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Abb. 1 Alberto Burri, Grande Nero Cretto, 1977, Mischtechnik auf Celotex, 151,5 x 251,4 cm, Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris. Mit freundlicher Genehmigung der Fondazione Palazzo Albizzini, Collezione Burri, Città di Castello (Perugia) © by SIAE 2010. Materialität und Bildlichkeit. Einleitung Marcel Finke / Mark A. Halawa Der brüchige Asphalt einer Landstraße? Die Oberflächenstruktur eines Kohlebrockens? Das Detail einer zerfurchten Elefantenhaut? Der ausgetrocknete Boden des Death Valley? Oder doch die missliche Krakelüre eines Meisterwerks in Nahaufnahme? – Alberto Burris Gemälde Grande Nero Cretto aus dem Jahr 1977 vermag trotz seiner monochromen Einfachheit eine Vielzahl von Assoziationen zu wecken (Abb. 1). Nicht zuletzt aufgrund seiner wandfüllenden Größe erinnert das Tafelbild an Leonardos Mauer.1 Im einen wie im anderen Fall ist es die materielle Beschaffenheit, welche die Imagination anregt und Formen, Landschaften und Figuren vor dem Auge entstehen lässt. Die suggestive Bildlichkeit gründet jeweils in ihrer Stofflichkeit, der von vornherein ein figuratives Potenzial immanent zu sein scheint. Bei der Anfertigung seines Gemäldes machte sich Burri diese quasi-autopoietische Veranlagung zunutze, indem er den ›Darstellungsvorgang‹ weitestgehend dem Trocknungsprozess seiner aus Kaolin, Farbpigment und Holzleim hergestellten Malpaste überließ.2 Auf diese Weise entstand eine unterschiedlich strukturierte Bildoberfläche: Den oberen Bereich der Tafel bestimmt ein ausgeprägtes Netz von Fissuren, ein Relief unregelmäßiger Schollen, deren Oberflächen ihrerseits Vertiefungen, Wölbungen und Grate aufweisen. Zum unteren Rand hin wird das Rissmuster zunehmend kleinteiliger, bis es in eine nahezu homogene, glatte Zone übergeht. Trotz der Monochromie ergeben sich dadurch je nach Lichteinfall, Distanz und Blickwinkel wandelnde Ansichten: Der einheitliche Schwarzton 1 2 Leonardo da Vinci: Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, hg. v. André Chastel, München 1990, S. 385. Vgl. dazu: Dario Gamboni: Potential Images. Ambiguity and Indeterminacy in Modern Art, London 2002, S. 29. Das großformatige Gemälde Grande Nero Cretto (1977) ist Teil einer umfangreicheren Serie von Arbeiten, die Burri in den 1970er Jahren herstellte. Für Informationen über den Künstler sowie die Gruppe der Cretti vgl.: Iris Simone Engelke: Alberto Burri. Betrachtungen, Analysen, Materialien. Zum Werkabschnitt 1944−1990, Dissertation Universität Hamburg, 1991, vor allem: S. 129−130; Achille Bonito Oliva, Giuliano Serafini: Burri. The Measure and the Phenomenon, Mailand 1999, S. 208−213. Zur Rolle der Autopoiesis in der bildenden Kunst vgl. bspw. Friedrich Weltzien (Hg.): Von selbst. Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006. 10 Marcel Finke / Mark A. Halawa bricht auf, es entstehen Glanzpunkte, reflektierende Kanten treten leuchtend hervor, Verschattungen in den Fugen erzeugen dunkle Tiefen; andernorts stellt sich dem Blick eine matte, wie versiegelt wirkende Fläche entgegen. In Grande Nero Cretto scheint die Materialität des Bildes fortwährend selbst am Werk, insofern sie dessen variable ›Zeichnung‹ hervorbringt. Noch im Akt der Wahrnehmung erzeugt sie kontinuierlich Linien und Formen, die sie an einer Stelle betont und an einer anderen wieder zurücknimmt. Burris Gemälde führt damit nicht nur den intrikaten Zusammenhang von Materialität und Bildlichkeit vor. Auf anschauliche Weise zeigt es zudem, inwiefern Materialität dafür sorgt, dass Bildlichkeit keine statische Konfiguration ist. Oder ist alles viel komplizierter? Ist die Beziehung von Materialität und Bildlichkeit letztlich weit weniger ›offen-sichtlich‹, als es das einführende Beispiel glauben macht? So kann etwa trefflich darüber gestritten werden, ob es sich bei Grande Nero Cretto überhaupt um ein Bild im eigentlichen Sinne handelt. Sieht man sich mit einem Format der Bildlichkeit konfrontiert oder nur mit einer bloßen Struktur, wie sie in jedem beliebigen Wandverputz anzutreffen ist? Und wieso sollte ein Krakelee, das üblicherweise gerade als Störung des Bildes gewertet wird, nun seinerseits ein Bild hervorbringen? Darüber hinaus ist ungewiss, ob es sich bei Alberto Burris Gemälde nicht vielleicht um einen ikonischen Sonderfall handelt. Denn immerhin hat man es mit einem Kunstbild zu tun (noch dazu einem ›gegenstandslosen‹). Könnte es deshalb nicht sein, dass Materialität nur für bestimmte Bilder relevant, für andere aber nebensächlich oder sogar vollkommen unerheblich ist? Und selbst wenn man zumindest für Grande Nero Cretto einräumte, dass dem Material darin eine signifikante Funktion zukommt, so bliebe noch zu klären, was die Materialität dieses Gemäldes ausmacht und in welchem Verhältnis diese eigentlich zum Phänomen der Bildlichkeit steht. Die Arbeit Burris liefert selbstredend keine tatsächlich sichtbaren Antworten auf solche Fragen. Als theoretisches Objekt hilft sie jedoch, die Komplexität jener Problematik zu erahnen, die der Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Bandes ist. Das Gemälde Grande Nero Cretto verdeutlicht eine grundsätzliche Schwierigkeit der Auseinandersetzung mit dem Thema Materialität und Bildlichkeit. Oder um exakter zu sein: Die drucktechnischen Vervielfältigungen dieses Gemäldes – auf dem Cover und hier in unserer Einleitung – demonstrieren eine unumgängliche Aporie: die Nichtabbildbarkeit von Materialität. Sie sind damit exemplarisch für alle Illustrationen innerhalb der kommenden Aufsätze. Die je spezifische Materialität eines Bildes lässt sich in keine Reproduktion desselben Bildes übertragen. Dieses Manko kennzeichnet noch das avancierteste Verfahren der Wiedergabe. Immer entsteht notwendigerweise ein neues Bild, das wiederum eine eigene, d. h.: Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis 11 ausschließlich seine Materialität aufweist. Die Aussage, die Materialität eines Bildes lasse sich nicht abbilden, beschränkt sich indessen keineswegs auf die Grenzen der Reprotechnik. Denn die Materialität des Bildes wird nicht einmal von diesem selbst abgebildet, sie zeigt sich vielmehr und ist daher an Präsenz geknüpft.3 Trotz allem scheint der Verweis auf die Materialität von Bildern auf den ersten Blick trivial. Denn ist es überhaupt notwendig, deren Relevanz eigens hervorzuheben und zu diskutieren? Immerhin haben die meisten Menschen bereits Erfahrungen im Umgang mit Bildern gemacht, die nicht in deren Darstellung oder Sujet begründet sind, sondern in deren ›Physis‹. Man denke etwa an die Schwere und Unhandlichkeit einer gerahmten Leinwand beim Umzug, das beklagenswerte Verblassen des einzigen Fotos der verstorbenen Großmutter, die Entstellung einer seltenen Graphik durch Stockflecke und Säurefraß, die irritierenden Lichtreflexionen auf dem Glanzpapier einer hochwertigen Reproduktion, den intensiven Geruch eines noch frischen Ölgemäldes, das Flimmern der Videoprojektion, das heisere Rascheln einer auf billigem Zeitungspapier gedruckten Illustration, das zerbrochene Glas eines Diapositivs, das Wellen und Brüchigwerden einer im Regen nass gewordenen Wanderkarte und so fort. Nun ist diese kurze Aufzählung allerdings insofern heikel, als sie den Eindruck erweckt, die ›Materialität‹ des Bildes sei lediglich ein Problem von Transportfirmen oder Konservatoren. Die Texte des vorliegenden Bandes korrigieren diesen Fehlschluss. Sie veranschaulichen anhand zahlreicher Beispiele, dass sich das Verhältnis zwischen Bildlichkeit und Materialität beileibe nicht auf den Aspekt einer nachträglichen ›Störung‹ beschränkt. Ihr Zusammenhang erweist sich als wesentlich ursächlicher, verwickelter und folgenreicher. Die Materialität des Bildes stellt keinesfalls einen selbstverständlichen oder gar banalen Sachverhalt dar. Ganz im Gegenteil: Das Nachdenken und Schreiben darüber erweist sich sowohl in systematischer als auch historischer Hinsicht als beachtliche Herausforderung. Nicht weniger diffizil ist die Auseinandersetzung mit dem Begriff ›Materialität‹. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass in den seltensten Fällen explizit mitgeteilt wird, worauf sich der Terminus jeweils bezieht. In der Regel muss dessen Bedeutung aus seiner Verwendung im Kontext der Argumentation erschlossen werden. Die Ursachen dafür mögen unterschiedlicher Natur sein: vielleicht weil eine allgemein geteilte Vorstellung vorausgesetzt wird; vielleicht weil es zu riskant ist, eindeutig Stellung zu 3 Vgl. Dieter Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 83, 149, 164; ders.: Posthermeneutik, Berlin 2010, S. 23, 38, 139−142. Vgl. hierzu auch den Text desselben Autors in diesem Band. 12 Marcel Finke / Mark A. Halawa beziehen; oder aber weil sich ›Materialität‹ nur schwer (oder gar nicht) mit Worten positivieren lässt. Wir haben unsere eigenen Gründe, an dieser Stelle auf eine Festlegung zu verzichten. Es wäre letztlich vermessen und ziemlich aussichtslos, in der Einleitung eines Sammelbandes eine bindende Auffassung zu formulieren oder gar zu diktieren, die für alle Beiträge gleichermaßen Gültigkeit beanspruchen dürfte (sind doch nicht einmal die Herausgeber selbst immer einer Ansicht darüber, was der Begriff denotiert). Sieht man aber vorerst davon ab, wie die expliziten oder impliziten Definitionen von ›Materialität‹ innerhalb der Forschung im Einzelnen ausfallen, so lässt sich eine erste Beobachtung festhalten: ›Materialität‹ ist ein in doppelter Hinsicht ›kritischer‹ Ausdruck; er ist sowohl ein Begriff der Kritik als auch ein Begriff in der Kritik. Der Begriff der Materialität ist nie ganz aus den Registern der Diskussionen über Kunst, Repräsentation oder Körperlichkeit herausgefallen – gleichwohl erlebt er spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine beachtliche Aufwertung. Das Paradoxe dieser Feststellung liegt darin, dass ebenso gut das Gegenteil behauptet werden könnte und vielerorts auch behauptet wird. Das 20. Jahrhundert erscheint dann als ein beständig akzelerierender Prozess der Immaterialisierung. Die geläufigen Schlagworte dieser Erzählung von der »Agonie des Realen«4 lauten: Digitalisierung, Entkörperlichung, Virtualität, Simulation oder Simulakrum. Gleichwohl lässt sich vermuten, dass hier keineswegs widerstreitende Feststellungen vorliegen, von denen die eine wahr, die andere notwendigerweise falsch wäre. Vielmehr sind beide Momente – d. h. die Betonung von Materialität und die Diagnose der Immaterialisierung – lediglich zwei Seiten derselben Medaille. Die wissenschaftlichen Disziplinen, in denen Material(ität) in den vergangenen Jahrzehnten vermehrt in den Fokus rückte, sind vielzählig. So hat sich beispielsweise die Kunstgeschichte nicht nur dem »Material der Kunst«5 im engeren Sinne zugewandt. Darüber hinaus hat sie die Medien der Darstellung allgemein, deren reflexive und signifikative Funktionen sowie die materiellen Praxen der Sichtbarmachung zum Gegenstand ihrer Analysen gemacht.6 Die Medien- und Kulturwissenschaften haben neben 4 5 6 Jean Baudrillard: Agonie des Realen, übers. v. Lothar Kurzawa u. Volker Schaefer, Berlin 1978. Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2002; dies., Dietmar Rübel: Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München 2002. Aus der Menge der Arbeiten seien nur die folgenden exemplarisch genannt: James Elkins: »Marks, Traces, Traits, Contours, Orli, and Splendores. Nonsemiotic Elements in Pictures«, in: Critical Inquiry, Bd. 21, Nr. 4, 1995, S. 822−860; Rosalind Krauss, Yve-Alain Bois: Formless. A User’s Guide, New York 1997; Georges Didi-Huberman (Hg.): Die Ordnung des Materials, Berlin 1999; Andreas Haus, Franck Hoffmann, Änne Söll (Hg.): Material im Prozess. Strategien ästhetischer Produktion, Berlin 2000; Daniela Bohde: Haut, Fleisch und Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis 13 der »Materialität der Kommunikation«7 zunehmend die ›Werkzeuge des Denkens‹ untersucht und auf eine ›Wiederkehr der Dinge‹ hingewiesen.8 In der Wissenschaftsgeschichte interessierte man sich verstärkt für die epistemische Bedeutung, die den Praxen und der materiellen Kultur der Forschung bei der Erzeugung von Evidenz und Wissen zukommt.9 Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang die Gendertheorie, deren Auseinandersetzung mit Materialität zu Recht darauf abzielte, dem Körper seine Rolle als natürliche Tatsache, stumme Faktizität oder passives Medium abzusprechen. Zur Debatte stand dabei mehr oder minder das Verhältnis von Materialität und Signifikation, d. h. die Frage, wie der Materialität selbst Bedeutung zukommt.10 Schließlich haben die Philosophie, die Sprach- und Literaturwissenschaften sowie die Semiotik die Materialität der Schrift, des Zeichens oder der symbolischen Prozesse zu ihrem Thema gemacht.11 Diese kurze und äußerst selektive Auflistung ließe sich ohne Weiteres fortsetzen, und zwar sowohl was die Inhalte als auch die Disziplinen anbelangt. Im Folgenden soll sie lediglich um Anmerkungen zur Thematisierung von Material(ität) in der bildwissenschaftlichen Forschung ergänzt werden. 7 8 9 10 11 Farbe. Körperlichkeit und Materialität in den Gemälden Tizians, Emsdetten 2002; Weltzien 2006 (wie Anm. 2); Peter Geimer: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg 2010; Matthias Krüger: Das Relief der Farbe. Pastose Malerei in der französischen Kunstkritik 1850−1890, München 2007; Marius Rimmele: Das Triptychon als Metapher, Körper und Ort. Semantisierungen eines Bildträgers, München 2010; siehe auch die Aufsätze der beiden letztgenannten Autoren in diesem Band. Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M. 1988. Vgl. u. a. Friedrich Balke, Maria Muhle, Antonia von Schöning (Hg.): Die Wiederkehr der Dinge, Berlin 2011; Markus Rautzenberg, Andreas Wolfsteiner (Hg.): Hide and Seek. Das Spiel von Transparenz und Opazität, München 2010; siehe auch den Aufsatz von Markus Rautzenberg in diesem Band. Vgl. u. a. Bruno Latour, Steve Woolgar: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Princeton 1986; Ursula Klein: »Visualität, Ikonizität, Manipulierbarkeit: Chemische Formeln als ›Paper Tools‹«, in: Gernot Grube, Werner Kogge, Sybille Krämer (Hg): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, S. 237−251; Corinna Bath u. a. (Hg.): Materialität denken. Studien zur technologischen Verkörperung. Hybride Artefakte, posthumane Körper, Bielefeld 2005; Lorraine Daston, Peter Galison: Objektivität, übers. v. Christa Krüger, Frankfurt/M. 2007 [zuerst New York 2007]. Vgl. u. a. Thomas W. Laqueur: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge/Mass. 1990; Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übers. v. Karin Wördemann, Frankfurt/M. 2004 [zuerst New York 1993]; Elizabeth Grosz: Volatile Bodies. Toward a Corporeal Feminism, Bloomington 1994. Vgl. exemplarisch Erika Grebner, Konrad Ehlich, Jan-Dirk Müller (Hg.): Materialität und Medialität der Schrift, Bielefeld 2002; Werner Kogge: »Elementare Gesichter. Über die Materialität der Schrift und wie Materialität überhaupt zu denken ist«, in: Susanne Strätling, Georg Witte (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift, München 2006, S. 85−101; Kodikas/Code. Ars Semeiotica, Themenheft: »Zeichenmaterialität, Körpersinn und (sub-) kulturelle Identität«, Vol. 32, Nr. 1−2, 2009. 14 Marcel Finke / Mark A. Halawa In der Einleitung seines Buches Wie Bilder Sinn erzeugen spricht Gottfried Boehm exemplarisch aus, worin das Rätsel dessen liegt, was Edmund Husserl vor ihm »physische Bildlichkeit«12 nannte. Angesichts von Gemälden, Fotografien, Zeichnungen und dergleichen erstaune jene »rätselhafte Transformation« von Materialität, aus der ein genuin ikonischer Sinn hervorgehe; hierin, so Boehm, habe man den »bildlichen Ur-Akt« zu erkennen.13 Das Faszinosum betrifft demzufolge den Zusammenhang von Materialität und Bildlichkeit. Doch noch einmal: Was bezeichnet der Begriff ›Materialität‹ in bildwissenschaftlichen Studien? Ein Blick in die einschlägige Literatur zeigt, dass nahezu ausnahmslos der Grundgedanke einer konstitutiven und dem Bild immanenten Differenz geteilt wird. Gemeinsamer Ausgangspunkt ist üblicherweise die Reflexionsfigur der inneren Duplizität des Bildes.14 Die Materialität wird dann in der Regel der Seite des Bildträgers zugeschlagen. Sie wird assoziiert mit dem Medium, der ›Hardware‹, dem »Körper des Bildes« (Belting), dem »Faktum« (Boehm), dem »physischen Vehikel« (Jonas), dem »Tatbestand« (Brandt), dem »Bildding« (Husserl), den stofflichen Komponenten oder einfach mit dem ›Zeug, aus dem das Bild gemacht ist‹.15 Eine derartig einseitige Verkürzung ist jedoch aus verschiedenen Gründen problematisch. Denn obwohl Materialität durchaus die sinnliche Konkretion der Dinge (und auch der Bilder) bewirkt, lässt sie sich nicht auf Dinglichkeit zurückstutzen. Ebenso wenig, wie sie sich in gegenständlicher Anwesenheit erschöpft, beschränkt sie sich auf Stofflichkeit oder physikalische Fakten. Noch verfehlter wäre ihre Rückführung auf eine Logik der Substanz oder ihre Idealisierung zu einem ›natürlichen‹ Substrat. Nicht zuletzt deswegen sind wiederholt alternative Bestimmungen vorgeschlagen worden – so etwa Materialität als »Opazität«, als Bedingung der »Verkörpe12 13 14 15 Edmund Husserl: »Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung« (1904/05), in: Husserliana, Bd. 23, hg. v. Eduard Marbach, Den Haag 1980, S. 1−108, hier: § 14, S. 29. Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, hier: S. 9. Über das Rätsel, wie aus dem »materiellen Sachverhalt« des physischen Bildträgers ein »sinnlich organisiert[er] Sinn« bzw. ein spezifisch »ikonisch[er] Logos« entsteht, hat Boehm immer wieder nachgedacht. Vgl. u. a. ders: »Bildsinn und Sinnesorgane«, in: Neue Hefte für Philosophie, Bd. 18/19, 1980, S. 118−132, hier: S. 124; »Die Bilderfrage«, in: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, München 2006 [zuerst ebd. 1994], S. 325−343, hier: S. 332; »Iconic Turn. Ein Brief«, in: Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 27−36, bes. S. 29−30. Siehe hierzu den Aufsatz von Marcel Finke und Mark A. Halawa in diesem Band. Vgl. Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 17; Gottfried Boehm: »Repräsentation – Präsentation – Präsenz. Auf den Spuren des Homo Pictor«, in: ders. (Hg.): Homo Pictor, München 2001, S. 3−13, hier: S. 7; Hans Jonas: »Homo Pictor. Von der Freiheit des Bildens« (1961), in: Boehm 1994 (wie Anm. 13), S. 105−124, hier: S. 113; Reinhard Brandt: Die Wirklichkeit des Bildes. Sehen und Erkennen – Vom Spiegelbild zum Kunstbild, München 1999, S. 15; Husserl 1904/05 (wie Anm. 12), §14, S. 32. Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis 15 rung«, als störende »Gegenwendigkeit« oder als »durchscheinender Grund« des Bildes.16 Solche kritischen Auseinandersetzungen mit der Kategorie der Materialität gehen des Öfteren mit der Absicht einher, ›Materialität‹ als einen Begriff der Kritik, als critical term, zu funktionalisieren. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich Ähnliches auch für eine beachtliche Anzahl von Untersuchungen konstatieren lässt, in denen eine kritische Reflexion ausbleibt. In dieser Hinsicht scheint es demnach nicht entscheidend, ob um neue und komplexere Konzepte gerungen oder an traditionellen dinglichen bzw. essenzialistischen Auffassungen von Materialität (bewusst oder unbewusst) festgehalten wird – man mobilisiert den Begriff ausgesprochen oft, um eine kritische Haltung zu signalisieren.17 Das Beharren auf Aspekten der Materialität geht für gewöhnlich mit einer Problematisierung der Dominanz des Sinns, der Verabsolutierung des Medialen oder der Hypostasierung des Diskursiven einher. Mit rationalitätskritischem Gestus opponiert der Versuch einer Restitution der Materialitätskategorie zumeist gegen das intellektualistische Interpretationsparadigma der hermeneutischen und semiotischen Theorietradition.18 Wahlweise als ›postmetaphysisches‹ oder ›posthermeneutisches‹ Projekt bezeichnet, wird damit wiederholt der Übergang von einer Sinnästhetik hin zu einer Ereignis- oder Präsenzästhetik erprobt.19 Auf dem Umstand, dass sich »die Immaterialität des Sinns […] in der Materialität eines Sinnlichen«20 verkörpern muss, wird ebenso nachdrücklich insistiert wie auf dem Aisthetischen innerhalb der Wahrnehmung. Ferner betont man den Widerfahrnischarakter und den ›Eigensinn‹ der Materialität oder weist 16 17 18 19 20 Vgl. Louis Marin: »Opacity and Transparence in Pictorial Representation«, in: Karin Gundersen, Ståle Wikshåland (Hg.): EST II. Grunnlagsproblemer I Estitsk Forskning, Oslo 1991, S. 55−66; Bernhard Waldenfels: »Verkörperung im Bild«, in: Richard HoppeSailer (Hg.): Logik der Bilder. Präsent – Repräsentation – Erkenntnis, Berlin 2005, S. 17−34; Mersch 2010 (wie Anm. 3), S. 133−147; Markus Rautzenberg: Die Gegenwendigkeit der Störung. Aspekte einer postmetaphysischen Präsenztheorie, Zürich/Berlin 2009; Emmanuel Alloa: Das durchscheinende Bild. Konturen einer medialen Phänomenologie, Zürich/Berlin 2011; siehe auch den Aufsatz desselben Autors in diesem Band. Diese Beobachtung ließe sich auch andersherum formulieren: Wird ›Materialität‹ als Begriff der Kritik ins Feld geführt, dann garantiert dies noch längst nicht, dass dem auch ein kritischer Umgang mit dem Begriff ›Materialität‹ selbst zugrunde liegt. Vgl. dazu allgemein Mark A. Halawa: Die Bildfrage als Machtfrage. Perspektiven einer Kritik des Bildes, (erscheint voraussichtlich Berlin 2012); ders.: »Schriftbildlichkeit – ein Begriff und seine Herausforderungen«, in: Sprache und Literatur, 42. Jg., Bd. 107, 2011, Themenheft: »Schriftbildlichkeit«, hg. v. Sybille Krämer u. Mareike Giertler, S. 5−15, hier: S. 5−7. Vgl. u. a. Rautzenberg 2009 (wie Anm. 16); Mersch 2010 (wie Anm. 3); Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt/M. 2004. Sybille Krämer: »Was haben Performativität und Medialität miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ›Aisthetisierung‹ gründende Konzeption des Performativen«, in: dies. (Hg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 13−32, hier: S. 19. 16 Marcel Finke / Mark A. Halawa auf deren Verhältnis zur Performativität hin. ›Materialität‹ als critical term zu verwenden heißt daher in der Regel, an ein Widerständiges zu erinnern, das sich nicht restlos in Signifikanz auflösen lässt. Bleibt abschließend noch zu skizzieren, worin das kritische Potenzial des Begriffs liegen könnte. Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass ›Materialität‹ eine Ermöglichungs- und Wirkungsbedingung von Bildlichkeit ist.21 Von der Materialität des Bildes abzusehen, hieße daher letzten Endes: kein Bild zu sehen. Dies gilt selbst noch für digitale Formate wie Simulationen und Computerspiele oder filmische Projektionen.22 Deshalb handelt es sich auch nicht um etwas, was zu einem Bild lediglich als ein ›Extra‹ hinzukommt. Bildlichkeit und Materialität sind vielmehr ursprünglich miteinander verschränkt. Ihr Zusammenhang ist in vielfacher Weise intrikat; weder das eine noch das andere lässt sich isolieren. Gerade hierin liegt eine Gefahr der Idee der ›inneren Duplizität‹: sie beruht (mal mehr, mal weniger) auf dem Phantasma einer sauberen Trennung. Durch die Naturalisierung der Differenz zwischen immaterieller Bilderscheinung einerseits und Bildträger andererseits sowie durch die Identifizierung des letzteren mit ›Materialität‹ wird der Eindruck erweckt, Materialität und Bildlichkeit stünden sich strikt gegenüber und seien einander äußerlich. Problematisch wäre daran zudem, dass Materialität als bloßer Rest des ›eigentlichen‹ Bildphänomens aufgefasst zu werden drohte – als habe man es mit einem ›Rückstand‹ ohne eigenen Wert zu tun, der am Ende eines erfolgreichen Bildaktes gleichsam als ›Abfallprodukt‹ übrig bleibt. Demgegenüber wäre ihre ›grundlegende‹ Funktion zu betonen, d. h. der Umstand, dass Bilder allein dank ihrer Materialität überhaupt zum Vorschein kommen.23 Materialität wirkt sich folglich unumgänglich auf die Erscheinung des Bildes aus; dessen Bildlichkeit bleibt davon nicht unberührt. Eben aus diesem Grund wird der Materialität häufig eine beunruhigende Virulenz bescheinigt. Wegen ihr bleibt am Bild etwas Unkalkulierbares, das nicht vollends verfügbar ist und sich seiner absoluten Beherrschbarkeit entzieht. Von Anbeginn siedelt dadurch in jedem Bild eine nicht zu tilgende und nur bedingt regulierbare Dynamik. Letztere sorgt wiederum dafür, dass sich kein Bild je endgültig zu einer stabilen Einheit verfestigen kann. Zu unterstreichen wäre daher Folgendes: Die Idee, ›Materialität‹ garantiere die (relative) Beständigkeit der Formate der ›physischen Bildlichkeit‹, ist 21 22 23 Andere Bedingungen sind etwa die Imagination und der Körper des Betrachtersubjekts, die kulturellen Dispositive der Sichtbarmachung oder die historisch variablen Ordnungen des visuellen Feldes. Vgl. hierzu u. a. die Aufsätze von Ulrike Hanstein, Inge Hinterwaldner, Stefan Meier, Markus Rautzenberg, Steffen Siegel und Yvonne Schweizer in diesem Band. Vgl. hierzu erneut Mersch 2010 (wie Anm. 3), S. 140. Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis 17 äußerst fragwürdig. Anstatt ihm ein tatsächlich solides Fundament zu liefern, stellt Materialität die Abgeschlossenheit und Finalität des Bildes in Frage. In einem grundsätzlichen Sinne bewirkt sie dessen permanente Vorläufigkeit; sie macht, dass Bildlichkeit immerzu prekär ist. Die Hinwendung zum Thema ›Materialität‹ darf deshalb keinesfalls zu einem sentimentalen Projekt geraten. Es wäre vollkommen falsch, sie mit dem zweifelhaften melancholischen Wunsch zu verbinden, einen vermeintlich verlorengegangenen stabilen Grund wiederzufinden und retten zu können. Das kritische Potenzial der Kategorie ›Materialität‹ besteht vielmehr gerade darin, die ganze Problematik der Rede vom ›Körper des Bildes‹ deutlich werden zu lassen. Damit rückten zugleich dessen Betrachter und Betrachterinnen sowie deren Körper in den Fokus. Mithilfe eines kritischen Materialitätsbegriffs ließe sich zeigen, dass Bildlichkeit letztlich keine unveränderliche, natürliche Konstellation ist. So gibt es nicht nur verschiedene Praxen und »Vollzugsformen der Bildlichkeit«24. Letztere scheint vielmehr selbst ein performatives Geschehen zu sein. Bildlichkeit konstituiert sich allererst im Vollzug der Wahrnehmung, und der Materialität kommt darin eine entscheidende Bedeutung zu.25 Unsere Einleitung möchten wir mit einem letzten Hinweis beschließen. Der Untertitel des Bandes Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis weist bereits in die entsprechende Richtung. Festgehalten wurde bisher, dass kein Bild in seine Bildlichkeit einerseits und seine Materialität andererseits zerfällt; beide Momente sind stattdessen auf das Innigste ineinander verstrickt. Darum eignet sich ›Materialität‹ auch nicht als Gegenbegriff der ›Bildlichkeit‹. Ebenso wenig sinnvoll erscheint es, Materialität mit Wahrnehmung und Bildlichkeit mit Symbolisierung gleichzusetzen, um auch diese als Oppositionen voneinander zu trennen. Diese Gefahr droht zumeist dann, wenn auf ›Materialität‹ verwiesen wird, um dem ›Sinn‹ des Bildes etwas entgegenzustellen. Was dadurch allerdings aus dem Blick gerät, ist das irreduzible Wechselspiel von Aisthesis und Semiosis. Man kann daher Markus Rautzenberg nur zustimmen, der darauf hingewiesen hat, dass die »genuine Semiotizität der aisthesis« und die »unhintergehbare Aisthetizität der semiosis« gleichermaßen zu beachten und zu verstehen seien.26 Weil 24 25 26 Vgl. Klaus Sachs-Hombach, Eva Schürmann: »Philosophie«, in: ders. (Hg.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt/M. 2005, S. 118. Dem Zusammenhang von Materialität und Bildlichkeit sowie der ›Bildlichkeit als performativem Vollzugsgeschehen‹ geht Marcel Finke in seiner Dissertation Prekäre Oberflächen. Zur Materialität des Bildes und des Körpers am Beispiel der künstlerischen Praxis Francis Bacons (Universität Tübingen) ausführlicher nach. Rautzenberg 2009 (wie Anm. 16), S. 39, 199. Rautzenberg spricht in diesem Kontext auch treffend von einer »irreduziblen« bzw. »unauflösbare[n] Interdependenz in der Differenz von aisthesis und semiosis«. Ebd., S. 46, 175. 18 Marcel Finke / Mark A. Halawa nun aber Wahrnehmung und Symbolisierung, Materialität und Bildlichkeit einen gemeinsamen Konnex ergeben, ist es notwendig, das ›Bild‹ sowohl von phänomenologischer als auch von semiotischer Seite aus in den Blick zu nehmen. Es gilt nach möglichen Anschlüssen zwischen diesen beiden Perspektiven zu suchen, die viel zu häufig und völlig zu Unrecht gegeneinander ausgespielt werden. Es wäre ein Fehler, ›Materialität‹ als einen Begriff aufzufassen, der eine solche Frontstellung notwendig macht oder gar legitimiert. Er markiert stattdessen gerade einen jener Punkte, an denen Phänomenologie und Semiotik jeweils an ihre eigenen Grenzen kommen und auf wechselseitigen Austausch angewiesen sind. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht eignet sich ›Materialität‹ als critical term. *** Jedes Buch hat seine eigene Entstehungsgeschichte, jeder Herausgeber hat vielzählige Gründe zur Dankbarkeit. Am Beginn dieses Projektes stand der Workshop »Der Körper des Bildes. Zum Zusammenhang von Materialität und Bildlichkeit«, den wir im Jahr 2009 gemeinsam mit Yvonne Schweizer organisiert und durchgeführt haben. Wir erinnern uns sehr gern an die wunderbare Zusammenarbeit und freuen uns umso mehr, dass wir Yvonne Schweizer auch als Autorin für diesen Band gewinnen konnten. Besagter Workshop fand in den Räumlichkeiten des Forum Scientiarum der Universität Tübingen statt, dessen wissenschaftlichem Leiter, Herrn Dr. Niels Weidtmann, wir für seine Gastfreundschaft von Herzen danken. Die Veranstaltung wurde ferner durch die großzügige Förderung der Studienstiftung des deutschen Volkes ermöglicht. Stellvertretend sei an dieser Stelle Herrn Dr. Hans-Ottmar Weyand Dank ausgesprochen, der unser Vorhaben von Anbeginn auf unkomplizierte Weise unterstützte. Trotz seiner Vorgeschichte ist der vorliegende Band keine Sammlung von ausformulierten Vorträgen. Nur vier der in diesem Buch vertretenen Autorinnen und Autoren stellten ihre Gedanken bereits im Workshop »Der Körper des Bildes« vor; ihre Beiträge wurden durch insgesamt zehn weitere Aufsätze ergänzt, um das Thema Materialität und Bildlichkeit möglichst breit und tief ausloten zu können. Wir sind froh darüber, das Ergebnis dieser vielfältigen Untersuchungen im Kulturverlag Kadmos publizieren zu dürfen. Einen Teil der Druckkosten übernahmen freundlicherweise der Universitätsbund Tübingen e.V. sowie das DFG-Graduiertenkolleg »Schriftbildlichkeit« (Freie Universität Berlin). Seit den ersten Schritten in Richtung dieser Publikation begleitete uns das Gemälde Grande Nero Cretto wie eine Art Talisman; wir danken deshalb der Fondazione Palazzo Albizzini für die Erlaubnis, Alberto Burris Tafelbild für den Einband und die Einleitung verwenden zu dürfen. Tübingen/Berlin, im Dezember 2011 Marcel Finke, Mark A. Halawa