Kontextualisierung und Analyse
des Romans Hochzeit in Jerusalem von Lena Gorelik
Seminararbeit im Rahmen des Masterstudiengangs Judaistik
Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Luzern, Kasernenplatz 3, 6003 Luzern
eingereicht am 28. August 2008 bei Frau Prof. Dr. Verena Lenzen
von
Judith Hélène Stadler
I
Einleitung
1
1
Lena Gorelik und ihr Werk
2
1.1
Lena Goreliks Biografie
1.2
Die Einordnung von Lena Goreliks Werk in die
Geschichte der jungen deutsch-jüdischen Literatur
2
1.2.1
Der Begriff ‚deutsch-jüdische Literatur’
2
1.2.2
Die Situation der jungen deutsch-jüdischen
Schriftstellerinnen und Schriftsteller
3
1.2.3
Die Merkmale der jungen deutsch-jüdischen Literatur
4
1.2.4
Lena Goreliks Position
6
2
Hintergrundinformationen zum Verständnis von
Hochzeit in Jerusalem
7
2.1
Jüdische Kontingentsflüchtlinge in Deutschland
7
2.2
Jüdischer Humor
11
3
Analyse von Hochzeit in Jerusalem
14
3.1
Hauptakteurinnen und Hauptakteure
14
3.2
Inhalt
17
3.3
Bau
19
3.3.1
Überblick über die einzelnen Kapitel
20
3.3.2
Verlaufsanalyse
22
3.4
Zeitformen, Zeitebenen, Zeitrahmen und
Orte der Handlung
23
3.5
Genre
23
3.6
Titel und Spannungsaufbau
25
3.7
Stil
25
II
3.8
Jüdische Fragmente
26
3.8.1
Jüdischer Humor
26
3.8.2
Jüdische Traditionsfragmente
28
3.8.3
Russisch-jüdische und deutsch-jüdische Identitätsfragmente
30
3.8.4
Israel
31
3.8.5
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Herkunft
31
4
Gesamteindruck
32
Schlussbetrachtung
35
Anhang
37
Literatur
37
Nachschlagewerke
40
Internetseiten/Zeitschriften
40
III
Einleitung
Lena Gorelik ist eine Newcomerin in der Literaturszene. Aus diesem Grund existiert über ihr
Werk keine Sekundärliteratur. In der vorliegenden Arbeit gehe ich der Frage nach, inwiefern
sich Gorelik in die neue deutsch-jüdische Literatur einordnen lässt.1 Ich analysiere ihren zweiten Roman Hochzeit in Jerusalem nach formalen Gesichtspunkten. Mit einer literaturkritischen
Vorgehensweise beschreibe ich die literarischen Mittel, mit denen sich Gorelik ihren Sujets
nähert. Einen Schwerpunkt setze ich bei Goreliks Stilmittel des Humors.
Anders als in der poststrukturalistischen Literaturwissenschaft ist für mich als Judaistikstudentin nicht der Text alleine wichtig. Ein Ziel wird es sein, die im Roman aufgezeigten jüdischen
Fragmente der Protagonistin, einer russischstämmigen Jüdin mit Kontingentsflüchtlingshintergrund, herauszuarbeiten.2 Wie Nolden gehe ich von der Annahme aus, dass literarische
Texte über ein so komplexes Phänomen wie zeitgenössische jüdische Identitätsfragmente genauere Auskunft geben können als programmatische Äusserungen oder Statistiken.3 Wenn ich
solche trotzdem beiziehe, so geschieht das zum besseren Verständnis von Goreliks Themen.
Aus dem gleichen Grund gehe ich auch auf den sozialwissenschaftlichen Hintergrund der
jüdischen Kontingentsflüchtlinge ein. Ein ausführliches Eingehen auf die Geschichte der deutschen und der sowjetischen Jüdinnen und Juden würde den Rahmen dieser Seminararbeit
sprengen. Am Schluss gehe ich auf eine mögliche Wirkung von Goreliks Hochzeit in Jerusalem
auf die Leserschaft ein. Dazu stelle ich auch ausserästhetische Überlegungen an.4
Was die gendergerechte Wortwahl anbelangt, halte ich mich an den Leitfaden zur sprachlichen
Gleichbehandlung im Deutschen.5
1
Die deutschsprachige jüdische Literatur aus der Schweiz wird dabei nicht berücksichtigt. S. dazu z.B.
Zum Begriff ‚Identität’ wurde in den letzten Jahren von verschiedensten Wissenschaftssparten viel publiziert.
Obwohl Philosophen wie z.B. Foucault und Derrida dazu auffordern, das subjektorientierte Denken aufzugeben
und die Nicht-Identität des Menschen zu akzeptieren, beschäftigen sich viele jüdische Autorinnen und Autoren
mit jüdischen Identitätskonstruktionen. Sie ringen um die Zusammenführung vorhandener Identitätsfragmente.
Identitätsstiftend sind für sie Aspekte wie Eltern, Religion, Schoa, Antijudaismus, Heimat und Israel. Durch
narrative Aussagen über die eigene Lebensgeschichte präsentieren sie gedeutete soziale Interaktionsprozesse. Die
Identität ihrer jüdischen Figuren wird auch durch das Erzählen fremder Identitäten und durch die Abgrenzung
von diesen vergegenwärtigt. Vgl. Schruff, Helene: Wechselwirkungen. Deutsch-Jüdische Identität in erzählender Prosa der
‚Zweiten Generation’. Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag 2000:33-52,237.
3 Nolden, Thomas: Junge jüdische Literatur. Konzentrisches Schreiben in der Gegenwart. Würzburg: Verlag Königshausen
& Neumann GmbH 1995:12
4 Die Rezeptionsästhetik lehrt, dass das Wort oder der Text kein Ding an sich ist und jede und jeder anders liest.
S. z.B. Klüger, Ruth: Frauen lesen anders. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 4. Auflage 2002.
5 Albrecht Urs/Pantli, Anna-Katharina: Leitfaden zur sprachlichen Gleichbehandlung im Deutschen. Bern: Schweizerische
Bundeskanzlei 1996.
2
1
1
Lena Gorelik und ihr Werk
1.1
Lena Goreliks Biografie6
Lena Gorelik wurde 1981 in St. Peterburg als Tochter einer Ingenieurin und eines Ingenieurs
geboren. 1992 war die Familie unter den Ersten, die als jüdische Kontingentflüchtlinge nach
Deutschland kamen. In München besuchte Gorelik die Journalistenschule und studierte
Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Politik. In ihrem Aufbaustudium spezialisierte
sie sich auf Osteuropa. Ihr schriftstellerisches Talent wurde bei einem Seminar über Kreatives
Schreiben bei Sten Nadolny und Tanja Graf entdeckt. Zunächst übersetzte sie für die Verlegerin Tanja Graf Ruben Gonzalez Gallegos Weiss und Schwarz. 2004 erschien ihr erster Roman Meine weissen Nächte.7 2005 erhielt sie den Bayrischen Kunstförderpreis. 2007 kam Hochzeit
in Jerusalem, 2008 Verliebt in Sankt Petersburg. Meine Russische Reise. auf den Buchmarkt.8 Gorelik
beabsichtigt ihre Doktorarbeit über die Zuwanderung russischer Juden nach Deutschland zu
schreiben.
1.2
Die Einordnung von Lena Goreliks Werk in die Geschichte der jungen
deutsch-jüdischen Literatur
1.2.1 Der Begriff ‚deutsch-jüdische Literatur’
Der Begriff ‚deutsch’ bezeichnet die Sprache der Literatur und nicht den Wohnort der
Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Obwohl streng genommen nur jüdisch ist, wer von einer
jüdischen Mutter abstammt, gilt für Nolden in der Literatur der Begriff ‚jüdisch’ v.a. aufgrund
der gewählten Themen. Deutsch-jüdische Autorinnen oder Autoren sind für ihn solche, die
sich selber als Jüdinnen oder Juden bezeichnen, einige Jahre in Deutschland oder Österreich
gelebt haben und in deutscher Sprache schreiben.9 Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in
6
Grenzmann, Teresa: Petersburger Kartoffelsalat. Lena Gorelik über ihre Erinnerungen an Russland. Ein Gespräch mit
Lena Gorelik. Münchner Merkur vom 7. November 2004 www.lyrikwelt.de/hintergrund/gorelik-gespraechh.htm.
Gut, dass ich einen zweiten Blick habe. Interview mit Lena Gorelik in Kieler Nachrichten vom 15. Januar 2005 auf
der Site der Lübecker Nachrichten vom 4.12.2007: www.LN-online.de
Ludwig, Kathrin: Deutsch mit Pippi Langstrumpf gelernt! Welt Online vom 7. April 2007
www.welt.de/kultur/literarischewelt/article796711/Deutsch_mit_Pippi_Langstrumpf_gelernt.html
7
Gorelik, Lena: Meine weissen Nächte. München: SchirmerGraf Verlag 2004. Der Titel ist Dostojewskis Roman
entlehnt. Die beiden Romane haben inhaltlich nichts miteinander gemein.
8
Gorelik, Lena: Hochzeit in Jerusalem. München: SchirmerGraf Verlag 2007. Gorelik, Lena: Verliebt in Sankt Petersburg. Meine russische Reise. München: SchirmerGraf 2008.
9
Die Werke der jüdischen Schriftstellerinnen Helena Janeczek und Elfriede Jelinek zählt Nolden nicht zur jüdischen Literatur, weil ihre jüdische Identität darin nicht zum Tragen kommt (1995:64). Auch die Englisch schreibende und als Katholikin erzogene Schriftstellerin Irene Dische ist für ihn keine deutsch-jüdische Schriftstellerin
(1995:9-13) Aber Lea Fleischmann, Barbara Honigmann und Chaim Noll, die Deutschland verlassen haben,
2
Deutschland und Österreich zunächst keine sogenannt deutsch-jüdische Literatur mehr. Erst
ab den 90-er Jahren wurde der Begriff reflektiert und wieder verwendet.10
1.2.2 Die Situation der jungen deutsch-jüdischen Schriftstellerinnen und
Schriftsteller11
Jungen Jüdinnen und Juden mangelt es an rezipierbaren Modellen jüdischen Lebens. Ihr Gegenüber im Prozess der Identitätsbildung ist die nichtjüdische Umwelt und die ältere Generation von Jüdinnen und Juden.12 Sowohl zur einen wie zur anderen Seite ist das Gespräch
schwierig. Von der älteren Generation trennt sie die persönliche Erfahrung der nationalsozialistischen Verfolgung und der Schoa. Konservative deutsche Geschichtswissenschaftler, welche die Verbrechen der Nazis zu relativieren versuchten, antisemitische Strömungen in der
politschen Linken, eskalierende antisemitische Ausschreitungen in deutschen Städten, die
Haltung der Deutschen und Österreicher gegenüber Israel schärften aber bei den jüngeren
Jüdinnen und Juden die kritische Aufmerksamkeit gegenüber dem gesellschaftlichen Klima.
Seit Beginn der achziger Jahre setzten politische und kulturelle Aktivitäten der nachgeborenen
jüdischen Generationen ein, und gleichzeitig begannen sich die Deutschen für die jüdische
Kultur zu interessieren.13
Aufgrund der Unfähigkeit der Kultusgemeinden dem Bedürfnis und dem Selbstverständnis
vieler nachgeborenen Jüdinnen und Juden gerecht zu werden, entsteht die junge jüdische Gegenwartskultur ausserhalb dieser. In der Literatur wird der Beschäftigung mit der eigenen
gesellschaftlichen Randposition viel Platz eingeräumt.14 Als Literatur einer Minderheit steht
sie ihrer deutschen und österreichischen Umgebung kritisch gegenüber.15 Sie schafft sich einen ästhetischen Raum, in dem Wege erprobt werden, die über den Riss zwischen den Generationen in die Vergangenheit jüdischer Traditionen zurückweisen. In den Romanen werden
gelten aufgrund seiner Definition weiterhin als deutsch-jüdische Autorin, resp. als deutsch-jüdischer Autor
(1995:31). Vgl. auch die Definition von deutsch-jüdischen Autorinnen und Autoren in Schruff 2000:12.
10
Reich-Ranicki sagte noch 1989, dass das Kapitel der deutsch-jüdischen Literatur endgültig abgschlossen sei.
Reich-Ranicki, Marcel: Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1989:57.
Kilchner reflektierte und verwendete den Begriff als Erster wieder. Kilchner, Andreas B. (Hg.): Einleitung. In:
ders.: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis
zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler 2000:V-XX.
11
Mit dem Begriff ‚junge deutsch-jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller’ sind die Autorinnen und Autoren der zweiten und dritten Generation nach der Schoa gemeint.
12
Zu deutsch-jüdischer Identität allgemein s. z.B. Meyer, Michael A.: Jüdische Identität in der Moderne. FrankStrauss, Anne Ruth (Trad.). Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 1992:114-133. MendesFlohr, Paul: Jüdische Identität. Die zwei Seelen der deutschen Juden. Seifert, Dorthe (Trad.). München: Wilhelm Fink
Verlag 2004.
13
Nolden 1995:15-23.
14
Nolden 1995:66.
15
Deutschland und Österreich unterscheiden sich dadurch, dass sich die österreichische Gesellschaft lange als
Opfer des deutschen Nationalsozialismus präsentierte.
3
Lösungsmöglichkeiten entworfen, wie sich junge Jüdinnen und Juden als Erben einer nur
noch rudimentär vorhandenen Kultur verstehen können, die fast vollends durch die Schoa
vernichtet wurde. Die Schoa, das dominierende Trauma ihrer Eltern und Grosseltern entzieht
sich der Kommunikation zwischen den Generationen und zwischen Jüdinnen/Juden und
Nichtjüdinnen/-juden. Während die unmittelbare Konfrontation mit den Verbrechern und
Mitläufern des Nationalsozialismus bald nicht mehr möglich ist, wird in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft der Nachkriegszeit der Umgang mit den Kindern und Enkelkindern
der Täter ein neues Thema. Im gesellschaftlichen Simulationsraum der Texte wird diskutiert,
was der Normalisierung des Verhältnisses von Jüdinnen und Juden und ihrer nichtjüdischen
deutschen Umwelt im Weg steht.16
1.2.3 Die Merkmale der jungen deutsch-jüdischen Literatur
Die deutsch-jüdische Literatur beschäftigt sich mit Erfahrungen in Gesellschaften, die sich der
jüdischen Kultur entledigt haben. Nolden ist der Ansicht, dass der kollektive Identitätsbegriff
‚jüdisch’ bei der jungen jüdischen Gegenwartsliteratur nicht als inhaltlich qualifizierbares Interpretationsmittel taugt. Die ethnische, kulturelle und religiöse Identität der Autorinnen und
Autoren der zweiten und dritten Generation nach der Schoa, die ihre prekäre Situation in
Deutschland und Österreich reflektieren, sei zu verschieden.17 Die verbindende Gemeinsamkeit der jungen jüdischen literarischen Produktion sei das ,konzentrische Schreiben’. Damit
meint er nicht eine stilistische Technik oder eine historische Perspektivierung. Er versteht darunter sowohl die Annäherung an Themen wie die Vernichtung in den nationalsozialistischen
Konzentrationslagern, als auch ganz allgemein das Spannungsverhältnis zwischen den Nachfolgegenerationen der Schoa und den von Traditionen verbürgten kulturellen und geschichtlichen Mittelpunkten des Judentums. Die heutigen, meist säkularen, Autorinnen und Autoren
nähern sich lediglich diesen Zentren des traditionellen Selbstverständnisses. Durch die Geschichte der Assimilation ihrer Vorfahren und durch den Vernichtungswahn der Natio16
Nolden 1995: 26-27.
Bekannte deutsch-jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller der zweiten und dritten Generation sind z.B.
Ruth Beckermann (*1952 Wien), Kaja Behrens (*1942 Berlin), Maxim Biller (*1960 Prag, 1970 BRD), Henryk
M. Broder (*1946 Kattowitz, Polen, 1958 Österreich), Esther Dischereit (*1952 Heppenheim, BRD), Peter Finkelgruen (*1942 Schanghai, 1959 BRD), Thomas Feibel (*1962 Santigo de Chile, heute Mannheim), Lea
Fleischmann (*1947 Ulm, 1979 Israel), Barbara Honigmann (*1949 Ost-Berlin, 1984 Frankreich), Gila Lustiger
(*1963 Frankfurt am Main, 1987 Frankreich), Eva Menasse (*1970 Wien), Robert Menasse (1954 Wien), Ronnith Neumann (* 1948 Haifa, 1958 BRD), Chaim Noll (*1954 Ost-Berlin) Henning Pawel (1944 Bernheide,
DDR), Doron Rabinovici (*1961 Tel Aviv, 1964 Österreich), Viola Roggenkamp (*1948 Hamburg), Hazel Rosenstrauch (1945 London, 1965 BRD), Robert Schindel (*1944 Bad Hall, Österreich), Rafael Seligmann (*1947
Tel Aviv, 1957 BRD), Vladimir Vertlib (*1966 Leningrad, 1981 Österreich).
Bsp. einer Reflexion s. Lustiger, Gila: Einige Überlegungen zur Lage der jüdischen Autoren in Deutschland. In: Hinderer,
W. et al: Altes Land, neues Land. Verfolgung, Exil, biografisches Schreiben. Texte zum Erich-Fried-Symposion 1999. Zirkular
der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur. Wien: 1999:50-53.
17
4
nalsozialisten sind sie davon abgeschnitten. Die Identifikation, das Erreichen dieser Zentren
unterbleibt. Nicht aus der Tradition heraus entsteht die neue jüdische Literatur, sondern aus
der Differenz zu ihr. Als Vertreter der Diasporaliteratur stehen diese Autorinnen und Autoren
auch in nationaler, kultureller und sprachlicher Differenz zum Staat Israel. Angesichts der
historischen Schuld von Österreich und Deutschland ist die junge jüdische Literatur aus der
Randposition des kritischen Dissenses entstanden und bezieht sich gleichzeitig auf die historische und gegenwärtige Realität dieser Länder.18
Ein Grossteil der Erzählungen der jungen deutsch-jüdischen Literatur basiert auf den Lebensgeschichten ihrer Autorinnen und Autoren. Im Gegensatz zu ihren nicht-jüdischen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen ist die literarische Reflexion über die eigene Identität weniger
Ausdruck ‚subjektiver Betroffenheit’, von dem der Stil des Neuen Subjektivismus geprägt ist,
sondern ein Versuch, am Beispiel der eigenen Erfahrung Auskunft über die kollektive Befindlichkeit der jüdischen Bevölkerung zu geben. Wo diesen Autorinnen und Autoren der Zugang
zu den Traditionen jüdischen Lebens versperrt ist, setzen sie bei der eigenen Geschichte an.19
Wenn diese Autorinnen und Autoren der Leserschaft ihre Erfahrungen mitteilen, ist zu beachten, dass bei der ordnenden, auswählenden Arbeit der Erinnerung die ästhetische Gestaltung dazukommt. Die Wirklichkeit wird zu einer Funktion des Erzählens. Der Anschein des
Autobiographischen ist Täuschung. Mitgutsch meint dazu: „Es gibt allerdings auch Texte, die unsere Erfahrungen ... zur Voraussetzung ihrer Glaubwürdigkeit brauchen. Es gibt eine Intensität der Sprache und
der Darstellung ... die anders nicht zu erreichen ist ... Sie kommt aus der Verletzung, aus dem Schmerz, der
nicht rückgängig zu machenden Beschädigung ... Sie (solche Texte) werden vom Leser als authentisch erlebt,
und er wird versucht sein, sie autobiographisch zu verstehen ... das Ich in der Literatur ist kein autobiographisches, sondern immer ein fiktionales, ein erfundenes Ich.“20 Der Schein unvermittelter Authentizität ist
die Illusion eines Genres. Das ‚Ich’ der autobiographischen Mitteilung ist, wenn auch nicht
unbedingt eine Fiktion, so doch eine Funktion des Textes.21
18
Nolden 1995:9-13, 62.
Weiterführende Information zum ‚autobiographischen Schreiben’ allgmein s. z.B. Breuer, Ulrich/Sandberg,
Beatrice: Einleitung In: diess. (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. I: Grenzen
der Identität und Fiktionalität. München: IUDICUM Verlag 2006:9-16. ‚Autobiographisches Schreiben’ einer
deutsch-jüdischen Autorin am Bsp. von Barbara Honigmann s. Kuschel, Anna: Identitätskonstruktion im Spannungsfeld von Minorität und Majorität in Barbara Honigmanns ‚Damals, dann und danach’. In: Breuer 2006:60-69
19
Nolden 1995:32.
20
Mitgutsch, Anna: Erinnern und Erfinden. Grazer Poetik-Vorlesungen. Graz/Wien: Droschl Verlag 1999: 11-13.
21
Nolden 1995:32-33
5
1.2.4 Lena Goreliks Position
Mit allen aus dem ehemaligen Ostblock stammenden jüdischen Schriftstellerinnen und
Schriftstellern teilt Gorelik die Erfahrung, dass sie im Herkunftsland ihr Jüdisch-Sein verschweigen musste.22 Ihr Identitätskonzept wurde erst durch die jüdische und nicht-jüdische
Umwelt im vereinigten Deutschland, wo das Trauma der Schoa vorherrschend ist, bestimmt.
Deshalb pflegt auch sie das konzentrische Schreiben. Immer wieder streift sie das Thema der
Schoa.23 Auch Goreliks jüdische Figuren suchen nach ihren Rollen und fragen nach ihrer
Herkunft.24 Wenn auch aus einem anderen Grund als ihre Kolleginnen und Kollegen greift
sie das Spannungsverhältnis zur jüdischen Gemeinde und zur Orthodoxie auf.25 Und wie die
allermeisten von ihnen ist auch Gorelik säkular.26 Ihrem Roman fehlt jegliche transzendente
Dimension. Gorelik verfügt nicht über den Traditions- und Erfahrungsschatz früherer Generationen: Es gibt bei ihr kein Erinnern an jüdische Wurzeln in der Thora.27 Wie bei den meisten jüdischen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen ist auch ihr Roman nicht aus der jüdischen Tradition heraus entstanden, sondern aus der Differenz zu ihr. Und auch Gorelik steht
in nationaler, kultureller und sprachlicher Differenz zum Staat Israel und schreibt aus der
Randposition des kritischen Dissenses.
Da Gorelik der allerjüngsten Schriftstellergeneration angehört, ist ihr die Sozialisation in einer
geschichtsverleugnenden Restaurationsepoche erspart geblieben. Im Gegensatz zu ihren älteren jüdischen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen lässt sie ihre Protagonistin von Auseinandersetzungen ihrer nicht-jüdischen Freundinnen und Kollegen mit der NaziVergangenheit ihrer Vorfahren berichten.28 Gorelik hat nicht mehr die Zeit erlebt, als Jüdinnen und Juden in der Linken sich zwischen jüdischer Identität als Zionistin und Zionist und
linkem Selbstverständnis als Israelkritikerin und Israelkritiker zu entscheiden hatten. Ihre in
22
Zu jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus der ehemaligen DDR und der ehemaligen Tschechoslowakei s. Anm. 17. Vgl. Nolden 1995:54-55.
23
Die Schoa ist bei jüdischen Bekannten der Protagonistin Anja ein Tabu. In wenigen Sätzen beschreibt Gorelik, wie Auschwitz bei Miri abgehandelt wird und wie Julians Vater sich weigert, mit seinem Sohn über die Schoa
zu sprechen.
24
Vgl. Schruff 2000:34. Der Riss zwischen den Generationen ist auch bei Gorelik ein Thema. Der Protagonistin
Anja ist der Zugang zur jüdischen Tradition durch die sowjetische Vergangenheit versperrt.
25
Zum Grund s. S. 9-11. Kritisch äussert sich die Protagonistin Anja über den Rabbiner und die Gemeindemitglieder in Deutschland, über Sarahs orthodoxe Herkunftsfamilie und die Orthodoxen in Israel.
26
Vgl. Nolden 1995:77.
27
Die Erfahrung des Auszuges aus Ägypten, der mythische Auszug der Jüdinnen und Juden aus der Gefangenschaft in den Zustand der Selbstbestimmung ist bei Gorelik nirgends ein Thema. Die meisten jüdischen Traditionen scheinen Gorelik genauso fremd zu sein wie einer Nicht-Jüdin. Mindestens greift sie diese durch ihre Protagonistin nicht auf.
28
Seit einigen Jahren gibt es einen Boom von Literatur seitens der Enkelkinder der Täter. Z.B. Brunner, Claudia/von Seltmann Uwe: Schweigen die Täter reden die Enkel. Frankfurt/M.: Edition Büchergilde Gutenberg 2004.
Himmler, Kathrin: Die Brüder Himmler. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2005. Senfft, Alexandra: Schweigen tut weh.
Berlin: Claassen Verlag 2007.
6
der UdSSR geborene Protagonistin, die sich ein paar Mal über Schwächen im kommunistischen System lustig macht, bezeichnet sich erstaunlicherweise völlig unbeschwert als links.29
Wie ein Grossteil ihrer deutsch-jüdischen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen pflegt Gorelik das ‚autobiographische Schreiben’. Lena Gorelik und ihre Protagonistin Anja verschmelzen
miteinander. Über Meine weissen Nächte sagt Gorelik: „Das Buch ist zu 50% autobiographisch, und es
war für mich schon eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ...“
30
In einem Interview zu
Hochzeit in Jerusalem meint sie, dass dieser Roman ein bisschen weniger autobiographisch sei.31
2
Hintergrundinformationen zum Verständnis von Hochzeit in
Jerusalem
Damit der Rahmen einer Seminararbeit nicht gesprengt wird, muss ich mich auf zwei Hintergrundinformationen zum Verständnis des Romans beschränken. Im Folgenden gehe ich
auf die Problematik der jüdischen Kontingentsflüchtlinge in Deutschland ein, da sich Gorelik
von ihren deutsch-jüdischen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen durch diesen Erfahrungshintergrund unterscheidet. Da jüdischer Humor Goreliks wichtigstes Stilmittel und eines ihrer
jüdischen Identitätsfragmente ist, gehe ich kurz auf dessen Geschichte und Soziologie ein.32
2.1
Jüdische Kontingentsflüchtlinge in Deutschland
Der Zerfall der UdSSR hatte in den Nachfolgestaaten zu ethnischen Konflikten geführt, von
denen auch Jüdinnen und Juden betroffen waren.33 1990 beschloss die letzte Volkskammerregierung der DDR, Jüdinnen und Juden, die in der Sowjetunion von nationalistischen und
antisemitischen Übergriffen betroffen waren, ein dauerhaftes Bleiberecht zu gewähren. Die
Aufnahmezusage für die sogenannten jüdischen Kontingentsflüchtlinge wurde in modifizierter
29
Junge deutsche Jüdinnen und Juden haben die Tendenz, sich als ‚eher links’ oder ‚sehr links’ zu bezeichnen.
Nolden 1995:18
30
Gut, dass ich einen zweiten Blick habe. Interview mit Lena Gorelik in Kieler Nachrichten vom 15. Januar 2005 auf
der Site der Lübecker Nachrichten vom 4.12.2007: www.LN-online.de
31
Aber sie könne schliesslich nur über das, was sie kenne und was sie beschäftige schreiben. Sie könne nicht aus
der Sicht einer Sechzigjährigen mit fünf Kindern schreiben, da ihr diese Erfahrung fehle. Ihre grünen Augen Interview vom 1. Juli 2006 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr.26, S. 57, auch im Belletristik – Feuilleton von
FAZ.NET: www.faz.net/s/Rub79a33397BE834406A5D2BFA87FD13913/Doc
32
Nur wenige junge deutsch-jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller verwenden das Stilmittel des Humors.
Eine der wenigen Ausnahmen ist Maxim Biller. Seine Sprache neigt jedoch zur Hyperbel, zur Satire und zum
Sarkasmus. Vgl. Nolden 1995:56
33
Vgl. Zaslavsky, Victor: Das russische Imperium unter Gorbatschow. Seine ethnische Struktur und ihre Zukunft. Berlin:
Klaus Wagenbach 1991. Zur Begrifflichkeit: UdSSR, Sowjetunion und Russland, resp. sowjetisch und russisch,
verwende ich synonym.
7
Form auch im vereinigten Deutschland 1991 weitergeführt, nachdem die BRD vorerst noch
einen Aufnahmestopp verfügt hatte. Anfangs der neunziger Jahre immigrierten vor allem
grossstädtisch Sozialisierte, Hochqualifizierte und akademisch Gebildete, später Menschen
aus allen Schichten.34 Die Medien schilderten sie als eine verfolgte Minderheit. Den Nachweis
individueller Verfolgung mussten sie jedoch nicht erbringen.35
1989 zählten die jüdischen Gemeinden in Deutschland 29’000 Mitglieder, wovon die meisten
osteuropäischer Herkunft waren: Jüdinnen und Juden, die nach 1945 aus den Konzentrationslagern hier gestrandet waren.36 Zwischen 1989 und 2005 kamen 200'000 jüdische Kontingentsflüchtlinge aus der ehemaligen UdSSR nach Deutschland. Nur knapp 80'000 wurden
Mitglieder in den jüdischen Gemeinden. Die Anzahl Mitglieder ist nun auf 106’000 angestiegen, und das Durchschnittalter in den Gemeinden ist gesunken. Bei rund 80 000 jüdischen
Kontingentsflüchtlingen ist der religiöse Status nach den Religionsgesetzen nicht klar.37
Dass Deutschland 45 Jahre nach der Schoa zu einem Einwanderungsland für Jüdinnen und
Juden wurde, stellte eine Zäsur im jüdischen wie im deutschen Selbstverständnis dar. Die
Aufnahme von Kontingentsflüchtlingen war ein Repräsentationsakt des vereinigten Deutsch34
Becker, Franziska: Ankommen in Deutschland. Einwanderungspolitik als biographische Erfahrung im Migrationsprozess russischer Juden. Berlin: Dietrich Reimer Verlag GmbH 2001:9-11, 44-49, 61-63.
35
Während fünfzehn Jahren hatten alle jüdischen Kontingentsflüchtlinge Anspruch auf unbefristete Aufenthaltsund Arbeitserlaubnis und auf Sozialleistungen. Nach sieben Jahren konnten sie die deutsche Staatsbürgerschaft
beantragen. Neben sowjetischen Pässen, in denen die jüdische Nationalität eingetragen war, galten Geburtsurkunden als Dokumente. Entweder mussten der Vater oder die Mutter jüdischer Herkunft sein. Vielen Antragsstellern fehlten Originalpapiere, die sie aufgrund nationalsozialistischer und stalinistischer Verfolgungen vernichtet hatten. Fälschungen waren ein grosses Problem: Es wird von 5-40 Prozent ausgegangen. Vgl. Becker
2001:51-59. Erwägungen zu einer Beendigung dieser Politik fanden hinter verschlossenen Türen statt: Aufgrund
der Schoa-Vergangenheit hätte die Debatte als antijüdischer Gestus gedeutet werden können. Becker 2001:7883. 60% der jüdischen Zuwanderer waren auf staatliche Hilfe wie Arbeitslosengeld und Sozialhilfe angewiesen.
Zu Änderungen in dieser Politik kam es erst ab 2005, nachdem mit dem Zentralrat der Juden und der Union
progressiver Juden ein Kompromiss für eine Neuregelung hatte erzielt werden können. Seit diesem Zeitpunkt
wird die jüdische Zuwanderung aus der ehemaligen UdSSR beschränkt. Sie fällt nicht mehr unter das Kontingentsflüchtlings- sondern unter das Zuwanderergesetz. Migration und Bevölkerung. Newsletter. Ausgabe 6. Juli
2005. Deutschland: Einigung bei der jüdischen Zuwanderung. www.migration-info.de/migration_und_bevölkerung
/artikel /050605.htm
36
Vgl. Schoeps, Julius H.: Jüdisches Leben im Nachkriegsdeutschland. In: Nachama, Andreas et al (Hg.): Jüdische Lebenswelten. Essays. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 1991:354. In Osteuropa war in den Jahren nach Kriegsende der Antijudaismus nicht kleiner geworden. 1946 wurden z.B. in Kielce, Polen, Überlebende
umgebracht, als sie in ihre Geburtsorte zurückkehren wollten. Eine riesige Fluchtwelle Richtung Westeuropa war
die Folge. Kaufmann, Uri: Kleine Geschichte der Juden in Europa. Berlin: Cornelsen Verlag 4. Auflage 2006:83.
37
Zahlen und Fakten zu Deutschland: Friederich, Volker/Bechtold Andreas P.: Jüdische Jugend heute in Deutschland. Fotografien und Interviews. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2006:174-177.
Zentralrat der Juden in Deutschland. Zukunft. 5. Jahrgang Nr. 10, 28. Oktober 2005, Neue Zahlen
www.Zentralrat%20der%20Juden%20in%20Deutschland-%20Neue%20Zahlen.html. Migration und Bevölkerung.
Newsletter. Ausgabe 6, Juli 2005. www.migration-info.de/migration_und_bevölkerung /artikel /050605.htm
Durch die Wiedervereinigung mit der DDR vergrösserten sich die Gemeinden nur um 300 Mitglieder. Friedrich
et al 1996:175. Jüdinnen und Juden in der DDR wurde während des Kalten Krieges z.T. Spionagetätigkeit für
die USA vorgeworfen. Sie wurden als ‚zionistische Agenten’ angeklagt. Einige flohen. Kaufmann 2006:83.
Aktuelle Zahlen zu Österreich: Site von Haetar Jehudi, Die Jüdische: www.juedische.at/Tcgi/_v2/
TGgi.cgi?target=home&Param_link&Param_TP=3&Param_Kat=16&Param_LR=9.
8
land: eine symbolische Geste der Wiedergutmachung. Doch genau dadurch wurden Jüdinnen
und Juden aus der ehemaligen UdSSR über die Zugehörigkeit zur Opfergemeinschaft der
Schoa definiert. Nachdem in der UdSSR die Schoa kein Gegenstand des öffentlichen Diskurses gewesen war, wurde sie in Deutschland zu einem relevanten Deutungsmuster und Bestandteil jüdischer Identität.
Im Kontakt mit den deutschen Institutionen wurden jüdische Kontingentsflüchtlinge mit
Identitätserwartungen, Stereotypen und Diskursen um Legitimität konfrontiert. Sie waren
gezwungen, ihre Geschichte reflexiv zu bewerten, um die Aufnahme zu rechtfertigen. Die
Repatriierungsidee, welche die Ausreise für Jüdinnen und Juden nach Israel vorsieht und eine
Emigration nach Deutschland verurteilt, brachte jüdische Kontingentsflüchtlinge noch zusätzlich in Selbstrechtfertigungsdruck.38
In der Immigrationssituation gab es zwei gegenläufige Tendenzen: Einerseits führten spezielle
Zuwanderungsregelungen zu einer Ethnisierung von Identitäten, anderseits bewirkten die
offiziellen ethnisch und religiös definierten Gemeindeeinrichtungen eine starke Segregation.
Handlungsziel der Aufnahme war ursprünglich der Wiederaufbau jüdischer Gemeinden in
Deutschland gewesen. Die Gemeinden, denen die Aufgabe religiöser und sozialer Integration
zufiel, forderten die Neuankömmlinge auf, ihren Integrationswillen über ein Bekenntnis zum
Judentum öffentlich unter Beweis zu stellen. Mit der religiös-kulturellen Ausrichtung der jüdischen Gemeinden konnten die meisten Kontingentsflüchtlinge aber nur wenig anfangen, da
sie sich in der Sowjetunion von der traditionellen jüdischen Herkunft abgewandt hatten. Die
Gemeinden boten mit ihrem Angebot also nur einer Minderheit die Möglichkeit zur Integration. Die Mehrheit bewegt sich jenseits der etablierten Gemeindestrukturen. So hat sich ein
Ethnisierungsschub im Sinne einer ‚kompensatorischen Gruppenbildung’ ergeben. In Berlin
bildete sich z.B. das sog. ‚russische Berlin’ als ein Interaktionsraum von ehemaligen Russinnen
und Russen aller Ethnizitäten.39
Innerhalb der Gemeinden kommt es mit den etablierten Jüdinnen und Juden zu Konflikten:
Während viele Kontingentsflüchtlinge sich den Angeboten der Gemeinden verweigern, legen
andere eine passive Versorgungsmentalität an den Tag. Alteingesessene fühlen sich bedroht,
38
Beckers Erkenntnisinteresse galt der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Migrationsprozess und jüdischem Selbstverständnis. Sie fand heraus, dass sich die Beziehung zum Jüdischsein im Migrationsverlauf verändert. Dass die Migrantinnen und Migranten ihrem Lebensgeschehen dauernd Sinn und Kausalität geben müssen, wird durch ihre neue Umwelt ausgelöst. Becker (2001:11-16) kritisiert auch wissenschaftliche Untersuchungen mit Identitätserwartungen (und der Vorannahme von Verfolgung in der UdSSR), z.B. Schoeps, Julius/Jasper, Willi/Vogt, Bernhard: Russische Juden in Deutschland. Integration und Selbstbehauptung in einem fremden Land.
Weinheim: Beltz, Ahenäum 1996 und Schütze, Yvonne: Warum Deutschland und nicht Israel? Begründungen russischer Juden für die Migration nach Deutschland. In: Bios, 10.2 (1997).
39
Oswald Ingrid/Voronkov, Viktor (Hg.): Post-sowjetische Ethnizitäten. Ethnische Gemeinden in St. Petersburg und Berlin/Potsdam. Berlin 1997:27-34 zitiert nach Becker 2001:18-21
9
da sie nun in der Minderheit sind. In den Gemeinden wird zum Teil nur noch Russisch gesprochen. Spannungen gibt es auch wegen der Distanz der Zuwanderer zur Schicksalsgemeinschaft der Opfer des Nationalsozialismus. Der unselbständige Sowjetbürger fungiert als
Prototyp des illoyalen unliebsamen neuen Gemeindemitgliedes, der die Gemeinde als Dienstleistungsunternehmen missbraucht.40 Zwar retten die Kontingentsflüchtlinge die jüdischen
Gemeinden quantitativ, aber gleichzeitig verstärken sie die deren Wandlung weg vom Religiösen hin zu einer Interessenvertretung. 41
Unter der Ablehnung seitens eingesessener deutscher Jüdinnen und Juden leiden die Kontingentsflüchtlinge, welche soziale Anerkennung in den Gemeinden suchen.42 Wer als Jüdin und
Jude in Deutschland leben will, erfährt die Migration als einen tiefgreifenden, identitätsverändernden Transformationsprozess. Wer akzeptiert werden will, muss die zuvor eher bedeutungslose, resp. belastende ‚ethnische Zugehörigkeit’ in einen neuen Identitätsentwurf umwandeln.43 Die Negation und Tabuisierung der jüdischen Herkunft waren Voraussetzung für
den sozialen Aufstieg in der Sowjetunion gewesen. Jüdische Angehörige der sowjetischen Mittelklasse präsentierten ein Bild von Konformisten. Sie versuchten das jüdische Stigma auszugleichen, indem sie sich vor allem mit ihrer Arbeit identifizierten. An einigen sowjetischen
Hochschulen waren Jüdinnen und Juden entweder gar nicht oder dann nur zu einem geringen Prozentsatz zum Studium zugelassen worden. Die übermässige Bildungsanstrengung russischer Jüdinnen und Juden ist also nicht ein Klischee, sondern verweist auf reale Erfahrungen
in der sowjetischen Gesellschaft.44
Becker deckt die überzogene, widersprüchliche und unrealistische Haltung der deutschen
Aufnahmegesellschaft treffend auf: Sie wünsche sich den ‚Ostjuden' „der Klezmer-Musik spielen
und ostjüdische Literatur rezitieren kann und der in gemässigter, nicht orthodoxer Form seiner religiösen Zugehörigkeit Ausdruck verleiht. Die Hoffnung auf eine Renaissance des jüdischen Kultur- und Geisteslebens ... verkennt, dass ihre Träger gerade aus einem säkularisierten und assimilierten Judentum hervorgegangen waren.
Wenn sich die jüdische Identität der Zuwanderer in den Gemeinden etwa über den Synagogenbesuch sichtbar
beweisen soll und man sich im gleichen Zuge die Renaissance jüdischen Geistes- und Kulturlebens herbeiwünscht, dann wird damit etwas verknüpft, das weder der real existierenden Pluralität jüdischen Lebens in der
40
Becker 2001:66-72
Becker 2001:72-77.
42
vgl. Becker: 2001: 129-143, 221 Anm. 1
43
Becker 226.
Die von Becker befragten Kontingentsflüchtlinge identifizierten sich z.T. nicht als Jüdinnen und Juden, auch
dann nicht, wenn sie Mitglieder einer jüdischen Gemeinde waren. Sie waren zwar aufgrund ihrer ‚jüdischen
Identität’ aufgenommen worden, aber diese Zugehörigkeit hatte ihnen weder in der Sowjetunion etwas bedeutet,
noch war sie nach der Migration wichtig geworden, denn in der Sowjetunion galt ein Kulturkonzept, in dem
eine Übereinstimmung von sozialer Gruppe, Kultur und Identität postuliert wurde. Becker 2001:31-37.
44
Becker 2001:223
41
10
deutschen Geschichte, noch den neuen Zuwanderern entspricht ... Das in den Medien dargestellte Auseinanderdriften von tatsächlichem Einwanderungsprozess und einem an den Kulturinszenierungen gemessenen Wunschbild schlägt als verstärkte Legitimationsanforderung auf die Migranten zurück. Dass sie als ‚normale’ Migranten nicht so recht zu den überhöhten Bildern ... passen wollen, wird nicht als Verkennung der Aufnahmegesellschaft hinterfragt, sondern umgekehrt den Zuwanderern selber zur Last gelegt. Dies geschieht, wenn die Einwanderung für ‚nicht jüdisch genug’ befunden und in ihrer vermeintlich ‚russischen’ Ausprägung als problematisch und letztlich unerwünscht wahrgenommen wird. “45
Die Deutschen erwarteten anpassungsbereite, mit kulturjüdischem Habitus ausgestattete Kontingentsflüchtlinge. Dieses Bild konnte nicht erfüllt werden. Nun werden die jüdischen Kontingentsflüchtlinge ,Russen’ genannt: eine negativ aufgeladene Etikettierung. Die Migrationspolitik der Kontingentsflüchlingen basierte auf der Verkennung der Voraussetzungen der
deutsch-jüdischen Kultur vor der Schoa und auf der Konstruktion einer Einwanderungsgruppe. Die moralisch überzogene deutsche Politik war stark tabuisiert und verdeckte die Widersprüche zwischen deutscher Erwartungshaltung und Realität.
2.2
Jüdischer Humor46
Jüdischer Humor ist ein internationales Phänomen. Doch genauso wie es kein homogenes
Judentum gibt, gibt es auch den jüdischen Humor nicht.47 Im Folgenden streife ich die Soziologie und die Geschichte des jüdischen Humors in Russland, den USA und Israel. Gorelik
scheint v.a. mit dem jüdischen Witz in diesen Ländern in Kontakt gekommen zu sein. Den
deutsch-jüdischen Humor vor der Schoa lasse ich beiseite, da er Gorelik nicht geprägt hat.48
45
Becker 2001:77-78.
Die Begriffe ‚jüdischer Witz’ und ‚jüdischer Humor’ verwende ich synonym. Weiterführende Informationen zu
Witz und Humor allgemein s. z.B. Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehungen zum Unbewussten. Bd. 9.
Leipzig/Wien/Zürich: Fischer Bücherei 1958.
47
Vgl. Dachs, Gisela (Hg.): Humor. Jüdischer Almanach des Leo Baeck Instituts. Frankfurt am Main. Jüdischer Verlag
2004. In diesem Almanach wird versucht, einige Facetten dieses Humors, der sich zu verschiedenen Zeiten und
an verschiedenen Orten anders herausgebildet hat, aufzuzeigen. Vgl. auch Landmann, Salcia: Einleitung. In:
Dies. (Hg.): Der jüdische Witz. Soziologie und Sammlung. Olten/Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag 13. Auflage
1988:13-46. Landmann versucht, einen Überblick über die Entwicklungsstufen und die verschiedenen Arten des
jüdischen Humors zu geben. Ihr Buch ist jedoch m.E. nur bedingt verwendbar. Die Hintergrundinformationen
über den israelischen Witz entsprechen nicht mehr dem heutigen Stand, der historische Abriss über die Herkunft
der Israeliten (und somit des jüdischen Humors) und ihre Darstellung der Entwicklung der hebräischen Sprache
sind wissenschaftlich nicht haltbar. Vgl. z.B. Edelman, Diana V. (Hg.): The Fabric of History. Text, Artefact and
Israel’s Past. JSOT Suppl. 127. Sheffield: JSOT Press 1991. Finkelstein, Israel/Silberman N.A.: The Bible Unearthed. Archeology’s View of Ancient Israel and the Origin of Its Sacred Texts. New York: Free Press 2001. Kutscher, Eduard Yechezkel: A History of the Hebrew Language. Jerusalem: Magnes Press, Hebrew University 1982.
48
Gorelik beschreibt den ‚russischen’ Humor ihres Vaters. Sie lebte mehrere Monate in Israel. Ludwig, Kathrin:
Deutsch mit Pippi Langstrumpf gelernt! Welt Online 7. April 2007
www.welt.de/kultur/literarischewelt/article796711/Deutsch_mit_Pippi_Langstrumpf_gelernt.html
Weiterführende Information zum deutsch-jüdischen Humor vor der Schoa s. z.B. Brenner, Michael: Als der Humor noch in Deutschland zu Hause war. Ein Nachruf auf den berlinisch-jüdischen Geist. In: Dachs 2004:11-25. Weiterführende Information zum deutschen Humor s. z.B. Gelfert, Hans-Dieter: Was ist gute Literatur? Wie man gute Bücher
von schlechten unterscheidet. München: Verlag C.H. Beck 2004:194.
46
11
Der Witz ist oft die Waffe der Wehrlosen, die zwar maulen, sich aber mit ihrer Lage halbwegs
abfinden. Sie finden durch das Witzeerzählen Entspannung.49 Die Situation der Jüdinnen und
Juden im Exil, wo sie oft wehrlos waren, scheint ihren Witz gefördert zu haben. Er ist von
Chuzpe geprägt. Dieser Begriff, der am ehesten mit Frechheit zu übersetzen wäre50 „... meint
die Haltung derjenigen Juden, die kein Talent und keine Lust haben, die Schläge der Umwelt schweigend als
Märtyrer einzustecken, und auch nicht den Mut, sich gegen eine fremde Übermacht in selbstmörderischer Form
zur Wehr zu setzen. Es ist eine Kühnheit, die nichts kostet.“51
Unabhängig vom Witz als Waffe der Wehrlosen gibt es viele jüdische Witze, die von den surrealistischen Scherzrätseln des Vorderen Orients beeinflusst sind. Verspottet wird hier nicht
der Mächtige, sondern der Ungebildete. Jüdischer Witz dieser Art setzt eine gute Talmudbildung voraus.52
Freud, der als erster das Wesen des Witzes durchschaute, hat fast nur jüdische Witze analysiert. Er fragte sich „... ob es sonst noch häufig vorkommt, dass sich ein Volk in solchem Ausmass über sein
eigenes Wesen lustig macht.“53 Eine Eigenschaft von Jüdinnen und Juden, über die in den eigenen
Kreisen gelacht wird, ist die Hypochondrie. Landmann vermutet dahinter ihre dauernde Gefährdung.54 Rabinovici ist der Ansicht, dass der jüdische Humor das Lachen über sich selber
und nicht der Spott über andere sei: „Im Gegenteil, der Witz ist der Widerstand gegen den Hohn, weil
er der Erniedrigung zuvorkommt, indem er dem Zynismus mit Ironie begegnet.“55
Der jüdische Witz im engeren Sinn ist in der Neuzeit in Ost- und Mitteleuropa entstanden.
Gutsherren, Bauern, die Polizei, das Militär und christliche Geistliche machten die ‚böse’
Umwelt der Jüdinnen und Juden aus.56 Der jüdische Witz entwickelte sich vor allem im Zarenreich mit seinen fragwürdigen sozialen und politischen Zuständen, seinen Judenpogromen
und Zentren jüdischer Geistesbildung. Durch die russische Revolution, welche Befreiung versprach, hätte sich der jüdische Witz beinahe erübrigt. Als die Revolution vorbei war, machte
sich die Enttäuschung in Witzen Luft. Doch nachdem die Partei zur alleinseligmachenden
Institution aufgestiegen war, verbot sie sich den Witz. Witzige Köpfe wurden deportiert. Das
49
Landmann 1988:7.
Lötzsch, Ronald: Duden. Jiddisches Wörterbuch. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag 2. Auflage
1992:58.
51
Landmann 1988:28.
52
Landmann 1988:27,45. Landmann sieht den jüdischen Witz von den surrealistischen Scherzrätseln des Vorderen Orients beeinflusst, was schon im babylonischen Talmud ersichtlich sei. Gorelik hat keine Talmudbildung.
Bei ihrem Humor fällt dieses wichtige formale Element des herkömmlichen jüdischen Witzes weg.
53
Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Studienausgabe, Bd. 4. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1997:106.
54
Landmann 1988:27.
55
Rabinovici, Doron: Hundertsiebzehn. Oder: Eine kurze Anleitung zum jüdischen Witz. In: Dachs 2004:119-125.
56
Bengershôm sieht die Anfänge des jüdischen Humors im Buch Esther. Bengershôm, Esra: Das Buch Esther und
das Purimfest. In: Dachs 2004: 114-118. Zu den Anfängen des jüdischen Humors im Talmud s. Anm. 52.
50
12
Talmudstudium wurde staatlich verboten. Wenn es nun zu Witzen kam, fehlte der herkömmliche Talmudschliff.57
In den USA leisteten die Ostjuden einen gewaltigen Beitrag zur amerikanischen Komödie.
Oft macht sich der amerikanisch-jüdische Humor über das Christentum lustig.58 Dennoch ist
er weniger welt- als selbstkritisch: Er verhöhnt den jüdischen Aufsteiger, der sich an amerikanische Lebensformen anpassen will. Die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, treiben ihn
in die Psychoanalyse. Diese scheint die Funktion des einstigen Wunderrabbis übernommen zu
haben.59 Die jiddische Mame, die mit ihrem Ehrgeiz ihre Kinder zermürbt, ist ebenfalls Zielscheibe des amerikanisch-jüdischen Humors. Als die Mutter noch Zentrum der Grossfamilie
im Schtetl war, war sie mächtig, nicht lächerlich. Erst in der modernen Grossstadt erscheint
ihre Fürsorglichkeit absurd.60 Ein weiteres Merkmal des amerikanisch-jüdischen Humors ist
der Antiheld. Während der Westernheld seine wilde Rohheit zelebriert, gesteht der jüdische
Antiheld seine Schwächen ein.61
Gemäss Landmann brauchen Israeli keinen Witz, da sie sich mit der Waffe wehren.62 Gemäss
Avrahmi ist der jüdische Humor früher eine Art ‚Armeleutetrost’ für ein Volk ohne Land gewesen. Durch den Staat Israel hat sich dessen Situation grundsätzlich verändert. Einzig
Ephraim Kishon pflegte die feine Ironie von früher noch.63 Der Palmach-Humor64 handelt
von ‚neuen Juden’, harten Kämpfern und Krieg. Im Sechstagekrieg wurden alte Witze umgeschrieben, so dass sie als Waffe gegen die Feinde eingesetzt werden konnten.65 Nach dem
Sechstagekrieg entstand der subversive Humor, der sich gegen das Establishment richtet. Seit
der Intifada blüht der schwarze Humor. Israelis verarbeiten ihre Furcht vor dem Terror mit
makabren Sprüchen. Nach jeder Bluttat machen düstere und beklemmende Kalauer die
Runde. Sie sind gegenüber dem Absurden und Unfassbaren die einzige Reaktionsmöglichkeit,
denn sie helfen das Entsetzliche, vor dem jede und jeder Angst hat, zu verarbeiten. Makabre
Sprüche erlauben es auch, sich von der Realität zu distanzieren. Ethnische und rassistische
Witze, die antijüdischen Witzen in nichts nachstehen, sind an der Tagesordnung. Israels
57
Landmann 1988:41-42.
Dennoch kommen weltbekannte Weihnachtslieder von Juden. White Chrismas z.B. stammt von Irving Berlin.
Whitefield ist der Ansicht, dass gerade die Pflege der musikalischen Weihnachtstradition ein ausgeprägtes
Merkmal des jüdischen Lebens in den USA sei. Sie sei der satirische Widerspruch dazu. Whitefield, Stephen J.:
Der amerikanisch-jüdische Humor – ein kurzer Würdigungsversuch. In: Dachs 2004:94-100.
59 Die Psychologie wird in den USA auch als ‚Jewish Science’ bezeichnet.
60 Rabinovici 2004:123-125.
61 Whitefield 2004:94-100. Ein Paradebeispiel des amerikanisch-jüdischen Humors ist Woody Allen.
62 Landmann 1988:44.
63 Avrahami, Avner: Der israelische Humor – Ein kurzer geschichtlicher Überblick. In: Dachs 2004:61-73.
64 Palmach war die Eliteeinheit der Untergrundarmee Hagana vor der Staatsgründung.
65 Har-Gil, Schraga: Ein Witz geht um die Welt. In: Dachs 2004:74-76.
58
13
Stimmungsbarometer ist auf dem Nullpunkt. Diese Witze reflektieren, was das Volk denkt
und fühlt.66
Immer schon wurden auch Einwanderer in Israel zu Witzfiguren gemacht. So stellt Luba,
gespielt von Tal Friedman in der TV-Satire Wunderbares Land, eine russische Einwanderin
dar.67 Obwohl in Israel eine der beliebtesten Sendungen überhaupt, findet eine deutliche
Mehrheit der russischen Einwanderer Luba überhaupt nicht witzig. Eigentlich sollte in einer
Satire den Stärkeren das Lachen im Halse stecken bleiben und nicht den Schwächeren. Aber
die Israelis fühlen sich durch die neuen Einwanderer bedroht: Es gibt schon mehr russische
Sender als israelische, und an gewissen Orten wird nur noch Russisch gesprochen.68
3
Analyse von Lena Goreliks Hochzeit in Jerusalem
Hochzeit in Jerusalem knüpft an Goreliks Erstlingsroman Meine weissen Nächte an. In Meine weissen
Nächte steht Anja Buchmann, eine junge russischstämmige deutsche Jüdin, zwischen ihrem
neuen deutschen Freund und ihrem russischen Ex-Freund. Anja hat den gleichen Jahrgang
und die gleichen Wurzeln wie Lena Gorelik. Sie ist zur gleichen Zeit wie diese nach Deutschland übergesiedelt, hat im Asylantenheim gewohnt und lebt und studiert wie diese in München. Sie und ihre Herkunftsfamilie müssen sich an den deutschen Alltag gewöhnen, und Anja tut alles, um dazuzugehören. ‚Hochzeit in Jerusalem’ kann unabhängig von ‚Meine weissen Nächte’ gelesen werden. Wieder ist die Protagonistin Anja und wieder geht es um Beziehungswirren. Wichtiger ist Gorelik im zweiten Roman die Auseinandersetzung mit ihrer jüdischen
Identität. Dieses Thema wollte sie im ersten Roman nicht mit ein paar Sätzen abhandeln.69
3.1
Hauptakteurinnen und Hauptakteure
Der Roman ist aus der Ich-Perspektive geschrieben. Die Leserschaft lernt namentlich Anjas
Herkunftsamilie, ihren Freundeskreis, ihre Verwandtschaft aus der ganzen Welt, ihre Internetbekanntschaft Julian und dessen Freundes- und Bekanntenkreis und die Philosemitin Doris
66
Heumann, Pierre: Die nahöstliche Flucht in den schwarzen Humor. In: Dachs 2004:83-88. Entgegen Heumann ist
Rabinovici 2004:120-124 der Ansicht, dass der jüdische Witz keine Mordhetz sei. Diese Aussage wäre nur haltbar, wenn der israelische Humor nicht mehr als jüdischer Humor gewertet würde.
67
Die russischstämmige Luba arbeitet als Kassiererin. Jede satirische Sendung im israelischen Fernsehen beginnt
mit ihrem Aufruf ‚Ssäädr’ (Ordnung). Jessen, Norbert: „Schwär, schwär ...“ In: Dachs 2004:77-82.
68
Dass sich die Israelis durch die russischen Einwanderer bedroht fühlen, kann auch aus Goreliks Roman geschlossen werden: Bat Yam wird eindrücklich als die Sowjetunion Israels geschildert.
69
Ihre grünen Augen, Interview vom 1. Juli 2006 in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr.26, S. 57, auch im
Belletristik – Feuilleton von FAZ.NET: www.faz.net/s/Rub79a33397BE834406A5D2BFA87FD13913/Doc
14
kennen. Die meisten Akteurinnen und Akteure sind jüdisch. Im Folgenden stelle ich nur die
wichtigsten Figuren vor.
Anja Buchmann ist Kulturberaterin. Sie hat grüne Katzenaugen, in welchen „die Traurigkeit
des ganzen jüdischen Volkes“ zu sehen ist,70 blond gefärbte, geglättete Haare und Sommersprossen. Anja hat es nicht gerne, wenn andere etwas haben, was sie nicht hat. Dies kommt nicht
nur bei Geschenken, sondern auch gegenüber ihrem Freund Julian, der von Sarah begehrt
wird, zum Ausdruck. Anja weiss nicht, was sie will und betrinkt sich, wenn sie sich mit grösseren und kleineren Problemen konfrontiert sieht. Sie stellt sich als unreif, launisch, nachpubertierend aggressiv und egozentrisch dar und überlegt sich, einen Psychologen zu konsultieren.
Die Grundfragen des Lebens hat sie sich noch nicht gestellt und mit ihrer Identität und Herkunft hat sie sich bis anhin auch noch nicht ernsthaft auseinander gesetzt. Das Interesse am
Judentum war nur eine vorübergehende pubertäre Selbststilisierung gewesen. „Ich bin einfach
ich“ antwortet sie Julian auf eine entsprechende Frage.71 Sie stellt sich ‚dämlich’ im wahrsten
Sinn des Wortes dar. Schon im Prolog beschäftigt sich der Mann Julian mit wesentlichen Fragen, während sie sich an ihn schmiegt und sich Sorgen um ihre Schönheit macht. Im Epilog
wird eine Entwicklung angedeutet: Anja beginnt sich mit ihrer Herkunft zu befassen.72
Anja hat Julian Ferenci in einem jüdischen Chatroom kennen gelernt. Er weiss seit kurzem,
dass sein Vater jüdisch ist und seine Eltern durch die Schoa verloren hat. Julian hat lange
blonde Haare, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden hat, und eine Brille. Er trägt gerne
Wollsachen: Wollsocken, Wollschal, selbstgestrickte, warme, graue Pullover. Seine Freundinnen und Freunde sind alternativ und links. Er ist nicht der Sportskanonen-, sondern eher der
Gitarrentyp: ruhig, cool und wortkarg. Wenn er etwas sagt, nuschelt er, aber was er sagt, ist
treffend, machmal etwas hochgestochen.
Chris (Christian Jung) ist Anjas bester Freund. Er strickt Socken, beschäftigt sich mit Psychologie und sucht die Traumfrau seines Lebens. Anja ist über sein Liebesleben informiert
und er über ihres. Was Anjas Probleme anbelangt, ist er pragmatisch.
Gut, dass ich einen zweiten Blick habe. Interview mit Lena Gorelik in: Kieler Nachrichten vom 15. Januar 2005 auf
der Site der Lübecker Nachrichten vom 4.12.2007: www.LN-online.de
70
Gorelik 2007:86
71
Gorelik 2007:8
72
Was die Protagonistin bei der Grossmutter genau herausfindet und ob dies ihr Leben verändert, erfährt die
Leserschaft nicht. Vgl. das ‚konzentrische Schreiben’ im Sinne einer Annäherung an ein Thema aus der Vergangenheit S. 4-5.
15
Sarah ist Julians sexy orthodoxe Freundin. Sie unterrichtet Kinder, ohne den Beruf Lehrerin
erlernt zu haben, und in ihrer Freizeit liest sie und schreibt Gedichte.
Im ersten Kapitel wird Anjas Herkunftsfamilie um den Hund gruppiert vorgestellt, den sich
die Eltern gegenseitig auf Weihnachten geschenkt haben. Auch er ist jüdisch: Seine Augen
sind jüdisch, und er frisst koscher.
Der Vater, der gerne seine Synthetik-Trainingshose aus der Sowjetzeit trägt, hat eine genaue
Vorstellung davon, wie, wer und was ein Jude ist. Er findet, Anja passe nicht zu Julian.
Bevor die Mutter mit dem Vater verkuppelt worden war, hatte sie eine Liebschaft mit einem
amerikanischen Touristen gehabt, die an den sowjetischen Zuständen gescheitert war. Sie
wird als jiddische Mame dargestellt. Andrej und die Grossmutter lernt die Leserschaft v.a. aus
ihrer Perspektive kennen.
In der Art, wie Anjas unverheirateter dreissigjähriger Bruder Andrej mit dem Hund umgeht, schliesst die Mutter, dass er sich Kinder wünscht. Schon in Russland hatten die Eltern
für ihren damals 15-jährigen Sohn und seine zukünftige Familie Bretter für den Bau einer
Hütte beiseite gelegt hatten, denn man war nie sicher, wann man wieder neue bekam.
Die vergessliche Grossmutter hilft der Mutter im Haushalt und geht spazieren. Sie erinnert
sich manchmal dunkel an jüdische Feiertage, wenn Doris sie der Familie erklärt. Laut Aussage
der Mutter, ist die Grossmutter einer der Gründe, weshalb die Familie Anja und Julian nach
Israel begleitet. Sie wolle Israel sehen, bevor sie sterbe. Anja ist der Ansicht, dass sie und die
Grossmutter sich nichts zu sagen haben. Doch die Grossmutter soll sich dahingehend geäussert haben, dass sie vor allem wegen ihrer Enkelin noch am Leben sei. Im Epilog erfährt die
Leserschaft, dass Anja ihre Grossmutter zu ihrem Leben interviewt hat.73
Der ‚Gutmensch’ Doris drängt sich seinen ‚jüdischen Freunden’ auf. Ganz stolz erzählt sie in
ihrem Bekanntenkreis von ihnen. Sie unterrichtet Anja und ihre Herkunftsfamilie nicht nur
über das Judentum, sondern will auch Weihnachten mit ihnen feiern.
73
Es ist nicht so, dass die Grossmutter schweigen würde, wie dies bei der Generation junger deutsch-jüdischer
Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Fall ist. Die Grossmutter steht für die Erinnerung, für die sich bis anhin
niemand interessiert hat. Es scheint, dass sie noch lebt, weil sie ihr Wissen ihrer Enkelin weitergeben will.
16
3.2
Inhalt
Anja erfuhr im Alter von sieben Jahren, dass sie jüdisch ist. In Russland durfte sie nicht über
ihr Jüdisch-Sein sprechen. Sie war elf, als sie mit ihren Eltern, ihrer Grossmutter und ihrem
Bruder anfangs der 90-er Jahre als jüdischer Kontingentsflüchtling nach Deutschland kam.
Hier schämte sie sich ihrer Eltern, weil sie sich als Russen anders verhielten als die Deutschen
und nicht korrekt Deutsch sprechen konnten. Sie setzte alles daran, in der Schule erfolgreich
zu werden und sich schnell zu integrieren.74
Erst durch Gutmenschen, welche Jüdinnen und Juden im Asylantenwohnheim besuchten, um
der Welt zu beweisen, dass die Deutschen sich auch anders verhalten können als während des
Dritten Reiches, lernte die Familie die jüdischen Feiertage kennen. Mit dreizehn las Anja Exodus und identifizierte sich mit den Protagonistinnen und Protagonisten.75 Sie wurde stolz auf
Israel. Sie zwang die Familie dazu, koscher zu essen, hielt alle Feiertage ein und besuchte die
jüdische Religionsunterweisung. Mit ihrem ersten Freund änderte sich ihre Einstellung drastisch: Sie wurde säkular und versuchte nun mit Witzen mit ihrem Jüdischsein umzugehen.
Wie alle Russen in Deutschland haben Anjas Eltern eine Satellitenschüssel auf dem Balkon.
Die Eltern leben sparsam, während Anja es geniesst, verschwenderisch zu sein. Der Vater
liebt sinnvolle Fernsehsendungen. Aus seiner Sicht sind alle klugen Köpfe im Fernsehen jüdischer Herkunft. Anja mag es nicht, wenn er jüdisches Opferdasein zur Selbstidentifikation
braucht. Die Mutter kümmert sich stark um ihre Tochter und beklagt sich darüber, dass diese
sie selten besuche, obwohl Anja einen intensiven Kontakt mit ihrer Herkunftsfamilie pflegt.
Sorgen macht sich die Mutter, weil ihr dreissigjähriger Sohn noch nicht verheiratet ist.
Nach der Trennung von ihrem Freund Jan lernt Anja in einem jüdischen Internet-Forum für
Singles Julian kennen. Er sucht jemanden, der ihn bei der Suche nach seiner Identität begleitet, nachdem er erfahren hat, dass sein Vater jüdischer Herkunft ist. Die Eltern seines Vaters
waren in Auschwitz umgebracht worden. Anja ist bereit, Julian Informationen über das Judentum zu geben. Als Erstes begleitet sie ihn zu einem Gespräch mit dem Rabbiner. Gerne
würde Julian mit ihr jede Woche die Synagoge besuchen. Sie will ihn nicht dorthin begleiten,
74
Gorelik 2007:175-177. Das Thema ‚Scham’ ist typisch in Biographien von Auswanderern. Vgl. Antin, Mary:
The Promised Land. Boston/New York: The Riverside Press Cambridge 1912. Auch Mary Antin schämte sich
wegen dem schlechten Amerikanisch ihres Vaters und setzte alles daran, sich möglichst schnell zu integrieren
und Karriere zu machen. Scham ist ein generelles Thema bei Gorelik: Die Protagonistin schämt sich wegen des
Verhaltens von Jüdinnen und Juden (z.B. 2007:47-52). Ihre Mutter hatte sich schon wegen ihrer Grossmutter
geschämt, weil diese jüdische Traditionen pflegte (z.B. 2007:174).
75
Uris, Leon M.: Exodus. New York : Double Day Edition 1958.
Zum Einfluss von Romanen auf Frauen s. Klüger, Ruth: Frauen lesen anders. München: Deutscher Taschenbuch
Verlag 4. Auflage 2002 und Lehnert, Gertrude: Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur. Berlin:
Aufbau Verlag 2000.
17
denn ihr Verhältnis zur jüdischen Gemeinde ist getrübt. In den 90-er Jahren war sie von den
ansässigen praktizierenden Jüdinnen und Juden ignoriert und verspottet worden.
Obwohl Anja mit Julians Aussehen und seinen Freunden Mühe hat und ihm einen Korb gegeben hat, ist sie sich ihrer Gefühle ihm gegenüber nicht sicher. Julian wird von einer orthodoxen Familie für Simchat Thora nach Strassburg eingeladen. Er bittet Anja, ihn dorthin zu
begleiten. Dort verliebt er sich in die Tochter des Hauses, Sarah. Auch sie bekundet Interesse
an ihm. Anja wird durch Sarah in ihrer weiblichen Identität verwirrt: Sie findet die junge,
orthodoxe Frau im langen schwarzen Kleid ohne Ausschnitt sexy und beginnt auf sie eifersüchtig zu werden. Ein Teil von Sarahs Familie wohnt in Israel. Julians Kontakt mit Sarah
darf nicht zu offensichtlich sein. Er möchte dorthin fahren und bittet Anja, ihn zu begleiten.
Sie war schon zwei Mal kurz in Israel gewesen. Bekannte ihrer Eltern hatten danach wissen
wollen, wie die Rückkehr in ihre jüdische Heimat gewesen sei. Anja weiss nicht genau, was
mit Heimat gemeint ist. Sie findet die Israelis laut und rücksichtslos. Israel ist für sie ein
scheinheiliges Land. Sie mag es nicht, dass ‚alles’ in Israel politisch ist. Deutsche Freunde, Julian inbegriffen, werfen ihr Palästinenserfeindlichkeit vor, während ihr israelische Verwandte
Palästinensersympathie zum Vorwurf machen.
Schliesslich will Anjas Herkunftsfamilie die beiden nach Israel begleiten. Die Mutter nimmt
die Hochzeit einer Verwandten zum Vorwand und beabsichtigt gleichzeitig, ihren Sohn mit
einer Israelin zu verkuppeln.
Auf der Suche nach seiner jüdischen Identität begibt sich Julian mit Anja zur Klagemauer
und zu Yad Vaschem. Diese Gedenkstätte bereitet ihm Mühe: Er weiss nicht, ob er Yad Vaschem als Deutscher oder Jude anschauen soll. Anja hingegen verbindet mit den Deutschen
kaum etwas. Vor allem nicht deren Vergangenheit. Im Gegensatz zu deutsch-jüdischen Bekannten ist von ihrer Verwandtschaft niemand von den Nationalsozialisten umgebracht worden. In ihrer Herkunftsfamilie gibt es keine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die
Grossväter hatten im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen gekämpft. Als Stalin starb, hatte
die Grossmutter wie Millionen anderer Russen geweint. Ihr Vater war stolzes Parteimitglied
gewesen, was Juden nur sehr selten werden durften. Obwohl der Urgrossvater in einem weissrussischen Schtetl eine Talmudschule geleitet hatte, hatte die Religion für die Familie bald
keine Relevanz mehr. Nur die Urgrossmutter hatte noch Gebete gesprochen und jüdische
Feste gefeiert. Anjas Mutter hatte sich ihrer geschämt, vor allem, als sie im Alter immer mehr
jiddisch zu sprechen begann.
Julian verbringt seine Zeit bei Sarahs Familie in Jerusalem. Anja begleitet ihn als ‚Anstandswauwau’ zu seinen Rendez-vous mit Sarah, setzt sich aber in den Kopf, ihr Julian auszuspan18
nen. Nach ausgiebigem Alkoholkonsum verbringt sie mit ihm eine Nacht am Strand. Wiederum möchte er wissen, woran er mit ihr ist. Seine Frage endet in Streit. Trotzdem kommt er
an die Hochzeit ihrer Verwandten, weil Sarahs Onkel Julians mütterliche Vorfahren suspekt
werden und sich die orthodoxe Familie deshalb von ihm distanziert.
Bei der Hochzeit der Cousine vierten Grades treffen sich Familienmitglieder, die aus allen
Teilen der Welt stammen. Ein Teil der Familie diktiert, was es heisst, ‚gut jüdisch’ zu sein:
Israel ist für sie das einzig wahre Land für Jüdinnen und Juden, Israelis die einzig richtigen
Partien für Töchter. Anja bekommt zu hören, dass es eine Schande ist, in Deutschland zu
leben. Julians Mutter hat inzwischen eine Israelin für Anjas Bruder ausgesucht. Diese scheint
den Bruder aber auch ohne das Zutun seiner Mutter zu interessieren. Das Verhältnis zwischen Anja und Julian bleibt weiterhin freundschaftlich, aber ungeklärt. Anja begibt sich nun
ihrerseits auf die Suche nach ihrer Identität und interviewt ihre Grossmutter zu ihrer Herkunft und ihrem Leben.
3.3
Bau
Der 255 Seiten umfassende Roman ist in einen Prolog, 43 Kapitel, die keine Überschriften
tragen, und einen Epilog gegliedert. Gerahmt wird der Roman von Julians Frage an die Protagonistin Anja, wer sie sei, resp. ob sie sich jüdisch fühle im Prolog und Anjas Suche nach
den Wurzeln ihrer Familie bei der immer vergesslicher werdenden Oma im Epilog. Genau in
der Mitte des Romans – nach Seitenzahlen – geht es um Anjas Vater und sein Verständnis
vom Jüdisch-Sein. In der Mitte – nach Kapiteln – geht es um den Besuch an der Klagemauer,
der Anja sehr unbeholfen gegenüber steht. Gleich danach kommt es zur Peripetie im Schicksal der Protagonistin.
Zugunsten besserer Übersichtlichkeit stelle ich den Bau des Romans in zwei Tabellen dar. In
der ersten sind von jedem Kapitel stichwortartig der Inhalt, der Ort, Hinweise auf den Stil
und die darin verwendeten Zeitformen, ersichtlich. Ein kurzer Kommentar steht in kursiver
Schrift.76 In der zweiten Tabelle sind der Handlungsverlauf und Rückblenden in frühere Zeitebenen dargestellt. Die Verlaufsanalyse dient der Entwirrung der verschiedenen Zeitebenen.
76
Ausführlicher Kommentar s. S. 32-34.
19
3.3.1 Überblick über die einzelnen Kapitel
Prolog
Vg.formen
Fragen,
Gegenfragen
Wer bist du?
Vor der Hochzeit
mit J., Skopusberg
Jerusalem
1 Rückblende
Vg.formen
beschreibend
Liebeskummer.
Herkunftsfamilie,
(Hund) Freunde:
Tipps.
Deutschland
5
Präs.
viel dir. Rede und
A.s Denkprozess
Date mit J.
2
3
Chats auf jüd. Singlebörse.
11. Juli 06
Deutschland
E-mails. A. stellt v.a.
Fragen. Kennenlernen
der Protagonisten
(einander/
Leserschaft)
Deutschland
6
Präs.
z.T. ind. Rede.
Reaktionen der
Freunde/der Familie
auf J. Besuch beim
Rabbiner.
Deutschland
7 Rückblende:
Vg.formen
Viel dir. Rede
Als ich sieben war ...
Eltern sagen A., dass sie
jüdisch ist,
Leben in
Russland
8
Präs.
Will nicht mit J. in die
Synagoge. Rückblende:
Vg.formen Einwanderung: von Juden ignoriert. Scham.
Deutschland
9
Präs.
Besuch bei J.s Vater.
Will nicht über Jüdisch-Sein sprechen.
(Auschwitz)
Betrinken.
Deutschland
11
Vg.formen und Präs.
beschreibend
Rückblende
Weihnachten in
Russland
Weihnukkivester in
Deutschland
12
Vg.formen
beschreibend/
z.T. dir.Rede
Rückblende
Asylantenheim, Gutmensch Doris und
Weihnachten
Deutschland
13
Vg.formen und Präs.
(warum?)
z.T. dir. Rede
C. und seine Frauenbeziehungen A.s Problem: Julian hat sie
geküsst.
Deutschland
15
Präs.
v.a. beschreibend
A.s und J.s ‚linke’
Freunde, J. fragt
A., ob sie nach
Israel komme.
Deutschland
16
Vg.formen
beschreibend
Rückblende:
zwei frühere
Aufenthalte
in
Israel
17
Vg.formen, Präs
viel dir. Rede mit
Oma/Mutter. Ganze
Familie kommt mit
nach Israel: Hochzeit in
Jerusalem (Bezug Titel)
Deutschland
18
Präs.
Viel dir. Rede
A. eröffnet dies J. Er
reagiert emotionslos,
dann angetan.
20: Mitte nach S.
Präs., z.T.
Vg.formen
(Rückblende)
v.a beschreibend
Vater und sein
Jüdisch-Sein. A.s
jüd.-dtsch.-russ.
Identität.
Russland/
Deutschland
25
Vg.formen und
Präs.
‚Als ich klein war,
liebte ich Geschenke...’ (Rückblende)
viel dir. Rede,
Mail von J. ‚Psych.’
Gespräch mit C.
Deutschland
21: Mitte nach Kap.,
Präs.
beschreibend: Ben
Gurion, Verwandtschaft Tel Aviv,
Taxifahrer, Jerusalem, Klagemauer.
22
Präs.
erzählend
A. hat Mühe mit ‚neuen
Leuten’. Kathrin und
Sarah.
Israel
Strassburg
Zunächst verwirrend, wann
ist das? (Peripetie)
27
Präs. und Vg.formen
beschreibend, z.T. dir.
und ind. Rede. Auseinandersetzung mit
Vergangenheit und
Herkunft. Russland und
Juden. Vater: Kommunist. Urgrossvater, Urgrossmutter. Scham.
Im Bus nach Haifa
23
Präs., z.T. Vg.formen
viel dir. Rede (Rückblende) J. hat A. in orth.
Familie für Simchat
Thora mitgenommen.
Verwirrung weibl. jüd.
Identität durch ‚sexy
Sarah.’ Strassburg.
Zunächst verwirrend, wann
ist das? (Peripetie)
28
Präs. und Vg.formen
beschreibend, z.T. dir.
und ind. Rede.
Kennenlernen der
Eltern. Problem Bruder: ist noch nicht
verheiratet.
14
Vg.formen
1. Rückblende
Erzählend/ind. Red.
Rabbiner: A.s traurige
Augen. Pubertät.
2. Rückblende
z.T. dir. Rede
Itzaak: A.s Augen
Deutschland
19
Präs.
z.T. dir. Rede, beschreibend (Juden/
Israelis) Flugangst.
Vater meint, A. passe
nicht zu J.
Am Flughafen, im
Flugzeug nach Israel
24
Präs.
viel dir. Rede
Retourfahrt. A. ist
krank, wütend, J. cool.
Im Zug nach
Deutschland
Deutschland
10
Präs.
viel dir. Rede
Telefongespräch
mit J., hat ‚es’ seinen Freunden
erzählt. Jüd. Witz.
Deutschland
26
Präs. und Vg.formen
viel dir. Rede
Scheinheiliges Land,
wo alles politisch ist.
Identität A.s und J.s.
Im Bus und im Suk,
Israel
Hier klar: letzte Kapitel
waren vorher.
Deutschland
4
Präs.
viel dir. Rede.
Telefon mit C. über
das Date. Was anziehen?
Deutschland
J. kennt A.s Familie noch
nicht, musste also vorher
sein. (Peripetie)
29
Präs. und Vg.formen
(Rückblende) viel dir.
Rede.
Thema Sex in der
Familie. Bruder soll
Hebräisch im Bett
lernen. Ganze Familie
mit Bruder am Falafelstand.
Israel
20
30
Präs.
beschreibend,
SMS von J., es sei
schön mit Sa.
Klarheit für A.
Haifa.
Wie und warum
kommt Sarah nach
Israel?
31
Vg.formen Warum?
viel dir. Reden, A.s
Gedanken.
J. sagt A., dass er in
Sa. verliebt sei. A.
heult, obwohl sie J.
hat abblitzen lassen.
Tel Aviv
32
Präs.
erzählend
A. begleitet J. zum Date
mit Sa., putzt sich dafür
heraus. Ist in Kontakt
mit C., findet dies erniedrigend.
Jerusalem?
33
E-mail an C.
14. Okt. 2006.
Über Schabbat und
über Date von J. mit
Sa. A. weiss nicht, was
sie von J. will.
35
Präs.
Vorstellung, wie
Mann und Frau
sein müssen aus
Serien. J. ist das
Gegenteil. Trotzdem Liebesszene
mit J. am Strand
von Tel Aviv.
36
Präs.
Am Morgen danach:
J. und A. trennen
sich. A. geht zu
Verwandten.
Tel Aviv.
37 Längstes Kapitel
Präs.
v.a. beschreibend: Bat
Yam: Sowjetunion von
Israel, Familie aus der
ganzen Welt.
Rückblenden: Präs. (Warum?) A.s Amerikaaufenthalt bei Verwandten
Israel und USA
38
Präs.
Viel dir. Rede und A.s
Gedanken.
J. will wissen, woran er
ist. A. weiss es selber
nicht. Lässt ihn abblitzen, ist wütend. J.
nimmt Bus nach Jerusalem.
Tel Aviv?
Wann ist das passiert?
39
Präs.
dir. Rede und erzählend
Bekanntschaft mit
Schmuel. War aus
Deutschland geflohen.
Hat Angst wie damals:
Raketen im Norden.
Busfahrt HaifaJerusalem.
40
Präs.
z.T. dir. Rede,
erzählend.
A. hat nichts mehr
von J. gehört seit
dem Streit (welchem?). Nun Streit
mit Vater.
Tel Aviv
41
Präs.
v.a. beschreibend
Vor der Hochzeit:
Mutter hat Begleitung für Bruder
gefunden. A.s Problem: sonnenverbrannte Nase =
Verbindung zu Kp. 39
und zum Prolog.
42
Präs.
dir. Rede: Telefon von
J. Sa. ist komisch zu
ihm, seit ihr Onkel
nach der Rolle seiner
Familie in der Nazi-Zeit
gefragt hat. Kommt an
Hochzeit.
Jerusalem
43
Präs.
Hochzeit der Cousine.
Alle weinen. Bruder
fordert Alina freiwillig
zum Tanzen auf.
J. tanzt nicht mit A.,
aber teilt Rose mit ihr.
Jerusalem
Epilog
Präs.
z.T. dir. Rede
J. hat A. Album mit
Erinnerungsphotos
geschenkt. Beschäftigung mit der Grossmutter: A. hat sie zu
ihrem Leben interviewt.
Flug nach Toronto
Sa. = Sarah
C. = Chris
A. = Ich, Anja
J. = Julian
Jerusalem
34
Präs.
v.a. beschreibend
Kontakt mit Verkäufer Mahmud, erfährt
von Problemen der
arab. Israeli und von
durch Israelis schikanierten Ärzten.
Suk von Jerusalem
21
3.3.2 Verlaufsanalyse
Erklärungen: Präs.=Präsens, Vg.=Vergangenheitsformen, RB=Rückblick auf der Zeitebene
der Romanhandlung. Zahlen=Kapitelnummerierung. Vertikaler Pfeil=Zeitebene des Prologs.
Rechts des Pfeils: Handlung davor, links: Handlung danach. Horizontale Striche=Zeitebene
vor der Handlung des Romans. Je weiter rechts sich etwas befindet, umso weiter liegt es zeitlich zurück.
22
3.4
Zeitformen, Zeitebenen, Zeitrahmen und Orte der Handlung
Im Gegensatz zum ersten Roman ist der zweite nicht durchgehend im Präsens geschrieben.
Vielleicht hat Gorelik damit auf Kritiker reagiert. 77 Sie verwendet alle Zeitformen. Die Zeitebenen sind jedoch verwirrend, was an den verwendeten Zeitformen liegt. Es stellt sich die
Frage, ob Gorelik bewusst damit umzugehen weiss. In Kapitel 14 verwendet Gorelik durchgehend Vergangenheitsformen. Es würde mehr Sinn machen, wenn der Teil mit Itzaak im
Präsens wäre. Verwirrend wirken zunächst auch die Kapitel 22-24, die in Strassburg handeln
und im Präsens geschrieben sind. Erst später wird klar, dass sich die Handlung in dieser Stadt
vorher abgespielt haben muss. Unklar bleibt auch, warum Gorelik in Kapitel 13 Präsens und
Vergangenheitsformen und in Kapitel 31 nur Vergangenheitsformen verwendet. Um Stilmittel scheint es sich hier nicht zu handeln.
Der Roman handelt im Jahre 2006. Genaue Datierungen sind aus den Mails bekannt: Sie
sind zwischen dem 11. Juli und dem 14. Oktober 2006 verfasst. Die Romanhandlung beginnt
kurz vor dem ersten Mail und endet kurz nach dem letzten. Der Epilog ist der einzige Teil,
der nach dem Oktober 2006 angesiedelt sein muss. Es wird auch auf Zeitebenen in Russland,
Deutschland und in den USA, die nicht der Zeitebene der Handlung des Romans entsprechen, zurückgegriffen. So gibt es Rückblenden in die weit zurückliegende Vergangenheit der
in Russland lebenden Vorfahren, in die frühe Kindheit der Protagonistin in der UdSSR, in
die Zeit der Einwanderung in Deutschland und in eine Zeit, welche die Protagonistin bei
Verwandten in den USA verbrachte. Die Romanhandlung spielt sich aber v.a. in Deutschland und Israel ab: in Tel Aviv, Jerusalem, Haifa, Bat Yam. Es gibt nur einige wenige Kapitel,
die in Strassburg handeln.78
3.5
Genre
Gorelik nennt Hochzeit in Jerusalem einen Roman.79 Obwohl in der Ich-Form über die Erlebnisse und deren psychische Verarbeitung und Integration durch die Protagonistin berichtet
wird, kann er nicht als Entwicklungsroman (Bildungsroman) bezeichnet werden.80 Denn Goreliks Roman umfasst nur eine sehr kurze Zeitspanne. Die Reflexionen über das eigene Ich,
77
S. Kritik von Rotschild, Thomas: Der Berg, der Prophet und Kartoffelsalat. Kinderblick. Lena Gorelik debütiert mit ‚Meine
weissen Nächte’’. Freitag 42 vom 8. Dezember 2004: www.freitag.de/2004/42/04422501.php
78
In den USA und in Israel leben die meisten Jüdinnen und Juden: In den USA 5,3 Millionen, in Israel 5 Millionen. Friedrich et al 2006:174.
79
Zur Definition des Romans s. z.B. Bode, Christoph: Der Roman. Eine Einführung. A. Franke Verlag: Tübingen/Basel 2005. Wie im postmodernen Roman üblich liegt auch bei Gorelik ein spielerischer Umgang mit verschiedenen Formen der Tradition, eine Vorliebe für Selbstreflexivität und die Verschachtelung verschiedener
Erzählebenen vor. Vgl. Burdorf, Dieter/Fasbender, Christoph/Moenninghoff, Burkhard (Hg.): Metzler Lexikon
Literatur. Begriffe und Definitionen. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler 2007:661-662.
80
Zur Definition des Bildungsromans s. Burdorf et al: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 2007:88-89.
23
das Jüdisch- und Frausein und das Erwachsenwerden werden zudem nicht in die Linearität
eines herkömmlichen Bildungsromanes gezwängt.81 Gorelik präsentiert eine Art Collage mit
verschiedenen literarischen Formen. Die Leserschaft muss die Ereignisse selber in eine logische zeitliche Abfolge setzen. Prolog, Epilog und Peripetie erinnern an das griechische Drama. Im Prolog kündigt ein Dialog zwischen Julian und Anja den Beginn einer dramatischen
Handlung an.82 Obwohl Hochzeit in Jerusalem literaturwissenschaftlich gesehen kein Drama ist,
ist die Handlung ‚dramatisch’, d.h sie ist z.B. von kollisionsreichen Beziehungen geprägt,83
was mit dem humorvollen, leichtfüssigen Stil kontrastiert. Gorelik nutzt die Möglichkeit der
Rahmentechnik von Prolog und Epilog. In ihrem Prolog führt sie in ihr Hauptthema Identität
ein.84 Im Epilog fasst sie – wie das schon in der Antike üblich war – die Kernpunkte ihres
Werks zusammen.85 Dabei schöpft sie aber die Möglichkeiten des Epilogs nicht voll aus.86
Goreliks Roman kann als eine Form der Selbstdarstellung verstanden werden, mittels derer
sie sich reflektiert.87 Über die narrative Form des Romans macht sie die Entwicklung ihres
Ichs explizit und bringt so die Einheit eines identitären Sinnzusammenhangs zum Ausdruck.
In ihrer Form der Selbstdarstellung orientiert sie sich an kulturellen Konventionen: Der Roman ist ein literarisches Genre, dem in Russland grosse Bedeutung zukommt. Mit diesem
Genre gibt sie ihrer dargestellten Geschichte und Entwicklungssequenz das Gewicht des Ausserordentlichen und Mitteilungswerten und verortet sich gleichzeitig kulturell in Russland.88
Mit Hilfe ihres Romans konstruiert und rekonstruiert sie Erfahrung in narrativer Formgebung. Sie setzt die wechselnden Konzepte des Selbst zu bestimmten soziokulturellen Räumen
in Beziehung: Dies sind z.B. die deutsche Aufnahmegesellschaft, die deutsch-jüdische Gemeinde, die amerikanisch-jüdische Gesellschaft, die israelische Gesellschaft, die emanzipierten
deutschen und die orthodoxen jüdischen Frauen .
81
Heute ist es nicht mehr – wie im ursprünglichen Entwicklungsroman – möglich, dass eine Protagonistin eine
Sozialisation durchmacht und schliesslich mit einer festumrissenen Rolle und Identität positiv in der Gesellschaft
integriert ist.
82
Zum Begriff ‚Prolog’ vgl. Träger, Claus (Hg.): Wörterbuch der Literaturwissenschaft. Leipzig: Bibliographisches
Institut 1985:415.
83
Zum Begriff ‚dramatisch’ vgl. Träger: Wörterbuch der Literaturwissenschaft 1985:120.
84
Zum Begriff ‚Prolog’ vgl. Burdorf et al: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 2007:611-612
85
Dies sind Themen wie Heirat, Familie, Suche nach Identitätsfragmenten, Ängste.
86
Zu den Möglichkeiten des Epilogs vgl. Burdorf et al: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen 2007:195196. In Dramen bildet der Epilog (zusammen mit dem Prolog) einen metatextuellen, ausserhalb der Handlung
angesiedelten Rahmen, der zwischen Autor, Text und Publikum vermittelt und die Rezeption leitet. Diese Vermittlung und die Leitung der Rezeption hätte noch ausgebaut werden können.
87
Zum ‚autobiographischen Schreiben’ s. S. 4-5.
88
Romane haben in Russland eine grosse Tradition. So knüpft Gorelik mit dem Titel ihres ersten Romans an
Dostojewski an. S. Anm. 7.
24
3.6
Titel und Spannungsaufbau
Schon der Prolog, der aus einer späteren Perspektive als die nachfolgenden Kapitel geschrieben ist, nimmt auf den Titel Bezug. Die Leserschaft sieht sich kurz vor einer Hochzeit in Jerusalem, von der sie zunächst annimmt, dass es sich um diejenige von Anja und Julian handelt.
Auch die ersten Kapitel verleiten zu dieser Annahme: Sie beschreiben, wie Anja Julian in einer jüdischen Internet-Single-Börse kennen lernt. Den Link hat sie von ihrer Mutter erhalten,
die den Wunsch nach Enkelkindern äussert. Julians Entscheid nach Israel zu fahren und der
Beschluss von Anjas Herkunftsfamilie, ihn und Anja dorthin zu begleiten, bestärken diese Annahme. Dann jedoch beginnt ein Verwirrspiel und damit ein Spannungsaufbau durch viele
Kapitel hindurch. Bis fast zum Schluss ist nicht mehr klar, auf wessen Hochzeit im Titel angespielt wird: Das vorgeschobene Argument der Mutter nach Israel mitzukommen ist die Hochzeit einer Cousine vierten Grades in Jerusalem. Erst spät erfährt die Leserschaft, dass Julian
sich in eine orthodoxe Jüdin verliebt hat, deretwillen er nach Jerusalem fährt. So stellt sich die
Frage, ob es wohl um diese Heirat geht. Die Mutter will ihren Sohn mit einer Israelin verkuppeln. Also könnte der Titel auch auf diese Hochzeit anspielen. Auch wenn am Schluss klar
wird, dass es sich vordergründig bei der Hochzeit in Jerusalem um diejenige der Cousine
handelt, wird hintergründig auf Anjas ‚hohe Zeit’ auf dem Skopusberg verwiesen. Im Prolog
wird noch eine Glücks- und Ruhezeit einer nachpubertären Anja im Schosse Julians an der
Sonne beschrieben. Seine Frage, die zwar nicht ein Heiratsantrag ist, ist doch die Schlüsselfrage, welche Anja dazu bewegt, die Suche nach ihrer Herkunft bei ihrer Grossmutter aufzunehmen. Seine Frage und sein Suchen nach seinen Identitätsfragmenten, der die Leserschaft
durch den ganzen Roman folgen kann, bewirkt die Wende von der kindlichen Anja zur erwachsenen Frau. Am Schluss ist sie trotz Flugängsten alleine unterwegs.
Der Titel Hochzeit in Jerusalem erinnert an den typisch jüdischen Wunsch, dem an Rosch-ha
Schana Ausdruck verliehen wird: Nächstes Jahr in Jerusalem, der Wunsch nach Heimkehr in die
ursprüngliche Heimat.89
3.7
Stil
Gorelik verwendet moderne Kommunikationsformen als Gestaltungsmittel. Sie zitiert Chats,
E-mails, SMS. Im E-mail Verkehr mit Julian stellt die Protagonistin v.a. Fragen. Auf seine
Fragen antwortet sie mit Gegenfragen, wobei sie oft enge Fragen an ihn stellt. Es kommen
viele direkte Reden, viele Gedanken Anjas, die unausgesprochen bleiben und Gesagtes kom89
Rosch ha-Schana ist das jüdische Neujahrsfest. Weiterführende Informationen dazu Galley, Susanne: Das
jüdische Jahr. Feste, Gedenk- und Feiertage. München. Verlag C.H. Beck 2003:52-64.
25
mentieren, vor. Gorelik schreibt meist kurze und einfache Sätze. Im Gegensatz zu einigen
ihrer Schriftstellerkolleginnen und -kollegen verwendet sie keine jiddischen, hebräischen oder
aramäischen Ausdrücke.90 Sie zitiert Vorurteile gegenüber ihrer Generation, gegenüber Russen, Israelis, Juden, Frauen und macht sich gleich darüber lustig. Humor ist das wichtigste
Stilmittel dieses Romans.
3.8
Jüdische Fragmente
Da die jüdische Gesellschaft nicht homogen ist und es keine allgemein gültige Definition von
Identität gibt, also mit heutiger jüdischer Identität keine Ganzheitlichkeit und keine Ungebrochenheit des Bewusstseins vorausgesetzt werden kann, spreche ich im Folgenden von jüdischen Fragmenten.91 Was den Stil des Romans anbelangt, findet sich in Hochzeit in Jerusalem
das Fragment des jüdischen Humors.92 Was den Inhalt anbelangt, sind bei der Protagonistin
ein paar wenige jüdische Traditionsfragmente und russisch-jüdische, resp. deutsch-jüdische
Identitätsfragmente auszumachen. Die Themen Israel, Vergangenheit und Herkunft können
ebenfalls als jüdische Fragmente betrachtet werden. Die Protagonistin führt die verschiedenen
Fragmente im Satz: „Ich bin einfach ich.“ zusammen.93
3.8.1 Jüdischer Humor
Jüdischer Humor ist das stärkste jüdische Fragment des Romans. Gorelik erklärt jüdischen
Humor und ihren Zugang dazu folgendermassen: „Jüdischer Humor bedeutet, ganz stark über sich
selbst lachen zu können. Denn in jüdischen Witzen geht es ja zum Beispiel nicht um Christen, sondern um
Juden ... Mein Vater macht die ganze Zeit Witze. Nonstop! Das hat mir immer sehr geholfen. Egal wie
schlimm die Zeiten waren, man lacht einfach darüber.“94
Es liegt bei Gorelik eine Mischung von Selbstironie und Chuzpe anderen gegenüber vor. Wie
im jüdischen Witz üblich, macht sich die Protagonistin des Romans über sich selber lustig: So
überzeichnet sie ihren Liebeskummer, ihre Flugangst, ihre Besitzansprüche, alles Gefühle, mit
90
Vgl. Schruff 2000:28.
Aus verschiedenen Fragmenten wie Tora, Aufklärung, Zionismus, Israel, Heimat, Antijudaismus, Schoa usw.
kann die eigene jüdische Identität immer wieder neu konstruiert werden. Vgl. Schruff 2000:33-52
92
Ein anderes stilistisches jüdisches Fragment ist das Antworten auf Fragen mit Gegenfragen; s. S. 25 unten.
93
Gorelik 2007:8
Das Sich-Bewegen in verschiedenen Welten prägt Identitätsfragmente. Dass dies bei der Schriftstellerin der Fall
ist, wird bei den Widmungen ersichtlich. Hochzeit in Jerusalem ist Tanja, der allerbesten jüdischen Freundin der
Welt – damit ist wahrscheinlich Tanja Graf, ihre Förderin und Verlegerin gemeint – ihren Freunden, die
Deutschland zu ihrer Heimat machten, ihrer Familie, die wunderbar russisch-herzlich ist, und Peter, ihrem langjährigen, jüdischen Partner gewidmet. Zu der Rolle von Peter in Goreliks Leben s. Ihre grünen Augen Interview
vom 1. Juli 2006, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr.26, S. 57, auch im Belletristik – Feuilleton von
FAZ.NET: www.faz.net/s/Rub79a33397BE834406A5D2BFA87FD13913/Doc
94
Ludwig, Kathrin: Deutsch mit Pippi Langstrumpf gelernt! Welt Online 7. April 2007
www.welt.de/kultur/literarischewelt/article796711/Deutsch_mit_Pippi_Langstrumpf_gelernt.html
91
26
denen sie sich fast krankhaft beschäftigt.95 V.a. macht sie sich über ihr Desinteresse und über
ihre Unkenntnis betreffend ihrer Wurzeln und jüdischer Traditionen lustig.96 Schonungslos
beschreibt sie ihr von Fernsehserien geprägtes Verständnis von Frau- und Mannsein. Wer
nicht diesen Klischees entspricht, kommt schlecht weg: Chris, dessen Frauenbeziehungen nie
länger als ein paar Wochen dauern, und Julian, der wie ein Freak aus einer High School Komödie aussieht und deshalb keine Freundin findet.
Gorelik nimmt Jüdinnen und Juden jeglicher Couleur und Herkunft aufs Korn. Den Israelis
gegenüber ist Gorelik gnadenlos. „Unser Taxifahrer ist ein echter Israeli: An seinem Gürtel hängen zwei
Handys, und in einer Fahrschule war er mit Sicherheit nie ... Die Funktion des Blinkers scheint sich noch nicht
herumgesprochen zu haben, dafür ist es hier wohl strafbar, wenn man länger als ein paar Sekunden in derselben
Fahrspur bleibt. Wenn irgendwo ‚Slow down’ auf einem Schild steht, ... gibt er Gas. In Minutenabständen
hupt er, auch wenn gar keiner stört ... Wie fast alle unorthodoxen männlichen Israelis sieht er unverschämt gut
aus.“97 Gorelik nimmt alle möglichen Klischees gegenüber Jüdinnen und Juden auf. Anja hat
z.B. ein Schild, auf dem steht, wie Juden auszusehen haben und was sie tun sollen: Sie tragen
alle schwarze Kaftane, haben lange Nasen und bringen Araber um. Ukena formuliert treffend: „Lena Gorelik gelingt mit ihrem leichtfüssigen Humor eine Geschichte, die jedes Klischee, das ihr begegnet, ironisch zu wenden versteht.“98
Auffallend ist, dass Gorelik sich kaum über die Mentalität der Deutschen und die Politik des
heutigen Deutschland mockiert.99 Über die Zustände in der ehemaligen UdSSR hingegen
macht sie sich lustig.
Balzer schreibt in seiner Rezension: „Ein Roman voll mit Woody-Allen-Humor und dementsprechend
komisch-absurden Situationen.“100 In der Tat hat Gorelik einen gewissen Woody-Allen-Humor:
Sie macht sich über die jüdische Aufsteigerin in der Aufnahmegesellschaft lustig. Die Protagonistin hat einen guten Beruf, shoppt gerne und umgibt sich mit Freundinnen mit teuren
Autos und trendigen Handtaschen. Gorelik nimmt das Verhalten ihrer eigenen Generation
auf die Schippe: z.B. deren Konsumverhalten und die Angewohnheit, Probleme mit Alkohol
95
Vgl. Hypochondrie S. 12 und Anm. 54.
Zu Goreliks jüdischen Traditionsfragmenten s. S. 28-29.
97
Gorelik 2007:133-134.
98
Ukena, Silja, Merkur, zitiert unter Pressestimmen, SchirmerGraf Verlag 18.September 2007
www.schirmer-graf.de/index/gorelik_07_01.html
99
Eine der wenigen bitterbösen Ausnahmen: „Wir waren sechzig Juden ... in Holzbaracken untergebracht. Hinter Stacheldraht. Wir waren Kontingentsflüchtlinge ... ein Signal an die Welt, dass das wieder vereinigte Deutschland ein anderes ist. Ein
Deutschland, in das die Juden gerne kommen, freiwillig. Wie schön.“ (2007:77-78) Goreliks Kritiklosigkeit gegenüber
Deutschland könnte ein Hinweis darauf sein, dass sie Loyalität zum Aufnahmeland empfindet. Vgl. dazu auch
hundert Jahre früher Mary Antins Loyalität gegenüber dem Gastland Amerika (Antin: 1912). Ein Gegenbeispiel
dazu ist die zeitgenössische russischstämmige amerikanisch-jüdische Schriftstellerin Belomlinskaja. Belomlinskaja
Julia: Apfel, Huhn und Puschkin. Meltendorf, Friederike (Trad.) Berlin: Verlag Matthes & Seitz 2007.
100
Balzer, Vladimir: Anjas Welt. Deutschlandradio Kultur. Radiofeuilleton: Buchkritik vom 18.09.2007
www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/67078
96
27
zu lösen.101 Auch das Motiv der Psychoanalyse nimmt sie auf. Die Protagonistin überlegt sich,
ob sie sich wegen ihrer Eifersucht und ihrem Neid in eine Psychoanalyse begeben soll. Doch
ihr Freund Chris, dessen Hobby die Psychologie ist, nimmt dessen Rolle ein. Wie im amerikanisch-jüdischen Humor wird die Mutter in den Stereotypen der jiddischen Mame beschrieben. Anja ist das weibliche Gegenstück zu Woody Allen: Eine Antiheldin. Im Gegensatz
zu Woody Allen fehlt der obligate Witz über das Christentum. Möglicherweise weiss Gorelik
darüber zu wenig. Die Szenen mit Doris sind sowohl Selbstkritik, wie auch Kritik an den
Gutmenschen, nicht aber unbedingt Witz über das Christentum im Allgemeinen.102 Wie bei
den jüdischen Amerikanerinnen und Amerikanern ist Weihnachten bei Gorelik ein Thema.103
Sie macht sich über ihre russische Affinität dazu lustig.
Doch macht die Protagonistin sich nicht nur über alle und alles lustig, sie reflektiert Witz
auch: „Als die Hamas vor ein paar Tagen wieder mit Selbstmordattentaten drohten, löste das in Deutschland
mehr Besorgnis aus als hier. Meine Freunde schrieben mir E-mails, in deren Betreffzeile stand:‚Lebst du noch?’
Die Israelis hingegen machen Witze. Man mag geteilter Meinung darüber sein, wie makaber Witze sein dürfen und wo die Grenzen liegen. Sind Holocaust-Witze erlaubt? Wo beginnt ein rassenfeindlicher Witz? In
Israel sind Selbstmordattentäter-Witze an der Tagesordnung. Sie verbreiten sich in Windeseile in den Strassen,
in den Medien, sogar in meiner Familie. Anfangs zucke ich zusammen bei jedem einzelnen Spruch dieser Art.
Anfangs denke ich über psychologische Phänomene nach, etwa Verdrängung. Erkläre mir, dass die Israelis keinen anderen Weg sehen, mit der alltäglichen Gefahr umzugehen. Mit der Zeit muss ich selber über manchen
Witz lachen.“104 Hier spielt sie darauf an, wie Israelis mit ihrer Furcht vor dem Terror mittels
makabren Sprüchen umzugehen versuchen.105
3.8.2 Jüdische Traditionsfragmente
Anjas religiöse Phase nach der Lektüre von Exodus ist nur von kurzer Dauer. Danach versteht
sie sich als säkulare Jüdin, die zwar noch ab und zu das Schma betet, aber nicht gerne die
Synagoge besucht und nicht einmal weiss, ob sie überhaupt Mitglied einer Gemeinde ist.106
An der Klagemauer beschreibt sie ihr Gottesverhältnis als kindlich. Für die Orthodoxie hat sie
lediglich Spott übrig.
101
Wobei Alkohl nicht nur eine beliebte Verdrängungsmöglichkeit für europäische Jugendlichen darstellt. Anja
betrinkt sich mit Wodka, ein in Russland generell verbreitetes Suchtmittel.
102
Gorelik 2007: Kapitel 11 und 12
103
Vgl. amerikanisch-jüdischer Humor S. 13.
104
Gorelik 2007:163-164
105
Vgl. israelischer Humor S. 13-14.
106
Dass die Protagonistin Anja nicht gerne in die Synagoge geht, begründet sie damit, dass sie als Kontingentsflüchtling von den in Deutschland ansässigen Jüdinnen und Juden ignoriert, resp. verspottet wurde. Die Ablehnung der Kontingentsflüchtlinge von der seit 1945 in Deutschland ansässigen jüdischen Bevölkerung wird auch
von Beckers Interviews (2001) gestützt.
28
Mit Ausnahme der Simchat Thora-Feier in Strassburg, welche nur erwähnt, nicht aber beschrieben wird, da sich nur Julian dafür interessierte, ist Chanukka das einzige im Roman
erwähnte jüdische Fest.107 Bei Anja ist es mit Weihnachten verbunden. Dieses Fest wurde in
der UdSSR ohne Bibel, aber mit einem Silvesterbaum und einem Weihnachtsmann, gefeiert.
Im ersten Jahr in Deutschland wurden in Anjas Herkunftsfamilie an Weihnachten noch Geschenke ausgetauscht, im zweiten entdeckten die Buchmanns ihre jüdische Seite und feierten
Chanukka. Anjas Fest heisst heute Weihnukkivester und dauert von Mitte Dezember bis anfangs Januar. In welcher Form Anja heute Chanukka feiert, erfährt die Leserschaft nicht.108
Heirat, worauf schon im Titel angespielt wird, ist ein wichtiges Thema des Romans. Die Familie spielt im Judentum eine grosse Rolle. Wie der Zusammenhalt über die ganze Welt funktioniert, wird in diesem Roman anschaulich beschrieben. In der heutigen Zeit gibt es jedoch
immer mehr Mischehen. Julian repräsentiert das Problem der Menschen, die aus solchen
Verbindungen stammen. Er ist zwischen der Täter- und Opfer-Identität hin- und hergerissen,
als es um die Besichtigung von Yad Vaschem geht. Seine Beziehung zur orthodoxen Sarah
scheitert an seinen deutschen Vorfahren mütterlicherseits.
In diesem Roman kommt zum Ausdruck, wie die wenigen Traditionsfragmente von Frauen
gelebt und weitergegeben werden: Die Urgrossmutter lebte jüdische Traditionen noch, obwohl dies schon zu ihrer Zeit unüblich war: Sie feierte die jüdischen Festtage, sprach Jiddisch
und verkuppelte ihre Enkelin, Anjas Mutter. Diese führt diese Tradition weiter, indem sie für
ihren Sohn eine israelische Frau sucht. Später macht sie sich auch für Anja auf die Suche
nach einem geeigneten jüdischen Mann, nachdem sie ihr zunächst noch freie Hand gelassen
hat.109 Enkelkinder sind ihr grösster Wunsch. Einer der Gründe, weshalb die Grossmutter
noch lebt, ist ihre Enkelin. Auch wenn die Leserschaft nichts über Anjas Interview mit ihr
erfährt, ist davon auszugehen, dass sie ihr Informationen über ihre Herkuft und über jüdische
Traditionen weitergibt.
107
Chanukka gehört nicht zu den wichtigen jüdischen Festen. So wird während dieser Zeit gearbeitet. Chanukka
beginnt am 25. Kislev und dauert acht Tage. Das Fest fällt mit der Advents- und Weihnachtszeit zusammen.
Chanukka ist ein Lichterfest und dient der Erinnerung an die Tempelweihe im Jahre 164 v.u.Z. Eine Bedeutung
bekam der Festtag v.a. wieder durch den Zionismus. Weiterführende Informationen: Galley 2003:101-112.
108
Dass russischstämmigen Jüdinnen und Juden Weihnachten näher ist als Chanukka, daran stossen sich in
Deutschland viele eingesessene Jüdinnen und Juden.Vgl. Becker 2001:69.
109
Heirat, Ehe und Familie ist das Wichtigste für eine jüdische Frau. Die Ehe ist eine religiöse Notwendigkeit
und gilt als zentrale Mizwa (Gebot). Nach der Schule Hillels (M Jeb 6,6) soll jedes Ehepaar in Anlehnung an Gen
5,2 mindestens einen Sohn und eine Tochter haben. Auch bei säkularen Jüdinnen und Juden hat die Ehe einen
hohen Stellenwert. Weiterführende Informationen zur Heirat und Ehe s. Herweg, Monika Rachel: Die jüdische
Mutter. Das verborgene Matriarchat. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994:40.
29
3.8.3 Russisch-jüdische und deutsch-jüdische Identitätsfragmente
Als die siebenjährige Protagonistin nicht mit der unsympathischen Mascha spielen will und
dies mit deren Jüdisch-Sein begründet, erklären ihr die Eltern, dass auch sie jüdisch ist. Sie
erfährt jedoch nicht, was dies konkret bedeutet. Die Leserschaft kann nur vermuten, wie
schwierig die Situation für Anja ist, sich mit diesem Mädchen ‚im gleichen Topf’ zu sehen.
Die Welt wird eng, schränkt sich auf die Familie ein, da sie dieses neue Wissen verheimlichen
muss. Anja mag die Herzlichkeit ihrer russisch-jüdischen Herkunftsfamilie. Anderen jüdischen
Russinnen und Russen steht sie distanziert gegenüber. Sie weigert sich, in Deutschland Russisch mit ehemaligen jüdischen Sowjetbürgerinnen und -bürgern zu sprechen.110 Anjas russisch-jüdisches Identitätsfragment ist ihre Herkunftsfamilie. Der Zusammenhalt hatte sich
wahrscheinlich wegen des jahrelangen Verheimlichens ihres Jüdisch-Seins noch zusätzlich
verstärkt.
Als Anja elf ist, sagt der Rabbiner, dass in ihren Augen die Traurigkeit des ganzen jüdischen
Volkes zu sehen sei. Jüdisch-Sein wird in Deutschland mit dem ‚massenhaften Leid der Schoa’
konnotiert. Anja distanziert sich von dieser Auffassung, die ihr Vater übernommen hat.
Nachdem eine kurze, pubertäre Selbststilisierung als Jüdin durch die erste Liebe abgebrochen
wird, versteht sich Anja als säkular. Zwar fühlt sie sich nicht wirklich als Deutsche, doch während der WM schlägt ihr Herz eindeutig für Deutschland. Sie hat Schwierigkeiten fremden
Menschen in Israel gegenüber zu ihrer Existenz als Jüdin in Deutschland zu stehen:111
Schmuel gegenüber, der 1939 aus Deutschland geflohen ist, verschweigt sie, dass sie jüdisch
ist. Auch dem palästinensichen Verkäufer Mahmud, der sie als Deutsche identifizieren kann,
verrät sie ihre jüdische Identität nicht. Ihrer israelischen und amerikanischen Verwandtschaft
gegenüber definiert sie sich als deutsch-jüdisch: Deutsch sei ihre Sprache. Von den heutigen,
jungen deutschen Christinnen und Christen unterscheidet sie sich dadurch, dass sie ab und zu
110
Anjas Verhalten jüdischen Kontingentsflüchtlingen gegenüber könnte auch dadurch erklärt werden, dass
diese manchmal eine Konsummentalität an den Tag legten und nicht bereit waren, sich in die neue Gesellschaft
zu integrieren und Deutsch zu lernen. Ein gewisser Prozentsatz jüdischer Kontingentsflüchtlinge war nicht jüdischer Herkunft; s.Anm. 35. Erst seit 2005 sind ausreichende Grundkenntnisse der deutschen Sprache und das
Bestehen einer Glaubensprüfung bei der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden in Berlin für die Aufnahme in
Deutschland vonnöten. Vgl. zum Kontingentsflüchtlings-, resp. Zuwanderergesetz in Deutschland ab 2005:
Migration und Bevölkerung. Newsletter. Ausgabe 6. Juli 2005. Deutschland: Einigung bei der jüdischen Zuwanderung.
www.migration-info.de/migration_und_bevölkerung /artikel /050605.htm
Gorelik sagte in einem Interview, dass es 1992 in Deutschland noch keine russischen Zeitungen und kein russisches Fernsehen gegeben habe und sie gezwungen gewesen seien, Deutsch zu lernen. Deutsch zu werden sei für
sie unumgänglich gewesen. In Deutschland jüdisch sein zu dürfen habe für sie neue Freiheiten bedeutet. Sie
hätte sich nun endlich mit dem Judentum auseinandersetzen dürfen. Ihre grünen Augen Interview vom 1. Juli 2006
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr.26, S. 57, auch im Belletristik – Feuilleton von FAZ.NET:
www.faz.net/s/Rub79a33397BE834406A5D2BFA87FD13913/Doc
111
Vgl. z.B. Neumann, Ronnith: Heimkehr in die Fremde. Zu Hause in Israel oder zu Hause in Deutschland? Göttingen:
Schlender 1985.
30
das Schma betet und sich von einer Philosemitin belästigt fühlt. Laut Schruff kann Antijudaismus bei Jüdinnen und Juden identitätsstiftend wirken. Bei der Protagonistin ist er kein Thema. Doris’ Philosemitismus hingegen, der mit Missionstendenzen gepaart ist, scheint Anjas
jüdische Identität gestärkt zu haben.112
3.8.4 Israel
Nach einer Phase der Begeisterung für Israel nach der Lektüre von Exodus steht Anja diesem
Land und den Israelis kritisch gegenüber. Mit der Frage, was sie bei der Rückkehr in ihre jüdische Heimat empfunden habe, kann sie nichts anfangen. Entweder bedeutet Israel für sie
‚Sun, Fun and nothing to do’ oder Verwandtenbesuch. Für sie ist es ein scheinheiliges Land.
Sie mag es nicht, dass hier ‚alles’ politisch ist. Ihr Verhältnis den Palästinensern gegenüber ist
ambivalent, v.a. will sie nicht für das Palästinenserproblem verantwortlich gemacht werden.
Anja kann nicht Hebräisch und sieht auch keine Notwendigkeit, diese Sprache zu lernen. In
Israel spricht sie Russisch oder Deutsch. Ausser dem Kauf von ‚I love Israel’- T-Shirts für
Freunde in Deutschland gibt es keine weiteren Hinweise darauf, dass Anja irgendetwas mit
diesem Land verbinden könnte.113
Fazit: Dass sich Anja mit keinem Land – weder Russland, noch Deutschland, noch Israel –
identifizieren kann, ist an und für sich ein jüdisches Fragment: Das jahrhundertealte Gefühl
der Heimatlosigkeit von Jüdinnen und Juden.
3.8.5 Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Herkunft
Anjas deutsche Freundinnen und Freunde beschäftigen sich intensiv mit ihren Vorfahren im
Dritten Reich, ihre Internetbekanntschaft Julian mit seiner jüdischen Herkunft väterlicherseits.114 Anja weiss nur, dass ihre Grossväter während des Krieges in der Sowjetunion gegen
die Deutschen gekämpft hatten. Sie getraut sich nicht, bei ihren Eltern genauer nachzufragen
und begründet dies damit, dass auch ihre jüdische Freundin Miri, deren Familie in Auschwitz
umgebracht worden war, nicht nach der tabuisierten Vergangenheit fragt. Der Leserschaft
bleibt dieser Vergleich schleierhaft. Identifiziert sich Anja so stark mit dem Schicksal der Jüdinnen und Juden, deren Vorfahren durch die Nazis umgebracht worden waren, dass sie sich
112
Schruff 2000:35-52, 237.
Zur Haltung der meisten jungen deutsch-jüdischen Autorinnen und Autoren Israel gegenüber s. S. 5.
114 Zwar mockiert sich die Protagonistin über die krampfhafte Suche Julians nach seiner jüdischen Identität. Und
doch ist er es, der sie zu einer ernsthaften Beschäftigung mit ihren Wurzeln motiviert. Im ganzen Roman geht es
aber v.a. um Anjas Auseinandersetzung mit ihren verschiedenen Identitätsfragmenten.
113
31
nicht zu fragen getraut? Dies stünde Widerspruch dazu, dass sie sich explizit nicht mit dem
‚massenhaften Leid’ der deutschen Jüdinnen und Juden identifizieren will. Oder fragt sie nicht
nach, weil sie befürchtet, dass ihre Vorfahren nicht nur Mitläufer im Sowjetregime waren,
sondern sich auch aktiv (z.B. durch Spionage und Verrat) dafür einsetzten? Es gibt in der Tat
Anspielungen, dass sich ihre Vorfahren mit der UdSSR und ihrem System identifizerten und
sich darin engagierten.
Wenn Anja auch nicht viel über das Verhalten ihrer Eltern und Grosseltern zur Zeit des Stalinismus und des Kalten Krieges weiss, gibt es Erinnerungsstücke an die noch weiter zurückliegende Zeit, als der Urgrossvater noch eine Talmudschule in Weissrussland geleitet hatte.
Auf eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Herkunft wird erst im Epilog
angespielt, ohne dass die Leserschaft Genaueres darüber erfährt. Die Auseinandersetzung mit
der Vergangenheit ist ein typisches jüdisches Fragment.
4
Gesamteindruck
Gorelik müsste ihr Schriftsteller-Handwerk verbessern: Die Zeitebenen sind z.T. verwirrend.
Einerseits liegt dies am Bau, anderseits an den verwendeten Zeitformen.115 Inhaltlich gibt es
Ungereimtheiten.116 Die Möglichkeiten eines Epilogs hätten mehr ausgeschöpft werden können. 117 Der Roman ist zwar interessant aufgebaut und unterhaltsam – Balzer formuliert treffend: „Ein Buch, das von einer heiteren Geschwätzigkeit durchzogen ist.“118 – doch Goreliks Humor
wird irgendwann langweilig. Es wirkt bemühend, dass sie sich krampfhaft über alles lustig
machen muss. Indem sie Klischees über Jüdinnen und Juden aufgreift, besteht zudem die Gefahr, dass sie diese verstärkt. Gorelik bleibt oberflächlich und drückt selten eine eigene Meinung aus. Sie versteckt sich hinter ihrem jüdischen Humor und bleibt unpolitisch, und dies
zur Zeit des Libanonkrieges. Diesen handelt sie recht fad im Kapitel mit Schmuel ab. Dass die
Protagonistin ihren deutschen Freunden exakt zu dieser Zeit Militärklamotten als Souvenirs
kauft, ist nicht lustig, sondern schlicht geschmacklos.
115
s. S. 22-23.
Beispiele: Wie und warum Sarah nach Jerusalem fährt, wird nirgends erklärt. Ebensowenig wird klar, wieso
Julian vor der Hochzeit Anja von einer Telefonkabine her anruft, wenn er ihr vorher eine SMS geschickt hat.
117
Vgl. Anm. 86. Goreliks Roman ist nicht ‚guter Literatur’ zuzurechnen. Dazu fehlt ihm die wirklich existenzielle Dimension. Nach von Matt bringt ‚gute Literatur’ die Wahrheit ins Menschenleben und verwandelt dieses in
seiner tiefsten Existenz. Von Matt, Peter: Öffentliche Verehrung der Luftgeister. Reden zur Literatur. München: Hanser
Verlag 2003.
118
Balzer, Vladimir: Anjas Welt. Deutschlandradio Kultur. Radiofeuilleton: Buchkritik vom 18.09.2007
www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/670789
116
32
Gewisse Themen blendet Gorelik aus. Eine Beschäftigung mit den an russischen Jüdinnen
und Juden im letzten Jahrhundert begangenen Gräueln in der UdSSR steht noch aus. Dabei
wären die Archive seit 1991 geöffnet.119 Ein kritisches Hinterfragen der Kommunistischen
Partei und der Parteimitgliedschaft von Anjas Vater unterbleibt. Deutschland wird durch die
Protagonistin kaum kritisiert. Antijudaismus in Deutschland, obwohl aktuell, wird nicht thematisiert.
Die Verlegerin Tanja Graf vermarktet die junge Autorin mit Titeln, die nicht halten, was sie
versprechen, in einer Zeit, da ‚jüdische Literatur’ in Deutschland grosse Mode ist. Es stellt sich
die Frage, ob Hochzeit in Jerusalem zu früheren Zeiten überhaupt hätte verlegt werden können.
Trotz literarischer Schwächen hat der Roman seine Stärken. Gorelik wendet sich an ein junges deutschsprachiges Publikum und präsentiert ihm eine Antiheldin. Es soll sich in seiner
konsumfreudigen, unpolitischen Haltung ertappt fühlen und nicht nur über die Protagonistin,
sondern auch über sich selber lachen, resp. das Lachen sollte ihm an gewissen Stellen im Halse stecken bleiben und es dadurch zum Nachdenken und zu alternativem Handeln anregen.
Da sich die Protagonistin in fast nichts von ihrer deutschen Altersgruppe unterscheidet, zur
israelischen Politik nicht Stellung bezieht, Deutschland kaum kritisiert und sich die Leserschaft nur mit sehr wenigen jüdischen Fragmenten auseinandersetzen muss, kann Gorelik mit
dieser leicht Rapport aufbauen.120 Wie bei anderen jungen deutsch-jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern können Nichtjüdinnen und Nichtjuden in der fiktionalen Welt des
Romans „mit jüdischen Lebensformen und -welten Bekanntschaft schliessen und im Perspektivenwechsel die
eigenen Haltungen und Reaktionen aus dem Blick der jüdischen Zeitgenossen wahrnehmen.“121 Die nicht119
Man geht davon aus, dass 78% der 1939 in Deutschland, 81% der in Österreich und 43% der in der UdSSR
lebenden Jüdinnen und Juden bis 1945 ermordet wurden. Kaufmann 2006:80. Weiterführende Informationen
zur UdSSR während des Zweiten Weltkrieges: s. z.B. Salomoni, Antonella: L’unione sovietica e la Shoah, Genocidio,
resistenza, rimozione. Bologna: Il mulino. Collana Biblioteca storico 2007. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in
der UdSSR die jüdische Kultur unterdrückt (z.B. wurde der Exponent jiddischer Kultur, Schlomo Michoels,
umgebracht). Kaufmann 2006:83. 1953 inszentierte Stalin einen Schauprozess gegen jüdische Ärzte. Weiterführende Literatur dazu: Etinger, Iakov: The Doctors’ Plot: Stalin’s Solution to the Jewish Question. In: Ro’i, Yaacov (Hg.):
Jews and Jewish Life in Russia and the Sovjet Union. Ilford/Portland: Frank Cass 1995: 103-124. Stalins Nachfolger
Chrutschtschow führte eine Quote für Jüdinnen und Juden in der KP ein. Während des Kalten Krieges unterstellte man Jüdinnen und Juden z.T. Spionagetätigkeit für die USA.
120
So muss sich die Leserschaft z.B. nicht mit hebräischen, aramäischen oder jiddischen Begriffen in einem
Glossar herumschlagen.
Der Begriff ‚Rapport’ stammt ursprünglich aus der Hypnotherapie. Mit Rapport ist in diesem Fachgebiet der
Aufbau einer positiven Beziehung zwischen Therapeutin/Therapeut und Klientin/Klient gemeint. Die Klientin/der Klient soll Vertrauen entwickeln und das Gefühl bekommen, von der Therapeutin/vom Therapeuten
verstanden zu werden. Yapko, Michael D.: Essentials of Hypnosis. New York: Brunner/Mazel 1995:52. Kommunikationstheorien haben den Begriff übernommen. Im Kontakt mit Mitmenschen geht es darum, sich zuerst
durch Spiegeln den verbalen, nonverbalen und paraverbalen Kommunikationsformen des Gegenübers anzupassen, also in Rapport zu treten, bevor zur Erreichung eines Ziels in Führung gegangen wird. Ötsch, Walter/Stahl,
Thies (Hg.): Das Wörterbuch des NLP. Das NLP Enzyklopädie-Projekt. Paderborn: Junfermann Verlag 1997:161-162.
121
Nolden 1995: 27
33
jüdische Leserschaft lernt z.B., dass selbst eine politisch völlig uninteressierte deutsche Jüdin
mit russischen Wurzeln sich mit dem Palästinenserproblem auseinanderzusetzen hat, weil sie
in Gesprächen mit Nicht-Jüdinnen und Nicht-Juden deswegen oft angegriffen wird, als wäre
sie persönlich dafür verantwortlich. Die Deutschen beschäftigen sich zwar mit ihrer Geschichte und derjenigen der Jüdinnen und Juden in Deutschland, das aktuelle Judentum in Deutschland, v.a. dasjenige der jungen Generation, ist jedoch kaum bekannt.122 Hier leistet Gorelik
einen Beitrag. Auch das Problem der Kontingentsflüchtlinge thematisiert sie. Balzer schreibt
in seiner Rezension, dass es Gorelik schafft, „ ... ein so schwieriges und konfliktträchtiges Thema wie
die Einwanderung russischer Juden in deutsche Gemeinden und ihre inzwischen prägende Alltagskultur mit
einem lachenden Auge zu sehen.“123 Sie kann auf unterhaltsame, unkomplizierte Weise Verständnis
für junge Jüdinnen und Juden erwecken und dadurch eine pädagogische Wirkung erzielen.
Andragogogische Wirkung hat der Roman wohl nicht. Ein älteres Publikum wird sich vom
Inhalt des Romans kaum angesprochen fühlen. Für Kennerinnen und Kenner der deutschjüdischen und hebräischen Literatur ist er mehr eine Soziologie der deutschen Jugend als eine
der deutschen Jüdinnen und Juden allgemein. Ob Gorelik eingesessenen älteren deutschen
Jüdinnen und Juden den Spiegel für ihr Verhalten ehemaligen Kontingentsflüchtlingen gegenüber vorhalten kann und dort eine Verhaltensänderung bewirkt, bleibt ebenfalls fraglich.
Gorelik könnte jüdischen Kontingentsflüchtlingen ein Modell für die Konstruktion und Konsolidierung jüdischer Identitätsfragmente aufzeigen. Anja vergewissert sich am Schluss verborgener jüdischer Identitätsanteile, indem sie ihre Grossmutter interviewt. Dadurch könnte
sie junge russischstämmige Jüdinnen und Juden dazu motivieren, Identitätsfragmente in der
russischen Vergangenheit zu suchen, um sie deutsch-jüdischen Identitätsfragmenten, welche
sie sich eventuell zu eigen gemacht haben, entgegenzusetzen, resp. diese damit zu ergänzen.
Der Riss zwischen den Generationen scheint bei jüdischen Kontingentsflüchtlingen aus der
ehemaligen UdSSR weniger stark zu sein als derjenige bei den deutschen Jüdinnen und Juden. Nach Gorelik liegt das Problem beim Desinteresse der jungen russischstämmigen Jüdinnen und Juden und nicht, wie dies bei den deutschen Jüdinnen und Juden der Fall ist, bei der
Tabuisierung der Vergangenheit durch die Eltern- und Grosselterngeneration.124
122
Unter aktuellem Judentum sind die aktuellen Judentümer der verschiedenen Gruppierungen zu verstehen.
Zum Thema jüdische Jugend in Deutschland s. Interviews von Volker 2006.
123
Balzer, Vladimir: Anjas Welt. Deutschlandradio Kultur. Radiofeuilleton: Buchkritik vom 18.09.2007
www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/670789
124
Dieses Problem der deutschen Juden wird im Roman durch Julian und seinen Vater thematisiert.
34
Schlussbetrachtung
Wie ich in der vorliegenden Arbeit aufzeigen konnte, lässt sich Gorelik in die neue deutschjüdische Literatur einordnen, was ihr konzentrisches und ‚autobiographisches Schreiben’ anbelangt. Wie ihre deutsch-jüdischen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen schafft sie mit ihrem Roman einen gesellschaftlichen Simulationsraum, in dem sie zeigt, was der Normalisierung des Verhältnisses von Jüdinnen und Juden zu ihrer nichtjüdischen deutschen Umwelt im
Weg steht. Bei ihr sind dies von Missionsgedanken beseelte Gutmenschen, Philosemitinnen
und Philosemiten, und die naive Haltung von Nicht-Jüdinnen und Nicht-Juden Israel und
dem Palästinenserkonflikt gegenüber. Wie bei vielen modernen deutsch-jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern hat Religion in Goreliks Roman keine sinnstiftende Bedeutung.
Von jüdischen Traditionen ist sie durch die Geschichte der erzwungenen Assimilation ihrer
Vorfahren in der UdSSR abgeschnitten. Wie ihre säkularen deutschen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen nähert sie sich lediglich den Zentren des traditionellen Selbstverständnisses,
ohne diese wirklich zu erreichen. Wie ihre Kolleginnen und Kollegen steht sie in nationaler,
kultureller und sprachlicher Differenz zum Staat Israel.
Der Roman ist ein trauriges Zeugnis der wenigen jüdischen Identitätsfragmente, die das Leben einer jungen russischstämmigen deutschen Judin überhaupt noch bestimmen. In der vorliegenden Arbeit konnte aufgezeigt werden, wie stark sich die Wahlheimat Deutschland, das
Land der Täter, auf das jüdische Selbstverständnis von Kontingentsflüchtlingen auswirkt. Da
erst in Deutschland eine Auseinandersetzung mit dem Jüdisch-Sein möglich wurde, wurde
gleichzeitig auch die Schoa ein Identitäsfragment der jüdischen Kontingentsflüchtlinge. In
Hochzeit in Jerusalem wird deutlich, dass die Schoa und ihre Nachwirkungen ein Referenzpunkt
für alle Akteurinnen und Akteure, auch für die Nichtjüdinnen und -juden, ist. Wie bei vielen
deutsch-jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern zerbricht eine Liebesbeziehung –
diejenige zwischen Julian und Sarah – aufgrund dieser Problematik. Das ‚massenhafte Leiden’
wird zu einem Identitätsfragment des Vaters, welches die Protagonistin Anja ablehnt. Sie will
in der Massenvernichtung nicht einen konstitutiven Bestandteil ihres Daseins sehen. Angestossen durch Julians Suche nach seinen deutsch-jüdischen Identitätsfragmenten, macht sie sich
am Schluss bei ihrer Grossmutter auf die Suche nach anderen Referenzen: nach russischjüdischen Identitätsfragmenten, die bis anhin durch das Leben in der UdSSR und in Deutschland verdeckt geblieben waren.
Die Analyse von Goreliks zweitem Roman nach formalen Gesichtspunkten zeigt eine Begabung der Autorin, die aber noch mehr schriftstellerischer Entfaltung, was das Handwerk an35
belangt, menschlicher Tiefe und fachlichem Hintergrund bedürfte. Vor allem die Beschäftigung mit der sowjetischen Vergangenheit steht noch aus. Mit Ausnahme des Antijudaismus
lässt Gorlik fast kein Thema aus, von dem deutsche Jüdinnen und Juden heute nicht betroffen
wären. Sie nähert sich ihren Sujets mit dem Stilmittel des Humors. Dieser ist ihr wichtigstes
jüdisches Fragment. Gorelik kann mit ihrem Stil und ihren Schwerpunkten v.a. eine junge
Leserschaft ansprechen und könnte dadurch eine pädagogische Wirkung zu erzielen. Da die
jüdische Kultur ein Modethema geworden ist, ist dies für jüdische Autorinnen und Autoren
wie Gorelik eine Chance, die deutschen Nicht-Jüdinnen und Nicht-Juden in ihrer Haltung
gegenüber Jüdinnen und Juden zu spiegeln und sie zum Überdenken derselben anzuregen.
Begrüssenswert wäre, wenn Gorelik nicht bei der Rapportaufnahme mit einem jungen deutschen Publikum stehen bliebe, sondern die Konfrontation auf einem etwas höherem intellektuellen Niveau wagen würde.
36
Anhang
Literatur
Albrecht, Urs/Pantli, Anna-Katharina: Leitfaden zur sprachlichen Gleichbehandlung im Deutschen.
Bern: Schweizerische Bundeskanzlei 1996.
Antin, Mary: The Promised Land. Boston/New York: The Riverside Press Cambridge 1912.
Avrahami, Avner: Der israelische Humor – Ein kurzer geschichtlicher Überblick. In: Dachs, Gisela
(Hg.): Humor. Jüdischer Almanach des Leo Baeck Instituts. Frankfurt am Main. Jüdischer Verlag
2004:61-73.
Becker, Franziska: Ankommen in Deutschland. Einwanderungspolitik als biographische Erfahrung im Migrationsprozess russischer Juden. Berlin: Dietrich Reimer Verlag GmbH 2001.
Belomlinskaja, Julia: Apfel, Huhn und Puschkin. Meltendorf, Friederike (Trad.) Berlin: Verlag
Matthes & Seitz 2007
Bengershôm, Ezra: Das Buch Esther und das Purimfest. In: Dachs, Gisela (Hg.): Humor. Jüdischer
Almanach des Leo Baeck Instituts. Frankfurt am Main. Jüdischer Verlag 2004:114-118.
Bode, Christoph: Der Roman. Eine Einführung. Tübingen/Basel: A. Franke Verlag 2005.
Brenner, Michael: Als der Humor noch in Deutschland zu Hause war. Ein Nachruf auf den berlinischjüdischen Geist. In: Dachs, Gisela (Hg.): Humor. Jüdischer Almanach des Leo Baeck Instituts. Frankfurt am Main. Jüdischer Verlag 2004:11-25.
Breuer, Ulrich/Sandberg, Beatrice: Einleitung. In: diess. (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. I: Grenzen der Identität und Fiktionalität. München: IUDICUM Verlag 2006:9-16.
Brunner, Claudia/von Seltmann Uwe: Schweigen die Täter reden die Enkel. Frankfurt/M.: Edition
Büchergilde Gutenberg 2004.
Dachs, Gisela (Hg.): Humor. Jüdischer Almanach des Leo Baeck Instituts. Frankfurt am Main. Jüdischer Verlag 2004.
Edelman, Diana V. (Hg.): The Fabric of History. Text, Artefact and Israel’s Past. JSOT Suppl. 127.
Sheffield: JSOT Press 1991.
Etinger, Iakov: The Doctors’ Plot: Stalin’s Solution to the Jewish Question. In: Ro’i, Yaacov (Hg.):
Jews and Jewish Life in Russia and the Sovjet Union: Ilford/Portland: Frank Cass 1995: 103-124.
Finkelstein, Israel/Silberman N.A.: The Bible Unearthed. Archeology’s View of Ancient Israel
and the Origin of Its Sacred Texts. New York: Free Press 2001.
Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehungen zum Unbewussten. Bd. 9 Leipzig/Wien/
Zürich: Fischer Bücherei 1958.
37
Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Studienausgabe, Bd. 4.
Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1997.
Friederich, Volker/Bechtold Andreas P.: Jüdische Jugend heute in Deutschland. Fotografien und Interviews. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2006.
Galley, Susanne: Das jüdische Jahr. Feste, Gedenk- und Feiertage. München. Verlag C.H. Beck
2003.
Gelfert, Hans-Dieter: Was ist gute Literatur? Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet. München: Verlag C.H. Beck 2004.
Gorelik, Lena: Meine weissen Nächte. München: SchirmerGraf Verlag 2004.
Gorelik, Lena: Hochzeit in Jerusalem. München: SchirmerGraf Verlag 2007.
Gorelik, Lena: Verliebt in Sankt Petersburg. Meine russische Reise. München: SchirmerGraf Verlag
2008.
Har-Gil, Schraga: Ein Witz geht um die Welt. In: Dachs, Gisela (Hg.): Humor. Jüdischer Almanach
des Leo Baeck Instituts. Frankfurt am Main. Jüdischer Verlag 2004:74-76.
Herweg, Monika Rachel: Die jüdische Mutter. Das verborgene Matriarchat. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994.
Heumann, Pierre: Die nahöstliche Flucht in den schwarzen Humor. In: Dachs, Gisela (Hg.): Humor.
Jüdischer Almanach des Leo Baeck Instituts. Frankfurt am Main. Jüdischer Verlag 2004:83-88.
Himmler, Kathrin: Die Brüder Himmler. Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2005.
Jessen, Norbert: „Schwär, schwär ...“ In: Dachs, Gisela (Hg.): Humor. Jüdischer Almanach des Leo
Baeck Instituts. Frankfurt am Main. Jüdischer Verlag 2004:77-82.
Kaufmann, Uri: Kleine Geschichte der Juden in Europa. Berlin: Cornelsen Verlag 4. Auflage 2006.
Klüger, Ruth: Frauen lesen anders. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 4. Auflage 2002.
Kuschel, Anna: Identitätskonstruktion im Spannungsfeld von Minorität und Majorität in Barbara Honigmanns ‚Damals, dann und danach’. In: Breuer, Ulrich/Sandberg, Beatrice (Hg.): Autobiographisches
Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. I: Grenzen der Identität und Fiktionalität. München: IUDICUM Verlag 2006.
Kutscher, Eduard Yechezkel: A History of the Hebrew Language. Jerusalem: Magnes Press,
Hebrew University 1982.
Landmann, Salcia: Einleitung. In: dies. (Hg.): Der jüdische Witz. Soziologie und Sammlung. Olten:
Walter-Verlag 13. Auflage. 1988:13-46.
Lehnert, Gertrude: Die Leserin. Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur. Berlin: Aufbau Verlag 2000.
38
Lustiger, Gila: Einige Überlegungen zur Lage der jüdischen Autoren in Deutschland. In: Hinderer W. et
al: Altes Land, neues Land. Verfolgung, Exil, biografisches Schreiben. Texte zum Erich-Fried-Symposion
1999. Zirkular der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur. Wien: 1999:5053.
Mendes-Flohr, Paul: Jüdische Identität. Die zwei Seelen der deutschen Juden. Seifert, Dorthe (Trad.).
München: Wilhelm Fink Verlag 2004.
Meyer, Michael A.: Jüdische Identität in der Moderne. Frank-Strauss, Anne Ruth (Trad.). Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 1992.
Newmann, Rafaël (Hg.): Zweifache Eigenheit. Neuere Jüdische Literatur in der Schweiz. Zürich:
Limmat Verlag 2001.
Nolden, Thomas: Junge jüdische Literatur. Konzentrisches Schreiben in der Gegenwart. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann GmbH 1995.
Mitgutsch, Anna: Erinnern und Erfinden. Grazer Poetik-Vorlesungen. Graz/Wien: Dorschl Verlag
1999.
Neumann, Ronnith: Heimkehr in die Fremde. Zu Hause in Israel oder zu Hause in Deutschland? Göttingen: Schlender 1985.
Rabinovici, Doron: Hundertsiebzehn. Oder: Eine kurze Anleitung zum jüdischen Witz. In: Dachs, Gisela (Hg.): Humor. Jüdischer Almanach des Leo Baeck Instituts. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag
2004:119-125.
Reich-Ranicki, Marcel: Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1989.
Ro’i, Yaacov (Hg.): Jews and Jewish Life in Russia and the Sovjet Union. Ilford/Portland: Frank
Cass 1995.
Salomoni, Antonella: L’unione sovietica e la Shoah, Genocidio, resistenza, rimozione. Bologna: Il mulino. Collana Biblioteca storico 2007.
Schoeps, Julius H.: Jüdisches Leben im Nachkriegsdeutschland. In: Nachama, Andreas et al (Hg.):
Jüdische Lebenswelten. Essays. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 1991:352383.
Schoeps, Julius H./Jasper, Willi/Vogt, Bernhard: Russische Juden in Deutschland. Integration und
Selbstbehauptung in einem fremden Land. Weinheim: Beltz, Ahenäum 1996.
Schruff, Helene: Wechselwirkungen. Deutsch-Jüdische Identität in erzählender Prosa der ‚Zweiten Generation’. Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag 2000.
Schütze, Yvonne: ‚Warum Deutschland und nicht Israel?’ Begründungen russischer Juden für die Migration
nach Deutschland. In: Bios, 10.2 (1997)
Senfft, Alexandra: Schweigen tut weh. Berlin: Claassen Verlag 2007.
39
Uris, Leon M.: Exodus. New York : Double Day Edition 1958.
Whitefield, Stephen J.: Der amerikanisch-jüdische Humor – ein kurzer Würdigungsversuch. In: Dachs,
Gisela (Hg.): Humor. Jüdischer Almanach des Leo Baeck Instituts. Frankfurt am Main. Jüdischer Verlag 2004:94-100.
von Matt, Peter: Öffentliche Verehrung der Luftgeister. Reden zur Literatur. München: Hanser Verlag
2003.
Zaslavsky, Victor: Das russische Imperium unter Gorbatschow. Seine ethnische Struktur und ihre Zukunft.
Berlin: Klaus Wagenbach1991.
Nachschlagewerke
Burdorf, Dieter/Fasbender, Christoph/Moenninghoff, Burkhard (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler 2007.
Kilchner, Andreas B. (Hg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und
Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler 2000.
Lötzsch, Ronald: Duden, Jiddisches Wörterbuch. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag
2. Auflage 1992.
Ötsch, Walter/Stahl, Thies (Hg.): Das Wörterbuch des NLP. Das NLP Enzyklopädie-Projekt. Paderborn: Junfermann Verlag 1997.
Träger, Claus (Hg.): Wörterbuch der Literaturwissenschaft. Leipzig: Bibliographisches Institut 1985.
Internetseiten/Zeitschriften
Zu Lena Gorelik:
Balzer, Vladimir: Anjas Welt. Deutschlandradio Kultur. Radiofeuilleton: Buchkritik vom
18.September 2007 www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/670789
Grenzmann, Teresa: Petersburger Krtoffelsalat. Lena Gorelik über ihre Erinnerungen an Russland. Ein
Gespräch mit Lena Gorelik. Münchner Merkur vom 7. November 2004
www.lyrikwelt.de/hintergrund/gorelik-gespraech-h.htm
Ludwig, Kathrin: Deutsch mit Pippi Langstrumpf gelernt! Welt Online vom 7. April 2007
www.welt.de/kultur/literarischewelt/article796711/Deutsch_mit_Pippi_Langstrumpf_gelern
t.html
Rotschild, Thomas: Der Berg, der Prophet und Kartoffelsalat. Kinderblick. Lena Gorelik debütiert mit
‚Meine weissen Nächte’. Freitag 42 vom 8. Dezember 2004
www.freitag.de/2004/42/04422501.php
40
Ukena, Silja, Merkur, zitiert unter Pressestimmen SchirmerGraf Verlag 18.September 2007
www.schirmer-graf.de/index/gorelik_07_01.html
Ihre grünen Augen Interview vom 1. Juli 2006 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr.26, S.
57, auch im Belletristik – Feuilleton von FAZ.NET:
www.faz.net/s/Rub79a33397BE834406A5D2BFA87FD13913/Doc
Gut, dass ich einen zweiten Blick habe. Interview mit Lena Gorelik in Kieler Nachrichtenvom 15.
Januar 2005 auf der Site der Lübecker Nachrichten vom 4.12.2007: www.LN-online.de
Zahlen und Fakten:
Zu Deutschland: Zentralrat der Juden in Deutschland. Zukunft. 5. Jahrgang Nr. 10, 28. Oktober 2005: Neue Zahlen.
www.Zentralrat%20der%20Juden%20in%20Deutschland%20Neue%20Zahlen.html
Zu Österreich: Haetar Jehudi, Die Jüdische
www.juedische.at/TCgi/_v2/TGgi.cgi?target=home&Param_link&Param_TP=3&Param_K
at=16&Param_LR=9
Zum Kontingentsflüchtlings-, resp. Zuwanderergesetz in Deutschland ab 2005: Migration
und Bevölkerung. Newsletter. Ausgabe 6. Juli 2005. Deutschland: Einigung bei der jüdischen Zuwanderung. www.migration-info.de/migration_und_bevölkerung /artikel /050605.htm
41