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26 FOTO: HEINX n THEMA kritik des musikverstehens VON SIMONE MAHRENHOLZ I l faut considérer le délire! Et, oui! L’organizer!»1 – «Es gilt, mit dem Delirium zu rechnen. Und, ja: es zu berechnen!» Dieses Bonmot von Pierre Boulez beinhaltet die zentrale Spannung, um deren Organisation es in jedem Herstellen und Erleben von Musik geht: Emotion, Ekstase, Genuss, Berührt- und Mitgerissenwerden einerseits (le délire). Und Reflexion, Verstehen- oder Nichtverstehen andererseits (als Nachvollzug der musikalischen Organisation). Intellekt versus Sinnlichkeit: dies ist andererseits eine Paarung, die weniger eine heilige Allianz als eine unheilige Alternative eingegangen ist. Denn aus Produktions-Sicht, jener des Komponisten, dürfte klar sein, dass das Erzeugen von Berührungen, gar Ekstasen ohne minuziöse Organisation nicht möglich ist. Aus der Sicht des Zuhörers, der Rezeptions-Sicht hingegen gelten Verstehen, etwa als analysierender Nachvollzug, einerseits und Berührt-Werden andererseits oft als einander ausschließend oder zumindest behindernd. Zu Recht? Sind es Alternativen? Warum scheint es gelegentlich so? Stellen wir andere geistige Akte an, wenn wir uns sinnlich und emotional treffen, berühren lassen wollen, als wenn wir hörend analysieren? Verwenden wir sozusagen einen anderen geistigen Motor oder Schlüssel? Zugespitzt gesagt: Macht Genießen taub? Macht Liebe blind in der Musik – oder macht sie hörend und sehend? Viele Musiker, Komponisten, Musikwissenschaftler würden diese Alternative strikt zurückweisen. Natürlich ist die «politisch korrekte» Antwort, dass erst Kennerschaft wahren Genuss ermöglicht, dass die Liebe gerade im analytischen Verstehen des Gebildes liegt und mit ihm steigt. Doch KÜNSTLERGRUPPE HEINRICH MUCKEN: PERFORMANCE «HERBERT», KLEVE 2007 nicht alle Liebhaber alter und zeitgenössischer Musik würden so argumentieren, und der mit der Frage aufgeworfene Sachverhalt ist ein komplexer. Geist oder Körper, Intellekt oder Sinnlichkeit – bereits Platon und vor ihm Parmenides haben beide Seiten gegeneinander ausgespielt und den nachfolgenden Denkern von Aristoteles bis Kant viel Arbeit aufgegeben, die geschaffene Kluft zu strukturieren und zu schließen.2 Im Folgenden sei dieses Verhältnis näher betrachtet und dazu der Begriff des Verstehens unter die Lupe genommen. Was kann Verstehen in Bezug auf Musik heißen? Ansatz 1 Es spricht vieles dafür, dass das Interesse für das Musikverstehen mit der Krise der neuen Musik Eingang in den Diskurs gefunden hat: Wo man über Musik-Verstehen spricht, beschäftigt einen in Wirklichkeit das Nichtverstehen. Nur wo das Scheitern der Kommunikation droht, kann das Verstehen in der Kunst überhaupt ein Thema werden. Verstehen ist in sinnlichästhetischen Phänomenen zunächst keine Kategorie. Man stelle sich etwa die Crème der Parfümeure oder Sommeliers vor, die ihre Kreationen gegenseitig unter der Kategorie des Verstehens diskutierten. Die Kriterien sind vielmehr andere: die der beteiligten Komponenten und ihrer gelungenen Komposition, die der einzelnen Wahrnehmungsphasen, der Verwandtschaften, Kontraste, Allianzen, Resonanzen, sinnlichen Strukturen. Nicht zuletzt: der Schönheit des Gesamtgebildes. Dasselbe gilt offensichtlich für musikalische Kompositionen. Man stelle sich folgenden Dialog vor: «Wie fandest du gestern im Konzert von Siegfried Mauser die sechste Sonate von Ustvolskaja?» «Ich habe sie verstanden!» Dies ist natürlich keine Information. Und: «Du verstehst mich nicht!» wird vermutlich auf dem Globus mindestens zehn mal häufiger gesagt als «Du verstehst mich!». Ansatz 2 Auf der anderen Seite ist Musik-Verstehen etwas, für das man hochmotiviert sein kann: Es gilt, Musik dergestalt zu begreifen, dass man ihren Gehalt, Struktur, Inhalt, Sinn, Effekt, ihre Gewalt oder Magie, ihr Potenzial und dessen Inhalt ergründet. Musik hat, wie gerade von Komponisten wie von Philosophen immer betont wurde, nicht nur Rätsel-, sondern auch Wahrheitscharakter (Adorno). Sie ist welt-erschließend (Lachenmann)3 und sie ist «höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie» (Beethoven). Musik ist über etwas, das nicht selbst Musik ist (Charles Seeger)4. Musik offenbart etwas. Sie hat Erkenntnis-Charakter.5 Vor diesem Hintergrund bekommt die Rede vom Musikverstehen einen anderen Sinn. Wir wollen wissen, was es ist, was nur diese Musik, etwa diese 6. Sonate von Ustvolskaja, artikuliert, für das in der Welt und in uns selbst nur sie ein Ausdruck, Schlüssel ist. Was es ist, das wir in uns finden, wenn wir entdecken, dass aus der zunächst vielleicht gelinden Langeweile und Irritation beim Prozess des Zuhörens (‹ich verstehe das nicht›) schlagartig und überraschend Faszination wird – und aus dieser unversehens eine radikalisierte Parteinahme für das Werk? Dies ist ein Rätsel. Im Grunde geht es dabei zugleich wesentlich um das Unsselbst-Verstehen. Das Stück und wir hörend engagierten Subjekte gehen beim Wahrnehmen eine Symbiose ein (das Stück existiert nicht ohne uns, und unser geist-sinnlicher Gesamtzustand ist in dem Moment oft ganz jener der Musik). Wir erfassen etwas, wir finden in uns eine Resonanz, einen Wider- 27 hall; unsere Organe, unser Geist und unsere Seele bilden eine Einheit, mit deren Hilfe wir durch das Werk bekannt werden mit einer anderen Reagibilität und mithin einer anderen Realität. Und gerade, dass wir diese nicht in Worte fassen, nicht in Worten ablegen können, ist im besten Sinne aufregend, bringt uns ins Grübeln, in einen Zustand der Offenheit: ins Gegenteil des Ablegens und verstehenden Abschließens. Wir haben damit mittlerweile zwei Formen von Musikverstehen im Blick. Das des hörenden Nachvollzugs – die Syntax- oder Strukturebene des Werks, das musikalische Material. Dies sei Musikverstehen I genannt. Und das, was Musik mitteilt: was über sie selbst hinausgeht. Ihr Gehalt, Inhalt, Offenbarungscharakter. Ihr Welterschließungscharakter: Musikverstehen II. Dieses hat auch wesentlich mit ihrer Schönheit zu tun. Sie ist das sinnlich-physische Lockmittel für das Erkunden ihres Gehalts, ihrer Organisation. Wir wollen die Welt, aus der diese akustische Kunde stammt, diese Nachrichten einer anderen Vorstellungsrealität, erfassen. Diese beiden Formen gilt es also im Sinne einer «Kritik des Musikverstehens» auseinanderzulegen: im Sinne des griechischen krinein, Unterscheidens: sie in ihren Differenzen, Gemeinsamkeiten und Wechselabhängigkeiten zu untersuchen. Sind es überhaupt zwei unterschiedliche Formen von Verstehen? 28 Kommen wir noch mal zur ersten Form, dem Verstehen auf der syntaktischen oder Material-Ebene von Kunst: Musikverstehen I. Das Verstehen neuer Musik, so sagten wir, ist vor allem als Gegenstück zum stets drohenden Nicht-Verstehen von Interesse. Worum geht es uns überhaupt, wenn wir von uns bzw. vom Musikerlebnis fordern, dass wir es verstehen? Wie lässt sich das, was wir intendieren, beschreiben? Es geht uns zunächst darum, nachzuvollziehen, warum ein Klangereignis auf das andere folgt. Ein Mensch, der ein Stück neuer Musik zum ersten Mal hört, entwickelt im Vollzug des Hörens unwillkürlich Hypothesen über den Fortgang, und wenn seine Hypothesen enttäuscht werden – was nicht nur Komponisten neuer Musik in der Regel intendieren –, schätzt er dies in der Regel dann, wenn er zugleich mithören kann, inwiefern seine Erwartungen enttäuscht worden sind. (Der Trugschluss und der Witz sind die einfachsten Formen dieses Prinzips.) Das heißt, wir wollen gerade in der neuen Musik keinesfalls orientierungslos mit einer Ansamm- lung von Tönen/Geräuschen konfrontiert werden. Wir suchen instantan Anhaltspunkte: zum Unterscheiden, Gewichten, mental Ergänzen, Antizipieren, Revidieren von Erwartungen und auf dieser Basis – Genießen. Wir wollen Gliedern und Strukturieren beim Hören, Trennen in wichtigere und unwichtigere Aspekte des konkreten Musikerlebnisses: in Horizonte aus Vorder-, Nebenund Hintergrund, in oben und unten, Bruch und Kontinuität. Musik verstehen heißt in anderen Worten: im Hören Erwartungen auszubilden und konstatieren zu können, inwiefern diese Erwartungen enttäuscht worden sind. Was dazu führt, dass unsere nächsten Erwartungen anders ausfallen, wir blitzartig und unbewusst ein neues Hypothesengeflecht bilden und damit unsere eigenen Grenzen, unser Hypothesenrepertoire, unseren Reaktionsspielraum erweitern. Musik verstehen bedeutet in diesem Sinne: beim Hören erfassen zu können, warum etwas so ist, wie es ist. Ansatz 3 Damit sind wir beim dritten Aspekt des Musikverstehens. Wir wollen nämlich Musik in einem Meta-, oder besser: ProtoSinne auch nicht verstehen. Musik soll uns nicht (nur) bestätigen, sondern gleichzeitig überraschen, widerständig sein. NichtVerstehen im ersten Moment ist die Bedingung dafür, unsere Hör- und DenkKategorien zu erweitern, uns mit unseren Grenzen zu konfrontieren und uns über sie hinauszuführen. Wir wollen, dass Musik uns nicht so lässt, wie wir waren, bevor wir sie hörten. Dieses ist nun nur durch einen doppelten Schachzug möglich, der scheinbar selbstwidersprüchlich ist. Musik leistet dies nicht durch einfache Überraschung, Chaos, Anders-Sein. Sondern sie kann es nur, wenn sie einerseits Regeln liefert, etabliert – und diese dann andererseits bricht. Elliott Carter hat diese doppelte Aufgabe des Komponisten einmal sehr nachdrücklich formuliert, und sie ist auch die Pointe jeder Kreativitätsforschung. Diese lautet gleichsam: Kenne und präsentiere dasjenige mit größter Deutlichkeit – was du schließlich brichst. – Elliott Carter: «In posttonaler Musik hat schlicht jeder Komponist, immer wenn er ein Stück schreibt, die Möglichkeit, sozusagen seine eigene Sprache zu kreieren, lediglich eingeschränkt durch den Anspruch, dass es eine Sprache sein muss, das heißt, dass aus der Sicht des imaginierten Hörers die morphologischen Elemente in jedem Fall wiederer- kennbar sein müssen und dass ihr Status als musikalische Normen und Abweichungen klar im Werk eingeführt wird. […] Somit scheint, dass ein Werk, um überzeugend zu sein, einen großen Rahmen etablieren muss, innerhalb dessen – wie ich sagte – die Spielregeln erklärt werden.»6 Wir haben als Hörer Musik gegenüber also einerseits einen imperialistischen Aneignungstrieb, Sinnmachungs-Trieb: Was uns begegnet, soll unseren Struktur- und Gestaltbildungsmechanismen Futter geben; wir wollen sozusagen die kognitiven Zähne unserer Sinnbildungs-Maschinerie in das HörMaterial schlagen können – um eine etwas drastische Metapher zu verwenden. Dies ist so, weil das so war – dies geht aus jenem hervor – dieses Muster ist eine Abwandlung, Verkürzung, Augmentation von dem gerade eben, etc. Wir wollen diese uns evolutionär mitgegebene kognitive Ausstattung anwenden, immer neu erproben; und Kant hat gesehen, dass, wenn uns dies besonders gut gelingt, wenn, wie er es nennt, unsere Erkenntniskräfte anlässlich eines Gegenstands oder sinnlichen Reizes besonders harmonisch zusammenarbeiten, dass diese SelbstWahrnehmung es ist, die uns zu dem Urteil «das ist schön» verleitet. «Wohlproportionierte Stimmung» nennt er diese Harmonie der «Erkenntniskräfte» mit einer musikalischen Metapher.7 Dieser beschriebene kognitiv-sinnliche Aneignungstrieb kann sich allerdings im Umgang mit Ästhetischem nur selbst feiern, wenn er auch gefordert wird. Erst überwundene Schwierigkeiten, drohendes Misslingen führen dazu, die sinnliche Begegnung mit dem Kunstwerk in der Tat als ästhetisch gewinnbringend, schön, als kognitiv-erlebnismäßiges Wachstum, Grenz-Erweiterung zu betrachten. Kein Imperator möchte bereits bekanntes Terrain erneut erobern. Wir möchten nicht schlicht verstehen, wir möchten erfassen, inwiefern wir zunächst nicht verstanden und auf dieser Basis ein neues Verstehen höherer Ordnung erzielten: die «bestimmte Negation» Adornos. Oder auch, frei nach Beckett: Beim Scheitern möchten wir beobachten, inwiefern wir gescheitert sind und so besser scheitern, und wir erreichen auf diese Weise ein höheres Verständnis – ein Verständnis zweiter Ordnung sozusagen: vor allem unserer selbst. Die kognitive oder auch nur sinnlichperzeptuelle Überforderung in der Begegnung mit neuer Musik zu genießen, dieses Gefühl einer lustvollen Überwältigung auf Zeit, entspricht dem romantischen Erha- n THEMA Wir haben im Bereich von Musikverstehen I, dem Nachvollziehen der musikalischen Strukturzusammenhänge, damit zwei Aspekte beschrieben: – Verstehen als Krisen-Kategorie (via Nicht-Verstehen) und auf dieser Basis – Verstehen als Sinngebungs-, Strukturoder Musterbildungs-Akt. Kommen wir wiederum zur zweiten Form: Musikverstehen II, zugespitzt gesagt nicht einem Verstehen von Musik, sondern ein Verstehen via Musik, über und durch Musik. Die Rede war von Welt-Aufschluss, Selbst-Aufschluss, Enthüllung, Wahrheitscharakter etc. Es geht hier nicht mehr allein um die musikalische Syntax, die musikalische Struktur, das Material, sondern um die musikalische Referenz, Bezugnahme, das, was sie bedeutet: ihre Semantik, könnte man in sehr eingeschränktem Sinn sagen, ihre fluide, von Moment zu Moment und in jedem Stück wechselnde Referenz. Und selbst Eduard Hanslick, der Advokat der Musik als tönend bewegter, selbstbezüglicher Formen, sprach der Musik Sinn und Metaphorizität zu: Musikverstehen II.8 Auch hier, beim Verstehen durch Musik (Welt- und Selbstaufschluss), gibt es wieder mehrere Möglichkeiten. Und natürlich: Verstehen von Musik (Material) und Verstehen durch Musik (Referenz, Bezugnahme) lassen sich auf einer bestimmten Ebene nicht voneinander trennen, sie sind aber dennoch unterschiedliche Aktivitäten. Zunächst: Wie können abstrakte Töne, die nichts nachahmen und keiner Semantik unterstehen, «absolute Musik» also (Carl Dahlhaus) und ihre zeitgenössischen Pendants, auf etwas Bezug nehmen, über Welt sein, Welt- und Selbstaufschluss geben? Das ist in der Tat das faszinierendste Rätsel nicht nur des Musikverstehens, sondern der Musik als solcher. Und: es hängt eng mit der Möglichkeit des Nicht-Verstehens zusammen. Generell ist Musik gewöhnlich nicht vor-perforiert, nicht vor-gegliedert in wich- FLORIAN HECKER: KLANGINSTALLATION, CHISENHALE GALLERY, LONDON 2010 tige und unwichtige Bestandteile, in das, was zusammengehört und das, was Kontraste bildet. Darin ist sie anders als Sprache, die zu verstehen gerade bedeutet, im Hören beispielsweise zu wissen, wo ein Wort aufhört und ein anderes anfängt. Was man beim Hören völlig fremder Sprachen beobachten kann – man kann sie nicht gliedern –, das begegnet uns in Musik, gerade neuer Musik, häufig ebenfalls. Weit radikaler noch als Sprache bietet sie zunächst einen Dschungel der Wahrnehmung, und die Schneisen, die Wege der Orientierung, die wir selbst bahnen müssen, lernen wir durch nichts anderes FOTO: ANDY KEATE; COURTESY SADIE COLES HQ, LONDON AND GALERIE NEU, BERLIN benheitsdiskurs. Wir wollen die Überforderung in eine Forderung verwandeln. Eine Kombination aus Verstehen und Nichtverstehen benötigen wir also immer – und je nachdem, wo wir den Akzent setzen, ist das Begegnende entweder schön oder erhaben, mit Nietzsche gesprochen: entweder apollinisch oder dionysisch. als durch Hören. Wir suchen und wissen beim Hören zunächst nicht, nach was wir suchen. – Dies ist noch das eben beschriebene Musikverstehen I. Was wir dann finden: Formen, Strukturen und damit die Möglichkeiten der Gliederung, Strukturierung, ist bei jedem Werk etwas Anderes, etwas Neues – ist, im Fall großer Werke, etwas vormals Un-erhörtes. Wir bilden gleichsam ein Repertoire, ein neues Vokabular aus, im Umgang mit diesem Stück. Es ist ein nonverbales, ein sinnliches Vokabular: sinnliche Wahrnehmungs- und Sinnkategorien, akustische Prädikate. Ein unwillkürli- 30 cher Abstrahierungsvorgang, der wiederum aus unserer unwillkürlichen Strukturstiftungs-Aktivität resultiert. Und dieses nonverbale Vokabular – so die These – wenden wir zugleich auf Außermusikalisches an. Unwillkürlich beziehen wir diese nonverbalen Begriffe, diese neuen, unerhörten KlangPrädikate auf Welt, und was zurückkommt, ist eine neu gegliederte Welt, bislang so nie aufgeschlossene Daseinsform: Welt kommt uns grundlegend anders entgegen.9 Dies ist die Pointe des Zusammenhangs von Musikverstehen I und Musikverstehen II. So wie der Besitz neuer Worte, neuer Prädikate Realität anders gliedern, darzustellen und damit wahrzunehmen erlaubt, so führt auch der Besitz neuer akustischer Strukturen, akustischer Prädikate zu einem veränderten Weltverhältnis. Konkrete individuelle Musik-Idiome und Künstler-Persönlichkeiten thematisieren die Welt unterschiedlich und enthüllen uns damit sehr verschiedene Züge von ihr. Man denke etwa an Iannis Xenakis oder György Ligeti, die eine tendenziell überpersönliche, eine kosmische Aufmerksamkeit innerhalb unseres Weltverhältnisses ausdrücken. Stanley Kubrick verwendete die Musik des Letzteren nicht zufällig für seine Science-Fiction-Szenen in dem Film 2001. Wir empfangen Kunde von etwas Außersubjektivem, etwas Objektivem. Stellare Verhältnisse, überzeitliche Gesetze, mineralische Erosionsprozesse, ZeitZyklen, Zeitbiegungen. Hier liegt eine entscheidende Frage: Wie kommen wir vom Musikverstehen I (musikalische Syntax, Material) zu Musikverstehen II (musikalische Referenz, Bedeutung, Sinn)? Die Antwort war bereits angedeutet: indem wir wie beschrieben beim Musikhörund Verstehensprozess akustische Zusammenhänge, Strukturen und in diesem Sinne akustisches Vokabular, Prädikate aufspüren, diese lernen (ein unwillkürlicher Prozess) und sie dann, ebenfalls unwillkürlich, auf Welt anwenden: was Welt neu gliedert, uns anders entgegenkommen lässt. Prädikate haben und Prädikate anwenden ist eins. Dies hatte bereits Wittgenstein gesehen: Ist die Bedeutung eines Begriffs sein Gebrauch, dann provoziert bereits der Besitz, das Gelernt-Haben eines neues Begriffs seine Anwendung. Und man könnte auf der Basis unseres dritten Aspekts des Musikverstehens nun sagen: Wir lernen keine neuen Prädikate ohne vorheriges Missverstehen oder genauer: Nicht-Verstehen. Auch dies ist ein Grund, weshalb die meisten zeitgenössischen Komponisten diese ‹Störung› des Vollzugs gezielt intendieren.10 Natürlich betrifft dieser Aufschluss, dieses Zufallen neuer Realitäten nicht nur Welt, sondern auch uns als Subjekte. Wir können dadurch, dass dezidiert ein Subjekt – des Komponisten, des Interpreten – sich in bestimmter Richtung musikalisch äußert, mit Regionen unserer Selbst, inneren Wirklichkeiten, Uraltem in uns konfrontiert werden, Realitäten, für die wir per Resonanz jetzt erstmals sensibilisiert sind und die wir scheinbar vergessen hatten. Und damit kommen wir abschließend zu den Berührungen: dem Gegenpol unserer Eingangsopposition von Délire und Organisation. Gerade weil und sofern wir Musik zunächst nicht verstehen, sind wir gezwungen, haben wir keine andere Möglichkeit, als uns höchst intentional berühren zu lassen. Unser Musikhören entspricht damit zum Teil der Situation, wenn ein unbekannter und faszinierender Mensch in einer fremden Sprache zu uns spricht. Wir brauchen unsere physische Reagibilität, unsere Sensibilität als Seismographen. Wir müssen auf den Tonfall achten, den Ausdruck. Anderes gibt es nicht. Und was wir dann bekommen, ist in der Regel etwas ebenso Relevantes, Neues, Zentrales wie die wörtliche Bedeutung. Dies hatte wiederum Wittgenstein gesehen: «Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken. […] Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.»11 Ausdruck und Inhalt, Berührung (Ausdruck) und Nachvollzug der Organisation (Verstehen) fallen damit auseinander. Genauer: sie liegen auf unterschiedlichen logischen Ebenen. Dies beantwortet zum Teil unsere Ausgangsfrage. Tun wir Unterschiedliches, wenn wir uns für das Zeigen, den Ausdruck einer Musik öffnen (Berühren lassen) und wenn wir «Verstehen» wollen, die «sagende» Organisation nachvollziehen? Antwort: Ja. Beide Aktivitäten hängen zwar direkt zusammen. Sie spielen sich jedoch auf unterschiedlichen Ebenen ab.12 Inwiefern die möglichen mentalen Aktivitäten unterschiedliche sind, mit denen wir uns einem Musikstück nähern (etwa: holistisch-wahrnehmende versus analytisch-trennende), wäre hier die sich anschließende Frage. In der Praxis der Musik-Erfahrung oszillieren wir vermutlich beständig zwischen beiden Formen hin und her. Fazit: Ein bestimmter Grad des initialen Nichtverstehens ist die Bedingung, das Entrée für das Verstehen. Denn nur in dieser Situation können wir nicht anders als unsere Aufmerksamkeit für ein neues Vokabular zu öffnen. Und dieses zu lernen geht zunächst ausschließlich über: Sich-berühren-Lassen. Um mit Boulez’ Gedanken zu enden: Erst das Nichtverstehen öffnet unsere Bereitschaft für das délire. Und dieses wiederum weckt einen unstillbaren Appetit auf das Verstehen der Organisation. n 1 Pierre Boulez: «Son, verbe, synthèse», in: Pierre Boulez: Points de repère, hg. unter Mitarbeit von JeanJacques Nattiez, Paris 1981, S. 170. (Erstdruck: «Son et verbe» in: Cahiers de la Compagnie Madeleine Renaud/Jean-Louis Barrault, 22/23 (1958), S. 119125). 2 vgl. hierzu Simone Mahrenholz: Kreativität – Eine philosophische Analyse, Berlin 2011, Kap. 3 und 4 (im Erscheinen). 3 vgl. etwa Helmut Lachenmann: Musik als existentielle Erfahrung, Wiesbaden 1996, S. 278. 4 vgl. Charles Seeger: «Toward a Unitary Field Theory for Musicology», in: Studies in Musicology, 19351975, Berkeley, S. 102-138, hier S. 104, 107. 5 vgl. Simone Mahrenholz: Musik und Erkenntnis. Stuttgart/Weimar 22000. 6 in: Allen Edwards: Flawed Words and Stubborn Sounds: A Conversation with Elliott Carter, New York 1971, S. 86 f., hier S. 88. – Deutsche Übersetzung: Programmheft zu Elliott Carter: What Next. Staatsoper Unter den Linden Berlin (Hg.) 1999, S. 157. 7 vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, §§ 9 und 21. 8 vgl. Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Darmstadt 1991, S. 34. 9 Simone Mahrenholz: «Musik-Verstehen jenseits der Sprache – Zum Metaphorischen in der Musik», in: Michael Polth u. a. (Hg.):Klang – Struktur – Metapher. Musikalische Analyse zwischen Phänomen und Begriff, Stuttgart/Weimar 2000, S. 219-236. 10 vgl. Simone Mahrenholz: «Der notationale Fehlschluss – Programmatik als produktive Selbsttäuschung in der Neuen Musik». In: Paragrana 15 (2006/2), S. 197-206. 11 Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus (1984) (Werkausgabe, Bd. 1). Frankfurt am Main 1984, Satz 4.121, 4.1212, S. 34-35 12 So wie wir einerseits eine Sprache verstehen können und dennoch den Inhalt des in der Sprache Gesagten nicht verstehen (etwa weil uns Fachkenntnisse oder Erfahrung fehlen), so können wir umgekehrt auch den Inhalt von etwas Gesagtem am Ausdruck erkennen, ohne die Sprache (schon) zu beherrschen.