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n THEMA
kritik des musikverstehens
VON SIMONE MAHRENHOLZ
I
l faut considérer le délire! Et, oui! L’organizer!»1 – «Es gilt, mit dem Delirium
zu rechnen. Und, ja: es zu berechnen!»
Dieses Bonmot von Pierre Boulez beinhaltet die zentrale Spannung, um deren Organisation es in jedem Herstellen und Erleben
von Musik geht: Emotion, Ekstase, Genuss,
Berührt- und Mitgerissenwerden einerseits
(le délire). Und Reflexion, Verstehen- oder
Nichtverstehen andererseits (als Nachvollzug der musikalischen Organisation). Intellekt versus Sinnlichkeit: dies ist andererseits
eine Paarung, die weniger eine heilige Allianz als eine unheilige Alternative eingegangen ist. Denn aus Produktions-Sicht, jener
des Komponisten, dürfte klar sein, dass das
Erzeugen von Berührungen, gar Ekstasen
ohne minuziöse Organisation nicht möglich
ist. Aus der Sicht des Zuhörers, der Rezeptions-Sicht hingegen gelten Verstehen, etwa
als analysierender Nachvollzug, einerseits
und Berührt-Werden andererseits oft als einander ausschließend oder zumindest behindernd. Zu Recht? Sind es Alternativen?
Warum scheint es gelegentlich so? Stellen
wir andere geistige Akte an, wenn wir uns
sinnlich und emotional treffen, berühren
lassen wollen, als wenn wir hörend analysieren? Verwenden wir sozusagen einen anderen geistigen Motor oder Schlüssel? Zugespitzt gesagt: Macht Genießen taub? Macht
Liebe blind in der Musik – oder macht sie
hörend und sehend?
Viele Musiker, Komponisten, Musikwissenschaftler würden diese Alternative
strikt zurückweisen. Natürlich ist die «politisch korrekte» Antwort, dass erst Kennerschaft wahren Genuss ermöglicht, dass die
Liebe gerade im analytischen Verstehen des
Gebildes liegt und mit ihm steigt. Doch
KÜNSTLERGRUPPE HEINRICH MUCKEN:
PERFORMANCE «HERBERT», KLEVE 2007
nicht alle Liebhaber alter und zeitgenössischer Musik würden so argumentieren, und
der mit der Frage aufgeworfene Sachverhalt
ist ein komplexer. Geist oder Körper, Intellekt oder Sinnlichkeit – bereits Platon und
vor ihm Parmenides haben beide Seiten gegeneinander ausgespielt und den nachfolgenden Denkern von Aristoteles bis Kant viel
Arbeit aufgegeben, die geschaffene Kluft zu
strukturieren und zu schließen.2 Im Folgenden sei dieses Verhältnis näher betrachtet
und dazu der Begriff des Verstehens unter
die Lupe genommen. Was kann Verstehen
in Bezug auf Musik heißen?
Ansatz 1
Es spricht vieles dafür, dass das Interesse
für das Musikverstehen mit der Krise der
neuen Musik Eingang in den Diskurs gefunden hat: Wo man über Musik-Verstehen spricht, beschäftigt einen in Wirklichkeit das Nichtverstehen. Nur wo das Scheitern der Kommunikation droht, kann das
Verstehen in der Kunst überhaupt ein
Thema werden. Verstehen ist in sinnlichästhetischen Phänomenen zunächst keine
Kategorie. Man stelle sich etwa die Crème
der Parfümeure oder Sommeliers vor, die
ihre Kreationen gegenseitig unter der Kategorie des Verstehens diskutierten. Die
Kriterien sind vielmehr andere: die der
beteiligten Komponenten und ihrer gelungenen Komposition, die der einzelnen
Wahrnehmungsphasen, der Verwandtschaften, Kontraste, Allianzen, Resonanzen, sinnlichen Strukturen. Nicht zuletzt:
der Schönheit des Gesamtgebildes. Dasselbe gilt offensichtlich für musikalische
Kompositionen. Man stelle sich folgenden
Dialog vor:
«Wie fandest du gestern im Konzert von
Siegfried Mauser die sechste Sonate von
Ustvolskaja?»
«Ich habe sie verstanden!»
Dies ist natürlich keine Information.
Und: «Du verstehst mich nicht!» wird vermutlich auf dem Globus mindestens zehn
mal häufiger gesagt als «Du verstehst mich!».
Ansatz 2
Auf der anderen Seite ist Musik-Verstehen etwas, für das man hochmotiviert sein
kann: Es gilt, Musik dergestalt zu begreifen, dass man ihren Gehalt, Struktur, Inhalt, Sinn, Effekt, ihre Gewalt oder Magie,
ihr Potenzial und dessen Inhalt ergründet.
Musik hat, wie gerade von Komponisten
wie von Philosophen immer betont wurde,
nicht nur Rätsel-, sondern auch Wahrheitscharakter (Adorno). Sie ist welt-erschließend (Lachenmann)3 und sie ist «höhere
Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie» (Beethoven). Musik ist über etwas,
das nicht selbst Musik ist (Charles Seeger)4. Musik offenbart etwas. Sie hat Erkenntnis-Charakter.5
Vor diesem Hintergrund bekommt die
Rede vom Musikverstehen einen anderen
Sinn. Wir wollen wissen, was es ist, was nur
diese Musik, etwa diese 6. Sonate von Ustvolskaja, artikuliert, für das in der Welt und
in uns selbst nur sie ein Ausdruck, Schlüssel
ist. Was es ist, das wir in uns finden, wenn
wir entdecken, dass aus der zunächst vielleicht gelinden Langeweile und Irritation
beim Prozess des Zuhörens (‹ich verstehe
das nicht›) schlagartig und überraschend
Faszination wird – und aus dieser unversehens eine radikalisierte Parteinahme für das
Werk? Dies ist ein Rätsel. Im Grunde geht
es dabei zugleich wesentlich um das Unsselbst-Verstehen. Das Stück und wir hörend
engagierten Subjekte gehen beim Wahrnehmen eine Symbiose ein (das Stück existiert
nicht ohne uns, und unser geist-sinnlicher
Gesamtzustand ist in dem Moment oft ganz
jener der Musik). Wir erfassen etwas, wir
finden in uns eine Resonanz, einen Wider-
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hall; unsere Organe, unser Geist und unsere
Seele bilden eine Einheit, mit deren Hilfe
wir durch das Werk bekannt werden mit
einer anderen Reagibilität und mithin einer
anderen Realität. Und gerade, dass wir diese
nicht in Worte fassen, nicht in Worten ablegen können, ist im besten Sinne aufregend,
bringt uns ins Grübeln, in einen Zustand der
Offenheit: ins Gegenteil des Ablegens und
verstehenden Abschließens.
Wir haben damit mittlerweile zwei Formen von Musikverstehen im Blick. Das des
hörenden Nachvollzugs – die Syntax- oder
Strukturebene des Werks, das musikalische
Material. Dies sei Musikverstehen I genannt.
Und das, was Musik mitteilt: was über sie
selbst hinausgeht. Ihr Gehalt, Inhalt, Offenbarungscharakter. Ihr Welterschließungscharakter: Musikverstehen II. Dieses hat auch
wesentlich mit ihrer Schönheit zu tun. Sie
ist das sinnlich-physische Lockmittel für das
Erkunden ihres Gehalts, ihrer Organisation.
Wir wollen die Welt, aus der diese akustische
Kunde stammt, diese Nachrichten einer anderen Vorstellungsrealität, erfassen. Diese
beiden Formen gilt es also im Sinne einer
«Kritik des Musikverstehens» auseinanderzulegen: im Sinne des griechischen krinein,
Unterscheidens: sie in ihren Differenzen,
Gemeinsamkeiten und Wechselabhängigkeiten zu untersuchen. Sind es überhaupt zwei
unterschiedliche Formen von Verstehen?
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Kommen wir noch mal zur ersten Form,
dem Verstehen auf der syntaktischen oder
Material-Ebene von Kunst: Musikverstehen
I. Das Verstehen neuer Musik, so sagten wir,
ist vor allem als Gegenstück zum stets drohenden Nicht-Verstehen von Interesse. Worum geht es uns überhaupt, wenn wir von
uns bzw. vom Musikerlebnis fordern, dass
wir es verstehen? Wie lässt sich das, was wir
intendieren, beschreiben? Es geht uns zunächst darum, nachzuvollziehen, warum ein
Klangereignis auf das andere folgt. Ein
Mensch, der ein Stück neuer Musik zum
ersten Mal hört, entwickelt im Vollzug des
Hörens unwillkürlich Hypothesen über den
Fortgang, und wenn seine Hypothesen enttäuscht werden – was nicht nur Komponisten neuer Musik in der Regel intendieren –,
schätzt er dies in der Regel dann, wenn er
zugleich mithören kann, inwiefern seine Erwartungen enttäuscht worden sind. (Der
Trugschluss und der Witz sind die einfachsten Formen dieses Prinzips.) Das heißt, wir
wollen gerade in der neuen Musik keinesfalls orientierungslos mit einer Ansamm-
lung von Tönen/Geräuschen konfrontiert
werden. Wir suchen instantan Anhaltspunkte:
zum Unterscheiden, Gewichten, mental Ergänzen, Antizipieren, Revidieren von Erwartungen und auf dieser Basis – Genießen.
Wir wollen Gliedern und Strukturieren beim
Hören, Trennen in wichtigere und unwichtigere Aspekte des konkreten Musikerlebnisses: in Horizonte aus Vorder-, Nebenund Hintergrund, in oben und unten, Bruch
und Kontinuität.
Musik verstehen heißt in anderen Worten: im Hören Erwartungen auszubilden
und konstatieren zu können, inwiefern diese
Erwartungen enttäuscht worden sind. Was
dazu führt, dass unsere nächsten Erwartungen anders ausfallen, wir blitzartig und unbewusst ein neues Hypothesengeflecht bilden und damit unsere eigenen Grenzen, unser
Hypothesenrepertoire, unseren Reaktionsspielraum erweitern. Musik verstehen bedeutet in diesem Sinne: beim Hören erfassen
zu können, warum etwas so ist, wie es ist.
Ansatz 3
Damit sind wir beim dritten Aspekt des
Musikverstehens. Wir wollen nämlich Musik in einem Meta-, oder besser: ProtoSinne auch nicht verstehen. Musik soll uns
nicht (nur) bestätigen, sondern gleichzeitig überraschen, widerständig sein. NichtVerstehen im ersten Moment ist die Bedingung dafür, unsere Hör- und DenkKategorien zu erweitern, uns mit unseren
Grenzen zu konfrontieren und uns über
sie hinauszuführen. Wir wollen, dass Musik
uns nicht so lässt, wie wir waren, bevor
wir sie hörten.
Dieses ist nun nur durch einen doppelten Schachzug möglich, der scheinbar selbstwidersprüchlich ist. Musik leistet dies nicht
durch einfache Überraschung, Chaos, Anders-Sein. Sondern sie kann es nur, wenn sie
einerseits Regeln liefert, etabliert – und diese
dann andererseits bricht. Elliott Carter hat
diese doppelte Aufgabe des Komponisten
einmal sehr nachdrücklich formuliert, und
sie ist auch die Pointe jeder Kreativitätsforschung. Diese lautet gleichsam: Kenne und
präsentiere dasjenige mit größter Deutlichkeit – was du schließlich brichst. – Elliott
Carter: «In posttonaler Musik hat schlicht
jeder Komponist, immer wenn er ein Stück
schreibt, die Möglichkeit, sozusagen seine
eigene Sprache zu kreieren, lediglich eingeschränkt durch den Anspruch, dass es eine
Sprache sein muss, das heißt, dass aus der
Sicht des imaginierten Hörers die morphologischen Elemente in jedem Fall wiederer-
kennbar sein müssen und dass ihr Status als
musikalische Normen und Abweichungen
klar im Werk eingeführt wird. […] Somit
scheint, dass ein Werk, um überzeugend zu
sein, einen großen Rahmen etablieren muss,
innerhalb dessen – wie ich sagte – die Spielregeln erklärt werden.»6
Wir haben als Hörer Musik gegenüber
also einerseits einen imperialistischen Aneignungstrieb, Sinnmachungs-Trieb: Was uns
begegnet, soll unseren Struktur- und Gestaltbildungsmechanismen Futter geben; wir
wollen sozusagen die kognitiven Zähne unserer Sinnbildungs-Maschinerie in das HörMaterial schlagen können – um eine etwas
drastische Metapher zu verwenden. Dies ist
so, weil das so war – dies geht aus jenem
hervor – dieses Muster ist eine Abwandlung,
Verkürzung, Augmentation von dem gerade
eben, etc. Wir wollen diese uns evolutionär
mitgegebene kognitive Ausstattung anwenden, immer neu erproben; und Kant hat
gesehen, dass, wenn uns dies besonders gut
gelingt, wenn, wie er es nennt, unsere Erkenntniskräfte anlässlich eines Gegenstands
oder sinnlichen Reizes besonders harmonisch zusammenarbeiten, dass diese SelbstWahrnehmung es ist, die uns zu dem Urteil
«das ist schön» verleitet. «Wohlproportionierte Stimmung» nennt er diese Harmonie
der «Erkenntniskräfte» mit einer musikalischen Metapher.7
Dieser beschriebene kognitiv-sinnliche
Aneignungstrieb kann sich allerdings im
Umgang mit Ästhetischem nur selbst feiern,
wenn er auch gefordert wird. Erst überwundene Schwierigkeiten, drohendes Misslingen führen dazu, die sinnliche Begegnung
mit dem Kunstwerk in der Tat als ästhetisch
gewinnbringend, schön, als kognitiv-erlebnismäßiges Wachstum, Grenz-Erweiterung
zu betrachten. Kein Imperator möchte bereits bekanntes Terrain erneut erobern. Wir
möchten nicht schlicht verstehen, wir möchten erfassen, inwiefern wir zunächst nicht
verstanden und auf dieser Basis ein neues
Verstehen höherer Ordnung erzielten: die
«bestimmte Negation» Adornos. Oder auch,
frei nach Beckett: Beim Scheitern möchten
wir beobachten, inwiefern wir gescheitert
sind und so besser scheitern, und wir erreichen auf diese Weise ein höheres Verständnis – ein Verständnis zweiter Ordnung sozusagen: vor allem unserer selbst.
Die kognitive oder auch nur sinnlichperzeptuelle Überforderung in der Begegnung mit neuer Musik zu genießen, dieses
Gefühl einer lustvollen Überwältigung auf
Zeit, entspricht dem romantischen Erha-
n THEMA
Wir haben im Bereich von Musikverstehen I, dem Nachvollziehen der musikalischen Strukturzusammenhänge, damit zwei
Aspekte beschrieben:
– Verstehen als Krisen-Kategorie (via
Nicht-Verstehen) und auf dieser Basis
– Verstehen als Sinngebungs-, Strukturoder Musterbildungs-Akt. Kommen wir wiederum zur zweiten Form: Musikverstehen
II, zugespitzt gesagt nicht einem Verstehen
von Musik, sondern ein Verstehen via Musik, über und durch Musik. Die Rede war
von Welt-Aufschluss, Selbst-Aufschluss,
Enthüllung, Wahrheitscharakter etc. Es geht
hier nicht mehr allein um die musikalische
Syntax, die musikalische Struktur, das Material, sondern um die musikalische Referenz, Bezugnahme, das, was sie bedeutet:
ihre Semantik, könnte man in sehr eingeschränktem Sinn sagen, ihre fluide, von Moment zu Moment und in jedem Stück wechselnde Referenz. Und selbst Eduard Hanslick, der Advokat der Musik als tönend bewegter, selbstbezüglicher Formen, sprach
der Musik Sinn und Metaphorizität zu: Musikverstehen II.8 Auch hier, beim Verstehen
durch Musik (Welt- und Selbstaufschluss),
gibt es wieder mehrere Möglichkeiten. Und
natürlich: Verstehen von Musik (Material)
und Verstehen durch Musik (Referenz, Bezugnahme) lassen sich auf einer bestimmten
Ebene nicht voneinander trennen, sie sind
aber dennoch unterschiedliche Aktivitäten.
Zunächst: Wie können abstrakte Töne,
die nichts nachahmen und keiner Semantik
unterstehen, «absolute Musik» also (Carl
Dahlhaus) und ihre zeitgenössischen Pendants, auf etwas Bezug nehmen, über Welt
sein, Welt- und Selbstaufschluss geben? Das
ist in der Tat das faszinierendste Rätsel nicht
nur des Musikverstehens, sondern der Musik
als solcher. Und: es hängt eng mit der Möglichkeit des Nicht-Verstehens zusammen.
Generell ist Musik gewöhnlich nicht
vor-perforiert, nicht vor-gegliedert in wich-
FLORIAN HECKER: KLANGINSTALLATION,
CHISENHALE GALLERY, LONDON 2010
tige und unwichtige Bestandteile, in das, was
zusammengehört und das, was Kontraste
bildet. Darin ist sie anders als Sprache, die
zu verstehen gerade bedeutet, im Hören beispielsweise zu wissen, wo ein Wort aufhört
und ein anderes anfängt. Was man beim
Hören völlig fremder Sprachen beobachten
kann – man kann sie nicht gliedern –, das
begegnet uns in Musik, gerade neuer Musik,
häufig ebenfalls. Weit radikaler noch als
Sprache bietet sie zunächst einen Dschungel
der Wahrnehmung, und die Schneisen, die
Wege der Orientierung, die wir selbst bahnen müssen, lernen wir durch nichts anderes
FOTO: ANDY KEATE; COURTESY SADIE COLES HQ, LONDON AND GALERIE NEU, BERLIN
benheitsdiskurs. Wir wollen die Überforderung in eine Forderung verwandeln. Eine
Kombination aus Verstehen und Nichtverstehen benötigen wir also immer – und je
nachdem, wo wir den Akzent setzen, ist das
Begegnende entweder schön oder erhaben,
mit Nietzsche gesprochen: entweder apollinisch oder dionysisch.
als durch Hören. Wir suchen und wissen
beim Hören zunächst nicht, nach was wir
suchen. – Dies ist noch das eben beschriebene Musikverstehen I. Was wir dann finden: Formen, Strukturen und damit die
Möglichkeiten der Gliederung, Strukturierung, ist bei jedem Werk etwas Anderes,
etwas Neues – ist, im Fall großer Werke,
etwas vormals Un-erhörtes. Wir bilden
gleichsam ein Repertoire, ein neues Vokabular aus, im Umgang mit diesem Stück. Es ist
ein nonverbales, ein sinnliches Vokabular:
sinnliche Wahrnehmungs- und Sinnkategorien, akustische Prädikate. Ein unwillkürli-
30
cher Abstrahierungsvorgang, der wiederum
aus unserer unwillkürlichen Strukturstiftungs-Aktivität resultiert. Und dieses nonverbale Vokabular – so die These – wenden
wir zugleich auf Außermusikalisches an.
Unwillkürlich beziehen wir diese nonverbalen Begriffe, diese neuen, unerhörten KlangPrädikate auf Welt, und was zurückkommt,
ist eine neu gegliederte Welt, bislang so nie
aufgeschlossene Daseinsform: Welt kommt
uns grundlegend anders entgegen.9
Dies ist die Pointe des Zusammenhangs
von Musikverstehen I und Musikverstehen
II. So wie der Besitz neuer Worte, neuer
Prädikate Realität anders gliedern, darzustellen und damit wahrzunehmen erlaubt,
so führt auch der Besitz neuer akustischer
Strukturen, akustischer Prädikate zu einem
veränderten Weltverhältnis. Konkrete individuelle Musik-Idiome und Künstler-Persönlichkeiten thematisieren die Welt unterschiedlich und enthüllen uns damit sehr verschiedene Züge von ihr. Man denke etwa an
Iannis Xenakis oder György Ligeti, die eine
tendenziell überpersönliche, eine kosmische
Aufmerksamkeit innerhalb unseres Weltverhältnisses ausdrücken. Stanley Kubrick
verwendete die Musik des Letzteren nicht
zufällig für seine Science-Fiction-Szenen in
dem Film 2001. Wir empfangen Kunde von
etwas Außersubjektivem, etwas Objektivem. Stellare Verhältnisse, überzeitliche Gesetze, mineralische Erosionsprozesse, ZeitZyklen, Zeitbiegungen.
Hier liegt eine entscheidende Frage: Wie
kommen wir vom Musikverstehen I (musikalische Syntax, Material) zu Musikverstehen II (musikalische Referenz, Bedeutung,
Sinn)? Die Antwort war bereits angedeutet:
indem wir wie beschrieben beim Musikhörund Verstehensprozess akustische Zusammenhänge, Strukturen und in diesem Sinne
akustisches Vokabular, Prädikate aufspüren,
diese lernen (ein unwillkürlicher Prozess)
und sie dann, ebenfalls unwillkürlich, auf
Welt anwenden: was Welt neu gliedert, uns
anders entgegenkommen lässt. Prädikate haben und Prädikate anwenden ist eins. Dies
hatte bereits Wittgenstein gesehen: Ist die
Bedeutung eines Begriffs sein Gebrauch,
dann provoziert bereits der Besitz, das Gelernt-Haben eines neues Begriffs seine Anwendung.
Und man könnte auf der Basis unseres
dritten Aspekts des Musikverstehens nun
sagen: Wir lernen keine neuen Prädikate
ohne vorheriges Missverstehen oder genauer: Nicht-Verstehen. Auch dies ist ein
Grund, weshalb die meisten zeitgenössischen
Komponisten diese ‹Störung› des Vollzugs
gezielt intendieren.10
Natürlich betrifft dieser Aufschluss, dieses Zufallen neuer Realitäten nicht nur Welt,
sondern auch uns als Subjekte. Wir können
dadurch, dass dezidiert ein Subjekt – des
Komponisten, des Interpreten – sich in bestimmter Richtung musikalisch äußert, mit
Regionen unserer Selbst, inneren Wirklichkeiten, Uraltem in uns konfrontiert werden,
Realitäten, für die wir per Resonanz jetzt
erstmals sensibilisiert sind und die wir
scheinbar vergessen hatten.
Und damit kommen wir abschließend
zu den Berührungen: dem Gegenpol unserer
Eingangsopposition von Délire und Organisation. Gerade weil und sofern wir Musik
zunächst nicht verstehen, sind wir gezwungen, haben wir keine andere Möglichkeit, als
uns höchst intentional berühren zu lassen.
Unser Musikhören entspricht damit zum
Teil der Situation, wenn ein unbekannter
und faszinierender Mensch in einer fremden
Sprache zu uns spricht. Wir brauchen unsere physische Reagibilität, unsere Sensibilität als Seismographen. Wir müssen auf den
Tonfall achten, den Ausdruck. Anderes gibt
es nicht. Und was wir dann bekommen, ist
in der Regel etwas ebenso Relevantes, Neues,
Zentrales wie die wörtliche Bedeutung. Dies
hatte wiederum Wittgenstein gesehen:
«Was sich in der Sprache ausdrückt,
können wir nicht durch sie ausdrücken. […]
Was gezeigt werden kann, kann nicht
gesagt werden.»11
Ausdruck und Inhalt, Berührung (Ausdruck) und Nachvollzug der Organisation
(Verstehen) fallen damit auseinander. Genauer: sie liegen auf unterschiedlichen logischen Ebenen. Dies beantwortet zum Teil
unsere Ausgangsfrage. Tun wir Unterschiedliches, wenn wir uns für das Zeigen, den
Ausdruck einer Musik öffnen (Berühren
lassen) und wenn wir «Verstehen» wollen,
die «sagende» Organisation nachvollziehen?
Antwort: Ja. Beide Aktivitäten hängen zwar
direkt zusammen. Sie spielen sich jedoch auf
unterschiedlichen Ebenen ab.12 Inwiefern
die möglichen mentalen Aktivitäten unterschiedliche sind, mit denen wir uns einem
Musikstück nähern (etwa: holistisch-wahrnehmende versus analytisch-trennende), wäre
hier die sich anschließende Frage. In der
Praxis der Musik-Erfahrung oszillieren wir
vermutlich beständig zwischen beiden Formen hin und her.
Fazit: Ein bestimmter Grad des initialen
Nichtverstehens ist die Bedingung, das Entrée für das Verstehen. Denn nur in dieser
Situation können wir nicht anders als unsere
Aufmerksamkeit für ein neues Vokabular zu
öffnen. Und dieses zu lernen geht zunächst
ausschließlich über: Sich-berühren-Lassen.
Um mit Boulez’ Gedanken zu enden: Erst
das Nichtverstehen öffnet unsere Bereitschaft
für das délire. Und dieses wiederum weckt
einen unstillbaren Appetit auf das Verstehen
der Organisation.
n
1
Pierre Boulez: «Son, verbe, synthèse», in: Pierre Boulez: Points de repère, hg. unter Mitarbeit von JeanJacques Nattiez, Paris 1981, S. 170. (Erstdruck: «Son
et verbe» in: Cahiers de la Compagnie Madeleine
Renaud/Jean-Louis Barrault, 22/23 (1958), S. 119125).
2
vgl. hierzu Simone Mahrenholz: Kreativität – Eine
philosophische Analyse, Berlin 2011, Kap. 3 und 4
(im Erscheinen).
3
vgl. etwa Helmut Lachenmann: Musik als existentielle Erfahrung, Wiesbaden 1996, S. 278.
4
vgl. Charles Seeger: «Toward a Unitary Field Theory
for Musicology», in: Studies in Musicology, 19351975, Berkeley, S. 102-138, hier S. 104, 107.
5
vgl. Simone Mahrenholz: Musik und Erkenntnis.
Stuttgart/Weimar 22000.
6
in: Allen Edwards: Flawed Words and Stubborn
Sounds: A Conversation with Elliott Carter, New York
1971, S. 86 f., hier S. 88. – Deutsche Übersetzung: Programmheft zu Elliott Carter: What Next. Staatsoper
Unter den Linden Berlin (Hg.) 1999, S. 157.
7
vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, §§ 9 und
21.
8
vgl. Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen.
Darmstadt 1991, S. 34.
9
Simone Mahrenholz: «Musik-Verstehen jenseits der
Sprache – Zum Metaphorischen in der Musik», in:
Michael Polth u. a. (Hg.):Klang – Struktur – Metapher. Musikalische Analyse zwischen Phänomen
und Begriff, Stuttgart/Weimar 2000, S. 219-236.
10
vgl. Simone Mahrenholz: «Der notationale Fehlschluss – Programmatik als produktive Selbsttäuschung in der Neuen Musik». In: Paragrana 15
(2006/2), S. 197-206.
11
Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus (1984) (Werkausgabe, Bd. 1). Frankfurt am Main
1984, Satz 4.121, 4.1212, S. 34-35
12
So wie wir einerseits eine Sprache verstehen können und dennoch den Inhalt des in der Sprache
Gesagten nicht verstehen (etwa weil uns Fachkenntnisse oder Erfahrung fehlen), so können wir umgekehrt auch den Inhalt von etwas Gesagtem am Ausdruck erkennen, ohne die Sprache (schon) zu beherrschen.