Das digitale Bild wird adaptiv: In portablen
Medien und interaktiven Anwendungen wird
zunehmend Prozessor- und Sensortechnik
verbaut, die es ermöglicht, Bilder an ihre
Umwelt anzupassen und dabei auf Eingaben
und Situationen in Echtzeit zu reagieren.
Bild, Körper und Raum werden miteinander
verschaltet und synchronisiert, mit
langfristigen Folgen für die menschliche
Wahrnehmung, für Handlungen und Entscheidungen. Die erweiterten Möglichkeiten
bedingen neue Abhängigkeiten von
Technologien und von den ästhetischen
und operativen Vorgaben jener, die diese
Technologien gestalten und bereitstellen.
Adaptivität
Reihe
Begriffe des
digitalen Bildes
Matthias Bruhn, Kathrin Friedrich, Moritz Queisner: Was
sind adaptive Bilder? In: Matthias Bruhn, Kathrin Friedrich,
Lydia Kähny, Moritz Queisner (Hg.): Adaptivität. Begriffe des
digitalen Bildes. Bd 1, München, Open Publishing LMU, 2021,
S. 11–16, https://doi.org/10.5282/ubm/epub.76955.
Beitrag https://doi.org/10.5282/ubm/epub.76955
Band https://doi.org/10.5282/ubm/epub.76331
ISBN print 978-3-487-16053-5
Matthias Bruhn, Kathrin Friedrich, Moritz Queisner
Was sind adaptive Bilder?
In der medizinischen Diagnostik, in der Architekturplanung,
in der industriellen Produktion oder in der Unterhaltungsbranche fungieren digitale Visualisierungen im wachsenden
Maße als zentrale Schnittstellen der Interaktion; neben
der reinen Informationsvermittlung haben sie längst auch
steuernde Funktion. Mit der zweiten Welle der Digitalisierung
– die oftmals mit dem Begriff einer ‚Industrie 4.0‘1 verbunden wird – vollzieht sich derzeit ein Paradigmenwechsel,
der die Möglichkeiten und Praktiken digitaler Bildgebung
grundlegend verändert. Sensor- und Display-Technologien,
aber auch intelligente Software-Umgebungen greifen in die
Beziehungen zwischen Menschen und Computern ein und
rekonfigurieren insbesondere den Umgang mit der physischen
Umgebung. Handlungsabläufe, Körper und Verhaltensweisen werden zunehmend digital erfasst, mit ihrer Umgebung
korreliert und an digitale Netze angeschlossen.2 Während
der Übergang von analogen zu digitalen Bildern seit den
1970er Jahren die Modi des Umgangs mit Bildern bereits in
vielfältiger Weise verändert hat, konfrontiert diese zweite
Digitalisierungswelle viele Nutzer*innen mit einer neuen
Generation von Werkzeugen, die menschliches Denken und
Handeln auf bildlichem Wege nicht nur begleiten, sondern einrahmen, vorspuren oder sogar antizipieren.3 Am deutlichsten
1
2
3
Der Begriff Industrie 4.0 wurde erstmals 2013 im Perspektivenpapier der von der deutschen Bundesregierung initiierten
Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft geprägt und wurde als
gleichnamiges Projekt Teil der Hightech-Strategie der Bundesregierung. Siehe: Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft,
Perspektivenpapier Forschungsunion. Wohlstand durch Forschung
– Vor welchen Aufgaben steht Deutschland?, 2013.
Mark Andrejevic, Mark Burdon: Defining the Sensor Society. In:
Television & New Media, 2014, Heft-Nr. 16, S. 19–36; Jordan
Crandall: The Geospatialization of Calculative Operations.
Tracking, Sensing and Megacities: Theory, Culture & Society 6,
2010, Nr. 27, S. 68–90; Mark B. N. Hansen: Feed-forward. On
the future of twenty-first-century media, Chicago 2015.
Die Untersuchung des Übergangs vom digitalen zum adaptiven Bild
steht im Mittelpunkt des Projekts ‚Adaptive Bilder. Technik und
Ästhetik situativer Bildgebung‘ an der Staatlichen Hochschule
für Gestaltung in Karlsruhe. Das Vorhaben erforscht die besondren
ästhetischen, technischen und operationalen Aspekte adaptiver
Bildlichkeit.
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werden die Folgen dieses Wandels in der Medizin, wo sich
bildgebende Technologien tief in die ärztliche Praxis hinein
auswirken, etwa indem sie diagnostische Entscheidungen
unterstützen oder chirurgische Eingriffe anleiten,4 sowie
im Kontext militärischer Einsätze, in denen computer- und
robotergestützte Waffentechnologien maßgeblich durch
visualisierte Sensordaten gelenkt werden, bei denen Bilder die
primäre, oft sogar die einzige Grundlage für Handlung und
Wahrnehmung bilden.5
In der Unterhaltungsindustrie ermöglichen immer ausgefeiltere Techniken der Foto- und Videobearbeitung die
Verknüpfung videobasierter Inhalte mit computergenerierten
Bildern, die sich sowohl auf der Daten- als auch der Bildebene auswirkt, ohne jedoch für die Nutzer*innen sichtbar zu
werden. Streaming-Dienste wie Netflix suchen nach neuen
Möglichkeiten, Werbeeinnahmen zu generieren, indem sie
computergenerierte Werbebilder direkt in Shows und Filme
einbetten. Die Platzierung von Produkten durch Integration
und Überlagerung von Objekten in einer laufenden Video- oder
Fernsehübertragung ist zu einem gebräuchlichen Werkzeug
der personalisierten Werbung geworden. Im Unterschied zu
bisherigen Formen der Produktplatzierung wird der Prozess
automatisiert, indem durch den Einsatz maschinellen Lernens
entsprechende Objekte und Bereiche identifiziert werden, die
sich für die Einblendung von digitalen Bildern oder Objekten innerhalb einer Szene eignen. Das Rendering virtueller
Inhalte in das Video kann inzwischen in Echtzeit erfolgen,
so dass die platzierten Objekte auf Grundlage individueller
Nutzungsprofile ausgewählt und angepasst werden können
(Abb. 1). Anbieter sind so in der Lage, in Kombination mit dem
Zugriff auf riesige Mengen an Kundeninformationen, visuelle
Inhalte zu generieren und anzubieten, die vermeintlich den
4
5
Kathrin Friedrich und Sarah Diner: Virtuelle Chirurgie. In: Dawid
Kasprowicz und Stefan Rieger. (Hg.): Handbuch Virtualität, Wiesbaden
2019; https://doi.org/10.1007/978-3-658-16358-7_19-1;
Moritz Queisner: Medical Screen Operations: How Head-Mounted Displays Transform Action and Perception in Surgical Practice. In:
Media Tropes, 1, 2016, Heft 6, S. 30–51.
Nina Franz und Moritz Queisner: The Actors Are Leaving the Control
Station. The Crisis of Cooperation in Image-guided Drone Warfare.
In: Luisa Feiersinger, Kathrin Friedrich und Moritz Queisner (Hg.):
Image action space. Situating the screen in visual practice,
Berlin/Boston 2018, S. 115–132.
Abb. 1, Rendering virtueller Inhalte in ein Video basierend auf automatisierter Bildanalyse (mit freundlicher
Genehmigung von Mirriad Inc., https://youtu.be/npW0OTWOWLE, 2019).
Konsumgewohnheiten der Zuschauenden entsprechen, indem sie Seh- und Konsumpräferenzen, Alter, Geschlecht oder
Standort ermitteln und auf der Bildebene integrieren.
Eine solche personalisierte Werbung auf Basis der Metriken digitaler Mediennutzung, beschleunigt nicht nur den
Niedergang des klassischen Werbespots der Fernseh-Ära.
Derartige Entwicklungen verdeutlichen zudem das Ausmaß,
mit dem die aktuelle massenmediale Bildproduktion durch
Softwaretechnologien automatisiert und gesteuert wird. Inhalte werden bis auf die Ebene des Einzelbildes und bis zum
individuellen Seherlebnis der Nutzer*innen choreographiert
und angepasst. So können etwa Markennamen in visuelle
Leerstellen eines Nachrichtenstreams eingeblendet, Produkte
in eine Filmszene eingefügt und Plakatwände in einem Fußballstadion mit virtuellen Bannern so überlagert und erweitert
werden, dass Personen oder Objekte im Vordergrund nicht
verdeckt werden (Abb. 2). Digital erzeugte Sportwerbung
passt sich dabei an die Datenprofile des Publikums, die jeweiligen Spielsituationen und geografischen Regionen oder die
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Abb. 2, Virtuelle Plakatwerbung in einem Fußballstadion
(mit freundlicher Genehmigung von Supponor Ltd.; https://
youtu.be/AJtLAYmdgTw, 2018).
Abb. 3, Kund*innen können mit der Augmented-Reality-App
Ikea Place das Aussehen und die Passform von (virtuellen)
Ikea-Möbeln im physischen Raum ihres Wohnzimmers simulieren. (Mit freundlicher Genehmigung von Inter IKEA
Systems B.V.; https://youtu.be/UudV1VdFtuQ, TC:0:47).
Perspektive der Kameras vor Ort an. Auch bei Casting- oder
Gameshows kann Werbung auf vermeintliche Publikumspräferenzen zugeschnitten werden – bis hin zu den Kaffeetassen
der Jury, die virtuell mit Markennamen versehen werden,
welche sich wiederum aus den Online-Shop-Bestellungen der
aktuellen Zuschauer*innen ableiten lassen. All das geschieht
in Echtzeit. Trotz solcher subtiler Werbebotschaften wird
jedoch auch das Publikum immer geschickter darin, Produktplatzierungen zu erkennen und Werbung zu umgehen.
Mit dem Konzept der virtuellen Produktplatzierung und
-ersetzung sollen wirtschaftliche Interessen daher mit der
Situation und dem Kontext ihrer Präsentation verschmelzen
und untrennbar mit Medieninhalten verbunden werden.
Eine weitere Form bildbasierter Anpassungsprozesse geht
weit über den gemeinhin definierten Bereich des digitalen
Bildes hinaus und reicht tief in den physischen Raum hinein.
Augmented-Reality-Apps wie Ikea Place ermöglichen es Verbraucher*innen, mittels der Kamera ihres Smartphones oder
Tablets optisch ihre Wohnung zu vermessen, um maßstabsgetreu im Kamera-Stream des Geräts Ikea-Möbel zu visualisieren. So soll die Kundschaft das Aussehen und die Passform
von neuen Möbeln bereits vor dem Kauf und in der eigenen
Umgebung simulieren können. Die App rendert dazu in Echtzeit die virtuellen 3D-Objekte passend zum Maßstab und zur
Topografie der heimischen Umgebung. Natürlich ist die App
mit der Bestandsdatenbank von Ikea verbunden und liefert
zusätzliche Informationen zu den Möbeln. Durch die Veränderung der Kameraperspektive können Nutzer*innen innerhalb der grafischen Oberfläche der App virtuelle Möbel in der
eigenen Wohnung platzieren und positionieren (Abb. 3).
Auch in diesem Fall produzieren und aktualisieren bildgebende Technologien Inhalte im Hinblick auf soziale
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Kontexte und kommerzielle Interessen. Hinzu kommt die
Anpassung an den Realraum. Sensor- und Bildgebungstechnologien erlauben es, diesen zu erfassen und zu verarbeiten,
Bewegungen in Echtzeit zu verfolgen und in geometrische
Formen zu transformieren, sodass die räumliche Umgebung
instantan berechenbar wird. Virtuelle Objekte lassen sich
maßstabsgetreu einsetzen. Visualisierungen mit Augmented-Reality-Apps wie Ikea Place werden von der Perspektive
der Benutzer*innen abhängig gemacht, die ihrerseits in einen kontinuierlichen Anpassungsprozess zwischen Bild und
Raum eingebunden werden, indem die Darstellung Blickwinkeln und Bewegungen folgt.
Hier zeigt sich eine Entwicklung, die in der Bild- und
Medienforschung bisher nur marginale Beachtung gefunden hat: Während Bilder das Objekt und seine Darstellung
oftmals räumlich voneinander trennen, scheinen Anwendungen wie Ikea Place computergenerierte Bilder mit der
physischen Welt zu verschmelzen. Ihr Beispiel zeigt, wie die
Objekte, Standpunkte und Nutzungen einer digitalen App in
ein größeres raumzeitliches Bezugssystem gebracht werden,
das topografische Gegebenheiten einbeziehen und auf
Positionen und Aktionen mit unterschiedlichen Datenvisualisierungen reagieren kann. In Kombination mit entsprechender Rechenleistung und Sensorik sowie der immer genaueren
Vorhersagbarkeit von menschlichen Verhaltensweisen durch
maschinelles Lernen entsteht die nächste Generation digitaler
Werkzeuge und Anwendungen zur situativen und kontextspezifischen digitalen Bildgebung. Aus der technischen
Anpassung von Bild, Handlung und Raum geht allmählich ein
neuer Typus visueller Medien hervor, für den hier der Begriff
des adaptiven Bildes vorschlagen wird.
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Weitere Beiträge in Band 1
Szenarien adaptiver Bildgebung
Matthias Bruhn, Kathrin Friedrich,
Lydia Kähny, Moritz Queisner
https://doi.org/10.5282/ubm/epub.76957
Coworking auf dem Trecker.
Das menschliche Auge und die Digitalisierung in der Landwirtschaft
Carmen Westermeier
https://doi.org/10.5282/ubm/epub.76958
Der angepasste Blick.
Personalisierte Werbung in Zeiten maschinellen Lernens
Matthias Planitzer
https://doi.org/10.5282/ubm/epub.76959
Adaptivität – die Zukunft digitaler Bildgebung?
Matthias Bruhn, Kathrin Friedrich, Moritz Queisner
https://doi.org/10.5282/ubm/epub.76960
Herausgegeben von
Matthias Bruhn
Kathrin Friedrich
Lydia Kähny
Moritz Queisner
DFG-Schwerpunktprogramm ‚Das digitale Bild‘
Projekt Adaptive Bilder. Technik und Ästhetik situativer
Bildgebung
Erstveröffentlichung: 2021
Gestaltung und Satz: Lydia Kähny
Creative Commons Lizenz:
Namensnennung – Keine Bearbeitung (CC BY-ND)
Diese Publikation wurde finanziert durch die Deutsche
Forschungsgemeinschaft.
München, Open Publishing LMU
DOI 10.5282/ubm/epub.76331
ISBN ISBN 978-3-487-16053-5
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Reihe: Begriffe des digitalen Bildes
Reihenherausgeber
Hubertus Kohle
Hubert Locher