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Jan Slaby
DIE OBJEKTIVITÄTSMASCHINE
Der MRT-Scanner als magisches Objekt
Je weiter die technische Entwicklung der Zivilisation voran schreitet, desto
deutlicher wird, wie umfassend die menschlichen Angelegenheiten mit den
materiellen und technischen Apparaturen der Lebenswelt verschränkt sind,
– wie grundlegend der Mensch von den instrumentellen Arrangements, in
denen er steht, formatiert, strukturiert und in seinem Handeln gelenkt wird,
wie sehr sich die Geschicke des Menschen mit denen der von ihm selbst
teils geschaffenen, teils nur umgearbeiteten materiell-technischen Formationen verschlingen, deren unablösbarer Teil der Mensch immer schon ist und
es auch stets wieder auf neue Weise wird. Für die Zwecke der folgenden
Überlegungen greife ich nur einen Ausschnitt aus diesem sehr weiten Feld
heraus: die Art und Weise, wie die instrumentellen Arrangements der Neurowissenschaften zunehmend eine spezifische Wirksamkeit entfalten, welche
sowohl in der Binnenperspektive humanwissenschaftlicher Praktiken selbst
als auch in der Perspektive der Wirkung dieses Wissenschaftszweiges in der
Gesellschaft folgenreiche Effekte zeitigen. Mein Anwendungsfeld sind insbesondere die Human-Neurowissenschaften, und zwar vor allem insofern
diese von bildgebenden Technologien wie der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie (fMRT) Gebrauch machen. Der fMRT-Scanner, der sich
seit rund 20 Jahren flächendeckend im diagnostischen und experimentellen Einsatz befindet, erlaubt es, metabolische Vorgänge im lebenden Gehirn
nicht-invasiv und nahezu in Echtzeit zu erfassen. Dies geschieht vermittelt über den sogenannten BOLD-Wert, der die Konzentration von Sauerstoff im Blut in den verschiedenen Hirnregionen anzeigt und somit Rückschlüsse auf funktional relevante Aktivierungen zu erlauben scheint (Logothetis, What we can do). Ich werde meinen Gegenstandsbereich noch weiter einschränken und mich vornehmlich auf jenen (Teil-)Disziplinenverbund
beschränken, der sich mit dem vielsagenden Acronym SCAN bezeichnen
lässt: den social, cognitive and affective neurosciences. Der für diesen erst in
den letzten ca. 15 Jahren entstandenen Zweig der Hirnforschung so wichtige MRT-Scanner ist dabei nur der sichtbarste, der ikonische Repräsentant
einer deutlich breiteren Entwicklung. Das Gerät steht für den beispiellosen
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Erfolg der bildgebenden Hirnforschung im Bereich der Wissenschaften vom
Menschen, einschließlich vieler diesen nahe stehenden geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Zunehmend fungieren der Scanner und seine farbenfrohen
Erzeugnisse als Muster für Wissenschaftlichkeit überhaupt, wenn es um die
Erforschung menschlicher Angelegenheiten geht – der Scanner avanciert zur
Objektivitätsmaschine.
Diese Entwicklung zu verstehen und, wenn nötig, kritisch zu beleuchten,
ist das Ziel des Projekts einer kritischen Philosophie der Neurowissenschaften, zu welchem dieser Beitrag sowohl einige grundlegende als auch eine
Reihe von fallbezogenen Überlegungen und Analysen beisteuert.
In grobem Umriss kann man das hier Entwickelte als eine Version der
folgenden Denkfigur betrachten: In ihrem Anspruch und Bemühen, die
»erste Natur« des Menschen durchschlagend empirisch zu erforschen, reihen sich die Human-Neurowissenschaften de facto in Unternehmungen ein,
die auf folgenreiche Weise gerade die »zweite Natur« des Menschen mitgestalten – und damit genau die Ebene, die dem epistemischen und ontologischen Anspruch der Hirnforschung nach in Bezug auf die Verfasstheit des
Menschen eigentlich vernachlässigbar sein soll. Die biologische Grundausstattung des Gehirns – die als ontologisch und normativ maßgebende erste
Natur betrachtet wird – soll gegenüber der Kultur, der jeweils historisch
gewachsenen und variablen Einrichtung der Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt sowie den daraus resultierenden stabilen Praktiken und
Habitualisierungen (zweite Natur), dominant gesetzt und zur einzig relevanten Erklärungsinstanz bezüglich menschlicher Angelegenheiten gemacht
werden. Doch in Labors, Kliniken, Gerichtssälen, Schulen, im Militär und
zunehmend auch in der Arbeits- und Geschäftswelt kristallisieren sich, auch
als Folge vermeintlich neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, kulturelle Formationen heraus, die den Menschen, die sich in diesen Strukturen bewegen, ganz bestimmte Handlungsoptionen, kognitive und affektive Schemata,
ja geradezu ganz bestimmte Seinsweisen vorzeichnen. Eine von den neurosciences ideologisch und praktisch befeuerte wissenschaftlich-technische
Infrastruktur rechnet mit einem auf ganz bestimmte Weise verfassten Menschen und formt ihn damit tendenziell mit (vgl. Slaby und Choudhury, Neuroscience as Applied Hermeneutics, Kap. 1). Zum Teil sehen wir hier das
Muster einer Sich-selbst-erfüllenden Prophezeiung: Ein übereilt einer unveränderlichen ersten Natur zugeschlagener Seinsbestand des Humanen, der
als solcher weitgehend illusorisch ist, wird gleichwohl der Tendenz nach
faktisch verwirklicht – auf der Ebene der materiellen, praktischen und ideellen gesellschaftlichen Wirklichkeit, die institutionelle Nischen sowie die
entsprechenden Gerätschaften für ganz bestimmte Praktiken, Eingriffe und
Rahmungen von Existenzmöglichkeiten bereitstellt. Auf diese Weise wird
veränderliche und deutungsoffene menschliche Praxis per institutioneller
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Die Objektivitätsmaschine
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Verfügung und mit Hilfe eines wirkungsvollen Maschinenparks virtuell in
vermeintlich »harte« Natur verwandelt und tritt den Menschen als eine
undurchschaute sekundäre Objektivität entgegen. Es handelt sich um ein
altbekanntes Muster. Das Ausmaß des von Menschen Gemachten und somit
potentiell Veränderbaren wird radikal unterschätzt, mit der Folge, dass das
Bestehende und seine einseitigen Entwicklungen als alternativlos erscheinen. Eine solche Konstellation ist seit jeher ein Einsatzpunkt von philosophisch und politisch motivierter Kritik und wird es auch in diesem Fall
sein. 1
Soweit der grobe Umriss eines philosophischen Unternehmens, das Analysen der Wirksamkeit wissenschaftlich-technischer Arrangements mit dem
Unternehmen einer kritischen Theorie der Human-, Kognitions- und Neurowissenschaften verbindet.
Diskurshoheit und versteckte Hermeneutik:
Der weiche Siegeszug der Hirnforschung
Zunächst ist zu fragen, was es eigentlich genau ist, das den neurowissenschaftlichen Disziplinen in den letzten Jahren ihre immense Strahlkraft verliehen hat. Was erklärt die breiten Wirkungen auf die Öffentlichkeit, auf Entscheidungsträger in verschiedenen Institutionen und nicht zuletzt auf Vertreter der klassischen Geisteswissenschaften, die in wachsender Zahl beginnen, ihre Disziplinen in Teilbereiche der sogenannten Neuro-Humanities
umzuwandeln (vgl. Ortega und Vidal, Neurocultures)? Schon ein oberflächlicher Blick auf die gegenwärtige Situation in den SCAN-Disziplinen zeigt,
dass es sich hier nicht einfach um eine Übernahme von einschlägigen Forschungsergebnissen handeln kann – denn es gibt in dieser Hinsicht noch
nicht besonders viel, das sich übernehmen ließe! Die Human-Neurowissenschaften, sofern sie sich mit den neuronalen Grundlagen des menschlichen
Geistes befassen, haben noch nicht das Stadium erreicht, in dem von gesicherten Resultaten auf breiter Basis die Rede sein kann. Die Instrumente und
Erhebungsmethoden auf dem heutigen Entwicklungsstand erlauben bestenfalls grobkörnige, niedrig auflösende Zugriffe auf ein diffuses neuronales
Substrat. Hinsichtlich der mit Hilfe von Hirnscans möglichen groben Lokalisationen von erhöhter oder verminderter metabolischer Aktivität während standardisierter kognitiver Aufgaben arbeitet das Feld noch weitgehend
1
Das dazu erforderliche und auf die Realitäten der neurowissenschaftlichen Forschungspraxis
eingestellte komplexe Verständnis von »Kritik« habe ich gemeinsam mit Suparna Choudhury
an anderer Stelle ausführlicher entwickelt, vgl. Choudhury und Slaby, Critical Neuroscience,
Kap. 1.
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ohne ein theoretisches Verständnis der Funktionsprinzipien des Gehirns.
Es ist völlig unklar, was die Hirnregion einer Versuchsperson eigentlich
»macht«, wenn in ihr im Rahmen einer experimentell induzierten kognitiven
oder affektiven Inanspruchnahme mehr Sauerstoff im Blut messbar ist als in
den umliegenden Regionen. Lokalisationen allein erklären nichts. Überdies
hat es sich bislang als höchst schwierig erwiesen, die Ergebnisse bildgebender
Studien stabil zu replizieren (vgl. Bennett und Miller, How Reliable are the
Results; Schleim, Neurogesellschaft, 172 ff.). Das käme normalerweise einem
vernichtenden Verdikt über ein experimentelles Verfahren gleich und zeigt
folglich, dass die Standards guter wissenschaftlicher Praxis für den SCANVerbund bisher nur eingeschränkt gelten.
Angesichts der genannten methodologischen Beschränkungen wird verständlich, warum der neurowissenschaftliche Phänomenzugriff bis auf weiteres von subjektiven Schilderungen oder von auf konventionellem Wege
erlangten medizinischen Diagnosen abhängig bleibt. So ist etwa die Neuropsychiatrie – heute oft als ein zentrales Anwendungsfeld der neuen Messmethoden beworben – weit davon entfernt, allein anhand von neuronalen Aktivitätsmustern psychiatrische Erkrankungen zu diagnostizieren. Der
reverse inference – der Schluss von fMRT-Aktivierungsdaten auf das Vorliegen bestimmter mentaler Zustände – gilt in weiten Teilen des SCAN-Feldes zu Recht als unseriös, auch wenn es üblich ist, in diesem Fall zumindest über »mögliche« Zusammenhänge zwischen Aktivierung und mentalem Vorgang zu spekulieren (was oft durch in SCAN-Publikationen notorische Wendungen wie »this might indicate that. . .«, »this could be related
to. . .« zum Ausdruck kommt; vgl. Vidal und Ortega, Neural Correlates of
Depression). Diese und andere methodologische Komplikationen werden
inzwischen zunehmend intensiver diskutiert (Poldrack, Cognitive Processes; Logothetis, What we can do; Vul et al., Puzzling High Correlations;
Hanson und Bunzl, Foundational Issues in Human Brain Mapping), wobei
es jedoch gerade diese Debatten nicht sind, welche aus dem inneren Kreis
des Disziplinenverbunds nach außen an eine breitere Öffentlichkeit gelangen.
Wenn es aber keine belastbaren Forschungsergebnisse sind, was macht
die immense Faszinationskraft der Neurowissenschaften dann aus? Zentral scheint eine nur auf den ersten Blick überraschende Tatsache zu sein –
der Umstand, dass sich SCAN in einem wichtigen Punkt gerade nicht von
geisteswissenschaftlichen Verfahren und Diskurstypen unterscheidet. Neurowissenschaftliches Forschen, insofern es den menschlichen Geist oder
menschliche Fähigkeiten und Merkmale zum Gegenstand hat, ist auf einem
hermeneutischen Untergrund errichtet. Gerade die empirische Unbestimmtheit und Offenheit ermöglicht das Andocken vielfältiger Diskurse und Deutungen – auch wenn diese Offenheit offiziell nicht eingestanden, sondern
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Die Objektivitätsmaschine
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immer wieder von einer Rhetorik der Wissenschaftlichkeit, der Objektivität und der »harten Tatsachen« verdeckt wird. Faktisch stehen die HumanNeurowissenschaften den Geisteswissenschaften in Bezug auf einige zentrale Erkenntnispraktiken deutlich näher als vielen klassisch naturwissenschaftlichen Disziplinen wie etwa Physik oder Chemie. 2 In Vielem ist das,
was die SCAN-Disziplinen betreiben, eine nur höchst partiell gebundene
Auslegung der menschlichen Wirklichkeit, der Art nach nicht allzu deutlich verschieden etwa von einer philosophischen Anthropologie oder von
den bekannt breitenwirksamen evolutionstheoretischen oder psychoanalytischen Großnarrativen. Geboten werden hinreichend deutungsoffene Erzählungen der allgemein-menschlichen Situation, die auf vermeintlich »offiziell«
anerkannte – und immer wieder geschickt in Szene gesetzte – Weise in einem
Komplex technologischer Verfahren und wissenschaftlicher Methoden verankert sind. 3
Zwischen Welterschließung und Weltgestaltung
Diese technisch-materielle Verankerung der Neuro-Diskurse stellt einen
Zugriff auf die robuste erste Natur des menschlichen Organismus zumindest in Aussicht. Zugleich betonen die lautstärkeren Vertreter des Feldes die
Lebensnähe der neurowissenschaftlich gewonnenen »Erkenntnisse« – ihren
Praxisbezug und ihre angeblich jederzeit mögliche Übersetzung in Anwendungen oder in Selbsthilfe-Direktiven.
2
3
Leider haben Überlegungen zum hermeneutischen Charakter von Einzeldisziplinen wie experimenteller Physik (Heelan, Experiment and Theory), Medizin (Leder, Clinical Interpretation), Kognitions- und Neurowissenschaft selbst (Gallagher, Hermeneutics and Cognitive
Science), sowie den (Natur-)Wissenschaften im Allgemeinen (Heelan, Scope of Hermeneutics)
bisher kaum dazu geführt, die Eingebundenheit zumindest humanwissenschaftlicher Interpretationen in soziokulturelle Traditionen und politische Konfliktlinien anzuerkennen. Die
in dieser Hinsicht multidimensionaler arbeitende Wissenschaftsforschung (vgl. z. B. Shapin
und Schaffer, Leviathan and the Air Pump; Latour, We have Never been Modern; Daston und
Galison, Objecitivty) wird in Kreisen der weitgehend provinziellen und überspezialisierten
mainstream-Wissenschaftstheorie als »Wissenssoziologie« abgetan und für irrelevant befunden.
Begünstigt wird diese Konstellation von einem verbreiteten naiv-objektivistischen Wissenschaftsverständnis, welches der apparativ hochgerüsteten Naturwissenschaft einen epistemischen Exklusivzugang zur »wahren Natur der Dinge« zubilligt. Die von den zentralen naturwissenschaftlichen Disziplinen zu einem gegebenen Zeitpunkt eingesetzten Verfahren avancieren auf diese Weise quasi automatisch zum Maßstab für Wissenschaftlichkeit überhaupt.
Leider ist dieses trivial-objektivistische Verständnis keineswegs nur in einer uninformierten
Öffentlichkeit zu finden, sondern auch bei vielen Entscheidungsträgern im akademischen
Betrieb und anderswo.
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Hierzu lässt sich Folgendes konstatieren: Schon die bloße Aussicht auf
einen belastbaren Zugriff auf die angeblich zentrale Ebene der ersten Natur
des Menschen (auf das Gehirn als »Schaltstelle« des Personalen) ist für
manche Neurowissenschaftler und ihre Gefolgsleute Anlass genug, sich
zum Ziel zu setzen, die zweite Natur – gesellschaftlich etablierte Wissensformen, Selbstverständnisse, Subjektivierungsformen, Praktiken, kulturelle
Prägungen etc. – nachhaltig umzustrukturieren. Leitend ist dabei eine Art
sozialtechnologischer Naturalismus: Im Mittelpunkt stehen psychiatrische
Diagnose-, Screening- und (angestrebte) Behandlungsverfahren, angedachte
Reformen im Bildungs- und Rechtssystem bis hin zur Abschaffung der
Schuldstrafe sowie zahlreiche »weichere« Deutungsangebote, die verschiedene Aspekte der Lebenswelt (etwa Kunst, Politik, Glaube, Liebe, Elternschaft etc.) naturalistisch uminterpretieren, oft mit direkten materiellen und
institutionellen Folgen. 4 Während also der tatsächliche Zugriff auf das vermeintlich naturale Substrat des Humanen arg begrenzt ist, eilt der Forschung
ein emsiger Reformismus voraus, der institutionell vorweg zu nehmen trachtet, was bisher bloß als ferne Konsequenz optimistisch antizipierter Forschungsergebnisse am Horizont aufschimmert. Dabei ist es wichtig zu sehen,
dass explizite und direkte Reform- und Gestaltungsbemühungen jederzeit
noch flankiert, befördert und tendenziell normalisiert werden durch eine
Vielzahl von schleichenden Prozessen biotechnologischer, medialer, epistemischer sowie alltagspraktischer Transformationen der Lebenswelt (vgl.
Gehring, Was ist Biomacht?; Rose, Politics of Life Itself ; Borck, Ikonen des
Geistes).
Diese bündige Gegenüberstellung von erster und zweiter Natur darf uns
freilich nicht in die Irre leiten. In dieser Schärfe dient diese Formulierung
vor allem analytischen Zwecken – es soll damit eine wichtige Tendenz, die
andernfalls leicht verborgen bleiben kann, prägnant herausgearbeitet werden. Tatsächlich ist zunehmend evident, dass sich der klassische Natur /Kultur-Kontrast als reale Trennung ontologischer Sphären gerade nicht sinnvoll
stabilisieren lässt – was die strikte Bereichstrennung von Naturwissenschaften einerseits und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften andererseits tendenziell zu einem Relikt einer vergangenen Epoche macht (vgl. Latour, We have
Never been Modern; Rouse, How Scientific Practices Matter). So wie Kultur nicht nur in jeder ihrer Manifestationen zurückgebunden bleibt an ihre
kausal-materiellen Fundamente, sondern von diesen schlechterdings nicht
4
Zum Beispiel im Bereich der Geisteswissenschaften, wo mit viel finanziellem und apparativem
Aufwand neue Forschungsfelder wie Neuroästhetik, Neurotheologie oder gar Neuro-Literaturwissenschaft etabliert werden, oder im Bereich einer »evidenzbasierten« Politik, die sich
anstatt von soziologischen, ethnologischen oder kulturwissenschaftlichen Experten nun von
Hirnforschern und Neuropsychiatern beraten lässt.
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zu trennen ist, findet sich nirgendwo eine Natur, der nicht bereits »die Züge
der bewussten Arbeit« (Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, 23)
eingeschrieben wären. Diese Einsicht, die bereits eine fundierende Überzeugung der frühen Frankfurter Schule war, ist insbesondere im Zuge einer
intensivierten Wissenschaftsforschung in den letzten gut 30 Jahren wiederholt und zunehmend schärfer artikuliert worden. Nicht zuletzt weisen zentrale wissenschaftliche Entwicklungen – etwa in der Genetik und Evolutionstheorie – deutlich in diese Richtung (vgl. etwa Fox Keller, Space Between
Nature and Nurture; Lock und Nguyen, An Anthropology of Biomedicine;
Wexler, Brain and Culture).
Eine Nachfolgeversion von Horkheimers Einsicht lässt sich so formulieren: »Natur« ist uns einerseits im Rahmen wissenschaftlicher und technischer Praktiken erschlossen und von diesen praktisch-epistemischen Zugangsmöglichkeiten, in denen sich die verschiedentlich historisch ausgeprägten Formen der Fähigkeiten und Fertigkeiten der menschlichen Gattung manifestieren, nicht als separater Bestand abtrennbar (vgl. Rouse,
How Scientific Practices Matter). Die Kehrseite dieser praktisch-technischen Welterschließung ist die gesellschaftliche Praxis der Weltgestaltung –
die Erzeugung und Umarbeitung von Lebenswelten auf den vielfältigen
und komplexen Wegen der Kultivierung, Bebauung, Bearbeitung, Züchtung, Gewöhnung und sonstigen natural-technischen und material-diskursiven Handlungs- und Interaktionsformen. Bei der angesprochenen Spannung zwischen dem objektivistischen Selbstverständnis der Neurowissenschaft und der von ihr faktisch betriebenen und beförderten gesellschaftlich-ideellen Gestaltungspraxis handelt es sich also eher um einen graduellen Unterschied zwischen gegenläufigen, aber ineinander verschränkten Orientierungen. Ist die primäre Zielstellung einer institutionalisierten wissenschaftlichen Praxis erkennbar die Welterschließung im Sinne einer Beschreibung, Erklärung und Prognose von Phänomenen und Entwicklungen, oder
ist statt dessen der Imperativ der Weltgestaltung, also der technischen, institutionellen, ideellen Prägung der Gesellschaft und ihrer Mitglieder, das primär leitende Motiv? Im Fall der jüngeren Entwicklung der SCAN-Diszplinen ist verstärkt Letzteres zu beobachten, wobei sich immer deutlicher
eine sachwidrige Ablösung des Gestaltungs- vom Erschließungsprojekt feststellen lässt. Wo immer dies geschieht, läuft ein Wissenschaftszweig Gefahr,
in Ideologie umzuschlagen (vgl. Habermas, Technik und Wissenschaft, und
neuerdings Hartmann, Against First Nature).
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Verheißungscharakter, Hochglanztechnik
und back stories
Eine eigentümliche rhetorische Konstellation, die für große Teile der SCANDisziplinen charakteristisch zu sein scheint, begünstigt die Bestrebungen
der gestaltungswilligen Reformer. Die Wissenschaftshistoriker Hagner und
Borck (Brave Neuro Worlds) sprechen von der proleptischen Struktur der
Neurowissenschaften. Es sei typisch für das Feld, dass »bahnbrechende
Resultate« unter Verweis auf die zwar bereits sehr fortschrittliche, aber noch
nicht voll ausgereifte Technologie stets für eine nicht mehr ganz so ferne
Zukunft in Aussicht gestellt werden (vgl. auch Hagner, Der Geist bei der
Arbeit, Kap. 1). Borck spricht jüngst vom »rasenden Stillstand«, vom paradoxen Zustand einer »permanenten Revolution, mit der die Hirnforschung
stets an der Schwelle des Durchbruchs verbleibt« (Borck, Ikonen des Geistes, 453 f.). Ein geschickt eingesetztes rhetorisches Prinzip wird somit zum
Motor der faktischen Entwicklung und der öffentlichen Wirkung eines Forschungszweigs.
Eine entscheidende Rolle spielt zudem die Überzeugungskraft, die ganz
unmittelbar von den neuen, weithin sichtbaren Technologien ausgeht: Der
SCAN-Verbund wartet mit einem beeindruckenden und ständig wachsenden Maschinenpark auf und setzt eine nimmermüde Bilderproduktion im
technophilen Hochglanz ins Werk, die den Verheißungscharakter der new
science im Hier und Jetzt verankert, futuristische Fantasien beflügelt und
spektakulär das »ganz Andere« der ewig-mühsamen Deutungsroutinen der
hermeneutischen Geisteswissenschaften in Szene setzt (vgl. Dumit, Picturing Personhood; Joyce, Magnetic Appeal). Es ist angesichts der strahlenden Apparatur geradezu mit den Händen zu greifen: Endlich scheint
ein unvermittelter, kompromisslos kausaler Zugriff auf das materiale Substrat der menschlichen Wirklichkeit möglich. Somit rücken nun Messdaten und Abbildungen an die Stelle ewig rivalisierender Erzählungen und
Interpretationen, die einander in nicht enden wollender Folge unverbindlich ablösten – endlich harte Fakten, nach Jahrhunderten des müßigen
Redens. Der MRT-Scanner wird zur Objektivitätsmaschine: die im klinischen Weiß schimmernde Apparatur, umringt von Monitoren und sonstigem
high tech equipment, zugänglich nur über Sicherheitstüren meist in abgelegenen Räumlichkeiten oder eigens dafür konstruierten, brandneuen Gebäudeteilen, versammelt und verankert ein techno-epistemisches Dispositiv –
eine neue, reich sprudelnde Quelle von Bedeutsamkeit, ein meaning generator, dessen vermeintlicher Autorität sich nicht nur wissenschaftlich naive
Rezipienten kaum entziehen können.
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Der Scanner als »Bote der Übernatur«
Einen Leitfaden für die Untersuchung der Wirkmacht des MRT-Scanners
liefert ein Diktum von Roland Barthes, geäußert 1956 angesichts der feierlichen Enthüllung des damals brandneuen Citroen DS 19: »Das Objekt ist der
Bote der Übernatur«:
Der neue Citroen fällt ganz offenkundig insofern vom Himmel, als er sich
zunächst als ein superlativisches Objekt darbietet. Man darf nicht vergessen,
dass das Objekt der beste Bote der Übernatur ist: es gibt im Objekt zugleich
eine Vollkommenheit und ein Fehlen des Ursprungs, etwas Abgeschlossenes
und etwas Glänzendes, eine Umwandlung des Lebens in Materie (die Materie
ist magischer als das Leben) und letztlich: ein Schweigen, das der Ordnung
des Wunderbaren angehört. Die ›Déesse‹ hat alle Wesenszüge [. . .] eines jener
Objekte, die aus einer anderen Welt herabgestiegen sind, von denen die Neomanie des 18. Jahrhunderts und die unserer Science Fiction genährt wurden:
die Déesse ist zunächst ein neuer Nautilus. (Barthes, Mythen des Alltags, 76)
Einiges des hier Gesagten lässt sich auf den MRT-Scanner übertragen. Auch
dieser scheint in seiner verfertigten Vollständigkeit wie vom Himmel –
genauer: aus einem Raumschiff oder UFO gefallen. Seine Optik, Aufmachung und Situierung in einem technischen Ausnahmeraum, in dem besondere Regeln gelten (kein Metall!), lässt ihn als Repräsentanten einer anderen, einer kommenden Welt erscheinen: einer Welt der technischen Verfügung, einer Welt, die schon vorab Ehrfurcht gebietet und auf diffuse Weise
das radikal Neue repräsentiert – was auch immer das letztlich sein mag.
Aus Sicht der faszinierten Laien funktioniert die Maschine einfach und eindeutig, sie arbeitet scheinbar unerbittlich nach festen Abläufen und Verfahren und erzeugt so den Eindruck des Selbstverständlichen, so dass es leicht
scheinen kann, als sei diese Messprozedur der Königsweg zur objektiven
Erkenntnis genuin-menschlicher Vorgänge. Aus dem Blick gerät dabei, welche Komplexität, welche Offenheit und Unbestimmtheit, ja Unwahrscheinlichkeit im Zuge ihrer Entwicklung und Konstruktion, im Prozess der Standardisierung der mit ihr betriebenen Messprozeduren und erst Recht im
Rahmen der computerbasierten Datenauswertung bewältigt werden müssen. Gleiches gilt für die Erzeugnisse des Scanners. Am Ende des Verfahrens steht meist etwas, das wie ein Bild des Gehirns, wie eine unmittelbare
Aktivierungskarte aussieht, aber in Wahrheit ein hochabstraktes Konglomerat von numerischen Messdaten und keineswegs eine direkte Abbildung des
Gehirns ist. Von der Maschine und den Hirnbildern geht so trotz der radikalen Undurchsichtigkeit der technischen Abläufe der Charakter des Selbstverständlichen aus, stets noch verstärkt durch die Abgeklärtheit und distanzierte Routine jener, die das Wunderding bedienen.
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Genau zutreffend auch die von Barthes konstatierte »Umwandlung des
Lebens in Materie«, im Falle des MRT-Scanners in einem noch direkteren,
weil performativen Sinn. Das Gerät fungiert als eine Übersetzungsmaschine:
Leben und Geist auf der einen, technische Verfügung, les- und manipulierbare Daten auf der anderen Seite. Aus diffuser Naturwüchsigkeit und idiosynkratischem Gefühls- und Gedankengewirr soll transparente, technisch
beherrsch- und manipulierbare Natur werden. Dem Anspruch nach tritt so
Lesbarkeit an die Stelle bloßer Deutbarkeit – die Klarheit und vermeintlich geradezu greifbare Faktizität physiologischer Abläufe an die Stelle von
Mutmaßungen und spekulativen Projektionen in ein diffuses, dynamisches,
sich ständig unvorhersehbar wandelndes Substrat (Leben, Geist. . .). Dabei
ist es eben jene Materie, die Materialität des Scanners selbst, seine imposante, raumerfüllende Erscheinung, die eine besondere Magie entfaltet: die
uns innehalten, staunen, das Besondere erwarten lässt. Der Scanner eröffnet einen Placebo-Raum, eine Sphäre technologischer Verheißung, konkret
materialisierte Science Fiction. Das hat die ganz profane Folge, dass mittels
der Scanbilder und der entsprechenden Forschungspraxis ein maßgebender
Diskurs etabliert werden kann, mitsamt der Inthronisierung einer entsprechenden Gruppe von Experten in vital-menschlichen Angelegenheit, deren
Kompetenz über jeden Zweifel erhaben zu sein scheint.
Von der angesprochenen Übersetzungsleistung, und vom Charakter des
Scanners als einer Art Inskriptionsapparatur wird noch zu handeln sein.
Zuvor ist jedoch ein empirisch gestützter Blick auf die faktische Wirkung
des MRT-Scanners und seiner Erzeugnisse auf einige derjenigen hilfreich,
die mit ihm ganz direkt in Berührung kommen.
Das Selbst als Wandportrait
Der Medizinanthropologe Simon Cohn aus Cambridge hat im Rahmen einer
Studie Psychiatrie-Patienten befragt, die sich im Zuge von Routineuntersuchungen anatomischen Hirnscans unterzogen hatten und denen anschließend die Scanbilder des eigenen Gehirns ausgehändigt wurden. Deutlich
hatte man den Probanden versichert, dass die fraglichen Scans keinerlei
medizinische Relevanz besäßen, dass insbesondere kein Aufschluss über
Krankheitsursachen und Therapieoptionen zu erwarten sei.
Gleichwohl brachten Cohns Befragungen Erstaunliches über die lebensweltlichen Wirkungen der MRT-Technologie zu Tage. Ungeachtet der praktischen Unwirksamkeit der Scans erleben die Patienten das Verfahren und
seine Ergebnisse, die Hirnbilder, als hochbedeutsam – und zwar in einer
Weise, die gerade nicht von der diffusen Subjektivität zur neutralen, wissenschaftlichen Objektivität zu führen scheint. Vielmehr scheinen die Bil-
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der oft gerade als ein Verstärker des Subjektiven zu fungieren. Der Geist,
das vermeintliche »Selbst« der Patienten wird nicht etwa entzaubert oder
gar gänzlich »ausgetrieben« und durch nüchterne, technische Beschreibungen ersetzt, sondern materialisiert sich, wird greifbar und konkret. Aber
schauen wir zunächst auf einige beispielhafte Aussagen der befragten Personen:
This picture. This is the most accurate portrait you can ever get. It’s a picture
of who you really are. On the inside. I tell people it’s my self-portrait. (Cohn,
Continuity, Discontinuity and Collision of Neuropsychiatry)
For me, I just can’t tell you how important it is. All these years, and now
they can finally prove it. I’m sure that this will make a huge difference. I feel
different already. Almost like new. (Cohn, Continuity, 191)
Die Scan-Bilder werden emotional aufgeladen und fungieren als Anker von
Narrativen der eigenen Identität, insbesondere im Blick auf die zuvor oft diffusen, vorurteilsbehafteten psychiatrischen Krankheitsbilder. Zugleich orientiert die Technik die Patienten auf eine neue, hoffnungsvolle Zukunft:
Zwar mag dieser erste Scan noch keine therapeutische Bedeutung haben,
aber bald schon wird diese Technologie zu großen medizinischen Fortschritten führen. Unmittelbar manifestiert sich hier der Verheißungscharakter der
Hirnforschung. Die Scans schaffen es auf diese Weise, nahtlos in Prozesse
des self-fashioning einzugehen, als Identitäts-stabilisierende Selbst-Materialisierungen.
Hier ist ein Muster am Werk, das sich zumindest ein Stück weit auf das
Forschungsfeld im Ganzen übertragen lässt. 5 Offiziell proklamieren Neurowissenschaftler immer wieder, dass es ihnen um die Überwindung des
Geist-Materie-Dualismus gehe – um die naturwissenschaftliche Entzauberung von Begriffen wie Geist, Seele, Selbst, Ego, Bewusstsein usw. Faktisch aber erleben wir viel eher etwas, das einer Art Wiederverzauberung
des Individuums gleichkommt. Die von Cohn befragten Patienten sind hier
nur besonders beispielhaft, wenn sie emphatisch ein »Selbst«, einen verloren geglaubten individuellen Kern ihrer Person in die Scan-Bilder hineinlesen. Der Scanner wird zu einem Gerät, das mit der residualtheologischen
Idee eines verborgenen, seltsam konkretistisch verstandenen »Selbst« nicht
etwa bricht, sondern das dieses Bild im Gegenteil immer wieder aufs Neue
hervorbringt und bestätigt. Die Idee eines verborgenen, rätselhaften, immateriellen Geistes als unveräußerlichem Kernbestand des Individuums verla5
Neben Cohns Studien sprechen Arbeiten wie die von Dumit (Picturing Personhood), Joyce
(Magnetic Appeal) und Martin (Bipolar Expeditions) für die Rechtmäßigkeit einer vorsichtigen
Generalisierung der beschriebenen Befunde – auch über den besonderen Fall psychiatrischer
Patienten hinaus.
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Jan Slaby
gert sich lediglich in die Apparatur des Scanners und in die Bilder, die auf
diese Weise erzeugt und von approbierten Experten mit gravitätischem Ernst
gedeutet werden. Das vermeintliche aufklärerische Ziel der Neurowissenschaften, mithilfe von hoch entwickelten Apparaturen geistige Prozesse auf
materielle Strukturen und Mechanismen zurückzuführen, schlägt hier tendenziell in sein Gegenteil um: Weit davon entfernt, dass der Gegensatz von
stofflosen Geisteszuständen – die als naturwissenschaftlich unerklärbar gelten – und physischen Phänomenen überwunden würde, wird der Scanner
zu einem Ort, an dem sich diese Dualismen weiterhin abspielen, verfestigen
und verstärken. Die Idee der Transparenz, der eindeutigen Lesbarkeit des
physiologischen Substrats hinsichtlich seiner Rolle und Funktion im Ensemble derjenigen Faktoren, die eine Person zu der Person machen, die sie ist,
erweist sich spätestens hier als Illusion: Faktisch ist das Datenmaterial so diffus, so deutungsoffen, so unverstanden und unklar in seiner Bedeutung, dass
es spielend leicht zur Projektionsfläche für alle möglichen Gehalte werden
kann.
Bedenkenswert ist es angesichts dessen, dass es trotz dieser großen Offenheit immer wieder ganz bestimmte, charakteristische Deutungsmuster und
Narrative sind, in welche die Scan-Bilder als vermeintliche Referenten und
empirische Anker eingefügt werden. Es ist verblüffend, wieso die Offenheit
des durch die Technologie erzeugten Projektionsraums nicht ausgeschöpft,
sondern immer wieder nur im Sinne altbekannter und wenig innovativer
Deutungen verengt wird. Angesichts mancher insbesondere »neurophilosophischer« Erzeugnisse könnte man geneigt sein, diesen Sachverhalt zu verniedlichen und von einer gewissen Provinzialität der mittels der Hirnbilder
beförderten Verständnisse reden. Eine solche Verharmlosung der gegenwärtigen Entwicklungen wäre allerdings ein zu hoher Preis. Wie die folgenden
Abschnitte zeigen, deuten andere Vorgänge im Umkreis der SCAN-Aktivitäten in deutlich problematischere Richtungen.
Objektivitätsmaschine at work:
Neuronale Personentypen
Die farbenfrohen Visualisierungen der fMRT-Scans sind das Ergebnis eines
zweifachen Naturalisierungsprozesses. Zum einen werden komplexe lebensweltliche Phänomene – etwa Emotionen, Entscheidungsverhalten, moralische Urteile etc. – operationalisiert, um in kontrollierten Experimentalabläufen der im Scanner liegenden Versuchsperson gezielt induziert werden
zu können. Die neuronalen Aktivierungsdaten werden sodann in standardisierte Experimentalräume (einheitliche Messmethodik, »Normalgehirn«)
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überführt, um dort mittels statistischer Verfahren erfasst zu werden (vgl.
Huber, Operationalisierung – Standardisierung – Normalisierung; Klein,
Images are not the Evidence). Durch die anschließende mediale Wiedereinspeisung in lebensweltliche Kontexte werden die Bildgebungsverfahren in
einem weiteren Schritt zwar einerseits »selbstverständlich«, bleiben jedoch
aufgrund der Unsichtbarkeit ihrer komplexen technischen Produktion und
ihrer unklaren Bedeutungen hinreichend rätselhaft und erklärungsbedürftig, so dass der faszinierte Laie stets auf die Erläuterungen durch Experten angewiesen bleibt. Bereits dieses Zugleich von vermeintlich exoterischer
Transparenz (»Lesbarkeit«) und großer Rätselhaftigkeit erzeugt das Gefühl
einer gesteigerten Bedeutsamkeit bei gleichzeitiger semantischer Offenheit.
So werden die Scanbilder zu einer Andockstelle für Diskurse verschiedener
Art und lassen sich für vielfältige Zwecke verwenden; wobei das mit den
Bildern Assoziierte jeweils mit dem Gütesiegel robuster Objektivität, technischer Neuheit und wissenschaftlicher Autorität versehen wird. Zahlreiche Themen lassen sich auf diese Weise zu seriösen Angelegenheiten naturwissenschaftlicher Forschung, zu vermeintlich objektiven Tatbeständen im
Kompetenz- und Zuständigkeitsbereich von Spezialisten und legitimierten
Institutionen stilisieren.
Ein charakteristischer Vorgang im Zusammenhang mit den medial präsenten Hirnbildern ist die schleichende Etablierung von »Personentypen«
auf der Basis von im Scanner ermittelten Aktivierungsmustern. Zahlreich
und vielfältig sind die vorgeschlagenen Typisierungen: das adoleszente Gehirn (Fricke und Choudhury, Neuropolitik und plastische Gehirne), das
schizophrene oder depressive Gehirn (zur Übersicht vgl. Gotlib und Hamilton, Neuroimaging and Depression), das Gehirn des Kokainabhängigen
(Dumit, Picturing Personhood) oder, zuletzt besonders leidenschaftlich verhandelt, das männliche und das weibliche Gehirn, welche sich deutlich unterscheiden, wobei nicht ganz zufällig der steinzeitliche Jäger und die höhlenbewohnende, mütterlich-fürsorgliche Sammlerin erkennbar durchschimmern
(Brizendine, Female Brain; zur Kritik vgl. Fine, Delusions of Gender). Deutlich zeigt sich hier ein Phänomen, das bereits die Scan-Bilder allgemein zu
solch wirkmächtigen kulturellen Signifikanten macht: Ein gut funktionierendes Zusammenspiel von empirischer Forschung und öffentlicher Darstellung in populären, auf starke Vereinfachungen angewiesenen Medien. Dieses
inoffizielle joint venture zwischen Forschern und Popularisierern hat zur
Folge, dass niemand die (offenkundig kurzschlüssige, weil empirisch ungedeckte) Gleichsetzung von Aktivierungsmuster und Personentyp ausdrücklich vollziehen muss, während es gleichzeitig genau dieses – oft lediglich im
Raum stehende – Manöver ist, welches für einen guten Teil der öffentlichen
Wirkung eines kruden neurozentrischen Diskurses und der Zukunftshoffnungen verantwortlich ist, die sich daran heften. Making up people nennt
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Ian Hacking die diskursive und institutionelle Stabilisierung von Personentypen, an der sowohl die konstitutive Offenheit des menschlichen Selbstverständnisses zu Tage tritt als auch die damit verbundene Gefahr der Selbstverdinglichung (Hacking, Loop Effect of Human Kinds). Als self-interpreting
animals (Charles Taylor) haben Personen die Neigung, gesellschaftlich hinreichend verankerte Kategorien und narrative Muster in ihr Selbstverständnis aufzunehmen. So besteht schlimmstenfalls die Gefahr einer nachträglichen Selbstvalidierung ursprünglich irriger Typisierungen und deskriptiv
unangemessener Konzepte, im Sinne von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen.
Strukturzwänge der Apparatur
Auf der Suche nach Bedeutsamkeit und intelligiblen Gehalten kann dem philosophischen Kommentator ein ganz profanes Faktum leicht entgehen: dass
Technologien strukturelle Veränderungen herbeiführen, die mit ihrer schieren materiellen Präsenz als aufwändige, teure, institutionell fest verankerte
Strukturen zusammenhängen. Technische Arrangements entfalten eine normative Kraft des Faktischen, und diese ist oftmals wirkungsvoller – wenn
auch bisweilen weniger »interessant« – als ausgeklügelte intellektuelle Programme, strategisch-rationale Planungen oder unterschwellig wirksame diskursive Formationen.
Denn ist eine aufwändige Technologie einmal installiert, gibt es kein
Zurück mehr: Nun muss die Apparatur laufen, und zwar möglichst rund um
die Uhr und mit größtmöglichem Output. Die Anschaffungs- und Betreibungskosten von MRT-Scannern sind immens. Wenn sich Institute zur
Anschaffung solcher Großgeräte entscheiden, handelt es sich um grundlegende Weichenstellungen. Oft sind aufwändige Baumaßnahmen erforderlich; meist muss spezialisiertes Personal eingestellt und langfristig gebunden werden. Auch dies ist eine höchst konkrete, wenn auch philosophisch
eher »langweilige« Manifestation der spezifischen Wirksamkeit technischer
Dinge. Die Geräte erzeugen automatisch einen Nutzungs- und Anschlusszwang. Projekte und Programme müssen wahrnehmbar die Investitionen
rechtfertigen. Wo aufwändig geforscht wird, müssen Ergebnisse her, wissenschaftlicher, praktischer und oft auch öffentlich-medialer Impact muss
erzeugt werden. So entsteht ein selbstverstärkender Kreislauf. Die materielle
Struktur begünstigt auf diese Weise auch immer wieder eine überschwängliche Erfolgsrhetorik. Nicht zuletzt aufgrund dieser strukturellen Zwänge
ist der SCAN-Komplex heute so emsig bemüht, neue Themen, Forschungsfelder, Disziplinen, kulturelle Bereiche und wissenschaftliche Formate mit
seinen Segnungen zu bereichern und damit unterschwellig umzuformatie-
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ren. Sehr praktisch ist es angesichts dessen, dass den Versuchsdesigns des
fMRT-Verfahrens nichts Menschliches fremd zu sein scheint. 6
In diesem vom Nutzungszwang teurer Gerätschaften geprägten Umfeld,
aber auch angesichts der für Wissenschaftsmanager, Universitätsleitungen
und Vertreter von Fördereinrichtungen verlockenden öffentlichen Sichtbarkeit der Neurowissenschaften, geraten ständig neue Gebiete des akademischen und wissenschaftlichen Lebens in den Einflussbereich der neuro-technologischen Leuchttürme. So sind die SCAN-Disziplinen zu einer treibenden Kraft in einem zunächst schleichenden, inzwischen recht offen praktizierten Strukturwandel in Teilen der geisteswissenschaftlichen Forschung
geworden. Durch die Priorisierung eines dominanten Typs von Forschung
und die allgegenwärtige Forderung nach Interdisziplinarität setzen sich
zunehmend Formate durch, die nicht länger den klassisch-geisteswissenschaftlichen Mustern entsprechen. Längst ist die Rede von den experimental oder brain-based humanities (so der Titel einer Initiative des California Institute of Technology) 7, während traditionelle geisteswissenschaftliche
Arbeitsformen immer stärker unter Druck geraten. Im Zuge der Drittmittelakquise gewinnt eine bestimmte Form von kurzfristiger, am naturwissenschaftlichen Projektmodell orientierter Forschung mit deutlichem Anwendungsbezug die Oberhand. Im Detail verändert sich dadurch die Stoßrichtung vieler Forschungsfragen: So geht es in der Ästhetik nun weniger um die
Bedeutungsdimensionen und ästhetischen Gehalte von Kunstwerken als verstärkt um die neuronalen oder evolutionären Grundlagen der beim Kunstgenuss beteiligten psychischen Mechanismen (Zeki, Splendors and Miseries
of the Brain); in Teilen der Politikwissenschaft geht es heute weniger um
die normative Analyse und Aushandlung von politischen Entwürfen als
um die psychischen und neuronalen Mechanismen, die vermeintlich hinter politischen Entscheidungen und Urteilen stehen (vgl. Slaby, Haueis und
Choudhury, Neurosciences as Applied Hermeneutics); Philosophen bringen sich verstärkt als Kommentatoren, Deuter und gleichsam als cheerleader der SCAN-Disziplinen in Stellung oder sie versuchen, Teile der philosophischen Nomenklatur so zu reformulieren, dass sich auf Basis der
neuen Konstrukte leichter Stimulusmaterial für fMRT-Studien entwickeln
lässt (vgl. Slaby, Lost in Phenospace). Die Hintergrundnarrative der Neurowissenschaften – Evolutionstheorie und messbare zerebrale Lokalisation –
avancieren immer deutlicher zum Orientierungsschema für Gegenstandsverständnisse und Forschungsansätze aller Art. Alternative Perspektiven
6
7
Ich stimme hier in das versteckte Schmunzeln Cornelius Borcks ein, der jüngst mit einer
gewissen Verwunderung bezüglich der Experimentaldetails auf eine fMRT-Studie zum weiblichen Orgasmus verweist (Borck, Ikonen des Geistes, 453).
Siehe http: // www.hss.caltech.edu /humanities /research /brain (aufgerufen am 7. März 2012).
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und Konzeptualisierungen, riskante oder bewusst wissenschaftsferne Unternehmungen sowie exotische, randständige Entwicklungen geraten hingegen
unter Legitimationsdruck. Es zeichnet sich die Hegemonie eines bestimmten Wissenstyps bei gleichzeitiger Marginalisierung von Alternativen ab –
eine Monokultur des Wissens.
Naturalisierung des Sozialen?
Catherine Malabou hat in einer energischen Streitschrift auf die wechselseitige Determinierung und Verstärkung der Diskurse der zerebralen Organisation und des postindustriellen Netzwerk-Kapitalismus hingewiesen. Dabei
handelt es sich um die aktuelle Fassung eines historisch immer wieder zu
beobachtenden Austauschs zwischen politischen und sozio-ökonomischen
Vorstellungen und Modellen und den jeweils Ton angebenden Beschreibungen neuronaler Strukturen (vgl. Borck, Toys are us). Der Tenor von
Malabous Überlegungen, die sich an Boltanskis und Chiapellos Studie zum
Neuen Geist des Kapitalismus sowie an Alain Ehrenbergs Untersuchung
des »erschöpften Selbst« orientiert, lautet so: Während die Erkenntnisse zur
neuronalen Plastizität, welche die Neurowissenschaften inzwischen erlangt
haben, faktisch für eine große Offenheit, Kultivierbarkeit und Entwicklungsfähigkeit des Menschen sprechen, bleiben die angebotenen Deutungen und Diskurse auf charakteristische Weise arm und einseitig: »We persist in thinking of the brain as a centralized, rigidified, mechanical organization, and of the mechanical itself as a brain reduced to the work of calculation« (Malabou, What should we do with our Brain?, 38). An die altbekannte, nur geringfügig aktualisierte mechanistisch-deterministische Rahmenerzählung docken lediglich Narrative an, in denen Adaptivität, Flexibilität, Lernfähigkeit, dezentrale Organisation, regenerative Kapazitäten, Vernetzung, Kommunikation betont werden – die Standardbeschreibung eines
Neuronenverbunds unterscheide sich heute kaum noch vom Anforderungsprofil einer Stellenbesetzung in der creative economy; das Gehirn erweist
sich als »wie gemacht« für den flexiblen Dienstleistungs-, Kreativitäts- und
Netzwerk-Kapitalismus (vgl. Hartmann, Against First Nature). Unvermutete Freiheitsgrade und Gestaltungsräume, die im Zuge der Entdeckung von
neuronaler Plastizität auftauchen, werden sogleich in das Schema des sanften Zwangs zur Adaptivität gepresst – was auf dem heutigen Stand der kapitalistischen Arbeitsorganisation auf nichts anderes hinausläuft als die allgegenwärtige Flexibilitätsforderung. Der Tendenz nach hat ein solches harmonisches Ineinander von biologischen und ökonomischen Erzählungen eine
Naturalisierung und schleichende Legitimierung sozialer Verhältnisse zur
Folge.
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Mit Blick auf die prinzipielle Offenheit, auf den hermeneutischen Charakter der Neurowissenschaften kann es für Malabou darauf nur eine angemessene Reaktion geben: Es werde Zeit für einen semantischen Kurswechsel; neue Erzählungen – neue, kreativere, phantasievollere und insbesondere
emanzipatorische – Deutungen der (vermeintlichen) Befunde der Hirnforschung müssten her. Aus dem plastischen Gehirn müsse sich mehr machen
lassen als eine auf Anpassung, Arbeitsfähigkeit, »emotionale Kompetenz«
und soziales Funktionieren getrimmte Wellness-Maschine. Malabou formuliert ihren Ruf nach einem Kurs- und Perspektivwechsel so:
How can we fail to see that the only real view of progress opened by the neurosciences is that of an improvement in the »quality of life« through a better
treatment of illness? But we don’t want these half-measures, what Nietzsche
would rightly call a logic of sickness, despairing, and suffering. What we are
lacking is life, which is to say: resistance. Resistance is what we want. Resistance to flexibility, to this ideological norm advanced consciously or otherwise by a reductionist discourse that models and naturalizes the neuronal process in order to legitimate a certain social and political functioning. (Malabou,
What should we do with our Brain, 68)
Dieser Ruf nach »Widerstand« ist allerdings in dieser Form zumindest ambivalent. Es fragt sich, ob es ausreicht, lediglich auf einer von der Forschungspraxis nahezu losgelösten Deutungs- und Diskursebene zu intervenieren.
Mit Blick auf eine jüngere Produktion Malabous mag man sich fragen, ob die
zelebrierte postmoderne Haltung einer spielerischen Diskursvariation nicht
gerade wieder den pundits des Neurozentrismus in die Hände spielt. 8
Wie zudem der folgende Abschnitt zeigen wird, sind wir von dem von
Malabou geforderten inhaltlichen Kurswechsel und vom Führen produktiver, geschweige denn emanzipatorischer Gegendiskurse weiter entfernt denn
8
Ich denke insbesondere an Malabous Antrittsvorlesung an der Londoner Kingston University, in der sie genussvoll einen fingierten Dialog zwischen Michel Foucault und Thomas Metzinger über das Verschwinden des Subjekts zelebriert (Malabou, Continental Philosophy and the Brain; vgl. auch Metzinger, Ego-Tunnel). Dass sich Parallelen zwischen
einem diskurstheoretischen und einem neurophilosophischen Anti-Subjektivismus identifizieren lassen, ist jedoch nur mäßig interessant – schon gar nicht rechtfertigt dieser Umstand
einen großen Gestus der hermeneutischen Offenheit und diskurspolitischen Subversion. Hier
könnte sich die Kontinentalphilosophie einmal mehr selbst ins Knie schießen, weil sie die
antagonistische Konstellation, in der sie gemeinsam mit anderen noch nicht naturwissenschaftlich umformatierten intellektuellen Unternehmungen steht, schlicht verkennt. Leicht
vorstellbar, dass Holzhammer-Naturalisten wie Metzinger auf der anderen Seite bei entsprechender Gelegenheit eine ganz andere Gangart gegenüber den postmodernen Luftschlossarchitekten an den Tag legen. – Malabous Vorlesung ist unter folgender URL im Internet
abrufbar: http: // backdoorbroadcasting.net/2012/02/catherine-malabou-continental-philosophy-and-the-brain-towards-a-critical-neuroscience/ (zuletzt aufgerufen am 10. März 2012).
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Jan Slaby
je – denn inzwischen werden auf breiter Basis und von offizieller Seite ganz
andere Töne angeschlagen.
Neuropolicies – die neuronale Konstruktion
des neosozialen Selbst
Man könnte Diagnosen wie denen von Malabou mit Gelassenheit begegnen, wenn die mangelnde epistemische und technische Durchschlagskraft
des SCAN-Verbunds tatsächlich zu einer faktischen Irrelevanz und Impotenz der Neurowissenschaften in der Gesellschaft führen würde. Eine andere
aktuelle Entwicklung könnte jedoch eher den gegenteiligen Effekt herbeiführen: auf breiter Basis erfolgende neurozentrisch orientierte sozialtechnologische Programme, die zu politischen Maßnahmen führen, auf deren
Grundlage zur Realität würde, was die Neurowissenschaften selbst bislang nur vage in Aussicht stellen. Die Rede ist von umfassenden Programmen des diagnostischen screenings sowie neuro-technologischer Optimierungsbestrebungen, einem auf die »Anforderungen des Gehirns« abgestellten Erziehungs- und Ausbildungswesens sowie die Anwendung von Testund Kontrollverfahren in zahlreichen Bereichen der Gesellschaft, etwa in
der Berufswelt, dem Versicherungswesen, der Kriminalitätsbekämpfung. In
einem Wort, könnte eine intensivierte Neuropolitik vorauseilend verwirklichen, was ansonsten bestenfalls als ferne Vision in den Sonntagsreden altgedienter Koryphäen der Hirnforschung zum Ausdruck kommt? Die Neurowissenschaften haben sich zu einer Art Modelldisziplin für angewandte Forschung mit klarer sozialpolitischer Agenda entwickelt. In England, Frankreich und Deutschland sind Regierungsprogramme im Gange, die belegen, wie verblüffend kurz die Wege zwischen einflussreichen Neurowissenschaftlern und den maßgebenden politischen Entscheidungsebenen heute
sind. Ein konkretes Beispiel ist das 2008 abgeschlossene Foresight Project
on Mental Capital and Wellbeing der britischen Regierung (vgl. Fricke und
Choudhury Neuropolitik und plastische Gehirne; Slaby, Steps Towards a
Critical Neuroscience). Ein zentrales Ziel dieser groß angelegten multidisziplinären Studie war es, das Wissen über das Gehirn pädagogisch nutzbar zu
machen und in sozialtechnologische Empfehlungen und Programme zu verwandeln: Die kognitiven und emotionalen Ressourcen der Bevölkerung sollen gesteigert, die mentale Gesundheit und insgesamt das sogenannte Mentalkapital soll über die gesamte Lebensspanne hinweg erhalten und erhöht
werden. Erkenntnisse über das hohe Maß an neuronaler Plastizität in Kindheit und Adoleszenz machen diese Altersstufen zur bevorzugten Interventionsphase. Darüber hinaus gelte es jedoch, für jedes Alter (»von der Wiege
bis zur Bahre« wie es die Studie selbst vielsagend formuliert), die Negativ-
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faktoren für die Steigerung des Mentalkapitals zu verringern und die förderlichen zu vermehren. Insgesamt soll die alternde und zunehmend unter
psychischen Störungen (wie Lernschwäche oder Depression) leidende britische Bevölkerung flexibler und stressresistenter gemacht werden, damit das
Land auch in Zukunft die Sachzwänge der globalen Ökonomie ertragreich
bedienen könne.
Die foresight-Studie gibt dabei wortreich vor, in erster Linie auf das
Wohlergehen (well being) der Bevölkerung abzuzielen, jedoch verrät bereits
ein flüchtiger Blick auf die Bestimmung dieses Begriffs, was hier tatsächlich
intendiert ist:
Mental well-being [. . .] is a dynamic state that refers to individual’s ability to
develop their potential, work productively and creatively, build strong and
positive relationships with others and contribute to their community (Beddington et al., Mental Wealth of Nations, 1057).
Die Fähigkeit, kreativ zu sein und produktiv zu arbeiten, wird unverhohlen zum Definitionskriterium derjenigen Form des Wohlbefindens erklärt,
die das Ziel des Interventionsprogramms bilden soll. Die Wahl eines explizit ökonomischen Idioms zeigt bereits auf der grundbegrifflichen Ebene,
wie tief die Orientierung auf die Imperative der netzwerkkapitalistischen
Arbeitswelt in die Studie eingeschrieben ist. Gesucht und gefunden wird
das neosoziale Selbst (vgl. Lessenich, Soziale Subjektivität; Maasen und Sutter, On Willing Selves): operativ stabil und strukturell flexibel, resilient und
optimierungsversessen strebt es von Aufgabe zu Aufgabe, erfüllt Anforderung nach Anforderung und befindet sich dabei in steter Harmonie mit den
Prinzipien seiner neuronalen Organisation, den Imperativen der Evolution
sowie den neuen sozialen Anforderungen hinsichtlich Selbstverantwortung,
Selbstoptimierung und beständiger gesellschaftskonformer Aktivität.
Es scheint, als kooperierten hier Wissenschaft und Politik zumindest
unterschwellig, um die Bevölkerung an als alternativlos dargestellte wirtschaftliche und wissenschaftliche »Sachzwänge« anzupassen und um für die
beschwerliche Existenz in den kapitalistischen Welten des 21. Jahrhunderts
hinreichend abgehärtete Subjektivitätsformen auszubilden. Dabei kristallisiert sich immer deutlicher eine neue Konzeption von Sozialität heraus:
Von der Solidargemeinschaft, die individuelle Risiken und interindividuelle
Leistungsunterschiede mittels kollektiver Mechanismen abfedert, zur Leistungs- und Verantwortungsgemeinschaft, die das Individuum zur Selbstoptimierung und ständigen Leistungsmaximierung anhält – zum Wohle und im
Dienste der Gemeinschaft. Wer sich nicht voll verausgabt und seine individuellen Ressourcen jederzeit zu maximalem Ertrag steigert, gilt als unverantwortlich, wenn nicht gar asozial. Die Verantwortung für das eigene Gehirn,
für seine Pflege und optimale Kultivierung ist ein wichtiger Mosaikstein
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in diesem neosozialen Gefüge – das mag helfen, die hohe Wertschätzung
zu erklären, die der Hirnforschung von den Aposteln der neuen Soziallehre zuteil wird (vgl. Fricke und Choudhury, Neuropolitik und plastische
Gehirne; Lessenich, Neuerfindung des Sozialen).
Ausblick: Welche Philosophie der
Neurowissenschaften?
Die skizzierten Problembereiche sollten zumindest in Ansätzen sichtbar
gemacht haben, was zu den vordringlichen Aufgaben einer philosophischen Kritik aktueller Entwicklungen im Umkreis der Neurowissenschaften gehört. Eines muss dabei zuvorderst vermieden werden: dass dem übertriebenen Enthusiasmus der Neuro-Propheten lediglich ein spiegelbildlicher
Alarmismus der Besorgten entgegengesetzt wird. Ein auf oberflächlichen
Befunden aufruhender Alarm-Diskurs würde nur zur Verstärkung des zweifelhaften Eindrucks führen, dass tatsächlich eine Neuro-Revolution mit weit
reichenden Folgen für Kultur und Gesellschaft bevorstehe. Dieser leider
geläufige Zug ethisch besorgter, aber sachlich wenig informierter Kommentatoren kann leicht auf eine Werbekampagne für die Hirnforschung und auf
eine diskursive Intensivierung genau jener Gehalte hinauslaufen, denen es bei
Lichte besehen an einer sachlichen Grundlage mangelt. Behutsame Aufklärung, aber nicht zuletzt auch ein profundes Schweigen über Dinge, die nichts
anderes als Schweigen verdienen, sind diesen leidlich etablierten Diskursmanövern allemal vorzuziehen. Wo die Entwicklung andernfalls hinführt,
zeigt das traurige Beispiel der »Neuroethik«, jener jüngsten Ausgründung
der drittmittelstarken Bioethik, die sich die Initiierung von »dringend gebotenen ethischen Überlegungen« angesichts der so ungemein »bahnbrechenden« neuen Entwicklungen und Erkenntnisse der Hirnforschung auf die
Fahnen geschrieben hat. 9 Das Hauptproblem einer vorschnellen »Ethisierung« des Praxisfeldes Human-Neurowissenschaft ist, dass auf diese Weise
die Selbstverständnisse und diskursiven und praktischen Grundmuster dieses Bereichs meist gerade nicht problematisiert, sondern unkritisch in die
Problembeschreibungen übernommen werden (vgl. Gehring, Was ist Biomacht?). Somit belässt die Neuroethik alles so, wie es schon ist, und lenkt
lediglich die Aufmerksamkeit auf besonders auffällige Phänomene, Trends,
9
Der britische Medizinhistoriker Roger Cooter ist der derzeit schärfste Kritiker der Neuroethik (vgl. Cooter, Neuroethical Brains); hilfreich sind zudem die Überlegungen von de Vries,
Who Guards the Guardians, und Müller, Zwischen Mensch und Maschine; von »phantom
debates« in Bezug auf die enhancement-Diskussionen spricht Quednow, Ethics of Neuroenhancement.
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Aussagen und vor allem auf gewagte Prognosen. Könnte es eine bessere Werbekampagne für ein auf tönernen Füßen stehendes Forschungs- und Praxisfeld geben?
Ebenso wenig sollte sich die Rolle des philosophischen Kritikers bereits
darin erschöpfen, die Argumentationsfiguren der neurozentrischen Begleitphilosophien zu problematisieren und begründet zurückzuweisen. Solche
punktuellen, oftmals hochtechnischen Kontroversen vermögen es nur selten, die breiteren diskursiven Horizonte, Intuitionen und Annahmen, die in
einem wissenschaftlichen Feld herrschen, ernstlich zu tangieren. Viele Überlegungen, Annahmen und Begriffe, die längst argumentativ angezweifelt und
diskursiv verabschiedet sind, geistern noch lange durch die Wissenschaften
und ihre Einflusssphären und bleiben wirksam und strukturbildend. An die
Bedeutsamkeitshorizonte, die hinter den umkämpften Theoremen und argumentativen Figuren stehen und an ihre diskursiv-praktische Verankerung
kommt man auf dem Wege konventioneller Argumentation oft nur schlecht
heran.
Aus diesem Grund sollte es verstärkt darum gehen, die breiteren und
subtileren Horizonte freizulegen und zu hinterfragen, in welche die neurowissenschaftlichen Denkstile und Praxisformen eingebettet sind. Welche für
selbstverständlich gehaltenen Vorgaben gehen in die Gegenstandskonstitutionen, die Erklärungsmuster, die Interpretationen von Versuchsergebnissen,
die sinnstiftenden back stories ein? Welches Verständnis des Menschen, des
Lebens, der Gesellschaft, der Wissenschaft liegt der neurowissenschaftlichen
Praxis zugrunde; welche impliziten Zielvorgaben sind für die Forschung
und für die Entwicklung von technischen Anwendungen leitend? Insofern
gehört eine umfassende Hermeneutik der Neurowissenschaften zu den zentralen Aufgaben einer kritischen Philosophie dieses Praxis- und Forschungsfeldes; es geht um das Explizitmachen vorausgesetzter Gehalte, um das Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten und die Eröffnung von Alternativen.
Leitend ist die Vermutung, dass auf breiter Basis bestimmte eng gefasste Wissenshorizonte und Praxisformen ausgezeichnet und stets weiter stabilisiert
werden, während alternative Deutungen aus dem Blick geraten.
Zu dieser eher weichen Strategie, die auf Deutungen und Umdeutungen
abzielt, sollte sich aber verstärkt auch eine härtere Gangart gesellen. Ein offenes Verweigern auch lukrativer Kooperationsangebote, das bewusste Fördern des Randständigen, des noch nicht »Evidenzbasierten«, des Idiosynkratischen, und insgesamt die Ausschöpfung der Widerstandspotentiale, welche
die akademische Freiheit dem einzelnen Forscher heute noch bietet – das
wären mögliche individuelle Beiträge zu einem Widerstandsszenario, das es
den Propheten des Neurozentrismus etwas schwerer machen würde, sich in
der heutigen Forschungslandschaft breit zu machen. Vielleicht lässt sich auf
diese Weise eine Entwicklung beschleunigen, die aus der jüngeren Vergan-
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genheit anderer Bereiche der Humanwissenschaften bekannt ist. Gemeint
ist eine gezielte Abkürzung eines hype cycle, einer intellektuellen Mode, die
für eine gewisse Zeit die Akademie erfasst, Aufmerksamkeit, Ressourcen
und institutionellen Strukturen okkupiert, anschließend aber – nachdem die
versprochenen »revolutionären« Resultate ausbleiben – ebenso schnell wieder verebbt. Man denke etwa an die frühe Künstliche-Intelligenz-Forschung
mit ihrem Versprechen hyperintelligenter Maschinen, oder an die Aufregung um die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, welche nicht zu
den gefürchteten Biodesign- und Züchtungsszenarien geführt hat, sondern
zur Einsicht in die immense Komplexität epigenetischer Prozesse und zu
überraschenden Umorientierungen des Forschungsfeldes (vgl. Müller-Wille
und Rheinberger, Gen im Zeitalter der Postgenetik). Zumindest bei Teilen
der bildgebenden Hirnforschung könnte es sich im Hinblick auf die ewige
Abfolge von Hype und Ernüchterung lohnen, den Lauf der Dinge ein wenig
zu beschleunigen. 10
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10
Ich bedanke mich bei Christoph Demmerling, Lutz Fricke, Philipp Haueis und Philipp
Wüschner für eine Reihe kluger Hinweise zur Verbesserung des Textes.
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