Ronald Henss
Gesicht und Persönlichkeitseindruck
Göttingen: Hogrefe Verlag für Psychologie
1998
Zur Einstimmung das Einleitungskapitel
Das Buch ist seit Langem vergriffen, aber es ist über Bibliotheken
leicht erhältlich oder im Internet als gebrauchtes Buch, zum
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Gesicht und Persönlichkeitseindruck
Einleitung
D
ieses Buch beginnt mit einer Art Kreuzverhör. Ich werde Fragen über Fragen
stellen. Aber seien Sie unbesorgt. Erstens können Sie nichts falsch machen,
da es um Ihre subjektive Meinung geht. Zweitens kann ich Ihre Antworten
ohnehin nicht kontrollieren. Und drittens müssen Sie nicht befürchten, endlos lange ausgequetscht zu werden. Fragen werden nur auf den ersten paar Seiten gestellt. Damit möchte ich Sie auf die Thematik dieses Buches einstimmen. Anhand dieser
Fragen will ich klar machen, welche Themen in diesem Buch behandelt werden, und
welche nicht. Daß es um Gesichter und um Persönlichkeitseindrücke geht, ergibt sich
bereits aus dem Titel. Aber das allein besagt noch nicht sehr viel. Mit dieser Thematik
ließen sich mühelos ganze Bibliotheken füllen. Ziel dieser Einführung ist es, den Gegenstandsbereich abzugrenzen und die Fragestellungen, zu denen dieses Buch etwas
beizutragen hat, deutlich zu machen.
Bitte werfen Sie einen kurzen Blick auf das nebenstehende Bild
(wahrscheinlich haben Sie dies schon längst getan). Mit Sicherheit
haben Sie diese Person noch nie in Ihrem Leben gesehen.1 Und
dennoch wissen Sie eine ganz Menge über sie. Zum Beispiel, daß
es sich um eine Frau handelt, und nicht etwa um einen Mann. Sie
wissen auch, daß diese Person älter als zehn und jünger als siebzig
Jahre ist. Aber dermaßen unpräzise müssen die Angaben gar nicht
sein. Sie wissen, daß das Alter höchstwahrscheinlich zwischen
zwanzig und dreißig liegt. Weiterhin wissen Sie, daß die Vorfahren dieser jungen Frau wohl weder einer schwarzafrikanischen,
noch einer ostasiatischen, noch einer indianischen Volksgruppe angehörten.
Vermutlich sind Sie von Ihrem gerade geschilderten „Wissen“ nicht sonderlich beeindruckt. Geschlecht, Alter und ethnische Zugehörigkeit sind alles „Dinge“, die man
am Gesicht einer fremden Person direkt „ablesen“ kann.2 Das sind alles Selbstverständlichkeiten, darüber braucht man nicht lange nachzudenken. Aber wie kommen Sie eiWarum es ganz und gar unmöglich ist, daß Sie genau die hier abgebildete Person schon einmal
gesehen haben, erfahren Sie am Ende von Kapitel 1.
2
Selbstverständlich liegen wir selbst bei diesen „einfachen“ Merkmalen nicht immer richtig.
Irren ist auch in diesem Bereich menschlich und problematische Grenzfälle sind uns aus der
Alltagserfahrung wohlvertraut. Da jedoch in diesem Buch andere Fragen im Blickpunkt stehen,
können wir solche Grenzfälle getrost ausblenden.
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gentlich zu Ihrem Wissen? Schließlich haben Sie außer dem kleinen Bild noch nie etwas
von dieser jungen Frau gesehen oder gehört.
Wenn ich Sie fragen würde, woher Sie wissen, daß das Bild eine Frau zeigt, würden
Sie vielleicht auf die Frisur hinweisen, die halt typisch weiblich ist. Auf die Frage,
warum Sie das Alter im Bereich zwischen zwanzig und dreißig vermuten, würden Sie
möglicherweise antworten, daß diese Frau Merkmale eines Erwachsenengesichts aufweist, daß aber gleichzeitig die Haut noch glatt und ohne Falten ist. Und auf die Frage,
warum die junge Frau keiner schwarzafrikanischen Volksgruppe entstammt, würden Sie
wahrscheinlich auf die helle Hautfarbe verweisen.
Mit diesen Fragen hätte ich Sie wohl kaum in Verlegenheit gebracht. Es fällt im allgemeinen leicht, auf einige spezifische Merkmale zu verweisen, anhand derer man Geschlecht, Alter und ethnische Zugehörigkeit einer Person erkennen kann. Wenn ich jedoch noch weiter bohren würde, sähe die Sache gewiß anders aus. Woran erkennen Sie wenn Sie, wie im vorliegenden Fall, nur das Gesicht sehen können -, ob Sie einen Mann
oder eine Frau vor sich haben? Sicherlich nicht nur an der Frisur. Wie steht es mit Augen, Nase, Mund, Kinn, Gesichtsform usw. usw.? Wie müssen diese Merkmale beschaffen sein, damit Sie zu dem Schluß kommen „Das ist eine Frau“? Nehmen wir zum Beispiel die Nase. Was ist wichtig? Die Länge? Die Breite? Die Form? Die Länge allein?
Oder nur in Kombination mit Breite und Form? Oder gibt die Nase gar nur im Zusammenhang mit anderen Merkmalen Aufschluß über das Geschlecht? Wenn ja, mit welchen? In welcher Kombination?
Fragen dieser Art werden rasch lästig. Wir sind zwar im allgemeinen in der Lage,
allein aufgrund des Gesichts blitzschnell - buchstäblich auf den allerersten Blick - das
Geschlecht, das Alter oder die ethnische Zugehörigkeit einer Person zu erkennen, aber
wie wir diese Leistung letztendlich zustande bringen, können wir gar nicht so genau
sagen. Und Nachdenken hilft meist auch nicht weiter. Je intensiver wir uns mit dieser
Frage beschäftigen und je tiefer wir in Detailfragen eindringen, um so undurchsichtiger
wird die ganze Sache.
Betrachten Sie das Bild noch einmal. Zweifellos wissen Sie weit mehr als bisher zur
Sprache kam. War die junge Frau zum Zeitpunkt der Aufnahme todtraurig und depressiv? War sie in diesem Moment feindselig, abweisend und aggressiv? War sie körperlich total erschöpft? War sie gerade von unerträglichen Schmerzen geplagt? Vermutlich
wissen Sie, daß die Antwort auf all diese Fragen „Nein“ lauten muß. Aber was genau
führt Sie zu diesem Wissen - oder besser: zu diesen Vermutungen? Woran erkennen Sie
Trauer? Woran Feindseligkeit? Woran Erschöpfung? Woran Schmerzen? Und woran
erkennen Sie, daß in unserem konkreten Fall all dies gerade nicht gegeben ist? Wie können Sie überhaupt am Gesicht einer fremden Person deren aktuelle Zustände und Empfindungen erkennen? Anders als etwa die Länge der Nase, die Breite des Mundes oder
die Höhe der Stirn ist die aktuelle Befindlichkeit einer anderen Person nicht unmittelbar
ersichtlich. Die können Sie nicht einfach mit dem Lineal abmessen. Trotzdem genügt
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oftmals ein einziger Blick, und Sie wissen über die momentane Befindlichkeit einer
völlig Fremden Bescheid.
Ihr Wissen über die junge Frau macht bei solchen Momentaufnahmen noch lange
nicht Halt. Wahrscheinlich können Sie auch auf die folgenden Fragen plausible Antworten geben. Wie ist die Stimmung dieser jungen Frau im allgemeinen? Welche Charaktereigenschaften hat sie? Welche Interessen? Was tut sie beruflich? Wie gestaltet sie
ihre Freizeit? Wie reagieren ihre Mitmenschen auf sie? Sie werden wahrscheinlich im
Zusammenhang mit diesen Fragen ungern von „Wissen“ sprechen, aber diese oder jene
Vermutung hegen Sie bestimmt. Und einige davon können durchaus einen hohen Grad
an subjektiver Gewißheit aufweisen.
Glauben Sie zum Beispiel, die junge Frau sei zwar in dem Moment als das Bild entstand, guter Laune gewesen, im allgemeinen sei sie aber tieftraurig und depressiv? Wohl
kaum. Vermutlich denken Sie auch nicht, die junge Frau sei gewöhnlich feindselig und
aggressiv. Wahrscheinlich meinen Sie, daß sie zumeist freundlich, nett und zuvorkommend ist. Wofür interessiert sie sich Ihrer Meinung nach mehr: für Fußball oder für
Mode? Welchen Beruf übt sie mit größerer Wahrscheinlichkeit aus: Sekretärin oder
Baggerführerin? Wo treffen Sie sie am Samstag abend eher an: in der Disco oder im
Sex-Kino? Meinen Sie, daß sie von Männern eher umschwärmt oder eher links liegen
gelassen wird? Ich vermute, Ihre Antworten lauten: Mode (nicht Fußball), Sekretärin
(nicht Baggerführerin), Disco (nicht Sex-Kino) und umschwärmt (nicht links liegen gelassen). Was immer auch Ihre Antworten sein mögen - wie kommen Sie eigentlich darauf? Woran erkennen Sie das? An welchen äußeren Merkmalen machen Sie Ihre Vermutungen über das allgemeine psychische Befinden, über Charaktereigenschaften, Beruf, Interessen und Freizeitaktivitäten anderer Personen fest? Woher wissen Sie, wie
eine fremde Person auf ihre Mitmenschen wirkt?
Ein paar Zeilen weiter oben hatte ich die Vermutung geäußert, daß Sie die junge
Frau für freundlich, nett und zuvorkommend halten. Nehmen wir mal an, Sie glauben
tatsächlich, Freundlichkeit sei ein Charakterzug dieser jungen Frau. Was kann ich daraus folgern? Kann ich zum Beispiel annehmen, daß Sie sie dann auch für warmherzig
halten? Ich tippe mal, daß Sie nur sehr wenige Menschen als freundlich und kaltherzig
bezeichnen würden oder als unfreundlich und warmherzig. Vermutlich passen in Ihrer
Sicht der Welt Freundlichkeit und Warmherzigkeit zusammen, während sich Freundlichkeit und Kaltherzigkeit nicht so recht miteinander vertragen. Andererseits gibt es
gewiß auch Merkmale, zwischen denen Sie keine solch klare Verbindung sehen. Welche
Zusammenhänge sehen Sie zum Beispiel zwischen Geselligkeit und Pünktlichkeit? Oder
zwischen Intelligenz und Nervosität? Etwas allgemeiner gefragt: Welche Merkmale
hängen in Ihrer Vorstellung miteinander zusammen, und welche nicht? Wie eng sind
solche Zusammenhänge? Wodurch kommen sie zustande?
Auf den wenigen Seiten haben wir bereits eine Vielzahl unterschiedlichster Merkmale angesprochen, hinsichtlich derer sich Menschen unterscheiden. Gleichwohl ist ein
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ganz wichtiger Aspekt bislang noch gar nicht zur Sprache gekommen. Was ich meine?
Nun, ich meine Attraktivität oder Schönheit. Zweifellos ist dies ein zentraler Aspekt
jeglicher Personenbeurteilung. Also meine Frage: Finden Sie die junge Frau attraktiv?
Halten Sie sie für schön?
Vielleicht sind Sie der Meinung, Attraktivitätsurteile seien sehr persönliche Urteile,
die wie kaum irgendwelche anderen Urteile subjektiv, individuell und unvergleichbar
sind. Daher frage ich mal weiter: Glauben Sie, daß die meisten Menschen einen ähnlichen Geschmack haben wie Sie selbst? Oder sind Sie eher der Meinung, daß letztlich
jeder einen völlig anderen Geschmack hat?
Fragen nach der Subjektivität von Urteilen lassen sich natürlich auf alle möglichen
Merkmale anwenden. Glauben Sie, daß andere Menschen im wesentlichen zu denselben
Urteilen kommen wie Sie, wenn es um Intelligenz geht? Oder um Gewissenhaftigkeit?
Um die Länge der Nase? Um das Erraten des Berufs? Um Erwartungen über Freizeitinteressen? Ums Geschlecht? Ums Alter?
Gewiß hängt das Ausmaß der Meinungsübereinstimmung davon ab, um welches
Merkmal es sich gerade dreht. Manche Dinge werden wohl von fast allen Menschen
gleich beurteilt. Zum Beispiel das Geschlecht. Bei anderen herrscht möglicherweise
völlige Uneinigkeit. Fragen wir also weiter: Welche Merkmale werden nahezu von allen
gleich beurteilt? Bei welchen gehen die Meinungen auseinander? Woran liegt es, daß
bei dem einen Merkmal die Übereinstimmung groß ist, bei einem anderen die Meinungen aber weit auseinander gehen?
Kommen wir noch mal zurück zum Thema Schönheit. Ganz gleich, ob Ihre Schönheitskriterien mit den Kriterien anderer Leute übereinstimmen: Woran erkennen Sie
Schönheit? Was macht eine Person attraktiv? Häufig hört man hierauf die Antwort, Attraktivität könne man nicht nach dem Äußeren beurteilen. Es seien vielmehr die inneren
Werte, auf die es ankommt. Da mag was dran sein. Dennoch ist wohl jeder in der Lage,
allein anhand eines Fotos zu beurteilen, ob er eine Person attraktiv findet oder nicht.
Zweifellos können auch Sie die Attraktivität der jungen Frau beurteilen. Aber an welchen äußeren Merkmalen machen Sie Ihr Attraktivitätsurteil fest? Wie müssen die
Merkmale beschaffen sein, damit Sie zu dem Urteil kommen „Diese Frau ist attraktiv“?
Die gleichen Fragen hatte ich weiter oben im Zusammenhang mit dem Geschlecht
gestellt. Man kann sie mühelos auf andere Merkmale anwenden. An welchen äußeren
Merkmalen machen Sie ihren Eindruck über die Freundlichkeit der jungen Frau fest?
Welche äußeren Merkmale beeinflussen Ihr Urteil über die aktuelle Stimmungslage?
Anhand welcher äußeren Merkmalen bilden Sie Ihre Erwartungen über den Beruf der
jungen Frau? Aus welchen äußeren Merkmalen leiten Sie Annahmen über ihre Interessen und Freizeitaktivitäten ab?
Bei all diesen Fragen liegt die Betonung auf äußeren Merkmalen. Und zwar deshalb,
weil Ihnen ausschließlich ein Bild vorliegt, und sonst nichts. Da Sie über keine weiteren
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Informationen verfügen, müssen Ihre Eindrücke zwangsläufig in irgendeiner Weise auf
äußerlich sichtbare Merkmale zurückgehen. Aber welche Merkmale sind dies? Und wie
hängen Ihre Eindrücke mit der Ausprägung dieser Merkmale zusammen? Wie
„verrechnen“ Sie die Merkmale? Wie kommen Sie zu Ihrem Urteil?
Bei Ihrer Urteilsbildung wirken höchstwahrscheinlich Merkmale aus unterschiedlichen Merkmalsklassen in komplexer Weise zusammen. Wenn Sie nur ein Bild vor sich
haben, und wenn auf diesem Bild kaum mehr als ein Gesicht zu sehen ist, dann spielt
vermutlich die Klasse der physiognomischen Merkmale eine herausragende Rolle. Dies
schließt natürlich nicht aus, daß auch andere Aspekte - wie zum Beispiel Kleidung, Accessoires, Mimik, Haltung, Pose, Bildhintergrund oder Bildqualität - bedeutsame Einflüsse ausüben können.
Ich bin mir ziemlich sicher, daß auch Sie bei Ihrer Urteilsbildung physiognomische
Merkmale berücksichtigen. Aber in welcher Weise? Lassen sich Ihre Eindrücke vielleicht durch solch einfache Regeln wie die folgenden beschreiben?
Je höher die Stirn, desto intelligenter.
Je voller die Lippen, desto sinnlicher.
Schmale, zusammengepreßte Lippen verraten Entschlossenheit.
Ein mächtiges Kinn verweist auf Dominanz.
Vermutlich nicht, oder doch zumindest nicht immer. Vermutlich sind die Zusammenhänge zwischen Ihren Eindrücken und den physiognomischen Merkmalen der betreffenden Person wesentlich komplexer. Vermutlich ergibt sich ein bestimmter Eindruck
erst aus einer spezifischen Kombination verschiedener physiognomischer Merkmale.
Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie sehen eine erwachsene Person, die folgende
Merkmale aufweist: Rundlicher Kopf, hohe Stirn, kleine Nase, kleiner Mund, große
Augen, dicke Wangen. Das alles sind typische Merkmale eines Babygesichts. Vielleicht
haben Sie dann - weil Babies nun mal naiv, gutmütig und unbeholfen sind - zugleich
auch den Eindruck, daß auch diese Person naiv, gutmütig und unbeholfen ist.
In den bisherigen Überlegungen wurden viele Punkte angeschnitten, die in diesem
Buch eine bedeutsame Rolle spielen. Manche Aspekte spielen dagegen nur eine untergeordnete Rolle, und andere werden ganz ausgeblendet. Ich will nun einige der Überlegungen rekapitulieren und dabei deutlich machen, welche Themen im Blickpunkt stehen.
Die vorangegangenen Betrachtungen haben mit Sicherheit eines deutlich gemacht:
Bereits ein kurzer Blick auf das Bild einer fremden Person reicht aus, um eine Vielzahl
von Eindrücken über diese Person zu erhalten. In unserem Beispiel war auf dem Bild ein
Gesicht zu sehen. Und das mit guten Grund: In diesem Buch geht es um Gesichter. Es
geht um Eindrücke, die sich bei der Betrachtung eines fremden Gesichts ergeben.
Die Vielfalt der Merkmale, die erwähnt wurden, macht deutlich, daß sich solche
Eindrücke auf ein breites Spektrum unterschiedlichster Bereiche beziehen können. Es
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gibt wohl kaum einen relevanten Lebensbereich, bezüglich dessen sich überhaupt kein
Eindruck einstellt. In diesem Buch können selbstverständlich nicht alle Bereiche berücksichtigt werden. Wir werden uns im wesentlichen auf Charaktermerkmale, Attraktivität, Aspekte der emotionalen Befindlichkeit sowie auf physiognomische Merkmale
beschränken. Auf zahlreiche andere Aspekte, wie zum Beispiel Beruf, Interessen, Freizeitaktivitäten werden wir hingegen nicht eingehen.
Wir gehen davon aus, daß unsere Eindrücke - auch wenn wir die betreffende Person
gar nicht kennen - keineswegs chaotisch und ungeordnet sind. Dies wollten wir zum
Beispiel mit den Überlegungen zur Freundlichkeit und Warmherzigkeit andeuten. Manche Merkmale hängen in unserer Vorstellung offenbar ziemlich eng miteinander zusammen, während sie zu anderen keine systematischen Beziehungen aufweisen. Wir
nehmen an, daß Eindrücke eine innere Struktur aufweisen, die ein kohärentes Bild ergibt. Eines unserer Ziele besteht darin, diese Struktur aufzuklären. Dabei werden wir
Zusammenhänge zur Persönlichkeitsforschung herstellen, die ähnliche Fragestellungen
aus einem anderen Blickwinkel untersucht.
An mehreren Stellen tauchte die Frage auf, ob bestimmte Eindrücke eher ganz persönlicher, rein subjektiver Natur sind, oder ob verschiedene Beobachter im wesentlichen
zu den gleichen oder zumindest zu ähnlichen Urteilen kommen würden. Dabei hatten
wir die Vermutung geäußert, daß das Ausmaß der Meinungsübereinstimmung davon
abhängt, welches Merkmal gerade zu beurteilen ist. Diese Vermutung soll in diesem
Buch überprüft werden. Wir werden untersuchen, bezüglich welcher Merkmale eher
hohe interindividuelle Übereinstimmungen bestehen und bezüglich welcher Merkmale
die Urteile verschiedener Beobachter weit auseinander klaffen.
Wir haben mehrfach betont, daß - wenn lediglich ein Bild vorliegt und sonst keine
weiteren Informationen zur Verfügung stehen - Eindrücke zwangsläufig auf Merkmalen
der äußeren Erscheinung beruhen müssen. Dies ist selbstverständlich auch dann der Fall,
wenn sich unsere Eindrücke auf Merkmale beziehen, die von der Natur der Sache her
gar nicht direkt beobachtbar sind. Dies gilt zum Beispiel für die verschiedensten Charaktermerkmale. Wenn wir die junge Frau für freundlich halten, dann müssen auf dem
Bild äußerlich sichtbare Merkmale vorhanden sein, die uns zu diesem Urteil führen. In
diesem Buch werden wir untersuchen, ob sich systematische Zusammenhänge zwischen
Persönlichkeitseindrücken auf der einen und äußerlich sichtbaren Merkmalen auf der
anderen Seite identifizieren lassen. Auf der Seite der äußeren Merkmale richtet sich unser Augenmerk auf eine bestimmte Merkmalsklasse, nämlich auf physiognomische
Merkmale. Wir fragen also nach dem Zusammenhang zwischen Persönlichkeitseindrükken und physiognomischen Merkmalen. Dabei geht es nicht so sehr um die Frage
„Hängt dieses physiognomische Merkmal mit jenem Eindruck zusammen?“. Uns interessiert vielmehr, ob einzelne Persönlichkeitseindrücke durch Kombinationen von physiognomischen Merkmalen vorhergesagt werden können, und welche speziellen Kombinationen dies gegebenenfalls leisten.
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Ich habe die ganze Zeit über von Eindrücken gesprochen. Diese sind natürlich nicht
direkt beobachtbar. Wir versuchen Eindrücke zu erfassen, indem wir Versuchspersonen
bitten, Gesichter zu beurteilen. Das heißt, unser Thema ist die Beurteilung von Gesichtern. Wenn wir dennoch häufig von Eindrücken sprechen, sollte stets bedacht werden,
daß wir diese nur indirekt in Form von Beurteilungen erfassen. Es geht in diesem Buch
also um verbalisierte Eindrücke.
Mit den vorangegangenen Ausführungen sind unsere wichtigsten Forschungsthemen
umrissen. Ich fasse sie in Form von drei Fragen zusammen:
Wie hängen die verschiedenen Aspekte der Eindruckswirkung von Gesichtern miteinander zusammen?
Wie hoch ist das Ausmaß der interindividuellen Übereinstimmung bei der Beurteilung verschiedenster Persönlichkeits- und physiognomischer Merkmale?
Lassen sich Persönlichkeitseindrücke durch geeignete Kombinationen physiognomischer Merkmale vorhersagen?
Das also sind die Themenbereiche und Fragen, die in diesem Buch im Blickpunkt
stehen. Im Zusammenhang mit diesen Fragestellungen wurden über mehrere Jahre hinweg empirische Untersuchungen durchgeführt, in denen jeweils bestimmte Teilaspekte
erforscht wurden. Diese Untersuchungen werden im vorliegenden Buch dargestellt. Dabei geht es nicht nur um eine Beschreibung der eigenen Untersuchungen, sondern auch
um eine Integration in den Fundus der psychologischen Forschung. Der aktuelle Forschungsstand wird - zumindest was die zentralen Fragen dieses Buches angeht - im
Überblick dargestellt.
Das Buch ist wie folgt aufgebaut:
Kapitel 1 soll den Gegenstandsbereich dieses Buches umreißen. In diesem Kapitel
werden einschlägige Befunde aus der psychologischen Forschung dargestellt und es
wird ein konzeptueller Rahmen für das Forschungsgebiet entwickelt. Außerdem gibt
dieses Kapitel einen kurzen Überblick über die Forschungsmethoden, die unseren eigenen empirischen Untersuchungen zugrunde liegen.
Im Kapitel 2 wird untersucht, ob der Persönlichkeitsbereich, der sich im Prinzip
durch Tausende und Abertausende verschiedener Merkmale charakterisieren ließe,
anhand einiger weniger grundlegender Persönlichkeitsdimensionen beschrieben werden kann. Diese Frage ist für die Persönlichkeitspsychologie von fundamentaler Bedeutung. Da es in unseren Untersuchungen aber um die Beurteilung fremder Gesichter
geht, wird diese Frage im Überschneidungsgebiet von Persönlichkeitspsychologie und
Sozialpsychologie erforscht.
Im Kapitel 3 geht es um die Frage nach der Urteilerübereinstimmung. Hier wird untersucht, bezüglich welcher Merkmale unterschiedliche Beobachter zu ähnlichen Urteilen gelangen und bezüglich welcher Merkmale verschiedene Urteiler jeweils etwas
anderes sehen.
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Im Kapitel 4 geht es um Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitseindrücken und
physiognomischen Merkmalen. Dabei geht es nicht nur darum, welche Eindrücke
durch ein einzelnes physiognomisches Merkmal hervorgerufen werden. Unser besonderes Augenmerk richtet sich auf die Frage, ob bestimmte Kombinationen von Einzelmerkmalen mit bestimmten Persönlichkeitseindrücken einher gehen.
Kapitel 5 enthält eine zusammenfassende Diskussion. Hier werden unsere Befunde
noch einmal im Überblick dargestellt und in den Stand der psychologischen Forschung integriert.
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