umweltfaktoren (z. B. Traumatisierung, Stress) hinterlassen neurobiologische Signaturen. Daher sind psychische Störungen nicht allein „psychisch“, sondern auch „somatisch“. Bei psychischen Störungen bestehen v. a. gruppenstatistische Unterschiede in den biologischen Befunden mit weiten Überlappungen zwischen gesunden und erkrankten Personen. Diese Unterschiede können daher für eine Individualdiagnostik bisher nicht verwendet werden. Lediglich bei Demenzsyndromen und ihren 19 symptomatischen Vorläufern ist derzeit schon eine Diagnostik über Bildgebung und laborklinische Marker möglich. 2.2.2 Medizinische Kompetenzen Manche psychopathologischen Syndrome resultieren aus Schädigungen oder Funktionsstörungen des Körpers und/oder des Gehirns, welche im Einzelfall feststellbar sind (sogenannte organisch bedingte psychische Störungen oder die Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren). Beispiele sind Demenzen mit unterschiedlicher spezifischer Ätiologie und toxische Hirnschädigungen. Solche Störungen sind in der Regel durch kognitive und andere neuropsychologische Dysfunktionen charakterisiert. Der Psychiater muss in der Lage sein, differentialdiagnostisch sichere Diagnosen stellen zu können. Dabei muss er auch die für diese Diagnostik notwendigen neuropsychologischen Methoden und somatischen Marker einsetzen, die resultierenden Befunde (z. B. Leistungsdiagnostik, klinische Chemie, Bildgebung) im Einzelfall interpretieren sowie diagnostisch und im Therapieverlauf bewerten können. Kooperationen mit anderen medizinischen Fachgebieten sind dabei notwendig. Die Behandlung mit psychopharmakologischen und anderen biologischen Verfahren wirken auf den gesamten Körper – mit teilweise erheblichem Gefährdungs- und Schädigungspotential. Zudem sind spezifische somatische Erkrankungen häufig Kontraindikationen für einzelne biologisch-therapeutische Maßnahmen. Diese Kontraindikationen sind abzuklären und zu beachten. Vom Psychiater ist für den Gesundheitsschutz seiner Patienten zu fordern, dass er einen sicheren, am jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Evidenz orientierten Umgang mit der medikamentösen Behandlung und der Arzneimittelsicherheit hat. Psychische Störungen treten oft im Kontext somatischer Störungen auf. Sie sind manchmal Ursache bzw. Risikofaktoren für somatische Störungen (z. B. Herzkreislauferkrankungen), manchmal sind sie deren Folgen (Depressionen nach Krebserkrankung), manchmal resultieren somatische Erkrankungen und psychische Störungen aus ein und derselben Risikokonstellation (stressassoziierte Störungen). Psychische und somatische Störungen bzw. Erkrankungen können interagieren und sich damit gegenseitig verstärken (psychosomatisch und somatopsychisch). Menschen mit schweren psychischen Störungen leiden deutlich häufiger unter chronischen Erkrankungen, was zu deren erhöhter Mortalität beiträgt. Der Psychiater muss bei der Behandlung psychischer Störungen das mögliche Vorliegen somatischer Erkrankungen erkennen, die Interaktion zwischen somatischer und psychischer Störung beurteilen, differentialdiagnostisch sicher entscheiden und neben der Behandlung für die psychische Störung eine optimale Behandlung der begleitenden somatischen Erkrankung organisieren. Diese angeführten notwendigen somatischen Kompetenzen eines Facharztes der Psychiatrie und Psychotherapie sind in medizinischer Hinsicht so breit gestreut, dass sie ein umfassendes medizinisches Studium voraussetzen. Anderenfalls wäre der Gesundheitsschutz für Patienten mit psychischen Störungen nicht hinlänglich gewährleistet. 20 2.2.3 Neurowissenschaftliche Kompetenzen Es besteht ein breiter Konsens, dass der Psychiater über jene neurowissenschaftlichen Kompetenzen verfügen muss, die für Verständnis, Diagnostik und Therapie psychischer Störungen relevant sind. In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten hat sich ein umfassendes neurowissenschaftliches Grundverständnis psychischer Störungen entwickelt. Die Wirkung von äußeren Bedingungen (z. B. aversive Erfahrungen, Drogen etc.) auf Erleben und Verhalten kann heute über die Entfaltung neuroplastischer Prozesse verstanden und mit zunehmender Präzision abgebildet werden. Die interindividuelle Variabilität der Reaktionsmuster kann zumindest teilweise über genetische und epigenetische Mechanismen erklärt werden (→Vertiefung A2). Heute werden psychische Störungen als Alterationen von funktionellen Netzwerken im Gehirn konzipiert. Dieses neurowissenschaftlich fundierte Krankheitsverständnis erlaubt die Wirksamkeit und Wirkmechanismen von Therapien zu illustrieren und die Interaktion mit neurologischen und anderen Erkrankungen transparent zu machen. Demenzielle Erkrankungen, die ein zunehmendes Problem der Gesellschaft darstellen, sind auf dieser Grundlage heute mit neurochemischen Mitteln zunehmend mit individueller Präzision prämorbid diagnostizierbar. Dieser neurowissenschaftliche Erkenntnisfortschritt kann psychoedukativ genutzt werden, wodurch das Krankheitsverständnis des Patienten und in der Folge auch die Therapieadhärenz verbessert werden kann. Dieses rapide wachsende Erkenntnisfeld konnte zwar bisher noch nicht zur Entwicklung neuer Therapien beitragen, es ist aber zu erwarten, dass neurowissenschaftliche Erkenntnisse auch die Diagnostik und Therapie in der Zukunft stark beeinflussen werden. Diese Hoffnung erstreckt sich daher nicht nur auf die Pharmakotherapie, sondern auch auf die Psychotherapie, denn letztere entfaltet Wirkungen auf die Plastizität des Gehirns und auf die Funktionalität spezifischer neuronaler Netzwerke. Angesichts der schnellen Erkenntnisfortschritte in den psychiatrisch relevanten Neurowissenschaften erwächst daraus die Notwendigkeit a) einer gründlichen Erarbeitung des neurowissenschaftlichen Hintergrunds psychischer Störungen in der Facharztweiterbildung und b) einer kontinuierlichen Fortbildung in diesem Wissenschaftsbereich. 2.2.4 Kompetenzen in psychopharmakologischer und biologischer Behandlung Ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie muss Indikationen, Differenzialindikationen und Kontraindikationen der gebräuchlichen Substanzklassen kennen und diese fachgerecht anwenden können. Dazu gehören Kenntnisse der jeweils individuellen pharmakodynamischen und -kinetischen Eigenschaften der applizierten Medikamente. Die Psychopharmakotherapie stellt einen Grundpfeiler der Therapie psychischer Störungen im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans dar. Eine Pharmakotherapie verbessert die Behandlungsmöglichkeiten nahezu aller Störungen, insbesondere bei schweren Ausprägungen und Verläufen ist sie oftmals unverzichtbar. Um den Nutzen einer Psychopharmakotherapie zu maximieren und Risiken so weit wie möglich zu reduzieren, sind gründliche Kenntnisse der Pharmakogenetik, des Therapeutischen Drug Monitorings (TDM) und des Arzneimittelmetabolismus unumgänglich. Dies beinhaltet auch Kenntnisse über Arzneimittelinteraktionen, die im Rahmen einer klinisch regelhaft vorkommenden Polypharmazie zu einer Wirkungsabschwächung, im ungünstigeren Fall zu gefährlichen und u. U. lebensbedroh- 21 lichen Arzneimittelkonzentrationen führen können. Hier sind nicht nur Interaktionen von Psychopharmaka untereinander zu berücksichtigen, sondern auch mit Medikamenten zur Behandlung von somatischen Erkrankungen, die regelmäßig mit Psychopharmaka interagieren, z. B. Antibiotika, Antihypertensiva oder Antikoagulantien. In bestimmten Situationen kann der Einsatz pharmakogenetischer Tests erforderlich sein. Notwendig sind auch fundierte Kenntnisse und Erfahrungen über die Wirkung von Psychopharmaka auf verschiedene Körperorgane, auch außerhalb des ZNS, sowie deren Kontrolle und Management und über die Indikationsstellung zur Pharmakotherapie in Abhängigkeit von bestehenden somatischen Erkrankungen. Da eine Pharmakotherapie oft langfristig durchgeführt wird, sind neben den Prinzipien der kurzfristigen Anwendung von Psychopharmaka (z. B. korrektes Aufdosieren, Zieldosierung) auch gründliche Kenntnisse der Auswirkungen einer langfristigen Therapie mit Psychopharmaka zu fordern. Dazu gehören Fragen der Toleranz- und Abhängigkeitsentwicklung, von Umstellen und Absetzen, Absetzsyndrome sowie möglicher struktureller und funktioneller Organschädigungen. In diesem Kontext gehören, im Sinne der partizipativen Entscheidungsfindung, Fertigkeiten in der fachgerechten Aufklärung über eine Pharmakotherapie und die Psychoedukation zum Kompetenzrepertoire des Facharztes. Überlegungen, die Pharmakotherapie aus Kapazitäts- oder ökonomischen oder anderen Gründen in nicht-ärztliche Zuständigkeitsbereiche zu verlegen ist daher entschieden entgegen zu wirken. Das Verschreiben von Medikamenten ist eine genuin ärztliche Tätigkeit. Eine Pharmakotherapie ermöglicht oft erst andere, insbesondere psychotherapeutische Maßnahmen. Darüber hinaus könnte zukünftig die Anwendung spezifischer medikamentöser Therapiestrategien zur Erleichterung von Lernprozessen im Rahmen von verhaltenstherapeutisch orientierten Psychotherapien ein besonderes Feld der Interaktion von Pharmakotherapie und Psychotherapie sein. Zu den therapeutischen Methoden und Kompetenzen zählen ferner die Indikationsstellung und Durchführung von modernen Hirnstimulationsverfahren. Der Psychiater muss in der Indikationsstellung und Anwendung der Elektrokonvulsionstherapie (EKT) kompetent und geübt sein, um insbesondere Menschen mit therapieresistenten und akut bedrohlichen psychischen Störungen zu helfen. Weitere Verfahren, die sich noch in der klinischen Evaluation befinden, sind die transkranielle Magnetstimulation (TMS) oder die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS). Auch invasive Stimulationsverfahren (Tiefe Hirnstimulation (DBS), und Vagusnervstimulation) sind in Erprobung. Die Anwendung der letztgenannten Verfahren setzt eine enge Zusammenarbeit mit Nachbardisziplinen (insbesondere der Neurochirurgie) voraus. Bei dieser Zusammenarbeit geht es um Indikationen, Interaktionen, unerwünschte Wirkungen und Kontraindikationen bei Kombination dieser Stimulationsverfahren mit einer Pharmakotherapie jeglicher Art, also auch mit Arzneimitteln zur Behandlung somatischer Erkrankungen. Andere somatische nichtmedikamentöse Therapieverfahren, für die die Indikation qualifiziert gestellt und die fachgerecht durchgeführt werden sollten, sind die Schlafentzugstherapie und die Lichttherapie. 22 Fundierte Kenntnisse der ethischen und juristischen Grundlagen einer jeden Pharmakotherapie und biologischen Therapie sind erforderlich. Zu berücksichtigen sind Aspekte des Arzneimittelgesetzes, des Haftungsrechts, von Patientenrechten und -verfügungen, der rechtlichen Grundlagen einer Off-Label-Verordnung, einer Zwangsmedikation und des informierten Einverständnisses (informed consent). 2.2.5 Kompetenzen in der Psychotherapie Psychotherapie stellt das methodisch-systematisch geleitete Verfahren zur Veränderung von Erleben und Verhalten mit Mitteln des therapeutischen Gesprächs und der Verhaltensmodifikation dar. Angesichts der bislang erörterten Bedeutung der Rolle der Subjektivität in der Psychiatrie und der Arzt-Patienten-Beziehung in der Psychiatrie ist hervorzuheben, dass psychotherapeutisch orientiertes Denken und Handeln essenzieller Bestandteil aller psychiatrischen Tätigkeit sind. Die psychotherapeutischen Behandlungen in der Psychiatrie orientieren sich an störungsspezifischen Evidenzbasierungen der eingesetzten psychotherapeutischen Verfahren. Gleiches gilt für die „wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren“, so wie sie beispielsweise vom „Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie“ geprüft sind. Psychiater verfügen aufgrund ihrer Ausbildung über die Kompetenz und Befugnis zur Ausübung der Richtlinienpsychotherapie. Darüber hinaus wenden sie ihre psychotherapeutischen Kompetenzen auch in einer Reihe anderer Durchführungsmodalitäten an. Beispiele sind die langjährige Begleitung von Menschen mit psychischen Störungen, die Krisenintervention, die psychosomatische Grundversorgung oder die fachärztliche psychotherapeutische Behandlung. Dabei ist die Bandbreite der Anwendungsbereiche psychotherapeutischer Verfahren außerordentlich hoch, von der gezielten, oft kurzfristig zu leistenden Veränderung von Emotionen, Kognition und Verhalten über langfristige Änderungen von Emotion, Kognition und Verhalten bei Persönlichkeitsstörungen bis hin zu symptomorientierten Gesprächsinterventionen bei der Behandlung von Wahn. Psychotherapeutische Interventionen werden in den verschiedenen Behandlungssettings (stationär, tagesklinisch, ambulant) angeboten und dem Schweregrad der Patienten angepasst. Richtlinienpsychotherapieverfahren wie die Verhaltenstherapie und die psychodynamische Therapie finden ihren Einsatz in Settings, die schwerpunktmäßig psychotherapeutisch arbeiten und die Weiterbildung der Assistenzärzte in diesen Verfahren gewährleisten. In akutpsychiatrischen Settings müssen psychotherapeutische Interventionen anhand der Schwere der Störungsbilder und den spezifischen Bedürfnissen der Patienten modifiziert werden. Bei der Formulierung von Behandlungszielen sind über die Diagnose hinaus weitere Patientenmerkmale zu berücksichtigen: etwa die Persönlichkeit, interpersonelle Fähigkeiten und Ressourcen sowie mögliche Probleme mit dem Selbstbild. Auch ist dem Ausmaß des Leidensdrucks, dem vorherrschendem Copingstil sowie der Behandlungsmotivation besondere Aufmerksamkeit bei der Therapieplanung zu schenken. Die Arbeit an der Veränderungsmotivation stellt ein zentraler Fokus der Psychotherapie von psychiatrischen Patienten dar. Vor (neuen) konkreten Veränderungsschritten muss häufig die Motivation weiterentwickelt werden. 23 Jedes psychotherapeutische Gespräch stellt per definitionem einen bewussten und geplanten interaktionellen Prozess dar und setzt einen Konsens über die Behandlungsbedürftigkeit und die Zielsetzung zwischen Patient und Behandler voraus sowie eine tragfähige, emotionale Beziehung in einem geeigneten, zeitlich und räumlich geschützten Setting. Psychotherapie erfordert in der Behandlungsplanung die sorgfältige Erarbeitung individueller Fallkonzeptionen. So ist auf die biografische Entwicklung einschließlich ihrer besonderen Belastungen Bezug zu nehmen, aber auch auf Lebensstilbedingungen und Lebenskontexte in der Behandlungsplanung mit kontinuierlicher Anpassung an sich verändernde Patientenbedürfnisse im Behandlungsverlauf. Auch ist bei Patienten mit psychischen Störungen in besonderer Weise auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Aktivieren von Problemen einerseits und Ressourcen andererseits zu achten, dies bezogen auf jede einzelne Therapiesitzung. Da bei schweren und vor allem chronisch verlaufenden psychischen Störungen Heilung oft nicht erreicht werden kann, bietet hier die recovery-orientierte Behandlung den konzeptuellen Rahmen, in dem psychotherapeutische Interventionen die Betroffenen unterstützen, mit ihrer Störung leben zu können, und der Behandlungsprozess so gestaltet wird, dass er sich an den vom Patienten formulierten Zielen und an der Partizipation in wichtigen Lebensbereichen ausrichtet. Dies schließt die kontinuierliche Reflexion der Auswirkungen therapeutischen Handelns, sei es pharmakologisches, psychotherapeutisches oder soziotherapeutisches Handeln, auf das Arbeitsbündnis, die therapeutische Beziehung und das Krankheitskonzept des Patienten ein. Kombinationsbehandlungen werfen Fragen nach den Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Therapiesträngen auf, wie Erschwerung von Selbstwirksamkeitserfahrungen in der Psychotherapie bei begleitender Psychopharmakotherapie, mögliche Beeinträchtigung von Antrieb und kognitiven Funktionen unter der Akutwirkung bestimmter Klassen von Psychopharmaka und schließlich Unterschiede in der therapeutischen Haltung. Schlussendlich müssen auch psychotherapeutische Angebote für solche Patienten vorliegen, die aufgrund existenzieller Nöte, geringer intellektueller Kapazität oder Angst vor Veränderung von üblichen psychotherapeutischen Vorgehensweisen nicht erreicht werden und drohen, an das „Ende der Versorgungskette“ zu geraten. Psychotherapie stellt also keineswegs nur eine zusätzliche Methode in Ergänzung anderer psychiatrischer Behandlungsverfahren dar. Eine Besonderheit der Psychotherapie in der Psychiatrie liegt darin, dass sie auch bei Menschen in Zuständen schwerer Störung ihrer psychischen Funktion erfolgen muss, indem die vorhandenen Methoden auf die individuellen Bedingungen des Patienten in den einzelnen Stadien seiner Störung anzupassen sind. Hierfür bedürfen die Methoden weiterer Elaborierung. Der im psychiatrischen Kontext Tätige braucht eine besondere Kompetenz, Patienten zu einer Psychotherapie zu motivieren bzw. in Psychotherapie zu halten, sodass der Gestaltung der therapeutischen Beziehung eine zentrale Bedeutung zukommt. 2.2.6 Kompetenzen in psychosozialen Interventionen Soziale und kulturelle Faktoren beeinflussen die Entwicklung und den Verlauf aller psychischer Störungen. Erst die Berücksichtigung dieser Faktoren ermöglicht es, den Betroffenen und seinen jeweiligen sozialen Kontext (Angehörige, Arbeitsplatz, Wohnumfeld, Freizeit) in ihrer Wechselwirkung zu begreifen. Deshalb ist in allen Phasen von Diagnostik und Behandlung der gesamte 24 Lebenskontext des Patienten von zentraler Bedeutung. Dabei geht es um Menschen, die längere Zeit durch psychische Symptome beeinträchtigt sind, deutliche Einschränkungen des sozialen Funktionsniveaus erleben und das Hilfesystem intensiv in Anspruch nehmen müssen. Die Psychiatrie ist die medizinische Fachdisziplin, die diesbezüglich aufgrund ihrer langjährigen sozialpsychiatrischen Tradition über erprobte Konzepte und Interventionsansätze verfügt. Psychosoziale Therapien in der Psychiatrie zielen auf eine soziale Inklusion insbesondere chronisch und schwer psychisch erkrankter Menschen in Familie und Gesellschaft sowie auf die größtmögliche Lebensqualität der Betroffenen ab. Menschen mit schweren psychischen Störungen weisen ein besonders hohes Risiko für eine Frühberentung aus. Obgleich sie heute in der Gemeinde wohnen, haben sie auch in Deutschland, insbesondere in Ballungszentren, ein erhöhtes Risiko, obdachlos zu werden. Zudem können Menschen mit schweren psychischen Störungen oft nur auf ein reduziertes soziales Netzwerk zurückgreifen. Dies ist nicht allein die Folge der Störung, sondern Teil eines Prozesses, bei denen Defizite der erkrankten Personen, die Reaktionen des unmittelbaren Umfeldes aber auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine Rolle spielen. Menschen mit schweren psychischen Störungen stellen einen substanziellen Teil der klinisch Behandelten dar. Der Arbeitsalltag der meisten Psychiater, insbesondere in den Kliniken, wird von dieser Patientengruppe bestimmt. Wichtige Prinzipien soziotherapeutischer oder psychosozialer Interventionen sind Gemeindenähe und Gemeindeintegration, eine Recovery-Orientierung, Kontinuität in der Begleitung und hohe Flexibilität. Orientierung geben die individuellen Bedürfnisse, Präferenzen und die bisherigen Erfahrungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Deutlich wird zudem die Multiprofessionalität, die diesen Ansätzen zugrunde liegt und die eine enge Kooperation und Abstimmung aller Beteiligten erforderlich macht. Das stellt an die Kooperations- und Leitungskompetenz des Psychiaters besondere Ansprüche. Wichtige Voraussetzungen für einen gelingenden Einsatz psychosozialer Interventionen sind das Wissen zu psychosozialen Interventionen, sozialmedizinische Hilfsmöglichkeiten, Kooperationsfähigkeit und Arbeit in multiprofessionellen Teams, die Leitungskompetenz für solche Teams sowie schließlich eine Offenheit für neue Wege oder regionale Anpassungen von Angeboten. 2.3 Kompetenzen in Gesundheitsförderung und Prävention Das bisher beschriebene Kompetenzfeld der Psychiatrie in der Diagnostik und Therapie psychischer Störungen umfasst auch die Förderung psychischer Gesundheit bei Gesunden und Kranken sowie die präventive Intervention bei Symptom-Risikoträgern, die noch kein Vollbild der Störung zeigen. Die Gesundheitsförderung setzt an den Risikofaktoren für psychische Störungen an, die in den Bereichen Lebensführung, Aktivitäten, soziale Unterstützung, Ernährung, Suchtmittelkonsum einschließlich Rauchen, ausreichende körperliche Bewegung und allgemeinmedizinische Versorgung liegen. Solche Maßnahmen fordern die Selbstregulation und Bewältigung von Lebenskrisen und stärken die Resilienz. Hier sollte der Psychiater fähig sein, im Sinne einer Primärprävention kompetente und evidenzbasierte Unterstützung und Beratung zu geben. Die indi- 25 zierte Prävention setzt daran an, dass die meisten psychischen Störungen einen engeren symptomatischen Vorverlauf haben, dessen Entwicklung zum Vollbild der dann zu diagnostizierenden Störung führt. Dieser Vorverlauf kann frühzeitig erkannt werden (Früherkennung) und durch gezielte Interventionen (Frühintervention) günstig beeinflusst bzw. verzögert werden. Dies wird derzeit am erfolgreichsten in den Vorstadien von Demenzen und Schizophrenien erarbeitet. In diesem neuen medizinischen Handlungsfeld ist der Psychiater gefordert, Früherkennung und Frühintervention auf evidenzbasierter Grundlage zu leisten. Andere präventive Strategien dienen vor allem der Rückfallprophylaxe und der Vermeidung von ungünstigen Krankheitsfolgen. Diese Maßnahmen sind klassische Bestandteile des psychiatrischen Handelns und werden eher unter den Konzepten der Erhaltungstherapie subsumiert. Stets aber sind – wegen der häufigen Chronizität und der langfristigen Teilhabebeschränkungen aufgrund der psychischen Störung – viele Professionen und Institutionen involviert. Der Psychiater muss also versorgungssektorenübergreifend kooperationsfähig sein. Dabei übernimmt er häufig Leitungs- und Koordinationsfunktionen in den multidisziplinären Teams, wozu er entsprechender persönlicher und sozialer Kompetenz bedarf. Allerdings ist festzustellen, dass die Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen stark vom jeweiligen Gesundheitssystem abhängt, das von Land zu Land unterschiedlich ist. Die hier vorgestellten Überlegungen entsprechen den sozialen, kulturellen, historischen und gesetzlichen Bedingungen in Deutschland. In anderen Nationen gelten je nach den dortigen Bedingungen ganz andere Regelungen und Erwartungen. Insbesondere die Rolle sozialpsychiatrischer Versorgungsangebote und die Stellung des Mental-Health-Sektors unterscheiden sich in einigen Ländern gänzlich von denen in Deutschland. So arbeiten Psychiater in manchen Ländern, vor allem im angelsächsischen Raum, bereits seit langer Zeit in multiprofessionellen Teams und stellen eine Komponente innerhalb des Versorgungssystems dar. In anderen Ländern ist das System stärker arztzentriert ausgelegt, wobei Psychiater die Behandlung hauptverantwortlich steuern und Therapieaufträge an beteiligte Fachkräfte delegieren. 26 3. Psychiatrie und Gesellschaft Übersicht: Psychiatrie und Psychotherapie stehen in einem besonderen Kontext gesellschaftlicher Erwartungen, die komplex, nicht selten widersprüchlich sind (→3.1). Häufig sind sie Ausdruck eines doppelten Auftrags zur Behandlung und Gefahrenabwehr: einerseits im Interesse des Patienten selbst und andererseits im Interesse Dritter. Grundsätzlich ist zu betonen, dass sozial abweichendes Verhalten und Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft für sich alleinstehend keine psychischen Störungen darstellen. Das heutige Selbstverständnis der Psychiatrie hat sich von einem paternalistisch-fürsorglichen zu einem autonomie-zentrierten entwickelt (→3.2). Die ethische Grundhaltung des Psychiaters beruht daher heute auf dem Respekt vor der Autonomie und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Dabei ist es durch die Ethik geboten, für den Betroffenen Verantwortung und Fürsorge zu übernehmen, wenn er aufgrund seiner psychischen Beeinträchtigung nur über eine eingeschränkte Fähigkeit zur Selbstbestimmung verfügt (→3.3). Hinzu kommen weitere gesellschaftliche Ansprüche (→3.4): Im Spannungsfeld zwischen ethischen und ökonomischen Betrachtungsweisen ist es Aufgabe des Psychiaters, die notwendigen Ressourcen zur Behandlung psychischer Störungen gegenüber Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen zu verteidigen. Darüber hinaus sollte der Psychiater Stigmatisierungen von Menschen mit psychischen Störungen entschieden entgegentreten und ein Fürsprecher ihrer Inklusion in der Gesellschaft sein. Hierfür sollen die Betroffenen entsprechend der Prinzipien des Empowerments und Recovery darin unterstützt werden, ihre Interessen selbst durchzusetzen. In diesen Zusammenhang gehören auch neuere Initiativen der Genesungsbegleitung durch Menschen, die selbst psychiatrische Behandlung in Anspruch genommen haben (EX-IN), sowie durch die Unterstützung der Psychiatrie beim Trialog zwischen den von psychischer Störung betroffenen Menschen, deren Angehörigen und den professionell Tätigen. Die künftigen gesellschaftlichen Veränderungen werden die Psychiatrie beeinflussen und spezifische Herausforderungen an Versorgung stellen (→3.5). 3.1 Die Stellung von Psychiatrie und psychischen Störungen in der Gesellschaft Psychiatrie und Psychotherapie stehen in einem besonderen gesellschaftlichen Kontext. Die Erwartungen der Gesellschaft und der Gesundheitspolitik an die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung sind umfassend, vielfältig und dabei nicht selten widersprüchlich. Hohe Anforderungen an die Qualität der zu erbringenden Leistungen mischen sich mit einer oft grundsätzlichen Infragestellung der Notwendigkeit und Effektivität psychiatrischen und psychotherapeutischen Handelns. Personen, die in Psychiatrie und Psychotherapie Verantwortung tragen, sehen sich deutlich komplexeren gesellschaftlichen Herausforderungen gegenüber, als dies für die entsprechenden Funktionen in der somatischen Medizin gilt. Neben den eher kritischen und skeptischen Einstellungen wird gleichzeitig vom Fach Psychiatrie und Psychotherapie häufig erwartet, dass zu grundsätzlichen gesellschaftlichen Fragen und Themen Stellung bezogen wird. Dies gilt auch dann, wenn diese Fragestellungen mit dem Kernbereich des Faches – nämlich der Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen – wenig zu tun haben. 27 Der Auftrag der Gesellschaft an die Psychiatrie liegt in dem Spannungsfeld zwischen drei Polen: Behandlung und Gefahrenabwehr im Interesse des Patienten, im Interesse Dritter und Behandlung auf der Basis medizinischer Ethik. Mit psychischen Störungen geht regelhaft auch eine Einschränkung der Teilhabe an sozialen Prozessen einher. Psychische Störungen und das gesellschaftliche Umfeld stehen in einer Wechselwirkung zueinander, die einerseits zu Stigmatisierung oder gar Diskriminierung von Menschen mit psychischen Störungen beiträgt, auf der anderen Seite zu Ängsten und Belastungen der Bevölkerung (auch in finanzieller Hinsicht) führen kann. Menschen mit psychischen Störungen fällt es störungsbedingt oft schwer, sich für ihre eigenen Bedürfnisse und Belange adäquat einzusetzen. Angehörige übernehmen evtl. einen Teil dieser Aufgaben. Es bleibt aber auch eine wesentliche Herausforderung der in diesen Bereichen Tätigen, diesen Aspekt psychischer Störungen mit in ihr professionelles Handeln einzubeziehen. Im klinischen Kontext bilden sich die Wechselwirkungen mit dem gesellschaftlichen Bereich in dem Bestreben ab, durch psychosoziale Maßnahmen wie Milieugestaltung, Psychoedukation und Empowerment2 einen umfassenden Prozess der Genesung (im Sinne von Recovery) anzustoßen und zu unterstützen. Darüber hinaus bilden die zunehmende Komplexität der Gesellschaft und der Arbeitsprozesse durch rasche Beschleunigung, Digitalisierung und Ökonomisierung neue Risikofaktoren für psychische Störungen. Damit ist das Fachgebiet der Psychiatrie auch gefragt im Sinne der Prävention. Die vielfältigen Beziehungen zwischen gesellschaftlichem Kontext einerseits und individueller psychischer Problematik andererseits erfordern ein wissenschaftlich basiertes präventives, therapeutisches und rehabilitatives Gesamtkonzept für eine sozial orientierte Psychiatrie und Psychotherapie. Sozialpsychiatrisches Handeln setzt ein umfassendes Verständnis der Lebenswelten der Patienten, der individuellen Chancen und Risiken im sozialen Umfeld und der möglichen Lebensgestaltungen voraus. Es müssen die soziologischen, psychologischen und rechtlichen Aspekte des sozialen Umfeldes bekannt sein und berücksichtigt werden. Ein umfassendes sozialpsychiatrisches Handeln (im Sinnes eines trialogischen Prozesses) muss die Bedürfnisse und Interessen der Menschen mit psychischen Störungen in den Vordergrund stellen, gleichzeitig aber auch die Perspektiven der Angehörigen von Menschen mit psychischen Störungen und die der professionellen Helfer und Therapeuten mit einbeziehen. Sozialpsychiatrisches Handeln setzt eine grundsätzliche Haltung und Einstellung voraus, die darauf ausgerichtet ist, Benachteiligung, Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit psychischen Störungen konsequent zu vermeiden. Zu den Aufgaben, die Psychiatern in unserer Gesellschaft durch gesetzliche Rahmenbedingungen zugewiesen sind, gehören auch Aspekte der Abwehr von Gefahren für Dritte und der Sicherung. Diese Aufgaben sind Ausdruck eines doppelten Auftrags an die Psychiatrie und Psychotherapie, also des Behandlungsauftrags durch den Patienten und zusätzlich des Auftrags, primär ordnungspolitische Funktionen zu übernehmen. Die Behandlung des Patienten schließt auch Aspekte der Gefahrenabwehr ein, wie den Schutz des psychisch Erkrankten vor negativen Folgen, die sich aus Mit Empowerment bezeichnet man Strategien und Maßnahmen, die den Grad an Autonomie und Selbstbestimmung im Leben von Menschen oder Gemeinschaften erhöhen sollen und es ihnen ermöglichen, ihre Interessen (wieder) eigenmächtig, selbstverantwortlich und selbstbestimmt zu vertreten. 2 28 den Störungen seiner sozialen Handlungskompetenz oder aus störungsbedingten Schwächen in der Kontrolle auto- und fremdaggressiver Impulse ergeben. Hierbei stehen ganz im Vordergrund die Aspekte von Behandlung, Fürsorge, Hilfe und Unterstützung, wie sie das Betreuungsrecht regelt. Die Abwehr von Fremdgefährdung hingegen ist in den Unterbringungsgesetzen der Länder (PsychKGs) geregelt. Diese gesetzlichen Bestimmungen schaffen den insgesamt komplexen Rahmen für ärztlich-psychiatrisches Handeln. Zusätzlich dazu gibt es für Straftäter mit psychischen Störungen auch Aufgaben der Behandlung und Sicherung in den speziellen Einrichtungen der in der Vertiefung dargestellten Forensischen Psychiatrie (→Vertiefung A4). Dies zu beachten und in diagnostische und therapeutische Entscheidungen mit einzubeziehen, ist eine zentrale Aufgabe für alle, die in der Psychiatrie und Psychotherapie tätig sind. 3.2 Die Psychiatrie im gesellschaftlichen Wandel Die Aufgaben von Psychiatrie und Psychotherapie wandeln sich seit jeher parallel zu Änderungen in der Gesellschaft und den Lebensbedingungen der Menschen. Über Jahrzehnte hinweg standen Aspekte der Fürsorge für Menschen mit psychischen Störungen ganz im Vordergrund – nicht selten eng verbunden mit der Gefahr von Bevormundung, Hospitalisierung und auch Ausgrenzung. Seit den 1970er Jahren sind Aspekte der Partizipation und Integration von Menschen mit psychischen Störungen immer mehr in den Vordergrund getreten. In den letzten Jahren wurden verstärkt Anstrengungen dazu unternommen, immer mehr die individuellen Bedürfnisse der betroffenen Menschen zum Maßstab des Handelns zu machen. Die betroffenen Personen werden zunehmend mehr als Individuen gesehen, deren Fähigkeiten und Stärken es zu erhalten bzw. zu fördern gilt. Das Streben nach Selbstbestimmung der Patienten, Teilhabe und Inklusion sind zu zentralen Anforderungen an das psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfe- und Versorgungssystem geworden. Empowerment und Recovery bilden bei vielen psychischen Störungen eine unverzichtbare Leitlinie des therapeutischen Handelns. Nationale und internationale Bestimmungen (z. B. die Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen; UN-BRK) geben den rechtlichen Rahmen vor und stellen gleichzeitig eine Herausforderung für die Einstellungen und Haltungen gegenüber den Patienten dar. Der Wandel gesellschaftlicher Konzepte und gesellschaftlicher Realität bildet sich in den Aufgaben von Psychiatrie und Psychotherapie häufig direkt ab. Personengruppen, die spezielle Bedürfnisse aufweisen, benötigen auch und gerade in der Psychiatrie und Psychotherapie spezifische Versorgungskonzepte. Dazu gehören in erster Linie Kinder und Jugendliche, Heranwachsende, ältere und alte Menschen, gleichzeitig aber auch chronisch mehrfach erkrankte Menschen, sozial durch Armut oder Wohnungslosigkeit Benachteiligte sowie Menschen auf der Flucht oder mit Migrationshintergrund. Schließlich ist das Fach Psychiatrie und Psychotherapie auch gefordert in der Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen, die Straftaten begangen haben. Hier zeigt sich die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen, rechtlichen und medizinischen Aspekten in ganz besonderer Weise. Dabei gehört der Anstieg der Zahl der Menschen mit psychischen Störungen im Maßregelvollzug, aber auch in den Gefängnissen, zu den besonderen Herausforderungen für die Psychiatrie. 29 Die Einflüsse des Faches auf gesellschaftliche und politische Entscheidungen sind nicht selten beträchtlich, was in der Konsequenz zu einer besonderen Verantwortung der Entscheidungsträger führt. Die Gefahr der Instrumentalisierung von Psychiatrie und Psychotherapie für Problembereiche, die durch die Gesellschaft nicht verstehbar oder lösbar erscheinen, ist dabei stets gegeben. Dabei ist grundsätzlich auch nicht auszuschließen, dass es auch zum Missbrauch der Kompetenzen von Psychiatrie und Psychotherapie kommt. Das ist immer dann der Fall, wenn die entsprechende Kompetenz nicht für das Wohl der jeweils betroffenen Menschen und unter Beachtung seines Selbstbestimmungsrechts, sondern für anders geartete gesellschaftliche Interessen eingesetzt würde. Prägende Belastungen in der Geschichte des Faches sind die Vernichtung von Menschen mit psychischen und neurologischen Erkrankungen in der Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland oder die Internierung und Zwangsbehandlung von Oppositionellen als psychisch krank in der Sowjetunion. Dieser gravierende Missbrauch psychiatrischen Wissens und gesellschaftlicher Macht drückt sich auch in problematischen Krankheitsdefinitionen aus. Entsprechend lautet ein grundsätzlicher Hinweis im DSM-5, dass sozial abweichende Verhaltensweisen (z. B. politischer, religiöser oder sexueller Art) und Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft keine psychischen Störungen sind, es sei denn, der Abweichung oder dem Konflikt liegt eine klinisch bedeutsame Dysfunktion zugrunde, etwa auf den Gebieten der Kognitionen, der Emotionsregulation oder des Verhaltens. Wie andere Bereiche der Gesellschaft auch, ist die Psychiatrie von der Globalisierung geprägt. Am deutlichsten zeigt sich dies in den globalen Flucht- und Migrationsbewegungen. Die in den vergangenen Jahren nach Deutschland geflüchteten Menschen weisen als Folge traumatisierender Erlebnisse in ihren Heimatländern und auf der Flucht erhebliche psychische Belastungen und Störungen auf. Aber auch Menschen mit Migrationshintergrund, die schon lange in Deutschland leben, sind zum Teil in überdurchschnittlichem Maße von psychischen Störungen betroffen. Um ein gelingendes Miteinander in der Gesellschaft zu erreichen, ist die Psychiatrie hier unter den medizinischen Disziplinen im besonderen Maße gefordert. Die Behandlung dieser Menschen erfordert eine Haltung, die gegenüber der Vielfältigkeit von Kulturen und Wertevorstellungen, von Religionen und Lebensweisen und natürlich auch von Unterschieden in der verbalen und nonverbalen Kommunikation sensibilisiert ist. 3.3 Selbstbestimmungsfähigkeit und freiheitseinschränkende Maßnahmen Bei der psychiatrisch-psychotherapeutischen Tätigkeit stellt sich häufig die schwierige Aufgabe eines Abwägens zwischen verschiedenen Rechtsgütern. Auf der einen Seite steht der Patientenwille, den es weitestmöglich zu respektieren gilt, auf der anderen Seite gebietet die Fürsorgepflicht auch Schutzhandlungen in Situationen von Selbst- und Fremdgefährdung. Dabei ist ein Missbrauch durch ungerechtfertigte Ansprüche anderer Personen oder staatliche Interessen zu vermeiden. Maßnahmen der Sicherung sind ganz grundsätzlich mit der Frage nach der ethischen, rechtlichen und medizinischen Rechtfertigung von Maßnahmen der Unterbringung und evtl. Behandlung ohne die Zustimmung der betroffenen Personen oder sogar gegen deren (natürlichen) Willen 30 verbunden. Gleichwohl kommt es bei psychischer Störung vor, dass im Gefolge gestörter psychischer Funktionen auch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung vorübergehend und selten auch dauerhaft außer Kraft gesetzt ist (z. B. bei psychotischen Störungen, Intoxikationen, schwerer depressiver Symptomatik oder bei relevanten kognitiven Störungen). Es gehört somit zu den ärztlich-psychiatrischen Aufgaben, die Fähigkeit zur Selbstbestimmungsfähigkeit einzuschätzen. Das stationäre und ambulante Versorgungssystem für Psychiatrie und Psychotherapie hat in der Regel einen Versorgungsauftrag für eine geografisch definierte Region, andererseits sind insbesondere die Krankenhäuser aber auch mit Aufgaben der Abwehr von Eigengefährdung der Patienten bzw. mit der Sicherung vor Fremdgefährdung durch Menschen mit psychischen Störungen beauftragt. Die Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen unterliegt zunächst der Verpflichtung zur Sicherstellung einer leitliniengerechten Diagnostik, Therapie und Rehabilitation und unterscheidet sich darin nicht grundsätzlich von den Anforderungen an die Behandlung bei somatischen Erkrankungen. Maßnahmen der Sicherung können von der Medizin nur dann erwartet und verlangt werden, wenn die Gefährdung der Sicherheit individueller Ausdruck der bestehenden psychischen Störung ist und durch therapeutische Maßnahmen abgewendet oder zumindest reduziert werden kann. Die Tatsache, dass schwere psychische Störungen zu einer Einschränkung oder gar Aufhebung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung bzw. der Einwilligung in therapeutische Maßnahmen jeder Art führen können, ist alleine noch keine ausreichende Grundlage für einen Behandlungs- und Sicherungsauftrag der Krankenhäuser. Es ergibt sich vielmehr die Notwendigkeit eines sorgfältigen Abwägens zwischen den Wünschen des störungsbedingt nicht selbstbestimmungsfähigen Patienten und des erforderlichen Schutzes seiner Gesundheit. Ein Psychiater sollte in der Lage sein, Möglichkeiten zur unterstützten Entscheidungsfindung eines störungsbedingt nicht zur Selbstbestimmung fähigen Patienten zu erkennen, ihn darin zu beraten und entsprechende Maßnahmen umzusetzen (Kompetenz im supported decision making). Doch auch bei der Ablehnung der Behandlung durch einen selbstbestimmungsfähigen Patienten besteht die Pflicht zur Aufklärung des Patienten über die eventuell damit verbundenen Folgen. Die Wertschätzung und Beachtung der Autonomie des Menschen – die gleichzeitig und ungeschmälert auch die Selbstbestimmung von Menschen mit psychischen Störungen betrifft – ist eine wesentliche Grundlage des Denkens und Handelns der Psychiatrie und Psychotherapie. Nicht nur die Regelungen der UN-BRK, sondern auch der Gesetzgeber und die höchsten Gerichte in Deutschland nehmen hierzu eine klare Position ein. Eine Einschränkung der Freiheit selbstbestimmungsfähiger Menschen kann nur bei Vorliegen eng definierter rechtlicher Rahmenbedingungen erfolgen. Es stellt eine wichtige, historisch gewachsene Erkenntnis dar, dass psychische Störungen die Fähigkeit zur Selbstbestimmung nicht ständig und meist nur aufgabenbezogen sowie graduell einschränken. Auch in den Fällen, in denen ein Mensch aktuell nicht über ausreichende Selbstbestimmungsfähigkeit verfügt, kann nicht einfach nach Maßgabe rein medizinischer Werturteile entschieden werden. Das Bestreben des Hilfe- und Versorgungssystems muss darauf ausgerichtet sein, die 31 möglicherweise störungsbedingt eingeschränkte Selbstbestimmungsfähigkeit der Patienten möglichst schnell und umfassend wiederherzustellen. Es ist somit eine vordringliche Aufgabe für die psychiatrische Behandlung von Patienten, Einschränkungen in der Fähigkeit zur Selbstbestimmung therapeutisch zu beheben. Der Psychiater muss in der Lage sein, hierzu erforderliche Maßnahmen zu treffen. Freiheitseinschränkende medizinische Maßnahmen, die alleine darauf ausgerichtet sind, die Interessen Dritter zu schützen, sind nicht gerechtfertigt. Auch therapeutische Maßnahmen, die direkt dem Wohl der betroffenen Person dienen, sind gegen den Willen eines Patienten nur unter strengen Bedingungen erlaubt. Dies gilt sogar im Fall der fehlenden Selbstbestimmungsfähigkeit, da auch dann Formen der Willensbekundung möglich sind. Auch muss beachtet werden, dass jede Zwangsmaßnahme mit Vertrauensverlust und Traumatisierung einhergeht und damit die übergreifenden Ziele des psychiatrischen Handelns unterminieren kann. Die Abwägung von verschiedenen wertorientierten Elementen psychiatrischen Handelns erfordert ein hohes Maß an ethischer Kompetenz, die wiederum nur unter adäquaten Versorgungsbedingungen zum Tragen kommen kann. 3.4 Gesellschaftliche Ansprüche 3.4.1 Ethik, Qualität und Ökonomie Ist das Spannungsfeld zwischen ethischen und ökonomischen Anforderungen schon in der medizinischen Versorgung allgemein ein höchst relevantes Thema, so erhält es in der Psychiatrie noch ein besonderes Gewicht. Schon in der Psychiatrie-Enquete des Deutschen Bundestags aus dem Jahr 1975 wurde gefordert, dass eine Gesellschaft sich „auch in Zeiten knapp bemessener Mittel der Frage stellen muss, wieviel sie einsetzen will, um das Schicksal derer zu erleichtern, die als psychisch Kranke oder Behinderte auf Hilfe angewiesen sind“. Ökonomische Prinzipien sind notwendig im Sinne eines vernünftigen Einsatzes der Ressourcen. Menschen mit psychischen Störungen wollen aber keine Dienstleistung einkaufen, sie benötigen Zuwendung, Einfühlung und viel Geduld, sie brauchen Zeit, um Vertrauen aufbauen und sich öffnen zu können, Zeit für unterstützende Gespräche und Psychotherapie. Die intensive Interaktion von Ärzten und anderen an der Betreuung und Behandlung beteiligten Berufsgruppen mit den Patienten und ihren Angehörigen macht die Qualität der Behandlung aus und dies lässt sich nur begrenzt in Analogie zu industriellen Kriterien prozessoptimieren. Eine kontinuierliche kritisch-ethische Reflexion der ökonomischen Rahmenbedingungen und die Verteidigung von Ressourcen zur Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen gegenüber ökonomischen und politischen Entscheidungsträgern gehört deshalb zu den Aufgaben des Psychiaters im gesellschaftlichen Kontext. Im Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie ist bezogen auf die Verteilungsgerechtigkeit die entscheidende Frage, welcher gesellschaftliche und gesundheitspolitische Wert der Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen zugemessen wird. Die ökonomische Bedeutung von psychischen Störungen ist dabei kaum zu überschätzen. Etwa 14 % aller für die Gesundheitsversorgung in Deutschland aufgewendeten direkten Kosten sind durch psychische Störungen bedingt. Die Gesamtkosten, die in Deutschland durch psychische Störungen entstehen, werden in 32 einer Größenordnung von 3–4 % des Bruttoinlandsproduktes eingeschätzt. Bezüglich der sozialen Kosten ist dabei nicht nur an die psychotischen Störungen zu denken. Es sind vor allem Störungen, die wegen ihrer großen Zahl infolge Arbeitsunfähigkeit und Erwerbsminderung, erforderlichen sozialen und finanziellen Unterstützungsmaßnahmen oder erhöhter Mortalität wesentliche Kosten verursachen, etwa affektive Störungen, Abhängigkeitserkrankungen, Angst- oder Persönlichkeitsstörungen. Qualität und Qualitätssicherung sind weitere zentrale Aspekte des Denkens und Handelns in der Psychiatrie und Psychotherapie. Qualitätssicherung dient einem verbindlichen Standard für das Handeln in der Psychiatrie, aber auch der Sicherstellung ethischer Grundlagen sowie einer Transparenz der Aufgaben und Leistungen gegenüber Gesellschaft, Politik und Kostenträgern. Die im Fach Psychiatrie und Psychotherapie angewendeten Methoden müssen interdisziplinär und interprofessionell sein. Auf wissenschaftlicher Evidenz basierte Leitlinien, die auf einem breiten Konsens aller Beteiligten basieren, bilden dafür die Grundlage. Integrative Hilfe- und Versorgungskonzepte, die geeignet sind, Behandlungs- und Beziehungskonstanz zu fördern, stellen einen zentralen Aspekt der Zukunft des Faches dar. 3.4.2 Inklusion und Stigmatisierung Psychische Störungen gehen mit ungewöhnlichen und auffälligen Denk- und Verhaltensweisen einher. Diese Tatsache verlangt vom Umfeld eines Patienten ein hohes Maß an Akzeptanz und Toleranz. Die Gefahr von gesellschaftlicher Exklusion und Stigmatisierung sind für vulnerable Personengruppen, zu denen Menschen mit psychischen Störungen häufig gehören, ein ständiger Begleiter. Der Psychiatrie kommt in dieser Situation die Aufgabe zu, sich zusammen mit weiteren Institutionen um die Inklusion von Patienten zu bemühen sowie Diskriminierung und Stigmatisierung zu verhindern. Es ist eine wesentliche Aufgabe des Fachgebietes, gemeinsam mit den anderen medizinischen Fächern und den relevanten gesellschaftlichen Institutionen die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu beschreiben und Standards für die Umsetzung festzulegen. Dabei hat die UN-BRK international gültige Maßstäbe gesetzt und ist direkt in auch in Deutschland gültige Rechtsnormen übersetzt worden. Nach der UN-BRK entsteht Behinderung „aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“. Das Recht auf Teilhabe von Menschen mit Behinderung entspringt dem zentralen Menschenrecht auf Beachtung der Menschenwürde und ist nicht nur eine Frage des sozialen Wohlergehens. Die Konvention nimmt Abstand von einer Behindertenpolitik der Fürsorge und des Ausgleichs gedachter Defizite. Es geht demnach nicht mehr nur darum, Menschen, die aufgrund einer Behinderung benachteiligt sind, zu integrieren, sondern allen Menschen von vornherein die Teilnahme an allen gesellschaftlichen Aktivitäten auf allen Ebenen und in vollem Umfang zu ermöglichen. Das Prinzip der Normalität ist ein wesentlicher Bestandteil moderner Behandlungskonzepte in der Psychiatrie und Psychotherapie. Diesem Prinzip folgend wird angestrebt, im Rahmen stationärer oder teilstationärer Behandlungen das Milieu und die Abläufe so zu gestalten, dass sich die Anforderungen an die Patienten möglichst wenig von der Situation im gewohnten sozialen Umfeld unter- 33 scheiden. Das Normalitätsprinzip erstreckt sich auf alle Bereiche psychiatrisch-psychotherapeutischen Denkens, Planens und Handelns. Dies betrifft sowohl die strukturellen Aspekte (insbesondere die räumliche und personelle Ausstattung), die Aspekte der Prozessqualität und ebenso das angestrebte Behandlungsergebnis. Das Normalitätsprinzip ist Ausdruck der Tatsache, dass sich therapeutisches Handeln im Kontext der alltäglichen gesellschaftlichen Realität der Patienten – und nicht primär im therapeutischen Umfeld – bewähren muss. Durch die Umsetzung von Prinzipien der Normalität sollen Patienten befähigt werden, die Auswirkungen des eigenen sozialen Verhaltens zu erfahren und langfristig gesellschaftliche Teilhabe zu leben. Gleichwohl leiden Menschen mit psychischen Störungen weiterhin unter deutlicher Stigmatisierung und zeitweise auch Diskriminierung im Alltag. Sie sind vor allem hinsichtlich der Teilnahme am Arbeitsleben und in der Gemeinschaft beeinträchtigt. Die Einstellungen der Bevölkerung gegenüber psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungsmethoden haben sich zwar in den letzten Jahren insgesamt zum Positiven hin gewandelt, dies betrifft jedoch die Einstellungen gegenüber den betroffenen Menschen, insbesondere gegenüber Menschen mit schizophrenen Störungen, und gemeindepsychiatrischen Behandlungsformen in viel geringerem Ausmaß. Weiterhin erforderlich sind Bestrebungen zu einer möglichst weitgehenden Inklusion von Menschen mit psychischen Störungen in alle gesellschaftlichen Kontexte. 3.4.3 Teilhabe und psychiatrische Rehabilitation Psychiater behandeln Patienten in Frühphasen ihrer Störung, in Akutphasen, die eine intensive, ggf. auch stationäre Behandlung notwendig machen, aber auch viele Patienten in Gesundungsphasen, die oft langwierig sind. Vor allem begleiten sie Menschen mit chronischen psychischen Störungen wie z. B. Abhängigkeitskranke, Menschen mit schizophrenen Störungen oder Persönlichkeitsstörungen über Jahrzehnte hin therapeutisch. Die Wiedererlangung der früheren Fähigkeiten bedarf oft einer intensiven Begleitung. Vom ersten Tag der Behandlung nehmen rehabilitative Elemente in der Behandlung eine zentrale Rolle ein. Ende 2016 trat das Bundesteilhabegesetz in Kraft, welches die soziale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen regelt und damit eine Reform der Eingliederungshilfe in Gang setzte. Gemäß der UN-BRK ist das Menschenrecht auf gleichberechtige Teilhabe in allen Lebensbereichen nun auch in Deutschland festgeschrieben. Mit dem Empowerment-Modell werden gesunde Ressourcen der Patienten in den Mittelpunkt gestellt. In der langfristigen Versorgung der Menschen mit psychischen Störungen gewinnt so die Rehabilitation im Hinblick auf chancengleiche Teilhabe am Leben in der sozialen Gemeinschaft an Bedeutung. Rehabilitation im Sinne des Sozialgesetzbuchs IX umfasst die Behandlung chronischer Erkrankungen mittels Pharmakotherapie, Psychotherapie, Soziotherapie, sei es ambulant, teilstationär oder stationär. Niedergelassene Psychiater sind daher zu einem großen Teil als Rehabilitationsoder Sozialpsychiater tätig. Zukünftig wird der Entwicklung ambulanter Rehabilitationstools als Bestandteil der Behandlung im Lebensumfeld des Patienten mehr Bedeutung zukommen – auch 34 dies im Sinne der Überwindung von Sektorengrenzen. Perspektivisch sollte auch die aus Patienten- und Behandlerperspektive künstliche Unterteilung der Maßnahmen in Behandlung und Rehabilitation überdacht und möglichst überwunden werden. 3.4.4 Fürsorge und Partizipation Die gesellschaftlichen Erwartungen an das Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie und deren Behandlungskonzepte haben sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt – von einer eher paternalistisch-kustodialen Einstellung hin zu therapeutischen Konzepten, die eher an partizipativer Entscheidungsfindung orientiert sind. Der paternalistisch-kustodiale Ansatz stellt das Prinzip der Fürsorge und der Sicherheit in den Vordergrund und betont die Kompetenz des professionellen Bereichs für die patientenbezogenen diagnostisch-therapeutischen Entscheidungen. Dagegen ist der Einbezug von Patienten in die grundlegenden Entscheidungen über die Zielrichtung der Behandlung und die Wahl der Behandlungsform zunehmend Bestandteil der Qualitätsstandards. Anerkannt wird, dass Patienten ein Recht darauf haben, in ihren besonderen Bedürfnissen und ihrem eigenen Hilfebedarf wahrgenommen zu werden. Sie sollen dabei unterstützt werden, ihre eigenen Interessen selbst durchzusetzen, dabei frei und unabhängig zu entscheiden sowie sich und ihre Lebensverhältnisse selbstbestimmt zu organisieren (Empowerment). Diese Empowerment-Perspektive muss bei psychischen Erkrankungen stets nach den Grundsätzen der medizinischen Ethik auch durch eine Fürsorge-Perspektive ergänzt werden In diesen Zusammenhang gehören auch neuere Initiativen der Genesungsbegleitung durch Menschen, die als sog. Psychiatrie-Erfahrene selbst psychiatrische Behandlung in Anspruch genommen haben. Genesungsbegleiter durchlaufen in der Regel eine curriculare „EX-IN“ Ausbildung zum „Peer-Berater“, die eine wünschenswerte Ergänzung der Angehörigenbegleitung im Sinne einer Trialog-Idee darstellt. Insbesondere ist die Genesungsbegleitung geeignet, Selbst-Stigmatisierung zu reduzieren sowie Selbstfürsorge und -akzeptanz zu fördern. Ferner wird dadurch angestrebt, der Krisenerfahrung vor dem individuellen biografischen Hintergrund des Patienten eine Bedeutung zu geben. Bei zahlreichen psychischen Störungen besteht das Ziel der Behandlung nicht mehr ausschließlich in einem vollständigen Abklingen der störungsbedingten Symptomatik, vielmehr geht es um den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der Fähigkeit zur aktiven und selbstbestimmten Teilhabe am Leben im jeweiligen psychosozialen Kontext. Konzepte von Empowerment und Recovery sind zunehmend auch die Grundlage der Behandlung in Krankenhäusern für Psychiatrie und Psychotherapie geworden. Dabei unterstützen Psychiater die Prinzipien des Trialogs zwischen den von psychischen Störungen betroffenen Menschen, deren Angehörigen und den im Versorgungssystem professionell tätigen Menschen. 3.5 Künftige Herausforderungen Die Psychiatrie steht vor großen Herausforderungen. In vielfältiger Hinsicht werden sich dadurch auch Veränderungen im Selbstverständnis von Psychiatern, Psychotherapeuten und Psychosomatikern ergeben, die in ihren Auswirkungen heute oft nur in Ansätzen erkennbar sind. 35 3.5.1 Der demografische Wandel Der demografische Wandel betrifft das psychiatrische Versorgungssystem über die Veränderungen der Altersstruktur der Patienten sowie über eine Veränderung der Morbiditätsstruktur. Die Lebenserwartung von Menschen, die von einer chronischen psychischen Störung betroffen sind, liegt heute noch deutlich unter der Lebenserwartung in der Allgemeinbevölkerung. Dies zu verändern ist eine Aufgabe, die vom psychiatrischen Fachgebiet in Zukunft noch intensiver wahrzunehmen ist. Die Auswirkungen langjähriger Psychopharmakotherapie sowie die Folgen von Stigmatisierung und gesellschaftlicher Ausgrenzung müssen verstärkt zum Thema werden. Der Umgang mit dem Alter als persönlicher Herausforderung für alle Menschen wird den psychotherapeutischen Unterstützungsbedarf mehr als heute schon prägen. Die Veränderungen, die sich aufgrund der wachsenden Häufigkeit von dementiellen Erkrankungen ergeben, sind in ihrer Bedeutung heute noch nicht sicher abzuschätzen. Für die im ambulanten und im klinischen Bereich der Psychiatrie tätigen Menschen wird ein lebensphasenorientiertes Personalmanagement erforderlich sein. Konzepte der Work-Life-Balance, des lebenslangen Lernens und spezielle Arbeitszeitmodelle für ältere Mitarbeiter sind erforderlich, um Einbußen in der Qualität des psychiatrischen Hilfe- und Versorgungssystems zu vermeiden. Parallel müssen Konzepte der Nachwuchsgewinnung weiterentwickelt werden. Menschen mit psychischen Störungen haben regelhaft besondere Probleme in der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und insbesondere der Arbeit. Sie sind in besonders hohem Grad arbeitslos oder berentet. Gesellschaftliche demographische Änderungen bieten eine Chance, dass wegen fehlender Arbeitskräfte, Menschen mit psychischen Störungen neue Chancen bekommen. 3.5.2 Gesellschaftliche Veränderungen Die Einstellungen gegenüber Menschen mit psychischen Störungen und die Erwartungen der Gesellschaft an das psychiatrische Versorgungssystem und die Forschung werden sich künftig weiter verändern. Dies wird auch eine Folge internationaler Entwicklungen und anhaltender Migrationsbewegungen sein. In diesem Zusammenhang wird therapeutischen Konzepten, wie Empowerment oder Recovery, eine zunehmende Bedeutung zukommen. Bereits in den letzten Jahren hat das Thema der Autonomie von Menschen mit psychischen Störungen und deren gleichberechtigter Partizipation an Behandlungsentscheidungen an Gewicht gewonnen. Die Diskussion darüber wird nicht ohne Auswirkungen auf die Identität der Psychiatrie, die Struktur der Versorgung und insbesondere auch auf die ethischen Grundlagen des Faches bleiben. Die Bedeutung, die die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in diesem Bereich erlangt hat, belegt den erforderlichen Veränderungsbedarf. Maßnahmen, die störungsbedingt gegen den Willen der betroffenen Patienten oder ohne deren informierte Zustimmung ergriffen werden, müssen auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt werden. Dabei darf der notwendige Schutz, den Menschen mit schweren psychischen Störungen zeitweise benötigen, nicht außer Acht gelassen werden. 36 3.5.3 Die Herausforderungen an die Versorgung Die aktuell die Regelversorgung prägende Versorgung in Sektoren hat sich als problematisch bei der Behandlung von psychischen Störungen herausgestellt. Das Problem sind die Unterbrechungen in der Behandlungs- und Beziehungskontinuität. Setting- und sektorenübergreifende Strukturen werden zukünftig zu einer verbesserten Steuerung und Koordination der Versorgung führen. Dies wird neue Formen in der psychiatrischen Versorgung mit sich bringen. Limitiert werden diese Entwicklungen durch die Knappheit der von der Gesellschaft zur Verfügung gestellten Ressourcen und den Mangel an qualifizierten Fachkräften. Dies erfordert eine umfassende Diskussion über die Frage, welche Ansprüche aus den verschiedenen gesellschaftlichen Perspektiven an das Versorgungssystem zu stellen sind. Personalisierte Medizin hat bereits heute z. B. in der Onkologie die Therapiechancen zahlreicher Patienten verbessert, jedoch auch die Diskussion entfacht, welche Ressourcen in der Gesellschaft für welche Krankheitsbilder und die entsprechend betroffenen Patienten zur Verfügung gestellt werden können. Die aktuellen Entwicklungen in der Diskussion über die Menschenrechte in der Psychiatrie, die zunehmende Lebensweltorientierung in der psychiatrischen Versorgung und der Bedarf an störungsspezifischen Behandlungsformen bedingen einen zunehmenden Forschungsbedarf und erfordern zusätzliche Ressourcen. Ein wesentlicher Aspekt wird sein, wie psychische Störungen heute und in Zukunft definiert werden sollen und welche Auswirkungen das auf die Versorgungsstruktur und die therapeutischen Ansätze hat. Dabei werden auch soziale Aspekte psychischer Störungen an Bedeutung gewinnen, insbesondere, wenn die Forschung zunehmend Aspekte der Teilhabe, wie Wohnen, Arbeit und soziales Leben, mit betroffenen Menschen in den Blick nimmt. Die in Psychiatrie tätigen Personen setzen sich dafür ein, dass Menschen mit psychischen Störungen angesichts des ökonomischen Drucks auch an diesem medizinischen Fortschritt teilhaben können und auch weiterhin eine qualitativ hochwertige Behandlung erhalten können. 37 Resümee Die Psychiatrie verfügt als eines der zentralen Fächer der Heilkunde über eine lange Tradition mit vielfältigen Wurzeln in der Medizin, den Geistes-, Natur- und Sozialwissenschaften. Diese Ansätze gilt es in den gegenwärtigen Überlegungen zur Identität des Faches zu integrieren. Dies macht sowohl den Reiz als auch die Herausforderung des Faches aus. Als wissenschaftliche Disziplin und als Teilgebiet der Humanmedizin befasst sich die Psychiatrie mit der Erkennung, Erforschung, Behandlung, Rehabilitation und Prävention psychischer Störungen. Die Begriffe von psychischer Störung und psychischer Krankheit stellen komplexe Konstrukte mit kategorialen wie auch dimensionalen Aspekten dar, bei deren Bestimmung unterschiedliche Perspektiven in beständiger methodologischer Reflexion zu berücksichtigen sind. Psychische Störungen manifestieren sich in Veränderungen im Denken, Fühlen und Verhalten. Zugleich gehen sie mit Funktionsstörungen des Gehirns einher. Zentrales wissenschaftliches Ziel bleibt die Aufdeckung von störungsverursachenden Prozessen und die evidenzbasierte Fortentwicklung der Behandlungsmöglichkeiten. Ziel des therapeutischen Handelns ist einerseits die Leidensminderung bzw. das Wohlbefinden, andererseits die Wiedergewinnung der Fähigkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe (Recovery) und nicht nur die Beseitigung von psychischen Störungssymptomen. Häufig spielen psychische Faktoren bei der Entstehung und Verarbeitung körperlicher Krankheiten eine wichtige Rolle. Auch gibt es enge Wechselwirkungen zwischen psychischen und somatischen Störungen der Gesundheit. Daher arbeitet die Psychiatrie eng mit den anderen medizinischen Fachdisziplinen zusammen. Über ihre erfahrungs- und handlungswissenschaftliche Qualität hinaus wendet die Psychiatrie neurobiologische, medizinische, psychologische, sozial- und andere humanwissenschaftliche Methoden an, um der Fülle menschlichen Erlebens und Verhaltens in gesunder wie gestörter Form gerecht zu werden. Im Mittelpunkt des psychiatrischen Handelns steht die Arzt-Patienten-Beziehung. Grundlegend dafür sind Aspekte des Verstehens, der Empathie und der Kommunikation, die bei psychischen Störungen selbst eine therapeutische Funktion besitzen. Der Aufbau einer vertrauensgetragenen, auf das subjektive Erleben gerichteten Beziehung als Basis von Diagnostik und Therapie erfordert eine angemessene Zeit für das Gespräch mit den Patienten. Zu den fachspezifischen Kompetenzen in der Psychiatrie gehören somato-medizinische, psychopharmakologische und andere biologische sowie psycho- und soziotherapeutische Verfahren einschließlich Maßnahmen zur Prävention und Rehabilitation. Die Sicherstellung der gesellschaftlichen Teilhabe erfordert ein unterstützendes soziales Umfeld insbesondere im Rahmen familiärer Beziehungen. Daher stellt der Trialog zwischen Betroffenen, Angehörigen und professionell Tätigen ein zentrales Element in der psychiatrischen Versorgung dar. Sozialer Wandel, politische Entwicklungen und Veränderungen des Zeitgeistes haben Auswirkungen auf die Stellung von Betroffenen sowie auf die gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen im Umgang mit psychischen Störungen. Besondere Aufgaben liegen dabei in Fragen der Autonomie und Selbstbestimmungsfähigkeit von Menschen mit psychischen Störungen, der freiheitseinschränkenden Maßnahmen, des Schutzes bei Eigen- und Fremdgefährdung, des Kampfes gegen die Stigmatisierung sowie der Fürsorge und Inklusion. Die ethische Reflexion 38 psychiatrischen Denkens und Handelns bleibt, auch wegen der Gefahren eines Missbrauches der Psychiatrie in der Gesellschaft, eine beständige Aufgabe. 39 Vertiefungen A1 Die Ideengeschichte der Psychiatrie und ihre Bedeutung für die Identität des Faches Eine offene und ausgewogene historisch-kritische Betrachtung der theoretischen und praktischen Entwicklungen in der Vergangenheit der Psychiatrie ist notwendige Voraussetzung für das Selbstverständnis des Faches als medizinische Disziplin. Beginn der Psychiatrie Psychische Beeinträchtigungen und Leidenszustände gab es schon immer, die Praktiken des Umgangs mit Menschen mit psychischen und verhaltensbezogenen Störungen haben sich in der Geschichte gewandelt, wie auch die Vorstellungen über ihre Entstehung. Die Anfänge einer professionellen Psychiatrie und Psychotherapie liegen im 17. Jahrhundert etwa bei Georg Ernst Stahl (1659–1734) und Johann Christian Bolten (1727–1757). Aber erst später, im 18. Jahrhundert, wurden psychische Beeinträchtigungen in systematischer Weise zum Gegenstand der Medizin. Sie wurden zu Krankheiten und der professionelle Umgang mit ihnen zum Teil der Heilkunde. Die Anfänge dieser modernen, sich als wissenschaftliche Disziplin verstehenden Psychiatrie, sind eng mit der Epoche der Aufklärung verknüpft. Hier, im Kontext stark aufgewerteter Konnotationen der Begriffe Subjekt, Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit, entstand die heute selbstverständlich erscheinende Vorstellung des Menschen mit einer psychischen Störung als „Patienten“, als leidende Person mit einem anerkannten Anspruch auf Unterstützung und Behandlung. Auch wenn zu einem gegebenen Zeitpunkt personale Handlungsvollzüge störungsbedingt erheblich eingeschränkt sein mögen, so ändert dies im Grundsatz nichts am Status der Person, die als solche zu respektieren ist. Die Reformbemühungen des französischen Psychiaters Philippe Pinel (1745–1826), der sich nachhaltig für die Verringerung von mechanischen Zwangsmitteln einsetzte, stehen in diesem Zusammenhang. Wichtige Autoren dieser Zeit sind Johann Reil (1759–1813), der den Begriff „Psychiatrie“ (ursprünglich: „Psychiaterie“) einführte und mit seiner Lehre von den „Gemeingefühlen“ eine auch für den heutigen Blick interessante Grundlage für das Verständnis psychotischer Störungen entwarf, Ernst von Feuchtersleben (1806–1849), der psychotherapeutische und psychoedukative Behandlungsformen entwickelte, und Carl Gustav Carus (1789–1869), der das von ihm, Jahrzehnte vor Freud, bereits so benannte „Unbewusste“ für eine zentrale, aber schwer fassbare Kraft im Bereich des Psychischen hielt. Somatiker und Psychiker Die aufklärerische Orientierung am Subjekt, dem für sein Handeln verantwortlichen Bürger, basierte vorwiegend auf seiner Rationalität, wodurch konsequenterweise die „Geisteskrankheit“ zu einer (vorübergehenden) Absenz der Vernunft wurde. Die in der Epoche der Romantik wirkenden Psychiater zu Beginn des 19. Jahrhunderts erweiterten diese Perspektive, indem sie dezidiert die Bereiche des Emotionalen und Irrationalen in ihrer Bedeutung für die Entstehung und Behandlung psychischer Störungen hervorhoben, etwa J. C. A. Heinroth (1773–1843) und K. Ideler 40 (1795–1860). Dabei vertrat die Gruppe der „Psychiker“ die Auffassung, die „Seele“ könne aus sich heraus erkranken, es gebe also „Seelenkrankheiten“ im eigentlichen Sinne. Genau dies wurde von den „Somatikern“ wie M. Jacobi (1775–1858) und C. F. Nasse (1778–1851) bestritten. Diese waren, entgegen eines verbreiteten Missverständnises, keineswegs kompromisslose Materialisten, sondern hielten – ein typisch romantischer Gedanke – die „Seele“ für etwas ebenso Immaterielles wie Unsterbliches, das somit gar nicht selbst erkranken könne. Scheinbare „Seelenkrankheiten“ seien also in Wahrheit nur die psychische Manifestation körperlicher Störungen, die aber nicht notwendig das Gehirn betreffen müssten, sondern auch im Verdauungs-, Kreislauf- oder Atmungssystem angesiedelt sein könnten. Es trifft zwar zu, dass im Denken psychiatrischer Autoren der Romantik, speziell in der Gruppe der „Psychiker“, die Ebene des psychopathologischen Befundes oft durchsetzt war mit spekulativen naturphilosophischen oder moralisch-religiösen Voraussetzungen; auch schloss ihr Ansatz die Anwendung von drastischen Zwangsmaßnahmen keineswegs aus, spätere empirisch-naturwissenschaftlich orientierte Kritiker übersahen allerdings häufig die im Grundsatz personenzentrierte Ausrichtung der romantischen Psychiater, die mehrheitlich bestrebt waren, das subjektive Erleben und die Lebensgeschichte des Individuums zu wissenschaftlich relevanten Bereichen aufzuwerten. Moral Treatment In einen ähnlichen Kontext gehört die seit Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend einflussreiche Konzeption der „moralischen Behandlung“ psychischer Störungen (moral treatment). Deren Protagonisten, so der bereits erwähnte Philippe Pinel in Frankreich, William Tuke (1732–1822) in England und Benjamin Rush (1746–1813) in den Vereinigten Staaten, pochten auf ein Verständnis von „Geisteskrankheit“ eben als „Krankheit“: Die Betroffenen seien Patienten mit einem individuellen Anspruch auf Betreuung und Behandlung; die Medizin habe ihnen daher mit Zuwendung, Engagement und Hoffnung, nicht mit Ausgrenzung, Stigmatisierung und Resignation zu begegnen. Freilich hatte diese philanthropische Grundhaltung keineswegs immer zur Folge, dass auf krude und inhumane Zwangsmittel verzichtet wurde. Außerdem unterschieden sich die weltanschaulichen Fundamente des Moral Treatment in England recht deutlich von denjenigen in Frankreich. Beginn der Psychiatrie als Wissenschaft Ein im Kontext der Identität unseres Faches bedeutsamer Autor, Wilhelm Griesinger (1817– 1868), postulierte Mitte des 19. Jahrhunderts eine Synthese: Zum einen müsse sich die Psychiatrie zu einer auch konsequent empirischen Wissenschaft weiterentwickeln, die sich intensiv mit dem Organ Gehirn zu befassen habe. Zum anderen müsse sie die psychische und soziale Dimension ihrer Patienten ernst nehmen, ohne (aus seiner Sicht: erneut) in unhaltbare Spekulationen zu verfallen. Beeindruckend ist noch heute, wie dieser Mitbegründer einer wissenschaftlichen Psychiatrie nicht nur die inhärente Multiperspektivität des Faches beschrieb, sondern auch konkrete Vorschläge für die Umsetzung theoretischer Modelle in patientenzentriertes psychiatrisches Handeln vorlegte und so zu einem frühen Advokaten sozialpsychiatrischen Denkens wurde („Stadtasyle“, heute: gemeindenahe Versorgung). 41 Krankheitskonzepte Karl Kahlbaum (1828–1899) wurde zum Begründer der „Klinischen Methode“, bei der die systematische Berücksichtigung von psychopathologischer und neurologischer Symptomatik, Hirnpathologie, familiären Verteilungsmuster und Verlauf zur Abgrenzung von Krankheitseinheiten diente, etwa der Katatonie oder – mit Ewald Hecker (1843–1909) – der Hebephrenie. Der markante Aufschwung der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb nicht ohne Folgen für die junge Disziplin der Psychiatrie: Autoren wie der Wiener Psychiater und Neurologe Theodor Meynert (1833–1892) vertraten die Auffassung, es gehe in der Psychiatrie in erster Linie um Bau und Funktion des Gehirns, das Psychische sei ein reines Epiphänomen neuronaler Vorgänge. Die junge Wissenschaft der Hirnpathologie stellte hierzu das methodische Rüstzeug bereit. Vorbildhaft für die klinische psychiatrische Forschung wurde die Entschlüsselung der Entstehung der Syphilis-Erkrankung. Diese phänotypisch vielfältige Krankheit konnte Anfang des 20. Jahrhunderts auf eine einzige infektiologische Ursache zurückgeführt werden. Emil Kraepelin (1856–1926) in Heidelberg, später München, führte die Klinische Methode fort und betonte die Existenz von „natürlichen“ Krankheitseinheiten. Für diese postulierte er biologische Ursachen. In der von ihm gegründeten „Forschungsanstalt für Psychiatrie“, heute MaxPlanck-Institut für Psychiatrie, wurde systematisch nach diesen biologischen Ursachen geforscht, z. B. durch die Zwillingsforschung und durch hirnpathologische Forschungen – vor allem letztere waren durch Alois Alzheimer (1864–1915) und Walther Spielmeyer (1879–1935) für die Zukunft auch über das engere Feld der Psychiatrie hinaus besonders einflussreich. Subjektiv-hermeneutische Elemente hatten bei Kraepelin dagegen nur ein niedriges Gewicht, ganz im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen, dem bedeutenden Zürcher Kliniker Eugen Bleuler (1857–1939). Dieser versuchte, ein neurowissenschaftliches Psychiatrieverständnis mit einer personenzentrierten und psychodynamischen Herangehensweise zu verbinden. Psychopathologie Karl Jaspers (1883–1969) legte mit seiner „Allgemeinen Psychopathologie“ (1913) den Grundstock für ein methodenkritisches, also undogmatisches Verständnis der Psychopathologie als Grundlagendisziplin des Faches Psychiatrie. Auf ihn gehen die „Phänomenologische Methode“ zum Erfassen des „Fremdseelischen“ und die Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen zurück. Insbesondere beharrte er darauf, dass es keiner einzigen wissenschaftlichen Methode gelingen könne, die Ganzheit des psychisch gesunden oder erkrankten Menschen in seiner biografisch gewordenen Einzigartigkeit zu erfassen. Eine Methode müsse nicht nur ihre Möglichkeiten, sondern auch ihre Grenzen (an)erkennen. Jaspers hielt daran fest, dass Psychisches nie unmittelbar, „als solches“ beobachtet werden könne, sondern nur vermittelt über den Ausdruck der jeweiligen Person, über ihre Mimik, Gestik und Sprache, kurz in der intersubjektiven Begegnung, auch im künstlerischen Werk. Jaspers hat die „Allgemeinen Psychopathologie“ mehrfach umfassend überarbeitet, wobei in den späteren Auflagen seine immer prominenter ausformulierte existenzphilosophische Position stärker zum Ausdruck kommt. In der Nachkriegszeit erlangte Kurt Schneider (1887–1969) große nationale und internationale Bedeutung. Er führte die Jasper’sche Psychopathologie zu einer deskriptiv-analytischen Methode 42 fort. Für lange Zeit wegweisend wurden seine Darstellung der psychopathischen Persönlichkeiten sowie die Klinische Psychopathologie mit der Herausarbeitung der Symptome ersten Ranges als Kernkriterium der Schizophrenie. Beginn moderner Psychotherapieverfahren In die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts fallen die Wurzeln zweier großer psychotherapeutischer Schulen: Zum einen die Psychoanalyse von Sigmund Freud (1856–1939), mit ihren Vorläufern bei Pierre Janet (1859–1947) und Jean-Martin Charcot (1825–1893), für die es unbewusste Inhalte waren, die das Erleben und Verhalten einer Person prägten und eben nicht, jedenfalls nicht regelhaft, autonome Entscheidungen des Subjektes; zum anderen der Behaviorismus, mitbegründet durch Burrhus Frederic Skinner (1904–1990), der Lernvorgänge als entscheidenden psychologischen Faktor betrachtete, gerade mit Blick auf psychische Störungen. Letztere seien nämlich im Kern Ausdruck erlernten Fehlverhaltens, das mit geeigneten Mitteln wieder „verlernt“ werden könne. Dies ist der bis heute gültige Grundgedanke der Verhaltenstherapie. Psychiatrie und Menschenverachtung zur Zeit des Nationalsozialismus Auf der Grundlage einer sozialdarwinistischen Grundhaltung und einer gezielten Fehlinterpretation formalgenetischer Daten durch zahlreiche führende Wissenschaftler in der damaligen Zeit wurden in der nationalsozialistischen Ideologie rassistische Vorstellungen und Zwangssterilisierungen an Menschen mit psychischen Störungen und neurologischen Erkrankungen unter aktiver Mitwirkung vieler Psychiater, Neurologen und Erbbiologen eingeführt. Die Geschädigten mussten beim Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, der Bundesrepublik, über Jahrzehnte um eine Entschädigung kämpfen. Während des Zweiten Weltkrieges mündete die Menschenverachtung gegenüber Menschen mit psychischen Störungen und neurologischen Erkrankungen in Massenvernichtungen von Patienten im Rahmen des T4-Programmes (so benannt nach dem Sitz der zuständigen Behörde an der Tiergartenstraße 4 in Berlin). Auch an diesen menschenverachtenden Maßnahmen beteiligten sich viele Nervenärzte – zum großen Teil freiwillig – als Gutachter. Die Psychiatrie in Deutschland hat diese menschenverachtende Periode des Nationalsozialismus nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs über lange Zeit verdrängt und erst Jahrzehnte später mit deren wissenschaftlicher und emotionaler Verarbeitung begonnen. Anthropologische Psychiatrie Der zutiefst inhumane Umgang mit Menschen mit psychischen Störungen im Nationalsozialismus führte in den Nachkriegsjahren zu entschieden humanitären Haltungen in der Psychiatrie. Es kam – wenn auch nur für einige Jahre – zur Blüte eines dezidiert existenzphilosophisch orientierten Ansatzes, in der Literatur oft als „anthropologische Psychiatrie“ bezeichnet. Autoren wie Jürg Zutt (1893–1980) und Ludwig Binswanger (1881–1966) untersuchten die Fragen, welcher biographisch unterlegte, existenzielle Sinn der psychiatrischen Störung einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben zukomme, und wie eine solche Perspektive therapeutisch nutzbar zu machen sei. Dabei stand dieser Ansatz keineswegs in einem fundamentalen Gegensatz 43 zu biologischem Denken. Dieses sei aber notwendiger Weise durch die anthropologische, sich der Sinnfrage öffnenden Dimension zu ergänzen. Komplexe, zudem noch von Land zu Land sehr unterschiedliche Entwicklungen prägten die Entstehung der Fächer Psychiatrie und Neurologie aus der Inneren Medizin: Während sich die Psychiatrie im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend als eigenständiges Fach etablieren konnte, schließlich auch mit entsprechender Vertretung an den medizinischen Fakultäten, gelang der Neurologie dieser Schritt erst deutlich später, um die Wende zum 20. Jahrhundert. Diese Entwicklung wurde in Deutschland erst spät (nach 1945) institutionalisiert, standen sich doch lange zwei Positionen gegenüber: die Verfechter einer eigenständigen Neurologie einerseits und einer sowohl die Neurologie als auch die Psychiatrie umfassenden „Nervenheilkunde“ andererseits. Reform- und Sozialpsychiatrie Angestoßen durch tiefgreifende gesellschafts- und sozialpolitische Veränderungen verstärkte sich ab Mitte der 1960er Jahre die Kritik an der Versorgungsrealität in psychiatrischen Kliniken. In einer Denkschrift (1965) wurde von Psychiatern ein „nationaler Notstand“ ausgerufen und dringliche Reformen wurden gefordert. 1970 fand ein erstes überregionales Treffen reformerischer Kräfte (Mannheimer Kreis) statt, aus der die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie hervorging. Anfang 1971 gründete sich die „Aktion Psychisch Kranke“ mit Bundestagsabgeordneten und psychiatrischen Experten. Dies waren die Voraussetzungen dafür, dass der Deutsche Bundestag 1972 eine Bestandsaufnahme (Psychiatrie-Enquete) beschloss, welche 1975 Ergebnisse zu allen Gebieten der psychiatrischen Versorgung vorlegte. Auch in der ehemaligen DDR gab es zeitgleich Ansätze zu einer Psychiatrie-Reform, unter denen insbesondere die „Rodewischer Thesen“ (1963) historische Bedeutung erlangten. Als Ergebnisse der Reformbestrebungen finden sich heute weitere therapeutische und rehabilitative Hilfe- und Behandlungsmöglichkeiten im gemeindepsychiatrischen Bereich im engeren Sinn. Hierzu gehören insbesondere die Sozialpsychiatrischen Dienste der Kreise und Kommunen, Einrichtungen des therapeutischen und betreuten Arbeitens und Wohnens, Tagesstätten für Menschen mit psychischen Störungen und weitere niedrigschwellige Angebote wie Patientenclubs und Selbsthilfegruppen. Die Etablierung von Genesungsbegleitern in die Behandlung stellt eine Neuerung in der Versorgung dar. Hier werden Menschen, die selbst in psychiatrischer Behandlung gewesen sind in die Behandlung von aktuell behandlungsbedürftigen Patienten aktiv einbezogen und in das therapeutische Team aufgenommen. Psychosomatik Die Psychosomatik hat sich aus der Inneren Medizin und Psychiatrie heraus entwickelt. Der Begriff Psychosomatik leitet sich ab von den altgriechischen Wörtern psyché (Seele, Hauch und Atem) und soma (Leib und Körper). Psyche und Soma können sich wechselseitig beeinflussen. Eine einseitige Kausalitätsbetrachtung (Psyche beeinflusst Soma) ist obsolet. Der klassische Katalog von sieben psychosomatischen Krankheiten, die 1950 von Franz Alexander beschrieben 44 wurden, sind längst Geschichte. Es waren 1. Ulcus ventriculi und Ulcus duodeni, 2. Asthma bronchiale, 3. rheumatoide Arthritis, 4. Neurodermitis, 5. essentielle Hypertonie, 6. Hyperthyreose und 7. Colitis ulcerosa sowie Morbus Crohn. Am Beispiel von Ulcus ventriculi und duodeni zeigt sich die Kurzlebigkeit derartiger Kataloge. 1982 wurde das Bakterium Helicobacter pylori als Krankheitsverursacher für das Ulcus duodeni identifiziert. Auch wenn Stressoren die Empfänglichkeit für Infektionen beeinflussen können, ist die Ursache eines Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwürs aus heutiger Sicht eine bakterielle Infektion, die entsprechend mit Antibiotika behandelt werden kann und damit keine psychosomatische Erkrankung mehr darstellt. Im psychosomatischen Bereich nach wie vor häufig behandelte Störungen sind chronische Schmerzen und funktionelle Beschwerden, besonders auch des Skelett- und Muskelsystems, des Magen-DarmBereichs und des Herz-Kreislauf-Systems. Pharmakotherapie und biologische Psychiatrie In den 1960er und 1970er Jahren entwickelte sich durch das Aufkommen der Pharmakotherapie im psychiatrischen Feld auch international eine enorme Dynamik, beginnend mit der Entwicklung der ersten Antipsychotika durch Jean Delay (1907–1987), Pierre Deniker (1917–1998) und Roland Kuhn (1912–2005) zur Behandlung von Depression und Schizophrenie. Ein weiterer bahnbrechender Fortschritt war die Entdeckung der phasenprophylaktischen Wirkung von Lithium bei bipolaren Störungen durch Mogens Schou (1918–2005). Die damit angestoßenen Entwicklungen in der Psychopharmakotherapie haben die psychiatrische Praxis bis heute maßgeblich beeinflusst. Psychopharmaka sind aus der klinischen Psychiatrie nicht mehr wegzudenken, und bei schwereren Störungen ist die Pharmakotherapie integraler Bestandteil des Gesamtbehandlungsplans. Aus den Wirkmechanismen der ersten wirksamen Psychopharmaka erwuchs ab 1960 – nach den früheren neuropathologischen Ansätzen – eine zweite Phase der hirnbiologischen Erforschung psychischer Störungen (Pharmacological Bridge). Den Neurotransmittern und ihren Rezeptoren und später den Neuromodulatoren wurden in diesem Kontext zentrale ursächliche bzw. pathophysiologische Rollen zugesprochen. Aus diesen Konzepten erwuchsen erste plausible Neurotransmitter-basierte Konzepte psychischer Störungen. Diese Entwicklung erfuhr eine besondere Anerkennung: Für die Entdeckung des Neurotransmitters Dopamin und seiner Bedeutung für neurologische und psychiatrische Störungen wurde A. Carlsson im Jahr 2000 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin geehrt (gemeinsam mit Paul Greengard und Eric Kandel). Obwohl dieses „krankheitszentrierte Modell der Arzneimittelwirkung“ zu graduellen Verbesserungen, insbesondere hinsichtlich der Verträglichkeit und der Sicherheit der Psychopharmakotherapie geführt hat, behinderte diese Fokussierung auf Neurotransmitter basierte Krankheitsmodelle wahrscheinlich die Arzneimittelentwicklung. Noch immer basieren die heute zur Anwendung kommenden Medikamente überwiegend auf den gleichen Wirkprinzipien wie die ersten Psychopharmaka. Trotz dieser Stagnation der Arzneimittelentwicklung ist die biologische Erforschung psychischer Störungen derweil in fundamentalere Bereiche vorgedrungen: Genetik, molekulare, zelluläre und 45 systemische Neurowissenschaften. Voraussetzung für diese Entwicklung war die Nutzung molekularbiologischer und bildgebender Methoden. Diese Erfolge der neurobiologischen Psychiatrie waren von weitreichendem Nutzen für psychisch erkrankte Menschen: Insgesamt darf als unbestritten gelten, dass zahlreichen psychisch erkrankten Personen ein Leben außerhalb psychiatrischer (Langzeit-)Institutionen erst durch den Einsatz von neuroleptischen, antidepressiven, anxiolytischen und phasenprophylaktischen Substanzen ab den 1960er Jahren ermöglicht wurde. Soziale Neurowissenschaften Eine weitere, nämlich die gesellschaftliche und kommunikationswissenschaftliche Perspektive betonten in den 1950er und 1960er Jahren Autoren wie Gregory Bateson (1904–1980) und Paul Watzlawick (1921–2007). Für sie waren gestörte Interaktionen in der Familie und generell eine systematisch verzerrte Kommunikation die entscheidenden Faktoren für das Entstehen und die Aufrechterhaltung psychischer Störungen. Elemente dieses Ansatzes finden sich vor allem in heute praktizierten systemischen und familientherapeutischen Methoden wieder. Als jüngste ideengeschichtliche Ausdifferenzierung kann das Verständnis der Psychiatrie als „klinische Neurowissenschaft“ oder, ein zunehmend etablierter Begriff, als „soziale Neurowissenschaft“ (social neuroscience) angesehen werden (→Vertiefung A2). Letztere nimmt jenseits der Hirnfunktionen im engeren Sinne auch deren Korrelationen mit komplexen, etwa interpersonellen und sozialen Aspekten des menschlichen Verhaltens und Erlebens als Forschungsthema auf. Ethik in der Psychiatrie Im Laufe der geschilderten Entwicklungen haben sich auch die Erwartungen an die Rolle des Psychiaters verändert, wobei anstelle einer paternalistischen Haltung, der Respekt vor der Autonomie des Patienten wesentlich in den Vordergrund gerückt ist (shared decision making). Die Erweiterung um die Angehörigenperspektive generierte die sog. „trialogische Situation“. Eine ebenfalls deutliche Veränderung erfuhr das (Selbst-)Verständnis der von einer psychischen Störung betroffenen Person: Das stark defizitorientierte Bild des Kranken wich dem einer in ihren sozialen Funktionen zwar beeinträchtigten, gleichwohl über Ressourcen und Autonomie verfügenden Person, bei deren Behandlung es nicht lediglich um Symptomreduktion, sondern ebenso um Lebensqualität und Würde geht, auch und gerade dann, wenn eine Störung nicht vollständig ausheilt (Recovery-Ansatz). Medizinische Ethik und Rechtsprechung haben diese Strömungen aufgenommen und weiterentwickelt, etwa in der lebhaften Debatte um den Begriff der Autonomie und seinen konkreten Stellenwert im psychiatrischen Kontext. Die rechtliche Stellung psychisch erkrankter Personen wurde in zahlreichen Ländern durch klarere gesetzgeberische Vorgaben gestärkt, beispielsweise durch die Einführung der Patientenverfügung. Evidenzbasierung und Psychotherapie In den letzten Jahrzehnten ergaben sich auf neurowissenschaftlichem wie psychotherapeutischem Gebiet vielversprechende Neuerungen: Die neurowissenschaftlich fundierte Forschung 46 hat unser Wissen um die Funktionen des Zentralnervensystems im Kontext psychischer Störungen markant erweitert. Psychotherapeutische Methoden wurden erheblich ausdifferenziert und einer systematischen empirischen Kontrolle unterzogen (Evidenzbasierung). Die „dritte Welle“ in der verhaltenstherapeutischen Tradition nahm jüngst auch weniger stringent operationalisierbare Phänomenbereiche in den Blick, etwa im Falle der Schematherapie, der Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) oder der achtsamkeitsbasierten Therapieformen. Störungsspezifische psychotherapeutische Ansätze konnten wiederholt ihre Gleichwirksamkeit mit Pharmakotherapie bei vielen psychischen Störungen belegen, was ihre Akzeptanz in der klinischen Praxis markant erhöhte. Bei schweren psychischen Störungen sind heute Kombinationstherapien die Regel. Neurophilosophie Diese für die psychiatrische Praxis relevanten Entwicklungen wurden und werden von einer facettenreichen philosophischen Debatte begleitet, die sich damit auseinandersetzt, welche Bedeutung neurowissenschaftliche Befunde für die Erkenntnistheorie haben können und ob ihnen sogar ein Einfluss auf unser Menschenbild zuzusprechen ist, innerhalb wie außerhalb der Medizin. Im Grunde handelt es sich dabei um eine weitere Phase der klassischen Diskussion um den LeibSeele-Zusammenhang, die nun unter ausdrücklichem Bezug auf aktuelle (neuro-)wissenschaftliche Methoden und Konzepte geführt wird. Für diesen Kontext hat sich der Begriff „Neurophilosophie“ etabliert, was als programmatische Sammelbezeichnung nützlich sein mag, aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass es sich keineswegs um eine einheitliche Theorie handelt: Neurophilosophische Konzepte sind erwartungsgemäß argumentativ so heterogen und „bunt“ wie die von ihnen kritisch hinterfragten psychiatrischen Krankheitsmodelle auch. Dessen ungeachtet ist der seit einiger Zeit beobachtbare intensivierte Diskurs zwischen Psychiatrie und Philosophie in jedem Fall zu begrüßen. Krise der Diagnostik Das Konzept und die Definitionen psychischer Störungen sind in jüngster Zeit – v. a. auf dem Hintergrund neurowissenschaftlicher Forschung – problematisiert worden. Gefordert wird dabei, die psychiatrische Diagnostik dezidiert an quantifizierbaren neurobiologischen und -psychologischen Parametern zu orientieren und deutlich weniger am psychopathologischen Befund. Erklärtes Ziel ist dabei die Identifizierung (neuro-)biologischer Parameter, die sich definierten klinischen Syndromen zuordnen lassen, sei es als zustandsgebundene State-Marker oder als überdauernde Trait-Marker (Endophänotypen, Biomarker). Im Gegensatz zu den am subjektiven Erleben orientierten klinischen Symptomen sind die vorgeschlagenen neuen Bezugsgrößen auf den verschiedenen biologischen Ebenen (molekular, zellular, systemisch) experimentell unterscheidbar und in Modellsystemen (z. B. Tiermodellen) modifizierbar. Die messbaren Beobachtungsdimensionen sind dabei quantitativ angelegt und nicht mehr kategorial. Mit dieser (zunächst für Forschungszwecke) neu vorgeschlagenen Taxonomie wird die Hoffnung auf eine gezieltere und effizientere Entwicklung von Therapiemöglichkeiten mit innovativen Wirkmechanismen für psychisch erkrankte Menschen verbunden. Die tradierten nosologischen Entitäten Kraepelinscher Prägung stellen hier ausdrücklich keinen Bezugspunkt dar, denn diese Klassifikation hat, so wird 47 argumentiert, seit mehreren Jahrzehnten zu keinen schlagkräftigeren, neuen Therapien geführt. In diesem Zusammenhang wird oft von einem Prozess der Denosologisierung der psychiatrischen Forschung gesprochen sowie, auf der theoretischen Ebene, von einer Dekonstruktion klassischer Krankheitskonzepte (deconstructing psychosis). Das aktuell einflussreichste Beispiel für diese Stoßrichtung sind die aus dem National Institute of Mental Health (NIMH) stammenden Research Domain Criteria (RDoC). Jüngst kam das Modell einer betont daten- und statistikbasierten „Hierarchischen Taxonomie der Psychopathologie“ (HiTOP) dazu. Diese Debatte um die Krise der psychiatrischen Diagnostik wird sich dann als konstruktiv erweisen, wenn sie tradierte und neue Konzepte angemessen gegeneinander abwägt und psychopathologisch fundierte Ansätze, die sich ja auch in den weltweit angewandten operationalen Diagnosemanualen ICD-10 und DSM-5 wiederfinden, nicht nur deswegen ablehnt, weil sie einer langen psychiatrischen Denktradition entspringen. Resümee Der ideengeschichtliche Rückblick auf die Psychiatrie legt überdauernde Grundmuster des Faches im Ringen um seinen Forschungsgegenstand frei. Beispielhaft genannt sei die seit dem 19. Jahrhundert, gleichsam von Griesinger bis RDoC, geführte Debatte über Existenz und wissenschaftliche Erkennbarkeit „natürlicher“, also biologisch vorgegebener psychiatrischer Krankheitseinheiten. Gleiches gilt für die Frage des zukünftigen Stellenwertes der psychiatrischen Diagnostik, deren Bewertung, je nach Perspektive, weiterhin oszilliert zwischen unverzichtbarem Hilfsmittel einerseits und ausgrenzender Etikettierung andererseits. Für die laufende Diskussion um die Identität der Psychiatrie ist all dies von großer Bedeutung. Entscheidend ist, dass eine ernsthafte Multiperspektivität in der Psychiatrie niemals eine bloß statische Eigenschaft sein kann, sondern immer als kontinuierlicher Prozess aufzufassen ist, der sich dem wissenschaftlichen Kenntnisstand entsprechend den Grundfragen des Faches immer wieder neu stellt. Eine gewichtige Aufgabe in der nahen Zukunft wird es sein, den farblos gewordenen Rahmen eines bloß additiv verstandenen bio-psycho-sozialen Ansatzes zu überschreiten. Gelingt dies, werden unidimensionale Konzepte (nothing-but-approaches), die in der Geschichte unseres Faches immer wieder an ihre Grenzen gestoßen sind, im 21. Jahrhundert an wissenschaftlicher Akzeptanz und öffentlicher Glaubwürdigkeit verlieren. 48 A2 Person, soziale und ökologische Umwelt: Beispiele integrierender Konzepte Auch in der Psychiatrie der Gegenwart spiegeln sich die derzeit tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung und die Suche nach Strukturen, die in die Zukunft tragen. Dies zeigt sich darin, dass sie ihre Identität mit einer an den Bedürfnissen des Betroffenen orientierten Einstellung und im Umgang mit ihm profiliert sowie neue Konzeptionen der Erkennung, Differenzierung und Behandlung psychischer Störungen theoretisch erörtert und wissenschaftlich prüft. Die folgenden Beispiele sollen dies veranschaulichen. Eine ökologische integrative Konzeption Eine mögliche Integration der verschiedenen Perspektiven kann sich auf Kreismodelle stützen, wie sie in der deutschsprachigen Tradition bereits vorliegen – man denke an das Modell des Funktionskreises (J. v. Uexküll), des Gestaltkreises (V. v. Weizsäcker) oder der zirkulären Kausalität (H. v. Haken). Ob wir die Prozesse innerhalb des Organismus, die Beziehungen zwischen Organismus und Umwelt, oder die sozialen Beziehungen zwischen Individuen betrachten, sie zeigen sich gleichermaßen als kreisförmige, rückgekoppelte Interaktionen. Aktuell werden solche Kreismodelle in Theorien der verkörperten Kognition vertreten (embodied cognition), die mentale Prozesse nicht nur als Prozesse im Gehirn, sondern als übergeordnete Aktivitäten des gesamten Organismus auffassen. Dabei werden biologische, psychologische und soziale Prozesse nicht additiv aufgefasst, sondern als zirkuläre Interaktionen von Individuen und natürlicher oder sozialer Umwelt. Ein Beispiel dafür liefert etwa die Bindungsentwicklung in der frühen Kindheit: biologische Anlagen, subjektive Bedürfnisse und Mutter-Kind- sowie triadische Interaktionen bilden ein dynamisches System, das sich in bleibenden psychischen Dispositionen und Verhaltensbereitschaften ebenso niederschlägt wie in entsprechenden neuronalen Strukturen. In diesen Konzeptionen bildet das Gehirn das zentrale Transformations- und Vermittlungsorgan für die verschiedenen Kreisprozesse. Mit heutigen technischen Mitteln (Bildgebung, Epigenetik) lässt sich zum Beispiel die Veränderung neuronaler und molekularer Strukturen durch übergeordnete interaktive Prozesse zwischen Individuum und Umwelt darstellen. So ist die Modifizierung des Gehirns auf der Basis neuronaler Plastizität die Begleiterscheinung einer psychotherapeutischen Behandlung, die sich aber nicht auf neuronale Ereignisse reduzieren lässt – die neuronalen Strukturen und Prozesse stellen für sich genommen immer nur Teilstücke der umfassenderen Kreisprozesse dar. Sie werden zu Komponenten in einem Subjekt, Organismus und Umwelt übergreifenden oder „ökologischen“ Geschehen, das sich auf unterschiedlichen Ebenen betrachten lässt: (a) der Makroebene psychosozialer Prozesse bzw. der Interaktion zwischen Personen; (b) der mittleren Ebene des Individuums bzw. der Interaktionen von Psyche, Organismus und Umwelt; (c) der Mikroebene zellulärer und molekularer Prozesse im Organismus, insbesondere innerhalb des Gehirns. 49 Absteigend zur jeweils nächsten Ebene verengt sich dabei der gewählte Ausschnitt oder der Fokus auf das an sich einheitliche Gesamtgeschehen. Die Ebenen sind nicht aufeinander reduzierbar, zwischen ihnen besteht aber auch keine Wechselwirkung, sondern vielmehr ein Emergenzverhältnis. Psychische Krankheit wäre nun aus dieser Sicht als Störung eines in unterschiedliche biologische, psychologische und soziale Funktionen differenzierten Lebensprozesses aufzufassen, der das Gehirn und den Organismus in seiner Beziehung zur Umwelt ebenso übergreift wie die Person in ihrer Beziehung zu anderen. Biologische, psycho- und soziotherapeutische Behandlungen setzen dabei an verschiedenen Ebenen und Komponenten an. Sie greifen aber kreisförmig ineinander und lassen sich auch komplementär zueinander einsetzen (z. B. ermöglicht eine medikamentös induzierte Antriebssteigerung neue soziale Interaktionen und damit Selbstwirksamkeitserlebnisse; umgekehrt führt Psychotherapie zu einer reduzierten physiologischen Stressreaktion, etc.). Wichtig ist vor allem, dass die Kreisprozesse durch den therapeutischen Impuls eine neue Richtung erhalten. Diese Kreisprozesse, ihre jeweiligen Störungen und Behandlungsmöglichkeiten auf allen Ebenen zu untersuchen – einschließlich des Gehirns als des zentralen Vermittlungs- und „Beziehungsorgans“ (Fuchs) – wäre die Zielsetzung eines verkörperten, ökologischen Paradigmas, das biologische Ansätze aus den sozialen Neurowissenschaften, subjektorientierte Ansätze aus Phänomenologie und Psychologie, Konzepte aus Systemtheorie und Sozialpsychiatrie bis hin zur kulturwissenschaftlichen Dimension der Psychiatrie vereinen könnte. Es wäre zugleich die Grundlage für eine Psychiatrie als Beziehungsmedizin im umfassenden Sinn, die „Beziehung“ also nicht nur zwischenmenschlich auffasst, sondern gleichermaßen als Beziehung von Organismus und Umwelt, von Individuum und Gesellschaft wie von Arzt und Patient. Auf dieser Grundlage lässt sich die Psychiatrie dann als Wissenschaft und Praxis von biologischen, psychischen und sozialen Beziehungen bzw. ihren Störungen begreifen. Das Modell der Sozialen Neurowissenschaften (Social neuroscience) In den letzten zwei Jahrzehnten haben neurowissenschaftliche Methoden breiten Einfluss auf die Psychiatrie genommen und dadurch zunehmend das Selbstverständnis und die Außenwahrnehmung des Faches bestimmt. Welche Art von Neurowissenschaften aber braucht die Psychiatrie? Die Antwort hierauf lautet, dass eine Vielzahl methodischer Ansätze notwendig ist. Gerade neuere Entwicklungen in der Neurobiologie (besonders der Zugriff auf Nervengewebe über induzierte pluripotente Stammzellen), kombiniert mit Ansätzen aus der Genetik und den komputationalen Neurowissenschaften, werden für die Entwicklung neuer biologischer Therapieverfahren wesentlich sein. Im Hinblick auf das Selbstverständnis des Faches stehen allerdings die sozialen Neurowissenschaften im Zentrum des Interesses, denn Störungen der sozialen Interaktion sind ein wesentlicher Aspekt unserer Krankheitsdefinitionen. Patienten erleben die störungsbedingte Einschränkung sozialer Beziehungen als besonders belastend. Auch therapeutisch stellt dieser Störungsbereich ein Ziel für psychotherapeutische und soziale Interventionen dar. Somit ist Social Neuroscience heute zu einer der am stärksten wachsenden Subdisziplinen der kognitiven Neurowissenschaften geworden. 50 Nach der sogenannten Social Brain Hypothesis hat die zunehmende Komplexität sozialer Interaktionen die Evolution des menschlichen Gehirns maßgeblich geprägt. Die letzten Jahrzehnte haben wesentliche Fortschritte darin erbracht, soziale Interaktionen in ihrer Auswirkung auf das Gehirn zu verstehen und auch die Art und Weise, wie das Gehirn zum Träger sozialer Funktionen wird, näher kennenzulernen. In verschiedener Hinsicht entwickelt sich das Gebiet der sozialen Neurowissenschaften gegenwärtig weiter in Richtungen, die für die Identität der Psychiatrie in Theorie und Praxis bedeutsam sind. Während die allermeisten Experimente im Bereich der sozialen Neurowissenschaften die Untersuchung von Einzelpersonen betrifft, die sich mit sozialen „Stimuli“ wie Bildern von Gesichtern auseinandersetzt, erlauben neue Verfahren in diesem Bereich, die Gehirnfunktion simultan bei zwei miteinander interagierenden Personen zu messen. Dieses als „Hyperscanning“ bezeichnete Verfahren erlaubt Aufschlüsse auf die Beziehungen zwischen gesunden und kranken Menschen, oder auch zwischen Therapeut und Patient. Interaktionen zwischen Menschen finden nicht isoliert, sondern im Kontext z. B. sozial-hierarchischer Beziehungen, Gruppenprozesse, kultureller Distanz etc. statt. Durch die Kombination von virtueller Realität mit Bildgebung können etwa die auf primär sozialwissenschaftlicher Ebene schwer quantifizierbare Konstrukte wie „soziale Distanz“ oder „Ausgrenzung“ in Bezug auf ihr neurobiologisches Substrat messbar gemacht werden. Das hat Konsequenzen für die Analyse von Risiko- und Resilienzfaktoren aus dem Bereich des Soziallebens, wie beispielsweise der Stadtgeburt oder der frühkindlichen Traumatisierung. Schließlich gibt es eine Bewegung der sozialen Neurowissenschaften stärker aus dem Labor und der Klinik hinaus in die Lebenswelt der Patienten und Probanden. Die ubiquitäre Verfügbarkeit leistungsfähiger Mobiltelefone mit einer Vielzahl von Sensoren ermöglicht hier eine neue Generation von Experimenten, die den Einfluss sozialer Interaktionen im Fluss der Alltagserfahrung messen und die plastische Interaktion zwischen Umwelt und Individuum in den Blick rücken. Eine Dichotomie zwischen Psychotherapie und Pharmakotherapie, die lange die Diskussion unseres Faches beherrschte, ist aus Sicht der sozialen Neurowissenschaften nicht sinnvoll. In beiden Bereichen geht es um die Beeinflussung der Plastizität derselben Hirnsysteme, zwar über unterschiedliche Veränderungen von Rahmenbedingungen (Neurotransmitter, top-down-Modulation präfrontal kortikaler Areale). Dasselbe gilt für Nature vs. Nurture, auch hier finden sich konvergente neurobiologische Mechanismen von der Genexpression bis zur Systemebene. Das heißt natürlich nicht, dass nicht aus pragmatischen Gründen unterschiedliche Beschreibungsebenen gewählt werden müssen und sollen. Das Modell der Gen-Umwelt-Interaktion und der Epigenetik Die Ursachen aller psychischen Störungen sind – ebenso wie aller anderen häufigen Krankheiten – multifaktoriell: Sowohl umwelt-, sozialisations- bzw. entwicklungs- als auch anlagebezogene Faktoren spielen zusammenwirkend eine kausale Rolle. Gen-Umwelt Interaktionen sind dabei vielfältig in statistischen Zwillings- und Adoptionsstudien belegt worden. Eine bis heute weithin akzeptierte Theorie – das Diathese-Stress-Modell – postuliert, dass der Träger einer Variante eines 51 bestimmten Gens oder mehrerer Gene ein erhöhtes Risiko für das Auftreten einer psychischen Störung hat, wenn diese Person einer erhöhten Stressbelastung – oft psychosozialer Natur – ausgesetzt ist oder war. Das Diathese-Stress-Modell liefert keine Antwort auf die Frage, warum genetische Varianten, die in Kombination mit ungünstigen Umweltbedingungen zu psychischen Störungen disponieren, außerordentlich häufig im Genpool einer Population vertreten sind, da solche „maladaptiven“ Varianten mit der Zeit aus dem Genpool verschwinden müssten. Eine wichtige, evolutionsbiologisch fundierte Weiterentwicklung des Diathese-Stress-Modells postuliert vor diesem Hintergrund, dass etliche der skizzierten genetischen Varianten nur dann in Richtung einer erhöhten Vulnerabilität für psychische Dysfunktion fungieren, wenn sie mit aversiven Umweltbedingungen vergesellschaftet sind. Dieselben Varianten gehen jedoch mit einem verringerten Risiko für die Manifestation einer psychischen Störung einher, wenn sie mit günstigen Umweltbedingungen assoziiert sind, wobei hier vor allem frühkindliche Erfahrungen in der ElternKind Bindung im Sinne der emotionalen Zugewandtheit und Verfügbarkeit eine zentrale Rolle zukommt – diese genetischen Faktoren vermitteln also Plastizität, nicht nur Vulnerabilität. Derzeit können die zugrundeliegenden molekulargenetischen Mechanismen sichtbar gemacht werden, wozu insbesondere die Methoden der Epigenetik beitragen. Heute weiß man auch, dass traumatische Erfahrungen in der Kindheit zu einer epigenetisch vermittelten Veränderung der Genexpression in der Stressachse führen – mit der Folge gesteigerter Stressvulnerabilität. Frühzeitig veränderte epigenetische Signaturen der Genexpression können dabei nach einer jahrzehntelangen klinischen stummen Latenz zur Erstmanifestation psychischer Störungen führen. Frühere klinische Beobachtungen und Konzepte können daher mit naturwissenschaftlichen Methoden untermauert werden. Es wird zunehmend klar, dass Umgebungs- und Sozialisationseinflüsse über die sogenannte epigenetische Regulation der Genexpression wirken. Hier liegt ein mächtiges Zukunftspotential für das Verständnis der Entstehung psychischer Störungen und evtl. für deren Prävention und Therapie. Bei der Euphorie über diesen für unser Fach bahnbrechenden methodischen Fortschritt ist dessen Reichweite für das Verständnis und die Therapie psychischer Störungen noch offen. Außerdem handelt es sich dabei nur um den ersten untersuchbaren Mechanismus des Zusammenwirkens von sozialen und genetischen Faktoren. Resümee Diese drei Modelle sind wissenschaftsorientierte Modelle, die in Bezug auf den einzelnen Patienten und dessen Diagnostik und Therapie jeweils eine begrenzte Reichweite haben. Sie ermöglichen plausible Konzepte psychischer Störungen, die die unterschiedlichen – biologischen, biografischen und psychosozialen – Ursachenbedingungen in ein Konzept integrieren. Mit diesen Modellen können Symptome und ihre Pathogenese erklärt werden, sie bleiben jedoch weitgehend in einer objektivierenden 3.-Person-Perspektive und können nicht die subjektive 1.-Person-Perspektive erreichen, in der es um das Verstehen des einzelnen Patienten im Kontext seiner biographischen Entwicklung geht. Da psychisches Leiden oft die personale Identität und das erlebte Selbst des Patienten berührt oder gar in Frage stellt, bleibt diese auf die Subjektivität gerichtete Perspektive unerlässlich. Ihre Erfassung geschieht auf der Ebene des über die Empathie 52 vermittelten Verstehens. Beim praktischen Umgang mit dem Patienten sind die beiden Perspektiven, die objektivierend-erklärende (3.-Person-Perspektive) und die subjektiv-verstehensorientierte (1.-Person-Perspektive) nicht aufeinander reduzierbar. Keine der beiden darf in der psychiatrischen Diagnostik vernachlässigt werden. Dieser von K. Jaspers in der „Allgemeinen Psychopathologie“ vor über 100 Jahren ausgearbeitete methodologische Dualismus besteht trotz der enormen Erkenntnisfortschritte noch heute fort. Beide Methoden, die objektivierend-erklärende und die subjektiv-verstehensorientierte, haben ihre Berechtigung und müssen in Abhängigkeit von der jeweiligen praktischen oder theoretischen Situation komplementär oder alternativ verwendet werden. 53 A3 Aktuelle Versorgungsstrukturen Historisch hat sich der „Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie“ aus dem Fachbereich Nervenheilkunde entwickelt. Im Rahmen einer Novellierung der Weiterbildungsordnung wurde 1992 die kombinierte Weiterbildung in Neurologie und Psychiatrie zum Nervenarzt durch die Einführung der Weiterbildungsordnung für den „Facharzt für Neurologie“ und den „Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie“ ersetzt, bestehen blieb aber eine teilzeitige Weiterbildung im jeweils komplementären Gebiet, also auch eine neurologische Weiterbildung im Rahmen der Weiterbildung zum Psychiater. Die Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen wird in Deutschland noch immer in Versorgungssektoren geplant. Die ambulante fachärztliche Versorgung Im Rahmen der ambulanten Behandlung sind neben den Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie mit gleichem oder ähnlichem Tätigkeitsspektrum auch Ärzte für Nervenheilkunde (Nervenärzte; Ärzte für Neurologie und Psychiatrie) und Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie tätig sowie die vorwiegend psychotherapeutisch tätigen ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten. Die ambulante Behandlung von Patienten mit psychischen Störungen erreicht insgesamt den größten Anteil der betroffenen Menschen. Sie erfolgt in den Praxen niedergelassener Ärzte und Psychotherapeuten bzw. Medizinischen Versorgungszentren sowie in klinischen Institutsambulanzen. In den letzten Jahren kam es in diesem Bereich zu einer erheblichen Ausweitung der Inanspruchnahme und des Behandlungsbedarfs. In der Praxis eines Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. eines Nervenarztes (Kassen- bzw. Vertragsärzte) werden pro Quartal (je nach Ausrichtung der Tätigkeit) zwischen 470 und 890 Menschen behandelt. Hinzu kommen pro Quartal mehr als eine Million Patienten, die sich in regelmäßiger ambulanter psychotherapeutischer Behandlung (sog. Richtlinienpsychotherapie3) befinden. Ärzte und Psychotherapeuten im vertragsärztlichen Versorgungssystem sind in den Kassenärztlichen Vereinigungen der Bundesländer organisiert. Die Anzahl der Ärzte der einzelnen Regionen (Versorgungsgrad) wurde Mitte der 1990er Jahre festgeschrieben. Eine morbiditätsgewichtete und versorgungsorientierte Anpassung an den steigenden Bedarf und an die Diversifizierung der beiden Fachgebiete Neurologie und Psychiatrie erfolgte seitdem nicht und gehört zu den aktuellen Herausforderungen. Deutschland hat eine einzigartige ambulante fachärztliche Versorgung, die durch die Bildung der Kassenärztlichen Vereinigungen im Sinne der ärztlichen Selbstverwaltung möglich gemacht 3 Richtlinienpsychotherapie: Im SGB V § 92 sind die Verfahrensweisen bezüglich der Psychotherapie geregelt. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) beschließt „Richtlinien über die Gewährung für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten“. Diese Richtlinien regeln für die Psychotherapie insbesondere: • behandlungsbedürftige Krankheiten • zur Krankenbehandlung geeignete Verfahren • Antrags- und Gutachterverfahren • probatorische Sitzungen • Art, Umfang und Durchführung der Behandlung • den ärztlichen Konsiliarbericht Bei der Durchführung dieser Therapieform wird deswegen von der Richtlinienpsychotherapie gesprochen. 54 wurde. In einem Kollektivvertrag mit den Krankenkassen wird analog aller somatischen Erkrankungen auch die Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen geregelt. In der eigenen Praxis, als Angestellter in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) oder in einer Institutsambulanz einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie behandelt der Psychiater alle psychischen Störungen des Erwachsenenalters. Die meisten psychischen Störungen können durch ambulant tätige Psychiater gut behandelt werden. Patienten mit besonderer Störungsausprägung und Chronizität können ambulant durch die Psychiatrischen Institutsambulanzen der Kliniken versorgt werden und erhalten ein multiprofessionelles Therapieangebot. Die ambulante Behandlung ist charakterisiert durch ein umfassendes Kompetenzspektrum, die Nähe zum psychosozialen Umfeld der Patienten sowie die Möglichkeit zum langfristigen Beziehungsaufbau zwischen Patient und Psychiater. Erhebung der Anamnese und des psychischen Befundes, Differentialdiagnostik und Diagnosestellung sowie Aufklärung, Psychoedukation, gemeinsame Therapiezielplanung mit den Patienten prägen seine Tätigkeit. Neben der Verordnung von Psychopharmaka umfasst die Tätigkeit supportive Einzelgespräche mit psychosozialen und psychotherapeutischen Interventionen. Die Einbeziehung der Familie, des häuslichen Umfelds, anderer Leistungserbringer im Bereich Wohnen und Beschäftigung, ggf. auch Kontakt mit dem Arbeitgeber gehören zum Tätigkeitsspektrum. In der ambulanten Versorgung werden Menschen in akuten Krisensituationen, wie auch Menschen, die einer dauerhaften Behandlung und Begleitung bedürfen, behandelt. Während die einen von einer psychiatrisch/psychotherapeutischen und/oder einer kurz- bis mittelfristigen pharmakologischen Behandlung profitieren und in einem stabilen Zustand keiner andauernden Behandlung bedürfen, benötigen andere eine langfristige Behandlung, oft eine Dauermedikation sowie psychosoziale Begleitung. Bei Bedarf stellt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie die Indikation zur Richtlinienpsychotherapie. Kann er diese nicht selbst erbringen, überweist er an ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten. Patienten profitieren von einer engen Abstimmung und Kooperation der Behandler. Das psychiatrische Gespräch erfüllt mehrere Funktionen. Es dient zunächst der Kontaktanbahnung und dem Schaffen von Vertrauen, dann dem Erfassen und Einordnen von Symptomen, Konflikten und Störungsbildern, als Voraussetzung für die Planung einer geeigneten Therapie. Es ist immer auch schon eine Intervention. Es umfasst Erklärungen zu den Störungsbildern und deren Behandlungsmöglichkeiten. Es dient der Selbstvergewisserung und Selbstbefähigung der Betroffenen. Neben einer offenen Haltung und Empathie finden Erkenntnisse und Methoden der Psychotherapie ihre Anwendung. Es geht dabei über das klassische ärztliche Gespräch hinaus, welches eine primär erklärende und beratende Funktion hat und der Aufklärung über Störungsbilder und damit verbundener Behandlungsmöglichkeiten dient. Zu den besonderen Herausforderungen gehört die Berücksichtigung der Individualität des einzelnen Menschen. Lebensumfelder, kultureller Hintergrund, soziales Milieu, das Geschlecht, das Alter und gemachte Erfahrungen bestimmen Störungserleben und -verständnis. Derartige Faktoren 55 sind für den Psychiater zu erfassen, in ihrer Bedeutung einzuordnen und zu verstehen. Angehörige und soziales Umfeld sind in die Behandlung mit einzubeziehen, damit sowohl die Therapie in der akuten Phase wie auch eine langfristige Betreuung gelingen kann. Gerade in der langfristigen Betreuung ist der niedergelassene Psychiater ähnlich dem Hausarzt auch eine Art Partner, Berater, manchmal auch Lebensbegleiter. Für Menschen mit chronischen psychischen Störungen ist er eine wichtige Bezugsperson und Konstante im Leben. Psychiater in der ambulanten Versorgung können daher auch als Hausärzte der Psyche begriffen werden. Entscheidend für das Gelingen einer Behandlung und einer langfristigen Betreuung ist eine Haltung des Respekts, Geduld, Verlässlichkeit und Eindeutigkeit. Unabdingbar ist aber auch die Fähigkeit Grenzen zu erkennen, Eigenheiten und Lebensentwürfe zu akzeptieren auch wenn diese störungsaufrechterhaltend erscheinen. Psychiater, wie auch Psychotherapeuten, tragen für die Menschen, die sie behandeln, eine besondere Verantwortung. Ihr Wirken und ihre Interventionen können zu entscheidenden Entwicklungen, Weichenstellungen und Veränderungen beitragen. Viele der Patienten gehören oft zu den schwächsten Gliedern der Gesellschaft und bedürfen daher auch eines besonderen Schutzes ihrer Persönlichkeit und ihrer Würde. Psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung Neben bzw. ergänzend zur Behandlung psychisch erkrankter Menschen durch Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie hat sich in Deutschland die Psychotherapie als besondere heilkundliche Tätigkeit etabliert. Ambulante psychotherapeutische Behandlung gehört in Deutschland zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen und wird als sogenannte Richtlinienpsychotherapie in den Verfahren Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologisch-fundierte Psychotherapie bzw. Psychoanalyse geleistet. Zuletzt ist der Leistungskatalog um die Systemische Therapie ergänzt worden. Die Anwendung findet in Einzel- oder Gruppenpsychotherapie statt. Voraussetzung für die Übernahme der Kosten für eine Psychotherapie ist eine Antragserstellung. Seit dem Jahr 2017 ist es auch möglich, niederschwellige psychotherapeutische Versorgung durch psychotherapeutische Sprechstunde und die psychotherapeutische Akutbehandlung in begrenzten Stundenumfang zu leisten. Mit diesen Neuerungen im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung konnte der Zugang zu der notwendigen Behandlung erleichtert werden. An der psychotherapeutischen Versorgung sind neben Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie auch Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Fachärzte anderer Disziplinen mit psychotherapeutischer Zusatzbezeichnung sowie Psychologische Psychotherapeuten beteiligt. Letztere haben seit dem sog. Psychotherapeutengesetz, das 1999 in Kraft trat, einen festen Platz in der direkten ambulanten Patientenversorgung. Seitdem kam es im Bereich der kassenärztlichen Versorgung mehrfach zu Anpassungen der Verhältniszahlen bezüglich der psychotherapeutischen Versorgung. 56 Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, die als ärztliche Psychotherapeuten tätig sind, arbeiten mit ihren Patienten in hoher Intensität in 50-Minuten-Einheiten einmal oder mehrfach pro Woche. Bei Bedarf kann auch das nähere familiäre Umfeld miteinbezogen werden. Die Kooperationen mit den Psychiatern und Hausärzten sind selbstverständlich. Der langfristige Beziehungsaufbau zwischen ärztlichen Psychotherapeuten und Patienten, die Vertrauensbeziehung und intensive Begleitung machen für viele Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie diesen Arbeitsbereich attraktiv. Heute geben die Leitlinien vor, dass bei fast allen psychischen Störungen psychotherapeutische Interventionen zur Anwendung kommen können und bei hohen Schweregraden und chronischem Verlauf Kombinationsbehandlungen indiziert sind (z. B. Nationale Versorgungsleitlinie „Unipolare Depression“). Der zunehmende Stellenwert, dem die Psychotherapie psychisch erkrankter Menschen in der Behandlung zukommt, erfordert ein besonderes Nachdenken über die Bedürfnisse von Patienten, wie sie sich typischerweise in psychiatrischer (ob ambulanter oder stationärer) Behandlung befinden. Darüber hinaus sind in den letzten Jahren störungsspezifische Psychotherapien entwickelt worden, wie z. B. die interpersonelle Psychotherapie für Depressionen oder die dialektisch behaviorale Therapie für Menschen mit Borderline-Störung. Daneben werden Ansätze einer sogenannten Modularpsychotherapie entwickelt, die bei Patienten mit Komorbidität oder transdiagnostisch indiziert sein können. Stationäre Versorgung Die stationäre und teilstationäre (tagesklinische) Behandlung erfolgt in den Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie an Allgemeinkrankenhäusern und den psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachkliniken, den Rehabilitationseinrichtungen sowie den entsprechenden Kliniken in universitären Krankenhäusern. Die Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie sind in der Regel jeweils für eine festgelegte Versorgungsregion zuständig. Insgesamt existieren etwa 400 Kliniken bundesweit. In den Universitätskliniken werden überregionale spezialisierte Angebote der Diagnostik und Therapie vorgehalten. In Deutschland standen 2017 insgesamt 56.223 psychiatrische Krankenhausbetten zur Verfügung. Jährlich werden dort knapp 900.000 stationäre Behandlungen durchgeführt. Die Verweildauer eines Patienten in einem psychiatrischen Krankenhaus beträgt im Jahr 2017 durchschnittlich 23,8 Tage. Die häufigsten stationären Behandlungsdiagnosen sind Störungen durch psychotrope Substanzen (35 %), gefolgt von affektiven Störungen (24 %). Darüber hinaus standen in Deutschland 2017 insgesamt 15.410 tagesklinische Behandlungsplätze zur Verfügung. Die Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie übernehmen den größten Anteil an der Weiterbildung von jungen Assistenzärzten zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Assistenzärzte rotieren während ihrer Weiterbildungszeit in den verschiedenen Bereichen und Settings der Kliniken. In dieser Zeit wird das gesamte Spektrum der Störungsbilder inklusive ihrer Diagnostik und leitliniengerechten Behandlung vermittelt. Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie arbeiten in der Regel als Oberärzte oder als Fachärzte mit bestimmten Aufgabenbereichen, wie z. B. die Institutsambulanz oder der Konsildienst. Das Arbeiten im multiprofessionellen Team mit den verschiedenen Berufsgruppen erweitert die 57 diagnostische und therapeutische Perspektive und eröffnet Möglichkeiten, innerhalb des Fachgebietes Spezialisierungen anzustreben. Insbesondere das Arbeiten im Team und die Kooperation mit anderen Fachgebieten im gleichen Krankenhaus sowie den externen Leistungserbringern, sei es ambulant tätige Ärzte oder Leistungserbringer aus dem gemeindepsychiatrischen Bereich, werden geschätzt. Psychiater im öffentlichen Dienst Die sozialpsychiatrischen Dienste sind in den Bundesländern in dem Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG) als Aufgabe der Kommunen festgelegt. Psychiater im sozialpsychiatrischen Dienst führen in der Regel keine Behandlung durch, sondern stellen die Weichen für die Weiterbehandlung der Klienten und unterstützen die Motivationsarbeit. Regional sind sie in unterschiedlichen Trägerschaften (Kommunale Behörden, Gesundheitsämter, Wohlfahrtsverbände, Vereine) organisiert. Sie arbeiten eng mit psychiatrischen Kliniken, niedergelassenen Psychiatern, Kontakt- und Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und Hausärzten zusammen. Ihr Tätigkeitsprofil reicht von telefonischen Beratungssprechstunden bis zu Hausbesuchen. Darüber hinaus erstellen sie Gutachten für die weiteren Hilfen zum Wohnen und Leben und sind für die Gutachtenerstellung zur Unterbringung nach den PsychKG zuständig. Auch hier ist die Teamarbeit im multiprofessionellen Team des Gesundheitsamtes sowie eine hohe Koordinations- und Vernetzungsarbeit mit allen Leistungsanbietern in der Region gefragt. Innovative Versorgungsformen Das deutsche Versorgungssystem ist durch getrennte Sektoren ambulanter Behandlung, stationärer Behandlung, rehabilitative Hilfen zum Wohnen und Leben charakterisiert. Eine Vielfalt von Leistungserbringern und ein überaus komplexes System von Entgeltverfahren sowie Finanzierungsarten erschweren die strukturierte, verbindliche Kooperation. Häufig finden Menschen mit akuten Symptomen oder mit chronischen Verläufen ihrer Störung nicht die für sie individuell passende Hilfe oder scheitern an den Schnittstellen zwischen den verschiedenen Angeboten. Vom Gesetzgeber wurden Möglichkeiten geschaffen, wie die integrierte Versorgung nach § 140 SGBV oder Modellvorhaben gemäß § 64b SGB V, um sektorübergreifende Leistungserbringung zu verbessern. Auch im sogenannten Innovationsfond werden Projekte zur Weiterentwicklung der sektorübergreifenden Versorgung gefördert. Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie bringen sich mit ihren umfassenden Kompetenzen und Praxiserfahrungen in die Entwicklung der neuen Modelle ein. Innovative Versorgungsformen werden sowohl aus dem ambulanten Bereich als auch aus dem stationären Bereich entwickelt. Interessante Aufgaben ergeben sich durch die Netzwerkprozesse mit diversen Leistungserbringern sowie durch neue Möglichkeiten der Behandlung z. B. in Form von aufsuchender Behandlung im Lebensumfeld des Patienten. Qualität der Leistungserbringung und Effizienz des Ressourceneinsatzes Die erforderliche und von den Leistungserbringern erwartete Qualität psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen einerseits und die begrenzten Ressourcen im personellen und finanziellen Bereich andererseits beschreiben teilweise gegenläufige gesellschaftliche Anforderungen an das Management von Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie und die Behandler im 58 ambulanten Bereich. Mehr noch als in anderen Fächern der Medizin gibt es im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie bisher keine einheitliche Definition von Qualitätsparametern auf den unterschiedlichen Qualitätsebenen. An die Ebenen der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität werden von Seiten der Gesellschaft unterschiedliche Kriterien angelegt. In den Leitlinien der wissenschaftlichen Fachgesellschaften werden Standards insbesondere für die Diagnose- und Behandlungsprozesse vorgegeben. Im Rahmen der Ergebnisqualität wird die Frage der subjektiven Lebensqualität, der Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit (Teilhabe) im alltäglichen Umfeld und im Berufsleben in besonderer Weise diskutiert. Auf der anderen Seite wird bezüglich der in der jeweiligen Versorgungsregion zur Verfügung stehenden Ressourcen besonderer Wert auf effektiven Ressourceneinsatz gelegt. Die Steigerungsraten für die vor Ort verfügbaren Budgets werden normativ eng definiert und richten sich nur sehr begrenzt an der Entwicklung der Behandlungsmethoden aus. Die Strukturqualität drückt sich in besonderer Weise – aber nicht ausschließlich – in den verfügbaren Personalressourcen aus, die den mit Abstand größten Anteil an den Budgets haben. Die gesellschaftlichen Einflüsse zeigen sich hier insbesondere auch in der Frage der Attraktivität des Fachgebietes und dem daraus folgenden Nachwuchs an qualifizierten Bewerbern in den unterschiedlichen Berufsgruppen. Hier zeichnet sich ein anhaltender Mangel in den zentralen Berufsgruppen ab. Die Transparenz der erforderlichen und der erbrachten Leistungen im Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie ist noch schwieriger sicherzustellen als in anderen medizinischen Fächern. Somit besteht die Gefahr, dass primär an ökonomischen Aspekten ausgerichtete Versorgungsstrukturen und Versorgungsprozesse schwerer als in anderen Bereichen der Medizin erkennbar sind. Der Deutsche Ethikrat hat in einer umfassenden Stellungnahme 2016 festgestellt, dass eine Orientierung am Patientenwohl an drei wesentlichen Kriterien gemessen werden muss: die Ermöglichung einer durch Selbstbestimmung getragenen Sorge für den Patienten, eine gute Behandlungsqualität sowie die gerechte Verteilung der für die Krankenhausversorgung verfügbaren Ressourcen. Diese Kriterien gelten ungeschmälert auch für den Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie. Im Rahmen der hochgradigen Fragmentierung der Versorgungsstrukturen sowie der zuständigen Kostenträger im deutschen Gesundheitswesen kommt es darüber hinaus in besonderer Weise dazu, dass Maßnahmen der Prävention bzw. der effektiven frühzeitigen Behandlung von psychischen Störungen zu wenig beachtet werden. Investitionen in Maßnahmen der Prävention und Früherkennung gehen in der Regel zu Lasten der jeweiligen Krankenkassen, während die (späten) Folgen fehlender präventiver Maßnahmen zu höheren Kosten im jeweiligen Sozialsystem führen. Eine der dadurch bedingten Folgen ist die gerade im Bereich der Behandlung psychischer Störungen ausgeprägte implizite Rationierung von Gesundheitsleistungen, die nicht auf einer offenen gesellschaftlichen Diskussion und Entscheidung basiert und sich damit einer wirksamen gesellschaftlichen Kontrolle weitgehend entzieht. 59 A4 Forensische Psychiatrie und Gesellschaft Vorbemerkung Psychische Störungen führen zu Veränderungen des Erlebens und Verhaltens, die in der Regel, aber nicht immer, mit subjektivem Leiden verbunden sind. Darüber hinaus kann es zu Beeinträchtigungen bei der Erfüllung gewohnter Rollen kommen. Zuweilen sind die störungsbedingten Verhaltensänderungen der Betroffenen so ausgeprägt, dass durch die Verletzung sozialer Normen und gesetzlicher Vorschriften Konflikte entstehen. Deshalb gehörten zu den Aufgaben der Psychiatrie immer auch Schutzfunktionen, etwa für die Patienten, damit sie bei störungsbedingten Regelverstößen zusätzlich zu einer Strafe Behandlung erhalten, aber auch für die Gesellschaft, was den Umgang mit gefährlichem Verhalten angeht. Dabei ist zu beachten, dass es erhebliche Unterschiede zwischen dem juristischen und medizinischen Krankheitsbegriff gibt. Zur Identität des Faches Psychiatrie und Psychotherapie gehören also auch die potentiell äußerst konfliktträchtigen Bereiche, in denen es um Anforderungen der sozialen Kontrolle und die Entlastung der Gesellschaft von Risiken durch potentiell gefährlichen Patienten geht. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die forensische Psychiatrie Teil des psychiatrischen Behandlungsspektrums ist und in ihr psychiatrische Störungsbilder erfolgreich behandelt werden. Historische Entwicklung Vor 200 Jahren geschah dies noch in Anstalten oder Asylen, deren gesellschaftliche Bedeutung sich daran ablesen ließ, dass sie in teuren, zuweilen durchaus prunkvollen, burgähnlichen Anstaltsanlagen vor den Toren der Städte gebaut wurden. Damals ging es um die Erkennung, Unterbringung und Behandlung der zunehmend aus feudalen Bindungen und Sicherungen gelösten, behinderten, kranken, dissozialen, wohnungslosen und kriminellen Gruppen innerhalb der Gesellschaft unter dem Blickpunkt ordnungsrechtlich-polizeilicher und auch medizinischer Interventionen. Dabei erfolgte die Zuschreibung dieser Aufgaben nicht nur in einer Richtung von der Gesellschaft an die Psychiatrie, vielmehr haben seinerzeit viele Psychiater die Zuständigkeit nicht nur für Menschen mit psychischen Störungen im engeren Sinne, sondern auch für sozial abweichende Menschen und insbesondere Straffälligkeit für sich reklamiert. Ideengeschichte und Konzeptbildung in der Forensischen Psychiatrie haben Vorläufer schon im römischen Recht. Unter Justinian (483–565) gab es Kuratoren für Personen, die wegen Imbezillitas (Verstandesschwäche) in ihrer Verfügungsfreiheit eingeschränkt waren. Paolo Zacchia schlug 1621 in den Questiones medico legales vor, bei bestimmten Verfahren Ärzte hinzuzuziehen, nämlich in Fällen von Geistesschwäche, Wahn, Halluzinationen, Delirium und Insania, gemeint als gänzlicher Verlust des Verstandes. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wurden mit der Constitio criminalis Carolina (1532) durch Karl V. ähnliche Rechtsprinzipien eingeführt, wonach auch in Mitteleuropa „Geistesgestörte“ nicht bestraft wurden (siehe auch M‘Naghten Rule, 1843). Die Rolle der Medizin und insbesondere ihre Zuständigkeit für die zentrale Frage der Willensfreiheit waren allerdings stets umstritten. Kant vertrat in seiner Anthropologie (1798) die Auffassung, dass es sich dabei um ein psychologisches und nicht um ein medizinisches Problem handele: „Eine gerichtliche Arzneikunde betreibt, wenn es auf die Frage ankommt, ob der 60 Gemütszustand des Täters Verrückung oder mit gesundem Verstande genommene Entschließung sei, Einmischung in fremdes Geschäft“ (§ 41). In den Arbeiten von Philippe Pinel (1809) und seinem Schüler Dominique Esquirol (1832) enthielten die psychiatrischen Beschreibungen der Störungsbilder auch deren Auswirkungen auf den rechtlichen Umgang mit den Patienten. Auf beide geht in der Zeit der französischen Revolution eine Entwicklung zurück, die als symbolträchtig als „Befreiung der Geisteskranken von ihren Ketten“ bezeichnet wurde, mithin die Trennung der Betroffenen von den Kriminellen, mit denen sie vorher zusammen in Zuchthäusern untergebracht waren (Bicêtre, Bastille), während sie dann in psychiatrischen Krankenhäusern versorgt wurden (Salpêtrière). Die seinerzeit entwickelte Monomanienlehre zeigte allerdings auch die möglichen Verirrungen forensisch-psychiatrischer Konzeptbildungen auf, wie Griesinger kritisch konstatierte: „Die That selbst zum wesentlichen Criterium eines anomalen Zustandes zu machen, hat zu der Lehre von den Monomanien geführt, die für die Wissenschaft wie für deren praktische Anwendung gleich gefährlich war und nur dazu diente, das ärztliche Urtheil – mit Recht – bei den Richtern in Verruf zu bringen.“ (1871). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts versprach sich die forensische Psychiatrie durch naturwissenschaftlich-medizinische Erkenntnisse, dass in naher Zukunft die psychischen Störungen erklärt und konkrete Maßnahmen zu ihrer Verhinderung unternommen werden könnten, was auch die Verbrechensbekämpfung erleichtern sollte. So hieß es bei Krafft-Ebing (1885): „Als in nicht ferner Zeit an zu hoffende Fortschritte unserer Wissenschaft sind die Klärung gewisser Zustände, die sich äußerlich wie bloße moralische Verkommenheit anfühlen, in Wirklichkeit aber krankhafte sind.“ Kraepelin (1880) erwartete, dass durch die Einrichtung von Erziehungsanstalten die lebenslängliche Verwahrung von „Unverbesserlichen“ und die Fürsorge für entlassene Rückfälligkeiten weitgehend vermieden werden könnte. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts führte dies in Verbindung mit sozialdarwinistischen Theorien zu Verirrungen, die in der Monographie von Binding und Hoche (1920) mit dem Titel: „Über die Freigabe und die Vernichtung lebensunwerten Lebens“ einen markanten Ausdruck fanden. Derartige, durch die Nachkriegssituation begünstigte Gedanken bereiteten den Weg für rassentheoretische und eugenische Vorstellungen auch im Fach Psychiatrie, was zur Rechtfertigung für Eingriffe in die Freiheit, Unversehrtheit und schließlich in das Leben der Betroffenen diente. Ihren Höhepunkt fanden sie in den auch von Psychiatern begangenen Verbrechen gegenüber Betroffenen in der Zeit des Nationalsozialismus. Eine Konsequenz war nicht nur Skepsis und Misstrauen gegenüber der gesamten Psychiatrie, nicht jedoch der Psychotherapie, in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, sondern es erfolgte auch innerhalb der Forensischen Psychiatrie eine Ächtung der Suche nach biologischen Grundlagen der Delinquenz. Aktuelle Situation Aufgabe der Forensischen Psychiatrie, die sich aus diesen Entwicklungen als Teildisziplin der allgemeinen Psychiatrie herausgebildet hat, ist die wissenschaftliche Sichtung, Auswertung und Weiterführung der Erfahrungen aus psychiatrischer Begutachtungs- und Forschungstätigkeit, aber auch aus der Unterbringung und Behandlung der genannten Patientengruppen in Einrichtungen des psychiatrischen Maßregelvollzuges. Im Jahr 2014 befanden sich in Deutschland 61 10.362 Personen im Maßregelvollzug. Die große Mehrheit von ihnen sind Männer (93 %). Grundsätzlich erfolgt eine Unterbringung im Maßregelvollzug entweder nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus oder nach § 64 StGB in einer Entziehungsanstalt. Obwohl die Zahl der nach § 64 Abgeurteilten pro Jahr deutlich höher ist als die der nach § 63 (2012: 2.093 vs. 743), kommt es aufgrund der deutlich längeren, mehrjährigen Verweildauern letztgenannter dazu, dass zwei Drittel derer im Maßregelvollzug nach § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus und ein Drittel nach § 64 StGB in einer Entziehungsanstalt behandelt werden. Heute wird in der Forensischen Psychiatrie wie auch in der Kriminologie eine multidisziplinäre Integration unterschiedlicher wissenschaftlicher Ansätze angestrebt, die sich nicht auf neurowissenschaftliche Erklärungsmodelle psychischer Störungen beschränkt, sondern die klinischen, sozialpsychologischen, soziologischen und kriminologischen Erkenntnisse berücksichtigt. Gleichzeitig aber gibt es für die Tätigkeitsfelder der Psychiatrie sowie insbesondere der Forensischen Psychiatrie eine kritische Aufmerksamkeit und Kontrolle durch die Vertretungen von Betroffenen und Angehörigen und deren Anwälten, die das Ziel einer Mitgestaltung der Anspruchsrechte verfolgen. Aktuelle Spannungsfelder bilden sich ab etwa in jüngeren Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes und des Bundesgerichtshofes zur Anwendung von Zwang in der psychiatrischen Behandlung und zu seiner Berechtigung vor dem Hintergrund von Freiheits- und Menschenrechten. Auch in der gerichtlichen Durchsetzung individueller Ansprüche (z. B. im Mietrecht) oder individueller Beurteilungen von Schuld-, Prozess- oder beispielsweise Berufsfähigkeit muss sich der forensisch tätige Psychiater in seinen gutachterlichen Stellungnahmen in zunehmendem Maß Einschätzungen zur Frage von Krankheitswürdigkeit im Rahmen von Konfliktkonstellationen auseinandersetzen. Dabei wird oft die Verantwortung durch den Gutachter an die am Konflikt beteiligten Personen und das Gericht zurückverwiesen, da sich keine Krankheit bzw. Störung beschreiben (d. h. der Proband im psychiatrischen Sinne als gesund zu sehen ist) oder das Fehlen eines freien Willens feststellen lässt. Derartige Themen werden auch fortan national wie international die Diskussion um die Stellung der Psychiatrie und ihrer Subspezialität der Forensischen Psychiatrie in der Gesellschaft bestimmen. Dabei gilt es, wie der geschichtliche Überblick über Funktionen und Versuchungen unseres Faches andeuten sollte, auch die Verheißung zu vermeiden, die Psychiatrie könne medizinische Lösungen für soziale Probleme anbieten. Allerdings, so ist zu ergänzen, sollte die Gesellschaft dies auch nicht von ihr fordern. Stets muss man sich kritisch vor Augen führen, dass auch mit umfassenden Behandlungs- und Nachsorgemaßnahmen keine absoluten Sicherheiten, z. B. bezüglich eines Rückfalls mit straffälligem Verhalten gewährleistet werden können. 62 Folgende Autoren haben an diesem Projekt, das während der DGPPN-Präsidentschaft von Frau Dr. med. Iris Hauth begonnen wurde, mitgewirkt: ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ Prof. Dr. med. Henning Saß (Leitung) Prof. Dr. med. Wolfgang Maier (Leitung) Prof. Dr. med. Matthias Bormuth Prof. Dr. med. Martin Brüne Prof. Dr. med. Arno Deister Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Fuchs Prof. Dr. med. Alkomiet Hasan Dr. med. Iris Hauth Prof. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff Prof. Dr. med. Fritz Hohagen Dr. med. Sabine Köhler Dr. med. Julia-Maleen Kronsbein Prof. Dr. med. Andreas Meyer-Lindenberg Prof. Dr. phil. Thomas Schramme Zudem haben die folgenden Personen weitere wertvolle Ergänzungen und Rückmeldungen zu dem Papier beigetragen: ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ ▪ Prof. Dr. med. Michael Berner Prof. Dr. med. Peer Briken Prof. Dr. med. Jürgen Deckert Prof. Dr. med. Christoph Fehr Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Manfred Fichter Prof. Dr. med. Wolfgang Gaebel Prof. Dr. med. Iris Tatjana Graeff-Callies Prof. Dr. med. Michael Grözinger Prof. Dr. med. Gerhard Gründer Prof. Dr. med. Hanfried Helmchen Dr. med. Stefan Helmig Prof. Dr. med. Sabine C. Herpertz Dr. med. Michael Krebs Prof. Dr. med. Gerhard Längle Prof. Dr. med. Michael Linden Dr. med. Norbert Mayer-Amberg Prof. Dr. med. Thomas Pollmächer Prof. Dr. med. Steffi G. Riedel-Heller Prof. Dr. med. Thomas Schläpfer Dr. med. Bernhard van Treeck Dr. med. Bettina Wilms Koordinative und redaktionelle Mitarbeit: ▪ ▪ Dr. phil. Paula Schicktanz (DGPPN-Geschäftsstelle) Michael Wassiliwizky, M.Sc. (DGPPN-Geschäftsstelle) 63 DGPPN Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. Geschäftsstelle DGPPN Reinhardtstraße 27 B 10117 Berlin TEL 030.2404 772-0 FAX 030-2404 772-29 sekretariat@dgppn.de dgppn.de 64