KRITERION, Nr. 2 (1991), pp.11– 28
Otto Neumaier
BEMERKUNGEN ZU SINGERS THESEN
Kaum ein Philosoph des 20.Jahrhunderts genießt in
der Öffentlichkeit so viel Aufmerksamkeit wie Peter
Singer. Dies bedeutet freilich nicht, daß er bei Fach
kollegen und anderen Menschen das Ansehen genösse,
der “größte Philosoph aller Zeiten” zu sein; vielmehr
ist Singer aufgrund einiger Bemerkungen, die sich (ne
ben anderen) in seinem Buch Praktische Ethik inden,
zum “Fall” geworden, an dem sich die Geister schei
den: Während die einen Singer immer wieder vorwer
fen, daß er mit seinen Gedanken über die Möglich
keit der moralischen Rechtfertigung von Euthanasie
“menschenverachtende Thesen” vertrete, betonen die
anderen, daß er “lediglich” auf Probleme aufmerksam
mache, die durch die moderne Intensivmedizin akut
geworden sind, so daß wir uns ihnen stellen müssen,
wie auch immer wir zu Singers “Thesen” stehen.1
Singers “Thesen” haben in der philosophischen und
wissenschaftlichen Welt seit ihrer Veröffentlichung
Widerspruch herausgefordert. Darüber hinaus hat
sich in den deutschsprachigen Ländern die “Diskus
sion” dieser “Thesen” jedoch so entwickelt, daß ihre
Diskussion vielen als nicht wünschenswert erscheint,
weil sie eine Neuaulage des unter dem Namen ‘Eut
hanasie’ laufenden Programms zur Vernichtung “le
bensunwerten Lebens” befürchten, das im Sinne der
nationalsozialistischen Ideologie zur “Bereinigung”
der deutschen Rasse beitragen sollte. Wie die “Chronik
der laufenden Ereignisse” zeigt, sind die Befürchtun
gen über ein Wiedererwachen des Nationalsozialismus
ebenso ernst zu nehmen wie die Ängste, daß wir durch
die Gegebenheiten des modernen Gesundheitswesens
überfordert sind. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß
diese beiden Probleme notwendig zusammenhängen.
Selbst wenn das der Fall wäre, stände auf einem völ
lig anderen Blatt, ob Peter Singer Gedanken äußerte,
die denen des Nationalsozialismus entsprechen oder
ähnlich sind. Und selbst wenn auch das zuträfe, wäre
immer noch zu fragen, ob dies rechtfertigt, all jene, die
dafür plädieren, Singers “Thesen” wegen ihres Bezugs
auf gravierende Probleme zu diskutieren, in einem
“Aufwaschen” ebenfalls der Wiederbelebung jener
Gedanken zu bezichtigen.
Singers “Thesen” sind inzwischen so “populär”, daß
kein Philosoph umhin kommt, die Gretchenfrage zu
beantworten, wie er es damit halte. Wenn ich im fol
genden vorerst auf eine solche Stellungnahme verzich
te (also Singer wegen seiner “Thesen” weder anklage
noch verteidige), so geschieht dies vor allem deshalb,
weil die bisherige Diskussion von Singers “Thesen”
(zumal hierzulande) in theoretischer Hinsicht einige
Wünsche offen läßt: So beruhen etwa viele Vorwürfe
gegen Singer weniger auf der Kenntnis seiner eigenen
Schriften (insbesondere seiner Praktischen Ethik) als
auf dem, was “man” von anderen gehört oder bei ande
ren gelesen hat. Wenn Singers eigene Worte bemüht
werden, so geschieht dies indes oft, indem sie aus dem
Zusammenhang gerissen werden. Darüber hinaus wird
dabei nicht immer hinreichend bedacht, ob Singer et
was behauptet, annimmt, diskutiert oder erwähnt.2
Diese Arten des Äußerns von Gedanken unterschei
den sich voneinander sowohl in bezug auf ihre Bedeu
tung wie auch hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und
Konsequenzen. Nur wenn hinreichend klar ist, womit
wir es zu tun haben bzw. wann wir es mit Thesen zu
tun haben, ist es auch möglich, diese Thesen angemes
sen zu bewerten. Dementsprechend versuche ich also,
zunächst einmal festzustellen, was Singer “wirklich
sagte”, d.h., welche Thesen Singer vertritt (bzw. ge
nauer: was Singer als These vertritt). Es mag sein, daß
sich Singers Thesen (aus welchen Gründen auch im
mer) letztlich in der Tat als menschenverachtend her
ausstellen. Um dies zu zeigen und um eine solche Kri
tik rechtfertigen zu können, müssen wir jedoch zuerst
klären, was Singers Thesen sind und welche von Sin
gers Gedanken nicht mit Thesen gleichzusetzen sind.
Dasselbe gilt für eine Verteidigung seiner Thesen.
Davon abgesehen, daß Singers “Thesen” möglicher
weise nicht mit allergrößter Sorgfalt rezipiert und in
terpretiert wurden (und werden), ist denkbar, daß sie
auch dadurch Mißverständnisse verursacht haben (bzw.
solchen ausgesetzt sind), daß sie auf einen Boden fal
2. So erhob etwa Volker Schönwiese in einem Vortrag, den er
am 18.April 1991 in Salzburg hielt, neben bereits Bekanntem
gegen Singer auch den Vorwurf, er stütze sich auf die Thesen
von Eysenck und Jensen, denen zufolge sich einzelne Men
schen bzw. die Angehörigen verschiedener Rassen angebo
renermaßen in ihrer Intelligenz voneinander unterscheiden.
In der Tat werden jene Autoren von Singer (1979) mehrfach
erwähnt; Schönwiese hat jedoch anscheinend übersehen, daß
Singer deren Thesen nicht nur ausdrücklich als falsch be
zeichnet, sondern darüber hinaus betont, daß selbst im Falle
ihrer Richtigkeit daraus nicht auf die Ungleichheit der Men
schen geschlossen werden könne; vgl. z.B. Singer (1979: 31,
40ff.). Derart “leichtfüßige” Anschuldigungen nähren den
Verdacht, daß sie weniger auf eine wissenschaftliche Kritik
als auf einen Rufmord zielen (und dadurch die Versuche einer
ernsthaften Kritik von Singers Thesen behindern).
1. Da oft unklar ist, ob das, was Singer als “These” zuge
schrieben wird, von ihm auch als These gemeint ist, setze ich
diesen Ausdruck vorläuig in Anführungszeichen.
11
KRITERION
nug Enttäuschung zur Folge, eben weil ihr Ergebnis
nicht den Erwartungen entspricht bzw. “der Tyrannei
des Gewohnten” widerspricht. Dieser Zwiespalt wirft
die Frage auf, ob der Wunsch nach einer philosophi
schen Erörterung “allgemein menschlicher Probleme”
tatsächlich so ernst gemeint ist, wie er vorgetragen wird,
oder ob dahinter vielmehr das Bedürfnis steckt, daß die
Philosophen aufgrund ihres alltäglichen Umgangs mit
gedanklichen Problemen anderen Menschen, die vor
ähnlich gelagerten Problemen stehen, klar sagen, wo
rum es geht und was sie tun sollen (daß Philosophen
also “geistiges Brot” für andere backen, denen dafür
Rezepte und Techniken fehlen). Dieser Wunsch ist teils
berechtigt teils fehlgeleitet: So kann etwa die philoso
phische Relexion praktischer Probleme zwar den Weg
für deren Lösung ebnen, aber das heißt weder, daß die
Probleme durch die philosophische Tätigkeit selbst ge
löst werden, noch, daß die erzielte Lösung der ange
strebten entspricht; es ist noch nicht einmal gesagt, daß
wir zu einer positiven Lösung gelangen, sondern die
Lösung kann auch in der Erkenntnis bestehen, daß ein
Problem (zumindest auf absehbare Zeit) unlösbar ist.
Dieser Gesichtspunkt ist auch bei der Beurteilung
von Singers “Thesen” zu beachten, denn Singer be
tont selbst, daß er bereits seit über 20 Jahren vor
dem Hintergrund der modernen medizintechnischen
Möglichkeiten über die Frage “nachgedacht, geschrie
ben und gelesen” habe, wie etwa Ärzte über das Le
ben von anderen Menschen entscheiden können, doch
sei ihm bislang “keine plausible Antwort begegnet”.5
Dies legt nahe, daß von Singers “Thesen” ähnlich wie
von anderen philosophischen Erörterungen praktisch
keine Gewißheit über Fragen des Lebens und Ster
bens von Menschen und anderen Wesen zu erwarten
ist, sondern die Erörterung von Möglichkeiten, die
zum Teil unserem gewohnten Denken widersprechen.
Dementsprechend sind auch seine “Thesen” mit einer
gewissen Vorsicht (im doppelten Sinne dieses Wortes)
zu genießen.
scher Erwartungen an die Philosophie im allgemeinen
und an die Ethik im besonderen gefallen sind. Aus die
sem Grund müssen wir kurz auf die Ziele und Grenzen
der philosophischen Tätigkeit eingehen3, ehe wir uns
dem ethischen Standpunkt von Singer und seinen dar
aus resultierenden “Thesen” zuwenden können.
1. Einige Merkmale des Philosophierens
Philosophen gelten gewöhnlich als Menschen, die in
einer Sprache, die sonst niemand versteht, über Proble
me schreiben, die sonst niemanden interessieren. Dieser
Einschätzung zufolge wird von den Philosophen erwar
tet, daß sie sich nicht so sehr mit allgemeinen Grund
lagenfragen befassen, sondern vielmehr mit Problemen
von allgemein menschlicher Bedeutung, und zwar auf
eine Weise, die auch für andere Menschen einsehbar ist.
Diese Erwartung ist indes ebenso problematisch wie die
Einschätzung, auf die sie sich stützt:
(i) Entgegen dem ersten Anschein hängen philoso
phische Überlegungen sehr wohl mit unserem Leben
zusammen; das heißt jedoch weder, daß derlei Zusam
menhänge direkt an den philosophischen Gedanken
abzulesen sind, noch, daß sie so aussehen, wie wir
erwarten. Insbesondere bietet uns die philosophische
Relexion keine Gewißheit in bezug auf empirische
Fragen, sondern ihr Wert besteht oft “in der Ungewiß
heit, die sie mit sich bringt. […] Die Philosophie kann
uns zwar nicht mit Sicherheit sagen, wie die richtigen
Antworten auf die gestellten Fragen heißen, aber sie
kann uns viele Möglichkeiten zu bedenken geben, die
unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des
Gewohnten befreien. Sie vermindert unsere Gewißhei
ten darüber, was die Dinge sind, aber sie vermehrt un
ser Wissen darüber, was die Dinge sein könnten.”4
(ii) Wenn sich die philosophische Tätigkeit auf
Themen richtet, die von unmittelbarer Bedeutung für
das Leben von Menschen sind, dann hat sie oft ge
3. Da die Rede von “Philosophie” zur Annahme verführt,
diese sei nur etwas für bestimmte Menschen (d.h. Philo
sophen), ist mit Schlick (1930: 36) eher von philosophischer
Tätigkeit zu sprechen (die durch gewisse Ziele und Merkma
le bestimmt ist und als solche grundsätzlich von beliebigen
Menschen ausgeübt werden kann).
4. Russell (1912: 138). In Anlehnung an Descartes (1647:
XLII) können wir das Reich der Erkenntnisse auch mit ei
nem Obstbaum vergleichen: Die philosophischen Unter
suchungen betreffen weitgehend die Wurzeln dieses Bau
mes, die anderer Wissenschaften Stamm und Äste; einige
wenige Disziplinen schließlich zeigen uns die Früchte. Unser
Umgang mit einem solchen Baum zielt zwar darauf, daß wir
schließlich die Früchte ernten; dies wäre jedoch nicht mög
lich, wenn sich nicht manche auch um die Wurzeln kümmer
ten. Die Wissenschaften bilden also eine Gemeinschaft, die
auf Arbeitsteilung beruht (auch wenn sich dies im Tun der
Wissenschaftler nicht immer zeigt).
2. Singers ethische Grundlagen
Peter Singer vertritt einen Präferenzenutilitarismus,
dem zufolge wir so handeln sollen, daß “die Interessen
der Betroffenen maximiert” werden, daß sich dadurch
also “für alle Betroffenen die besten Konsequenzen”
ergeben; mit den besten Konsequenzen ist dabei nicht
5. Singer/Kuhse (1990: 122). Die beiden Autoren legen ihre
Sicht der Dinge in einer Reihe von Arbeiten dar, z.B. in Kuh
se (1987, 1990a, 1990b, 1991), Kuhse/Singer (1985), Singer
(1979, 1991) und Singer/Kuhse (1990). Im folgenden bezie
he ich mich nahezu ausschließlich auf das Buch von Singer
(1979), nicht zuletzt deshalb, weil dies auch für seine Kriti
ker der “locus classicus” ist.
12
BEMERKUNGEN ZU SINGERS THESEN
wie als Menschen, die vom Handeln anderer betroffen
sind) dazu, unseren eigenen Interessen ein gewisses
Vorrecht einzuräumen; diese subjektive Einstellung ist
zwar verständlich, doch ist die Frage, ob eine Hand
lung moralisch geboten, erlaubt oder verboten ist, un
abhängig von solchen Gegebenheiten zu beantworten.9
Kaum jemand dürfte die Annahme ablehnen, daß die
Ethik von subjektiven Interessen absehen muß, daß für
Moralprinzipien also die Forderung der Universalisier
barkeit gilt. Nicht alle sind jedoch bereit, ihre Konse
quenzen in Kauf zu nehmen. So folgt etwa aus jenem
Prinzip, daß vor der Moral nicht nur alle Menschen
prinzipiell gleich (im Sinne der “gleichen Interessen
erwägung”) sind, sondern daß auch die Interessen
nichtmenschlicher Wesen gleich wie die von Men
schen zu berücksichtigen sind, sofern jene Wesen
empindungsfähig sind: “Wenn ein Wesen leidet, kann
es keine moralische Rechtfertigung dafür geben, sich
zu weigern, dieses Leiden in Erwägung zu ziehen.
[…] Ist ein Wesen nicht leidensfähig oder nicht fähig,
Freude oder Glück zu erfahren, dann gibt es nichts zu
berücksichtigen. Deshalb ist die Grenze der Empin
dungsfähigkeit […] die einzig vertretbare Grenze für
die Rücksichtnahme auf die Interessen anderer.”10 Diese
pathozentrische Deinition der “moralischen Relevanz”
von Lebewesen läßt sich von zwei Seiten betrachten:
(i) Aus der erwähnten Annahme folgt, “daß alle Le
bewesen oder, vielleicht plausibler, alle fühlenden Ge
schöpfe ein gleiches Recht auf Leben haben.” Es ist
moralisch nicht gerechtfertigt, dieses Recht nur Men
schen zuzusprechen (und zwar auch dann, “wenn ihnen
Intelligenz, Selbstbewußtsein oder sogar Empindungs
vermögen fehlen”), alle anderen Lebewesen aber da
von auszunehmen, “wie intelligent oder selbstbewußt
sie auch immer sind.”11 Nicht nur menschliches Leben
stellt also einen Wert dar, sondern das Leben aller emp
so sehr das gemeint, “was Lust vermehrt und Unlust
verringert”, sondern vielmehr das, “was nach reilicher
Erwägung die Interessen der Betroffenen fördert.”6
Handlungen sind demnach genau dann moralisch gut,
wenn durch ihre Konsequenzen die Interessen aller da
von Betroffenen insgesamt in höherem Maße berück
sichtigt werden als durch die Handlungsalternativen.
Singer selbst bezeichnet seine ethische Theorie
zwar als utilitaristisch, doch handelt es sich nicht um
eine reine Form von Utilitarismus, da einer solchen
Theorie zufolge der moralische Status einer Hand
lung ausschließlich vom außermoralischen Wert ihrer
Konsequenzen abhängt.7 Laut Singer ist jedoch der
außermoralische Wert von Handlungen selbst wieder
an einem moralischen Prinzip zu messen, und zwar
am Prinzip der Universalisierbarkeit. Demnach nimmt
die Ethik notwendig einen universalen Standpunkt ein:
“Das bedeutet nicht, daß ein besonderes moralisches
Urteil universal anwendbar sein muß. Je nach den Um
ständen ändern sich die Gründe, die wir gesehen haben.
Es bedeutet vielmehr, daß wir dort, wo wir moralische
Urteile abgeben, über unsere eigenen Neigungen und
Abneigungen hinausgehen. […] Die Ethik verlangt
von uns, daß wir über ‘Ich’ und ‘Du’ hinausgehen zu
dem […] universalisierbaren Urteil.”8
Aus dieser Sicht spielen unsere jeweils eigenen In
teressen bei der Frage nach der moralischen Richtigkeit
unserer Handlungen keine primäre Rolle. Meine Inter
essen zählen laut Singer (1979: 23) “nicht einfach des
halb, weil sie meine Interessen sind, mehr […] als die
Interessen von irgend jemand anders”. Vielmehr kom
men bei der moralischen Beurteilung meiner Handlun
gen meine Interessen nur insofern zur Geltung, als sie
aus der Warte eines “unparteiischen” oder “idealen”
Beobachters in gleichem Maße wie die Interessen aller
(anderen) von meinem Handeln Betroffenen zu berück
sichtigen sind. Zwar neigen wir als Handelnde (ebenso
9. Wenn die moralische Richtigkeit von Handlungen aus
schließlich davon abhinge, ob diese die Interessen be
stimmter Personen wahren, so ließe sich die Moral letztlich
auf das “Recht des Stärkeren” reduzieren, der aufgrund sei
ner Stärke fähig ist, sich Vorteile zu verschaffen, und allein
dadurch immer recht hat.
10. Singer (1979: 73). “Die Tatsache, daß bestimmte Wesen
nicht zu unserer Gattung gehören, berechtigt uns” laut Singer
(1979: 71) also ebensowenig wie die Tatsache, daß manche
Menschen nicht zu unserer Rasse oder Religion gehören, “sie
auszubeuten, und ebenso bedeutet die Tatsache, daß andere
[menschliche oder nichtmenschliche] Lebewesen weniger
intelligent sind als wir, nicht, daß ihre Interessen mißachtet
werden dürfen.”
11. Singer/Kuhse (1990: 122f.). Der Gedanke der “Hei
ligkeit” des menschlichen Lebens ist laut Singer/Kuhse
(1990: 120) “auf die jüdischchristliche Tradition” des Den
kens zurückzuführen, während in anderen Religionen (z.B.
im Buddhismus) das Erbarmen mit allem Lebendigen als
oberstes Gebot des Handelns angenommen wird.
6. Singer (1979: 24). Diese ethische Position wirft (wie auch
jede andere!) eine Reihe von grundsätzlichen Problemen auf,
auf die ich hier nicht eingehen kann.
7. Zur genaueren Darstellung des Utilitarismus (bzw. von
teleologischen Theorien im allgemeinen) vgl. z.B. Frankena
(1963) und Morscher/Stranzinger (1981).
8. Singer (1979: 22) übernimmt diesen Standpunkt von sei
nem Lehrer R.M.Hare (1955), dem zufolge aus ethischer
Sicht für Moralsysteme notwendig ist, daß deren Prinzipien
universalisierbar sind, daß also gilt: Wenn eine Handlung h
einem Prinzip p zufolge moralisch richtig ist, dann sind ge
mäß p alle Handlungen moralisch richtig, die h in relevanten
Punkten ähnlich sind. Interessanterweise übernimmt Singer
zwar diese Forderung, nicht aber Hares (1952) Kriterium
der Präskriptivität, wonach für moralische Prinzipien auch
notwendig ist, daß sie von allen davon Betroffenen akzep
tiert werden können. Die grundlegende Bedeutung dieses
Prinzips wird insbesondere auch von Frankena (1967: 156)
betont.
13
KRITERION
indungsfähigen Wesen. Dementsprechend ist das Le
ben aller empindungsfähigen Wesen gleich zu achten,
unabhängig davon, ob ein solches Wesen zur Spezies
Mensch gehört oder nicht; nicht nur Menschen haben
ein Recht, daß ihnen z.B. nicht mutwillig Leid zuge
fügt wird, sondern alle empindungsfähigen Wesen.
(ii) Andererseits ist die “Fähigkeit zu leiden und sich
zu freuen” für Singer (1979: 72f.) eine “Grundvoraus
setzung dafür, überhaupt Interessen haben zu können.
[…] Es wäre Unsinn zu sagen, es sei nicht im Interes
se des Steins, daß das Kind ihm auf der Straße einen
Tritt gibt. Ein Stein hat keine Interessen, weil er nicht
leiden kann. Nichts, was wir ihm zufügen können,
würde in irgendeiner Weise auf sein Wohlergehen Ein
luß haben.” Diesem Argument zufolge gilt indes auch
für menschliche Wesen, daß diese keine Interessen ha
ben, wenn sie (aufgrund von Krankheiten oder Verlet
zungen) nicht in der Lage sind, irgendetwas zu empin
den. In diesem Fall müssen wir also laut Singer beim
Handeln keine Interessen solcher menschlichen Wesen
berücksichtigen, und zwar deshalb, weil sie keine In
teressen haben; ihr Beinden hängt in keiner Weise da
von ab, ob wir mit ihnen etwas Bestimmtes tun oder
nicht. Es macht für einen empindungsunfähigen Men
schen keinen Unterschied, ob wir ihn am Leben erhal
ten oder nicht, da er eben nichts empindet.
In der Tat ist es laut Singer moralisch erlaubt, emp
indungsunfähige Menschen sterben zu lassen bzw. zu
töten.12 Dies ist also eine These von Singer (die er auf
die erwähnte Art begründet). Die allermeisten Men
schen dürften diese These intuitiv ablehnen und etwa
darauf verweisen, daß ein im Koma liegender Mensch
nichtsdestotrotz ein Mensch sei und somit ein Recht
habe, am Leben erhalten zu werden (zumal dann, wenn
die materielle Situation einer Gemeinschaft so gut ist,
daß sie sich das – wie unsere – leisten kann). Auf die
sen Einwand kann Singer jedoch zweierlei erwidern:
(i) Die Rede von moralischen Rechten ist theoretisch
“witzlos”, solange nicht klar angegeben wird, was un
ter einem moralischen Recht zu verstehen ist. In der
Regel verwenden wir diesen Begriff nämlich bloß “als
Abkürzung, um auf fundamentalere moralische Erwä
gungen zu verweisen.”13 Der Begriff des Rechts kann
(bzw. muß) also durch andere moralische Begriffe er
setzt werden, die (im Rahmen der jeweiligen ethischen
Theorie) besser bestimmt bzw. begründet sind. Singers
“fundamentalere moralische Erwägungen” richten sich
etwa auf die “gleiche Interessenerwägung”; einem We
sen Rechte zuzusprechen, bedeutet in diesem Sinne
nichts anderes, als zu fordern, daß sein diesbezügliches
Interesse bei der Beurteilung von Handlungen, von de
nen es betroffen ist, zu erwägen sei.14 Wenn moralische
Rechte ins Spiel gebracht werden, so gelten diese dem
zufolge jedoch nicht nur für Menschen, sondern für
alleempindungsfähigenWesen und nur für diese.
(ii) Wenn wir allen Menschen und nur den Men
schen moralische Rechte zugestehen, weil sie Men
schen sind, so huldigen wir einem Speziesismus.15
Tatsächlich ist es moralisch gesehen verfänglich an
zunehmen, ein bestimmtes Wesen x habe im Unter
schied zu einem Wesen y allein dadurch ein bestimm
tes Recht, daß x ein Mensch ist, y jedoch nicht. Damit
läßt sich zwar bis zu einem gewissen Grad erklären,
warum wir uns gegenüber Menschen anders verhal
ten als gegenüber nichtmenschlichen Wesen; unser
Verhalten ist dadurch jedoch noch nicht moralisch ge
rechtfertigt.16 Wenn nun Singer (1979: 103) bemerkt,
daß “keine Gesellschaft überleben [kann], wenn sie
ihren Mitgliedern erlaubt, einander uneingeschränkt
zu töten”, so scheint er primär menschliches Verhal
ten zu erklären; nichtsdestotrotz stellt sich jedoch die
Frage, ob der von Singer angesprochene Punkt nicht
auch eine Rechtfertigung für ein Verbot des Tötens
von Menschen (und zwar nur von Menschen) bietet.
Wenn wir annehmen, daß moralisches Handeln rati
onal sei (bzw. sein sollte) und daß zu dieser Ratio
nalität auch gehöre, unsere Existenz (als Individuum,
Gemeinschaft und Spezies) nicht zu gefährden, so
folgt nämlich, daß Handlungen, die das Überleben
einer Gesellschaft gefährden, moralisch verwerlich
sind, bzw. umgekehrt, daß es moralisch gerechtfertigt
14. Singers (1979: 24) Forderung, daß durch Handlungen die
Interessen der Betroffenen gefördert werden sollen, ist in
sofern doppeldeutig, als damit Interessen gemeint sein kön
nen, die Betroffene haben, oder etwas, was im Interesse von
Betroffenen ist. Wie Wolf (1990: 221) zeigt, beruht Singers
Argumentation auf der ersten Deutung; eine Reihe von Grün
den spricht jedoch für die zweite.
15. Vgl. Singer (1979: Kap.3). Wer das Universalisier
barkeitsprinzip akzeptiert und für ein Lebensrecht von
empindungsunfähigen Menschen eintritt, muß demzufolge
dasselbe Recht anscheinend auch nichtmenschlichen Wesen
zugestehen, und zwar nicht nur empindungsfähigen Wesen,
sondern auch solchen, die nichts empinden (z.B. auch Stei
nen). Wer diese Annahme vermeiden möchte, muß also an
dere Gründe angeben, die unser Verhalten nicht nur erklären,
sondern auch moralisch rechtfertigen.
16. Zur Unterscheidung zwischen “Erklärungen des Ur
sprungs moralischer Urteile und der Rechtfertigung dieser
Urteile” vgl. z.B. Singer (1979: 97f.).
12. Gegen diese Auffassung könnte jemand einwenden, daß
wir nie wissen können, ob ein Mensch tatsächlich nichts
empindet. Die von Kuhse und Singer diskutierten Beispiele
machen jedoch äußerst wahrscheinlich, daß die betreffenden
Menschen bei allem, was wir heute medizinisch wissen, irre
versibel empindungsunfähig sind.
13. Singer (1979: 113). Wie Kuhse/Singer (1985: 131) dazu
erläuternd feststellen, ist die Rede von moralischen Rechten
zwar bequem, doch führt sie insofern in die Irre, als sie den
Eindruck erweckt, daß Rechte “angeboren” oder “selbstevi
dent” seien; vgl. dazu auch Wolf (1990).
14
BEMERKUNGEN ZU SINGERS THESEN
ist, das Töten von Mitgliedern der eigenen Art zu ver
bieten (oder zumindest nicht uneingeschränkt zu er
lauben) – wie ausgewogen auch immer die Interessen
von Menschen und nichtmenschlichen Wesen sonst
bei der moralischen Beurteilung von Handlungen zu
erwägen sind. Den Überlegungen von Singer zufol
ge ist dieses Argument nicht speziesistisch, weil das
Töten von Menschen nicht wegen des Faktums abge
lehnt wird, daß die betroffenen Wesen Menschen sind,
sondern aus folgenden Gründen: Einerseits würde
das Überleben einer Gesellschaft aufs Spiel gesetzt,
wenn erlaubt wäre, daß deren Mitglieder einander
uneingeschränkt töten, andererseits jedoch würde den
(empindungsfähigen) Mitgliedern einer Gesellschaft
Leid zugefügt, wenn sie in der Angst leben müßten,
prinzipiell jederzeit getötet werden zu können.
Selbst wenn Singers Einwand stichhaltig wäre, daß
die Asymmetrie in unserem Umgang mit Menschen und
nichtmenschlichen Wesen auf einem Speziesismus
beruhe, würde daraus nicht folgen, daß es moralisch
schlecht oder gar verboten wäre, empindungsunfähige
Menschen zu plegen; vielmehr stellt uns Singer vor
folgende Alternative: Wenn wir empindungsunfähigen
Menschen ein Recht auf Leben und entsprechende
Plege zusprechen, dann müssen wir dies (unter Vor
aussetzung des Universalisierbarkeitsprinzips) auch in
bezug auf nichtmenschliche Wesen tun; wenn wir an
dererseits nichtmenschlichen Wesen ein solches Recht
absprechen, dann können wir es jedoch (unter dieser
Voraussetzung) auch Menschen nicht zugestehen. Da
die Forderung der Universalisierbarkeit moralischer
Normen gut begründet ist, müssen wir mithin die ein
seitige Bevorzugung von Menschen als Menschen ab
lehnen (vor allem dann, wenn diese keine Interessen
haben, da sie nichts empinden).
Allerdings stellt sich die Frage, ob diese Argumen
tation überhaupt auf empindungsunfähige Wesen an
wendbar ist, denn Singers Präferenzenutilitarismus
kann genau genommen nur Wesen erfassen, die fähig
sind, Präferenzen bzw. Interessen zu haben. Moralisch
richtiges Handeln bedeutet für Singer, daß dadurch
“die Interessen der Betroffenen maximiert” werden. In
Übereinstimmung mit dem Universalisierbarkeitsprin
zip heißt dies, daß wir beim Handeln auf alle Wesen,
deren Interessen durch unsere Handlungen betroffen
sind, auf gleiche Weise Rücksicht nehmen sollen, d.h.,
alle empindungsfähigen Wesen haben gleiche Rechte
insofern, als sie von Handlungen betroffen sind (unab
hängig davon, zu welcher Spezies sie gehören).17 Dar
aus folgt umgekehrt jedoch nicht, daß wir mit all jenen
Wesen, die von Natur aus oder durch Krankheit nicht
in der Lage sind, etwas zu empinden, tun dürfen, was
wir wollen18, sondern dies kann aus anderen Gründen
moralisch nicht gerechtfertigt sein, etwa dadurch, daß
indirekt wieder andere empindungsfähige Wesen be
troffen sind oder daß es sich um etwas handelt, was wir
selbst geschaffen haben (wodurch wir z.B. für Men
schen verantwortlich sind, auch wenn diese nicht in der
Lage sind, etwas zu empinden).
Gerade aus Singers (1979: 22) eigenem Ansatz folgt
notwendig, daß wir ethisch “über ‘Ich’ und ‘Du’ hin
ausgehen zu dem universalen Gesetz, dem universali
sierbaren Urteil.” Die Annahme, es sei moralisch
gerechtfertigt, daß “ich” über alles, was selbst keine
Interessen hat, völlig frei verfügen kann, steht in direk
tem Widerspruch zu dieser Position. Da Singers Ethik
auf die Abwägung der Interessen empindungsfähiger
Wesen zurechtgeschnitten ist, hat sie indes ihre Grenzen
dort, wo die Empindungsfähigkeit aufhört. Der mora
lische Status von Handlungen, die empindungsunfä
hige Wesen oder bloße Gegenstände betreffen, ist also
durch andere Prinzipien zu regeln, und es ist denkbar,
daß unterschiedliche Prinzipien in Frage kommen, je
nachdem, ob wir mit Menschen, nichtmenschlichen
Lebewesen oder der unbelebten Natur zu tun haben:
(i) Was empindungsunfähige Menschen betrifft, so
bietet sich das Argument an, daß diese (im Unterschied
zu empindungsunfähigen nichtmenschlichen Wesen)
Plege verdienen, nicht einfach deshalb, weil sie Men
schen sind, sondern weil sie von Menschen geschaffen
sind. In bezug auf solche Wesen gilt also ein (univer
salisierbares) Verantwortungsprinzip, wonach wir
Kausalverantwortung für das tragen, was wir schaffen
(z.B. für Artefakte, ebenso aber etwa für schwerstbe
hinderte Kinder); darüber hinaus stellt das, was von
anderen Menschen geschaffen wird, einen moralischen
Wert dar, der als solcher zu achten ist. Als Menschen
schaffen wir nun zwar andere Menschen, gewöhnlich
aber keine nichtmenschlichen Lebewesen.19 Aus die
18. Aus Singers Angaben könnten wir schließen, daß es
moralisch erlaubt sei, mit einem Menschen, der im Koma
liegt, Beliebiges zu tun, also etwa auch, ihn an die Wand zu
werfen, zu schänden, zu zerstückeln usw. (da sich dadurch
am Beinden dieses Menschen nichts ändert). Zwar ist mir
nichts Genaueres bekannt, doch nehme ich an, daß Singer ei
nen solchen Umgang mit empindungsunfähigen Menschen
(und anderen Wesen) mißbilligt. Falls er dies tut, dann hat
seine Theorie jedoch Konsequenzen, die von ihm selbst nicht
intendiert sind, d.h., dann sollte Singer selbst daran gelegen
sein, seine Theorie zu verbessen.
19. Natürlich kommt es im Rahmen der Tier und Planzen
zucht dazu, daß Menschen auch nichtmenschliche Wesen
schaffen. In diesem Fall sind wir dem erwähnten Argument
zufolge allerdings auch für solche Wesen verantwortlich.
17. Wenn von moralischen Rechten die Rede ist, so sind also
nie die Rechte (d.h. Freiheiten) von Handelnden gemeint,
sondern die Rechte (d.h. Interessen) von Wesen, die durch
die Handlungen anderer Wesen betroffen sind.
15
KRITERION
vertritt, in Übereinstimmung mit (bzw. in Ergänzung)
dieser Position kritisiert werden können. Bei einigen
anderen Annahmen, die Singer zur Last gelegt werden,
ist nicht so klar, ob sie sich direkt aus seiner ethischen
Theorie herleiten lassen, ja noch nicht einmal, ob sie
von Singer als Thesen verstanden werden. Um diese
Frage beantworten zu können, müssen wir jedoch zu
nächst kurz darauf eingehen, was unter Thesen und an
deren Formen von Aussagen zu verstehen ist.
sem Grund (so läßt sich argumentieren) sind wir für
andere Menschen (im Unterschied zu nichtmenschli
chen Wesen) verantwortlich, auch wenn diese nichts
empinden. Wahrscheinlich wirft ein solches Prinzip
ebenfalls Probleme auf; allerdings trifft darauf zumin
dest der Vorwurf des Speziesismus nicht zu.
(ii) In bezug auf nicht-menschlicheWesen kann laut
Singer/Kuhse (1990: 122) “die Ansicht konsistent ver
treten werden, daß alle Lebewesen […] ein gleiches
Recht auf Leben haben”, auch wenn es “plausibler”
sei, dieses Recht auf “alle fühlenden Geschöpfe” zu be
schränken. Wenn wir die weitere Annahme akzeptieren,
so ist sie auf menschliche und nichtmenschliche Wesen
in gleicher Weise anzuwenden; falls wir sie ablehnen,
bleibt für empindungsunfähige Menschen jedoch im
mer noch das argumentum ad responsibilitatem.
(iii) Auch in bezug auf die unbelebte Natur läßt sich
die menschliche Verantwortung ins Spiel bringen, und
zwar nicht nur mit Blick auf das Lebensrecht empin
dungsfähiger Menschen und anderer Wesen, die auf
gewisse natürliche Ressourcen angewiesen sind. Viel
mehr stellt sich durchaus die Frage, ob wir für die
Natur auch ohne Bezug auf Menschen und andere
Lebewesen verantwortlich sind, ob uns also auch um
der Natur willen nicht erlaubt ist, diese zu schädigen,
rücksichtslos auszubeuten usw. Wie Birnbacher (1980:
130) zeigt, kann eine Verantwortung der Menschen für
die Natur zumindest indirekt (d.h. auf dem “Umweg”
über den Menschen) begründet werden, denn “wo
immer der Mensch in eine ästhetische Beziehung zur
Natur tritt, wo er Natur als schön erlebt, ist die Natur
durch einen speziischen Zug von Autonomie, Selb
ständigkeit, wenn nicht sogar Selbstgenügsamkeit ge
kennzeichnet. Schön erscheint uns die Natur nur da,
wo sie uns in ihrem AnsichSein entgegentritt”, d.h.
“nur in den Aspekten, in denen sie nicht unmittelbar
funktional ist.” Eine ästhetische Beziehung zur Natur
ist demnach nicht funktional in dem Sinne, daß dabei
nur der Eigenwert der Natur selbst eine Rolle spielt,
nicht aber die Frage, was wir alles damit tun können,
welchen Preis wir für natürliche Gegenstände erzielen
können und inwiefern er uns sonst nützlich sein kann.
Es ist also sehr wohl möglich, daß die Natur einen ei
gentlichenWert darstellt (d.h. einen Wert an sich bzw.
für sich selbst) und nicht nur einen instrumentellen
Wert (d.h. einen Wert als Mittel zu unseren Zwecken).20
Diese Überlegungen sollen zeigen, daß es möglich
ist, Konsequenzen zu vermeiden, die sich (zumindest
auf den ersten Blick) unmittelbar aus Singers ethi
schem Standpunkt im allgemeinen ergeben, daß also
Thesen, die Singer infolge des Präferenzenutilitarismus
3. Thesen und andere Aussagen
Wenn Leute von “Thesen” sprechen, so können sie da
mit sehr Verschiedenes meinen: So werden etwa einer
Person oft genug irgendwelche Annahmen als “Thesen”
zugeschrieben, wenn sie diese Annahmen erwähnt oder
diskutiert. Wenn ich z.B. vorhin erwähnt habe, daß es
laut Singer moralisch erlaubt sei, empindungsunfähige
Menschen sterben zu lassen bzw. zu töten, oder wenn
ich das Für und Wider dieser Annahme erörtert habe,
so muß ich demzufolge damit rechnen, daß jemand dies
als “Neumaiers These” bezeichnet, obwohl aus dem
Zusammenhang klar geworden sein sollte, daß ich ge
gen jene These argumentiert habe.
Alle Thesen sind (der sprachlichen Form nach) Aus
sagen, aber nicht jede Aussage wird als These verwen
det. Von einer These kann noch nicht einmal dann die
Rede sein, wenn deren Gehalt ohne Zweifel die Mei
nung des Sprechers wiedergibt, sondern dafür ist weiter
erforderlich, daß Gründe angegeben werden, die einer
seits die fragliche These stützen und andererseits Mög
lichkeiten eröffnen, sie zu kritisieren.21 Diese Gründe
werden ihrerseits wieder in Form von (weiter zu be
gründenden) Thesen angegeben, doch ist zu unterschei
den, ob eine bestimmte Aussage a jene Behauptung ist,
die eine Person x vertritt und durch eine Menge von
Aussagen g1,…,gn zu begründen versucht, oder ob a
selbst Element von g1,…,gn ist, also dazu dient, eine
andere Behauptung b von x zu begründen. Thesen sind
also (in einer anderen Bedeutung des Wortes) ganze Ar
gumente, die aus einer Menge von Aussagen bestehen,
deren eine die Behauptung b ist, die von einer Person x
vertreten wird, während die anderen Aussagen g1,…,gn
die Plausibilität von b nachweisen sollen.
Demnach gelten nicht nur einzelne Behauptungen
als Thesen (unabhängig davon, ob es sich um jene Aus
sagen einer Person x handelt, die durch andere Sätze zu
begründen sind, oder um jene Sätze, die eine gegebene
Aussage begründen), sondern auch Mengen von Aussa
21. Wenn also etwa Singer ohne jegliche Begründung die
Ansicht verträte, daß es moralisch erlaubt sei, empin
dungsunfähige Menschen sterben zu lassen bzw. zu töten, so
wäre dies keine These, sondern eine bloße Behauptung.
20. Zur Unterscheidung zwischen eigentlichen und instru
mentellen Werten vgl. insbesondere Moore (1903).
16
BEMERKUNGEN ZU SINGERS THESEN
Singers “Thesen” heißt, diese würden die Bereitschaft
zum Töten behinderter Menschen herbeireden.
gen, die auf die erwähnte Weise ein Argument bilden.
Als ob damit der Verwirrung noch nicht genug wäre,
werden mitunter auch die Sätze g1,…,gn, die eine be
stimmte These (d.h. die Behauptung b) stützen sollen,
als deren Argumente (in einer zweiten Bedeutung des
Wortes) bezeichnet. Um in diesem sprachlichen Laby
rinth nicht verloren zu gehen, müssen wir auf jeden Fall
eine terminologische Regelung treffen (welche auch im
mer dies sei). Im Sinne der Klarheit bietet sich an, den
Ausdruck ‘These’ eventuell überhaupt zu vermeiden,
sondern stattdessen den gesamten Gedankengang (die
These1) als Argument zu bezeichnen, die Aussage, die
dabei gerechtfertigt werden soll (d.h. These2), als des
sen Konklusion, und die Menge der sie stützenden Sätze
(also der Thesen3) als ihre Prämissen.
Thesen (d.h. Argumente) können in zwei Formen
vertreten werden, nämlich unbedingt oder bedingt. Im
ersten Fall sind alle Sätze des Arguments apodiktische
Aussagen (von denen klar ist, daß der Sprecher sie ver
tritt), im anderen enthält das Argument mindestens eine
Annahme, d.h. einen hypothetischen Satz, von dem of
fen bleibt, ob er richtig ist oder nicht (bzw. ob er vom
jeweiligen Sprecher akzeptiert wird oder nicht); in vie
len Fällen handelt es sich dabei um Annahmen, die von
anderen Menschen akzeptiert werden (insbesondere
auch von Kritikern und Kontrahenten jener Person, die
das betreffende Argument vorbringt). Solche hypothe
tischen Argumente sollen zeigen, welche Konsequen
zen sich ergeben, wenn die fragliche Annahme als rich
tig vorausgesetzt wird. Da in diesem Fall offen bleibt,
ob eine Person x selbst alle Annahmen vertritt, aus de
nen ein von ihr vorgebrachtes Argument besteht22, ist
es genau genommen irreführend, ein solches Argument
als These zu bezeichnen; wegen jener Annahmen gilt
vielmehr das gesamte Argument nur hypothetisch. Sol
che “Thesen” sind für das Argumentieren in Alltag und
Wissenschaft wichtig; sie dürfen jedoch nicht mit einer
anderen Form des hypothetischen Sprechens verwech
selt werden, bei der um einen “heißen Brei” herumge
redet oder an einer heiklen Sache “gezündelt” wird.23
Dieser Hinweis ist insofern wichtig, als es auch von
4. Singers Thesen und Singers “Thesen”
Nach dieser “Einführung” können wir uns nun jenen
Stellen im Buch Praktische Ethik zuwenden, an denen
Singer (anscheinend oder scheinbar) seine “menschen
verachtenden Thesen” vorbringt. Allerdings ist es un
möglich, das Buch hier insgesamt zu analysieren24,
sondern wir müssen uns mit einigen Beispielen begnü
gen (von denen freilich zu “hoffen” ist, daß sie die
entscheidenden “Reibelächen” für Singers Kritiker
bieten). Ich gehe dabei in drei Schritten vor: Zunächst
führe ich jeweils die inkriminierten Textstellen an; da
von ausgehend versuche ich anzugeben, was Singer an
jenen Stellen behauptet (oder auch nicht), sowie (zu
mindest in einigen Fällen) zu klären, ob die Gründe,
mit denen er seine Thesen2 stützt, stichhaltig sind.
(I) Singer (1979: 75f.) diskutiert einen “nicht spe
ziesistischen Grund”, warum für wissenschaftliche Ex
perimente, die äußerst schmerzhaft oder tödlich sind,
“eher Tiere als normale erwachsene Menschen” ver
wendet werden könnten, sofern “die Experimente über
haupt durchgeführt werden müssen”; und zwar werden
den Menschen (anders als Tieren) durch die mit dem
Wissen von einem Experiment verbundene Angst zu
sätzliche Qualen zugefügt. Allerdings ist zu bedenken,
daß dasselbe “Argument uns auch Gründe dafür gibt,
Kleinkinder – vielleicht Waisen – oder geistig behin
derte Kinder eher zu verwenden als Erwachsene, weil
Kleinkinder und geistig behinderte Menschen ebenfalls
keine Vorstellung davon hätten, was mit ihnen gesche
hen wird. Was dieses Argument betrifft, so gehören
nichtmenschliche Lebewesen, Kleinkinder und geis
tig behinderte Kinder zur selben Kategorie; und wenn
wir uns dieses Arguments bedienen, um Experimente
an nichtmenschlichen Lebewesen zu rechtfertigen, so
müssen wir uns selbst fragen, ob wir bereit sind, Experi
mente an Kleinkindern und geistig behinderten Kindern
zuzulassen. Wenn wir einen Unterschied zwischen Tie
ren und Menschen machen, so geschieht das wohl des
halb, weil wir die Angehörigen unserer eigenen Spezies
in moralisch unvertretbarer Weise bevorzugen.”
An diesen Überlegungen können mindestens zwei
Passagen Anstoß erregen, nämlich einerseits die Vor
stellung, daß “nichtmenschliche Lebewesen, Kleinkin
der und geistig behinderte Kinder zur selben Kate
22. Ganz im Gegenteil kann jemand eine bestimmte Be
hauptung b dezidiert ablehnen, zum Zwecke der Argumen
tation (d.h. um indirekt die Falschheit bzw. die unerwünschten
Konsequenzen von b zu beweisen) aber hypothetisch davon
ausgehen, daß b wahr sei.
23. Diese Form des hypothetischen Argumentierens liegt
etwa vor, wenn es in einem Schlagertext heißt: “Stell dir vor,
es geht das Licht aus. Sag, was würdest du dann tun?” Ein
anderes Beispiel bietet die Sprache der Politik, in der etwa
die Möglichkeit einer neuen Steuer erörtert werden kann
(verbunden mit dem Hinweis, daß “natürlich” nicht daran
gedacht sei, sie tatsächlich einzuführen), und zwar so lange,
bis sich niemand mehr aufregt noch überhaupt wundert, daß
die neue Steuer tatsächlich eingeführt wird.
24. Genau genommen müßten alle “Thesen” berücksichtigt
werden, also auch das, was Singer über die Gleichheit der
Menschen, die Rechte von Tieren, über Arm und Reich usw.
schreibt – nicht nur, weil die betreffenden Annahmen direkt
aus seiner Theorie folgen, sondern auch, weil sie zu Unrecht
vom Thema der Euthanasie verdrängt werden.
17
KRITERION
ger in diesem Zusammenhang argumentiert. Die Grün
de, die er dafür ins Treffen führt, sollen zeigen, daß
durch jeden Versuch einer moralischen Rechtfertigung
von Tierversuchen gleichzeitig auch Versuche an (be
stimmten) Menschen zugelassen werden. Daraus er
gibt sich weiter die Nebenthese, daß jedes Eintreten für
Tierversuche, das jene Konsequenz negiert, eine mora
lisch durch nichts zu rechtfertigende Bevorzugung der
eigenen Spezies darstellt.27 Wer eine dieser Thesen für
falsch hält, muß bzw. kann weiter untersuchen, ob sie
durch die von Singer in seinem Argument direkt oder
indirekt eingeführten Gründe hinreichend gestützt wer
den bzw. ob diese Gründe selbst stichhaltig sind.
(II) Mit ähnlichen Gründen wendet sich Singer
(1979: 92ff.) gegen Versuche, “Selbstbewußtsein oder
Autonomie oder irgendwelche anderen Eigenschaf
ten” als Merkmale einzuführen, die “dazu dienen,
menschliche von nichtmenschlichen Lebewesen zu
unterscheiden: man möge sich erinnern, daß es geist
gesgestörte Menschen gibt, die weniger Anspruch als
viele nichtmenschliche Lebewesen haben, als selbstbe
wußt oder autonom zu gelten. Benutzen wir diese Ei
genschaften dazu, eine Kluft zwischen Menschen und
anderen Lebewesen aufzureißen, dann siedeln wir die
se unglücklichen Menschen auf der anderen Seite der
Kluft an; und wenn die Kluft so verstanden wird, daß
sie einen Unterschied im moralischen Status markiert,
dann hätten diese Menschen eher den moralischen Sta
tus von Tieren als von Menschen.”
Zwar könnte jemand vorbringen, “daß Geistes
kranke, die nicht die Fähigkeiten haben, die den nor
malen Menschen von anderen Lebewesen abgrenzen,
trotzdem so behandelt werden sollten, als hätten sie
diese Fähigkeiten, weil sie zu einer Gattung zählen,
deren Angehörige sie normalerweise besitzen”, doch
ist dieses Argument laut Singer (1979: 93) wiederum
speziesistisch, weil wir demnach “Individuen nicht
entsprechend ihren wirklichen Qualitäten behandeln,
sondern entsprechend den Qualitäten, die für ihre Gat
tung normal sind”. Insbesondere könnte dasselbe Ar
gument auch rassistisch verwendet werden, also “um
eine bessere Behandlung von Mitgliedern unserer Gat
tung gegenüber Mitgliedern einer anderen Gattung zu
verteidigen”; diesen Gebrauch des Arguments würden
jedoch die meisten von uns “scharf zurückweisen”.
Singer hat vermutlich recht mit der Annahme, daß
niemand wagen würde, das erwähnte Argument in sei
ner rassistischen Variante zu vertreten (bzw. zumindest
offen dafür einzutreten). Andererseits stellt sich die
gorie” gehören25, und andererseits der Vorwurf, daß
“wir die Angehörigen unserer eigenen Spezies in mo
ralisch unvertretbarer Weise bevorzugen”, wenn wir
“einen Unterschied zwischen Tieren und Menschen
machen”. Indes stellt sich sofort die Frage, um wel
che Art von Unterschied es dabei geht: Singer leugnet
nicht Unterschiede zwischen Tieren und Menschen,
sonder kritisiert, daß diejenigen, die wissenschaftliche
Experimente an Tieren für zulässig halten, gleichzei
tig aber ablehnen, dieselben Experimente an Men
schen durchzuführen, deren sensitive bzw. kognitive
Fähigkeiten denen von Tieren vergleichbar sind, auf
moralisch nicht gerechtfertigte Weise Tiere gegenüber
Menschen diskriminieren. Singer behauptet auch nicht,
daß Kleinkinder und Behinderte mit Tieren zu einer Ka
tegorie gehören, sondern daß dies vielmehr aus einem
Argument folgt, das Tierversuche rechtfertigen soll,
ohne dem Vorwurf des Speziesismus ausgesetzt zu sein.
Das fragliche nichtspeziesistische Argument für
Tierversuche ist leicht als (hypothetische) Annah
me zu erkennen, die Singer selbst ablehnt. Um ihre
Konsequenzen aufzuzeigen, geht er jedoch davon
aus, daß sie wahr sei (und daß Tierversuche mithin
moralisch gerechtfertigt werden könnten, ohne in ei
nen Speziesismus zu verfallen). Tatsächlich folgt aus
jener Überlegung jedoch, daß es moralisch nicht nur
gerechtfertigt wäre, Tiere für Versuchszwecke zu quä
len oder zu töten, sondern auch Kleinkinder und geis
tig Behinderte. Die Konklusion, die Singer mit seinem
Argument begründen will, ist also nicht, daß es mora
lisch erlaubt sei, “äußerst schmerzhafte oder tödliche”
wissenschaftliche Experimente an Kleinkindern und
geistig Behinderten durchzuführen (weil sich diese
in den dafür relevanten Merkmalen nicht von Tieren
unterscheiden, an denen Experimente durchgeführt
werden)26, sondern daß umgekehrt solche Experimente
an Tieren moralisch durch nichts zu rechtfertigen sind
und daß “wir die Angehörigen unserer eigenen Spezies
in moralisch unvertretbarer Weise bevorzugen”, wenn
wir für Tierversuche eintreten. Daß Singers Argumen
tation auf diesen Punkt zielt, zeigt sich u.a. auch darin,
daß er sie im Kapitel 3 seines Buches vorbringt, das
dem Thema “Gleichheit für Tiere?” gewidmet ist.
Die These (d.h. die Konklusion des Arguments),
auf die sich Kritik an Singer in diesem Fall primär zu
richten hat, ist also, daß Tierversuche moralisch nicht
gerechtfertigt sind; dies ist die Hauptthese, für die Sin
25. Über diese Vorstellung wird später im Zusammenhang
mit Singers Personenbegriff noch zu sprechen sein.
26. Dieser Punkt ist wichtig, weil gegen Singer (z.B. von
Schönwiese im früher erwähnten Vortrag) in der Tat schon
der Vorwurf erhoben wurde, er trete für die Rechte von Tie
ren ein, um den Weg für Experimente an Embryonen und an
deren menschlichen Wesen zu ebnen.
27. Die Plausibilität dieser These wird übrigens nicht da
durch beeinträchtigt, daß das Töten von Menschen aus an
deren Gründen abgelehnt werden kann, aus denen nicht not
wendig auch ein Verbot des Tötens von Tieren folgt.
18
BEMERKUNGEN ZU SINGERS THESEN
Auch dieser Begriff von Rechten erbringt indes kei
nen moralischen Unterschied zwischen Mensch und
Tier, da auch zukünftigen Generationen von Menschen
(“abgesehen von den unmittelbar nachfolgenden Gene
rationen”) keine Rechte in diesem Sinne zukommen,
“denn auch für zukünftige Generationen gilt aus rein
logischsemantischen Gründen, daß sie Forderungen in
der Gegenwart nicht geltend machen können.”29 Zwar
bleibt uns immer noch die Annahme, daß auch andere
Auffassungen von Rechten möglich sind, doch bieten
uns diese ebenfalls keinen Ausweg aus dem Dilemma
(so es denn eines ist), weil im Sinne anderer Verwen
dungsweisen des Ausdrucks ‘Recht’ wiederum Tiere
ebenso wie Menschen Träger von Rechten sind.30
Auch dann, wenn wir versuchen, die moralische Be
vorzugung von Mitgliedern der eigenen Spezies mit
Bezug auf bestimmte kognitive Fähigkeiten zu recht
fertigen, gelangen wir also letztlich in die Situation,
daß wir konsequenterweise entweder bestimmten Men
schen (ebenso wie Tieren) gewisse Rechte vorenthalten
oder aber Tiere gleich wie Menschen berücksichtigen
müssen. Singers Entscheidung in dieser Angelegen
heit ist eindeutig, d.h., es geht ihm darum, “den Status
der Tiere zu heben, nicht aber, den der Menschen zu
Frage, ob jenes Argument überhaupt dazu dienen kann,
den moralischen Status geistig behinderter Menschen
eher mit dem von Tieren zu vergleichen als mit dem
von gesunden Menschen. Singer (1979: 40ff.) tritt ja
selbst dafür ein, daß die Unterschiede, die menschliche
Individuen (möglicherweise auch als Angehörige ver
schiedener Rassen) in bezug auf die Intelligenz und an
dere kognitive Fähigkeiten aufweisen, kein Grund sein
können, sie in moralischer Hinsicht verschieden zu be
handeln. Das Prinzip der moralischen Gleichheit beruht
laut Singer (1979: 43) vielmehr “nicht auf irgendeiner
wirklichen Gleichheit […], an welcher alle Menschen
teilhätten”, sondern auf der gleichen Erwägung ihrer
Interessen (wie dem “Interesse, Schmerzen zu ver
meiden, unsere Fähigkeiten zu entfalten, die Grundbe
dürfnisse nach Nahrung und Obdach zu befriedigen,
liebevolle persönliche Beziehungen zu genießen, frei
zu sein, um eigene Pläne ungestört zu verwirklichen”
usw.). Da es nicht um Eigenschaften geht, an denen
alle Menschen in gleicher Weise teilhaben, kann das
Fehlen von Selbstbewußtsein oder Autonomie auch
kein Grund sein, geistig behinderte Menschen mora
lisch anders zu behandeln als gesunde Menschen. Al
lerdings kann durch dasselbe Argument keinesfalls die
unterschiedliche Behandlung von Tieren gerechtfertigt
werden, sondern Singers Argumentation zufolge gilt
auch für diese die “gleiche Interessenerwägung”.
Die Frage ist nun, ob das potentielle Verfügen über
gewisse kognitive Merkmale ein Grund sein kann,
den Menschen (insbesondere auch geistig behinderten
Menschen) moralische Rechte zuzugestehen, die Tie
ren vorenthalten werden. Diese Überlegung ist nicht
notwendigerweise speziesistisch, sondern in einem
bestimmten Sinne ist es nur dann sinnvoll, einem We
sen ein Recht zuzusprechen, wenn das Wesen, “dem
das Recht zugesprochen wird, im Prinzip in der Lage
ist, dieses Recht sowohl zu kennen als auch gegenüber
dem Verplichteten geltend zu machen”. Gemäß dieser
Bestimmung können nur Personen Rechte in diesem
Sinne haben; genauer haben demzufolge z.B. erwach
sene Personen Rechte gegenüber anderen Personen,
ebenso aber auch Kleinkinder oder psychisch Kranke,
denn diese sind zwar vielleicht faktisch nicht in der
Lage, moralische Rechte zu kennen und einzufordern,
unter bestimmten Umständen könnten sie es jedoch
tun; sie sind also “im Prinzip in der Lage, das Recht
zu kennen”. Andererseits kommen z.B. Tieren keine
moralischen Rechte in diesem Sinne zu, “denn ein Tier,
das die ihn betreffenden Verplichtungen der Menschen
kennen und einfordern (bzw. jemanden damit beauftra
gen) könnte, wäre kein Tier mehr.”28
29. Wenn Menschen oder Tiere nicht in jedem Fall Rechte
in diesem Sinne gegenüber (anderen) Menschen haben, so
können diese dennoch moralische Plichten gegenüber jenen
haben: “Plichten, denen Rechte gegenüberstehen, haben
nicht eo ipso Vorrang vor Plichten, denen keine Rechte ge
genüberstehen. Plichten, denen Rechte gegenüberstehen”,
sind laut Birnbacher (1986: 156) “nicht dagegen gefeit, im
Konliktfall anderweitigen Plichten weichen zu müssen,
ebensowenig wie Rechte dagegen gefeit sind, in der Ab
wägung anderen einschlägigen Rechten Platz machen zu
müssen. Dadurch, daß wir den Zukünftigen ein Recht auf
Vorsorge absprechen, ändert sich nicht das geringste an der
normativen Verbindlichkeit und Dringlichkeit unserer Ver
plichtung zur Zukunftsvorsorge”, und Analoges gilt auch
für Tiere, denen moralische Rechte im erwähnten Sinne ab
gesprochen werden.
30. Birnbacher (1980) erörtert etwa einen anderen Begriff
von Rechten, dem zufolge Rechte und Plichten korrelativ
sind, d.h., in jedem Fall, in dem eine Person x Plichten ge
genüber einem Wesen y hat, hat y gewisse Rechte gegenüber
x; andernfalls hätte weder x einen moralischen Grund, sich
gegenüber y verantwortlich zu fühlen, noch bestände für ir
gendwen ein Anlaß, x wegen ihres Verhaltens gegenüber y
gegebenenfalls zur Verantwortung zu ziehen. Gemäß diesem
Gebrauch des Ausdrucks ‘Recht’ haben zukünftige Men
schen laut Birnbacher (1980: 125) zwar ein Recht darauf,
“eine halbwegs unversehrte Umwelt hinterlassen zu bekom
men, niemals aber ein Recht darauf, allererst zu existieren.
Dagegen steht unserer Plicht, Tiere nicht zu quälen, […]
ein Recht dieser Tiere gegenüber, vor Schmerzen bewahrt zu
werden, da Plichten des Tierschutzes gegenüber den Tieren
als fühlenden, leidensfähigen Lebewesen bestehen.” Dieser
Begriff von Rechten führt uns mithin direkt zur Position von
Singer!
28. Birnbacher (1986: 155f.). Für ihn ist dies freilich nur eine
von mehreren möglichen Bedeutungen von ‘Recht’.
19
KRITERION
senken. Ich möchte nicht vorschlagen, geistesgestörte
Menschen mit Lebensmittelfarben zwangszuernähren,
bis die Hälfte von ihnen stirbt – obwohl uns dies sicher
lich exaktere Hinweise dafür gäbe, ob eine Substanz
für Menschen ungefährlich ist, als es die Versuche mit
Kaninchen oder Hunden vermögen. Ich möchte aller
dings unsere Überzeugung, daß es falsch wäre, gei
stesgestörte Menschen so zu behandeln, gern auf nicht
menschliche Lebewesen übertragen wissen, die auf
einer ähnlichen Stufe des Selbstbewußtseins stehen und
eine ähnliche Leidensfähigkeit besitzen.”31 Auch bei
diesem Argument, das dem zuvor erörterten ähnlich ist,
wird dadurch, daß es sich im Kapitel 3 der Praktischen
Ethik indet, zusätzlich klar, daß Singer dabei nicht das
Ziel verfolgt, Menschen Rechte abzusprechen, sondern
vielmehr, für Tiere dieselben Rechte zu “erschreiben”.
(III) Dieses Bild scheint sich zu wandeln, sowie
Singer auf Unterschiede zwischen Menschen ein
geht. Und zwar unterscheidet Singer (1979: 104ff.)
in Zusammenhang mit der Frage, ob Töten moralisch
verwerlich sei bzw. ob jedes Töten moralisch gleich
verwerlich sei, zwei Bedeutungen des Ausdrucks
‘menschliches Wesen’: Im biologischen Sinne ist damit
gemeint, daß jemand “Mitglied der Gattung Homo sa
piens” ist, während im qualitativen Sinne der Umstand
angesprochen ist, daß jemand eine “Person” ist. Den
Begriff der Person übernimmt Singer dabei von Locke
(1694: 419), der als Person ein “denkendes, verständi
ges Wesen” bezeichnet, “das Vernunft und Überlegung
besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann”,
d.h. als “dasselbe Ding, das zu verschiedenen Zeiten
und an verschiedenen Orten denkt”. Dieser Auffassung
zufolge sind die Ausdrücke ‘Person’ und ‘Mensch’
nicht synonym; einerseits ist also nicht jeder Mensch
notwendigerweise eine Person, andererseits aber ist
auch möglich, daß nicht alle Personen Menschen sind.
Nach Ansicht von Singer ist für die Moral nicht der
biologische Begriff des Menschen maßgeblich, sondern
der personale; demnach ist jedoch “das Töten einer Per
son in der Regel schlimmer als das Töten eines anderen
Wesens, das sich nicht selbst als eine Wesenheit mit ei
ner Zukunft sehen […und] keine Präferenz hinsichtlich
seiner eigenen zukünftigen Existenz haben kann.”32
Dieser Gedanke verursacht Unbehagen, einerseits, weil
31. Singer (1979: 96). Das englische Vorbild für ‘geistes
gestört’ ist übrigens ‘mentally defective’; dieser Ausdruck
könnte auch (und möglicherweise besser) mit ‘geistig be
hindert’ oder ‘schwachsinnig’ übersetzt werden.
32. Singer (1979: 112). Genauer ist dies das präferenz
utilitaristische Argument dafür, daß das Leben von Perso
nen in höherem Maße Schutz verdiene als das anderer Le
bewesen; die Gründe, die vom klassischen Utilitarismus für
eine solche Unterscheidung angeführt werden können, sind
laut Singer (1979: 110f.) anderer Natur.
wir dazu neigen, alle Menschen als Personen anzusehen
(und umgekehrt), andererseits aber wegen der Konse
quenz, daß demnach das Töten von Menschen, die
nicht als Personen gelten, moralisch weniger schlimm
ist. Dieser Punkt wird von Singer (1979: 188) selbst
noch mit folgender Feststellung verstärkt (die in beson
derem Maße für Aufregung gesorgt hat): “Die Tötung
eines behinderten Säuglings ist nicht moralisch gleich
bedeutend mit der Tötung einer Person. Sehr oft ist sie
überhaupt kein Unrecht.” Diese Äußerung kann leicht
so verstanden werden (und wurde auch so verstanden),
daß es moralisch ohne weitere Begründung erlaubt sei,
behinderte Säuglinge (ebenso wie andere behinderte
Menschen) zu töten. So einfach ist die Angelegenheit
freilich nicht, sondern Singers Ausführungen lassen
sich als komplexes Argument rekonstruieren, dessen
Hauptteil aus den Sätzen (1)–(10) besteht:
(1) Eine Person ist ein Wesen, das sich seiner selbst
bewußt ist und das sich insbesondere selbst als Wesen
mit einer Zukunft sehen kann.
(2) Nur eine Person kann wünschen, jetzt und in Zu
kunft als distinkte Entität zu existieren.
(3) Die Fähigkeit, Wünsche in bezug auf die eigene
Zukunft zu haben, ist eine notwendige Bedingung da
für, daß ein Wesen ein Recht auf Leben hat.33
(4) Wenn ein Wesen ein Recht auf Leben hat, so hat
es einen anderen moralischen Status als ein Wesen, das
kein solches Recht hat.
(5) Nur Personen haben ein Recht auf Leben.
(6) Das Töten einer Person ist aus moralischer Sicht
nicht gleichbedeutend mit dem Töten eines nichtper
sonalen Wesens.
(7) Da Personen ein Recht auf Leben haben, ist das
Töten einer Person ceteris paribus schlimmer als das
Töten eines nichtpersonalen Wesens.
(8) Manche Menschen (z.B. Kleinkinder und geistig
Behinderte) sind keine Personen.
(9) Manche Personen (z.B. Primaten und andere hö
here Säugetiere) sind keine Menschen.
(10) Das Töten von gesunden, erwachsenen Men
schen ist ceteris paribus schlimmer als das Töten von
Kleinkindern oder geistig schwer behinderten Men
schen, da diese (anders als jene) keine Personen sind.
Von diesen Sätzen entspricht (1) einer Deinition. Sie
wird von Singer zusammen mit den Sätzen (2)–6ver
wendet, um die allgemeine Hauptthese, d.h. (7), zu be
gründen. Aus (7) und (8) folgt dann weiter die spezielle
Hauptthese (10), auf die das gesamte Argument zielt.34
33. Die Plausibilität der Sätze (2) und (3) diskutiert Singer
(1979: 113ff.) ausführlich in Anschluß an M.Tooley.
34. Aus (7) und (9) folgt zudem die komplementäre These,
daß das Töten personaler nichtmenschlicher Wesen ceteris
paribus schlimmer sei als das Töten nichtpersonaler Men
schen. Darauf gehe ich im folgenden nicht weiter ein.
20
BEMERKUNGEN ZU SINGERS THESEN
Um herauszuinden, welche der erwähnten Sätze die
eigentlichen Probleme aufwerfen, wollen wir das Ar
gument etwas genauer unter die Lupe nehmen.
Viele Leuten wehren sich gegen die Vorstellung, daß
nicht alle Menschen Personen sind, vor allem deshalb,
weil sie befürchten, daß diejenigen Menschen, denen
der Status einer Person abgesprochen wird, dadurch zu
Menschen “zweiter Klasse” degradiert werden. Solche
Befürchtungen sind zwar durchaus ernst zu nehmen,
doch ist keineswegs klar, daß die dabei angesproche
nen Probleme notwendig aus dem erwähnten Personen
begriff folgen. Selbst wenn dem so wäre, müssen wir
jedoch bedenken, daß wir nicht umhin kommen anzu
geben, was unter einer Person zu verstehen ist, weil
wir menschliches Dasein theoretisch nicht angemessen
erklären könnten, wenn wir die Menschen nur als bio
logische Entitäten (d.h. als Lebewesen) oder gar nur als
physische Gebilde (d.h. als Körper) betrachteten. Na
türlich sind wir auch Körper und haben wir auch viele
Merkmale mit anderen Lebewesen gemeinsam; wenn
wir überlegen, was den “Kern” des menschlichen Da
seins ausmacht, so beziehen wir uns jedoch gewöhn
lich auf Merkmale, die unter dem Begriff der Person
zusammgenfaßt werden. Zwar könnten wir den Begriff
der Person so deinieren, daß damit genau die Menge
der Menschen bezeichnet wird; dadurch würde er je
doch einerseits überlüssig, während andererseits nicht
nur unklar bliebe, was eine Person ist, sondern auch,
was ein Mensch ist. Um diese Konsequenz zu vermei
den, bleibt uns also nichts anderes übrig, als zuzugeste
hen, daß de facto nicht alle Menschen jene Merkmale
aufweisen, die als wesentlich für Personen gelten.35
Ein Wesen nicht als Person anzusehen, bedeutet in
des (gerade mit Blick auf eine pathozentrische Ethik,
wie sie von Singer vertreten wird, sowie auf die Uni
versalisierbarkeit moralischer Prinzipien) nicht notwen
digerweise, dieses Wesen zu diskriminieren, noch, ihm
jegliches Recht abzusprechen. Genau das tut indes Sin
ger (1979: 113ff.), wenn er in Anschluß an M.Tooley
die Fähigkeit, Wünsche in bezug auf die eigene Zukunft
zu haben, als notwendige Bedingung dafür einführt, daß
ein Wesen ein Recht hat zu leben.36 Diese Begründung
erscheint ebenso überraschend wie unplausibel, da Sin
ger Rechte sonst doch auf Interessen zurückführt und
– wie erwähnt – allen Lebewesen (oder zumindest allen
empindungsfähigen Wesen) das gleiche “Recht” zu le
ben zuspricht. Natürlich könnten u.a. folgende Punkte
für Singer ins Treffen geführt werden:
(i) Möglicherweise wollte Singer dem Eindruck, daß
er Tiere und Menschen in jeder Hinsicht gleich behand
le, entgegentreten, ohne selbst in einen Speziesismus
zu verfallen – mit der Konsequenz, daß ein bestimm
ter moralischer Status nicht allen Menschen zukommt,
sondern nur manchen davon. In diesem Fall stellt sich
allerdings die Frage, ob ein solcher Unterschied ausge
rechnet mit einem Merkmal zu begründen ist, das Sin
ger sonst allen empindungsfähigen Wesen zuschreibt.
(ii) Es ist denkbar, daß Singer (1979) den Ausdruck
‘Recht’ in diesem Kontext anders verwendet als in den
früheren Kapiteln. Dies wirft allerdings z.B. folgende
Fragen auf: Was meint Singer tatsächlich mit ‘Recht’?
Falls sein Sprachgebrauch variiert, warum erläutert er
ihn dann nicht genauer? Und wenn wir schon die Fä
higkeit, einen bestimmten Lebensverlauf zu wünschen,
zur Grundlage der Rechtszusprechung machen, warum
sollen wir dann nicht noch einen Schritt weiter gehen
und Rechte nur solchen Wesen zusprechen, die in der
Lage sind, sie zu kennen und einzufordern?37
All das ist freilich spekulativ, da Singers Stand
punkt nicht hinreichend klar ist. Zudem eröffnet sich
dadurch auch kein Weg, um so zwischen personalen
und nichtpersonalen Menschen zu unterscheiden, wie
Singer vorschlägt. Entgegen Singers Annahme sind
nämlich die möglichen Eigenschaften von Wesen sehr
wohl moralisch relevant. Dies zeigt sich allein schon
darin, daß es sonst sinnlos wäre, von kranken oder un
reifen Menschen zu sprechen; vielmehr müßten wir
solche Menschen als Wesen auffassen, die schlichtweg
nicht über die Merkmale menschlicher Personen verfü
gen. Wenn wir Gründe für die Annahme haben, daß ein
bestimmtes Wesen x über ein bestimmtes Merkmal m
verfügte, wenn x ein gesundes, erwachsenes Mitglied
seiner Spezies wäre, daß x jedoch de facto nicht über m
verfügt, weil x nicht erwachsen oder nicht gesund ist,
so ist dies auch ein Grund, x moralisch anders einzu
schätzen als ein Wesen y, das prinzipiell nicht über m
verfügt. Diese Überlegung gilt nicht nur für Menschen
(ist also insofern im Sinne von Singer nicht speziesi
stisch), sie gilt aber auch für Menschen.
35. Dies gilt etwa auch für Plessner, der eine Person durch
drei Merkmale bestimmt, nämlich als Wesen, das Körper ist,
das in einem Körper ist und sich zudem relexiv als etwas
erfahren kann, was einen Körper hat (bzw. als etwas, was
über die beiden anderen Merkmale verfügt). Auch bei dieser
Deinition sind die Ausdrücke ‘Mensch’ und ‘Person’ nicht
synonym; Plessner (1928: 55) vertritt jedoch die These, daß
nur Menschen Personen sein können (was andererseits wie
bei Singer die Möglichkeit offen läßt, daß nicht alle Men
schen Personen sind).
36. Statt von einem “Recht auf Leben” spreche ich lieber von
einem “Recht zu leben”, da jener Ausdruck suggeriert, daß es
ein Recht geben könnte, in Existenz zu treten.
37. Tiere hätten demnach generell keine moralischen Rechte,
während Singer dafür eintritt, höheren Säugern solche Rech
te zuzusprechen, wenn sie aller Wahrscheinlichkeit nach
“personale Wünsche” haben. Alles, was Singer (1979) sonst
über Rechte schreibt, impliziert jedoch, daß Rechte auf den
Interessen empindungsfähiger Wesen beruhen – insbesonde
re auch das Recht zu leben.
21
KRITERION
Wenn Personalität moralisch bedeutsam ist, dann
sind demnach also potentielle menschliche (und
nichtmenschliche!) Personen in der Ethik gleich zu
berücksichtigen wie aktuale (menschliche und nicht
menschliche) Personen, während Wesen, die prinzipiell
keine Personen sein können, einen anderen moralischen
Status haben.38 Selbst wenn dies nicht der Fall wäre,
d.h., wenn alles dafür spräche, daß die Ethik sich nicht
darum zu kümmern braucht, über welche Merkmale ein
Wesen möglicherweise verfügt, könnte aus Singers Ar
gumenten jedoch nicht geschlossen werden, daß wirk
liche und mögliche Personen moralisch nicht gleich zu
behandeln seien, und zwar aus folgenden Gründen:
(i) Nach Ansicht von Locke, Singer u.a. gehört zum
Begriff der Person, daß ein solches Wesen über Selbst
bewußtsein, Autonomie und andere kognitive Fähig
keiten verfügt. Das Verfügen über diese Fähigkeiten ist
indes keine Angelegenheit von Ja oder Nein, sondern
zwischen den Menschen bestehen graduelle Unter
schiede.39 Derlei Unterschiede sind jedoch laut Singers
(1979: 43) eigener These für die Ethik irrelevant, weil
die moralische Gleichheit der Menschen “nicht auf ir
gendeiner wirklichen Gleichheit beruht, an welcher
alle Menschen teilhätten”, sondern ausschließlich auf
der gleichen Erwägung ihrer Interessen. Aufgrund
dessen sind also nichtpersonale Menschen moralisch
gleich zu behandeln wie personale Menschen.
(ii) Wenn das Verfügen über “Selbstbewußtsein und
Autonomie” einen “Unterschied im moralischen Sta
tus” von Wesen ausmacht, dann reißen wir laut Sin
ger (1979: 92) eine Kluft zwischen Wesen auf, die
über jene Merkmale verfügen, und anderen Wesen, für
die das nicht gilt – wobei wir Kleinkinder und geistig
schwer behinderte Menschen auf der anderen Seite der
Kluft ansiedeln, also so behandeln, als hätten sie “eher
den moralischen Status von Tieren als von Menschen.”
Da Singer selbst betont, daß sie dadurch zu “unglück
lichen Menschen” würden, ist zu vermuten, daß er die
Schaffung einer solchen Kluft ablehnt. Demselben Ar
gument zufolge ist jedoch auch die Vorstellung abzu
lehnen, daß nur personale Menschen ein Recht zu le
ben hätten, da jene Kluft dadurch noch vertieft wird.
(iii) Gegen die Vorstellung, daß nur Personen ein
Recht haben zu leben, weil nur sie fähig sind, Wünsche
in bezug auf ihre Zukunft zu haben, läßt sich schließ
lich auch ein anderes Argument von Singer vorbringen,
nämlich daß auch davon “rassistische” Varianten
möglich sind. So könnte etwa jemand analog argu
mentieren, daß nur die Reichen der Welt ein Recht auf
Besitz haben, weil nur sie eine Vorstellung davon ha
ben können, was Besitz überhaupt bedeutet, während
für jene, die in Armut aufwachsen und leben, die Kon
sequenzen immensen Besitzes unvorstellbar sind. Ein
solches Argument zur Rechtfertigung sozialer Unter
schiede widerspricht jedoch der Ethik von Singer.
(iv) Selbst wenn Singer überzeugend zeigen könn
te, daß nur Personen moralische Rechte hätten, hieße
dies indes nicht, daß nur ihr Leben schützenswert sei,
denn Leben ist in bestimmtem Sinne kein Recht, und
zwar insofern, als kein Wesen ein Recht hat, in Exis
tenz zu treten; Leben ist vielmehr ein Wert, den es zu
achten gilt, wenn er besteht.40 Demzufolge mögen wir
zwar gegenüber Personen (und nur ihnen gegenüber)
eine Reihe von Plichten haben, die durch ihre Rechte
begründet sind; zu diesen Plichten gehört jedoch nicht
die Plicht zur Achtung ihres Lebens. Das Leben von
menschlichen Personen stellt vielmehr (ebenso wie
das von nichtpersonalen Wesen) einen Wert dar, der
in bezug auf alle empindungsfähigen Wesen gleich zu
achten bzw. bei der moralischen Beurteilung von Hand
lungen gleich zu erwägen ist. Wenn der Wert des Le
bens eine Plicht begründet, so besteht diese also nicht
nur gegenüber jeglichem menschlichen Leben, sondern
(in Übereinstimmung mit Singers sonstigen Überle
gungen) gegenüber dem Leben aller empindungsfähigen Wesen, unabhängig davon, ob sie in der Lage sind,
Wünsche zu haben oder Rechte zu kennen.
Falls diese Überlegungen zeigen können, daß Sin
gers Präferenzenutilitarismus nicht notwendigerweise
die Konsequenzen hat, zu denen er selbst gelangte, so
ist das noch lange kein Grund, sich beruhigt anderen
Dingen zuzuwenden oder Singers Praktische Ethik
gar als theoretischen “Müll” zu “entsorgen”. Vielmehr
hat sich gezeigt, daß uns jegliche ethische Argumen
38. Wie sich noch zeigen wird, indet auch Singer nichts da
bei, in anderen Kontexten mögliche menschliche Personen in
seine Überlegungen einzubeziehen.
39. Denken wir etwa daran, daß sich Kinder allmählich zu
erwachsenen Personen entwickeln, ohne daß ein Datum i
xiert werden könnte, ab welchem sie Personen sind. Ähnlich
kann auch bei geistigen Behinderungen keine genaue Grenze
angegeben werden, die Personen von anderen Wesen trennt.
Übrigens rühren viele Mißverständnisse in den Diskussionen
um Singers “Thesen” daher, daß pauschal von “den Behin
derten” gesprochen wird, ohne daß überprüft würde, welche
Menschen von Singers Thesen bzw. “Thesen” jeweils tat
sächlich betroffen sind.
40. Während Werte nur zu beachten sind, wenn sie bestehen,
sind Rechte zu realisieren, sofern sie nicht bestehen. Wenn
also etwa ein Kind gegenüber seinen Eltern das Recht auf
Fürsorge hat, so heißt dies, daß entsprechende Verhältnisse
geschaffen werden sollen, falls sie nicht bestehen (falls die
Eltern das Kind also etwa verwahrlosen lassen). Dagegen hat
kein Kind das Recht, in Existenz zu treten, sondern sein Le
ben ist erst dann als Wert zu achten, wenn es existiert; vgl.
dazu Neumaier (1991). Wenn Leben im erwähnten Sinne ein
Recht wäre, so hätten Singers Argumentation zufolge para
doxerweise zwar erwachsene Personen ein Recht auf Leben,
nicht aber die (nichtpersonalen) Kinder, als welche sie zur
Welt kommen.
22
BEMERKUNGEN ZU SINGERS THESEN
und im Konliktfall sind die Interessen aller Betroffe
nen dem entsprechend abzuwägen. Dies als “Witz” von
Singers Argument zu erkennen, bedeutet freilich nicht
unbedingt, daß wir es als richtig anerkennen müssen.
(ii) Singers (1979: 188) Bemerkung, daß das Töten
eines behinderten Säuglings “nicht moralisch gleichbe
deutend mit der Tötung einer Person” und oft “über
haupt kein Unrecht” sei, besteht aus zwei Teilen: Der
erste ist unter der Voraussetzung richtig, daß behinder
te Säuglinge keine Personen sind; in diesem Fall ist
nämlich das Töten eines solchen Wesens nicht iden
tisch mit dem Töten einer Person. Allerdings ist damit
keineswegs gesagt, daß das Töten eines behinderten
Säuglings kein Unrecht wäre. Wenn Singer dennoch die
Aussage nachreicht, daß dies “sehr oft” der Fall sei, so
erscheint diese Aussage für sich genommen tatsächlich
beklemmend. Sie ist jedoch nicht isoliert zu betrachten,
sondern mit Bezug auf Singers Ethik im allgemeinen
sowie auf den Kontext, in dem die Äußerung steht:
Das Töten eines behinderten Säuglings ist für Singer
(wie erwähnt) nicht schlichtweg kein Unrecht, son
dern nur dann, wenn dadurch die Interessen aller von
einer Handlung betroffenen Wesen (einschließlich des
behinderten Säuglings) besser berücksichtigt werden
als durch die anderen Handlungsalternativen.43 Daß
Singers Argumentation auf diese These zielt, zeigt sich
u.a. auch darin, daß die “anstößige” Äußerung am Ende
eines langen Abschnitts steht, in dem Singer zu zeigen
versucht, daß unter bestimmten Umständen das Töten
eines behinderten Säuglings moralisch eher gerechtfer
tigt sein kann als das Töten (also die Abtreibung) eines
Fötus. Um dieses Argument zu verstehen, müssen wir
das betreffende Beispiel genauer betrachten.
(IV) Mit Hilfe der Amniozentese können schon in
der Frühzeit der Schwangerschaft Erbkrankheiten eines
Kindes festgestellt werden, z.B. auch Hämophilie. An
dieser Krankheit leiden nur männliche Wesen; weibli
che Träger des Gens geben es ihrem männlichen Nach
wuchs weiter, “ohne selbst davon betroffen zu sein.
Eine Frau, die weiß, daß sie das Gen für Hämophilie
hat, kann also vermeiden, daß sie ein hämophiles Kind
zur Welt bringt, indem sie sich der Amniozentese unter
zieht. Stellt sich dabei heraus, daß der Fötus weiblich
ist, dann ist alles gut; wenn nicht, kann die Frau eine
Abtreibung vornehmen lassen und es wiederum versu
chen, bis sie ein Mädchen empfängt.” Ein Problem be
steht freilich darin, daß durch die Amniozentese nicht
die Bluterkrankheit selbst nachweisbar ist, sondern nur
tation vor die Alternative stellt, entweder unser Ver
halten gegenüber anderen Menschen zu überdenken
oder aber gegenüber nichtmenschlichen Wesen.41 Wie
die Diskussion um Singers Thesen (aber nicht nur sie)
zeigt, stellen die Gegebenheiten der modernen Lebens
welt eine Herausforderung zur Entwicklung von neuen
ethischen Theorien dar, die ihnen eher gerecht werden
als die im 18.Jahrhundert wurzelnden deontologischen
und teleologischen Theorien. Singers Position kann
dabei als “Anstoß” dienen, da Singer eine zunächst
attraktiv erscheinende ethische Theorie bis in Konse
quenzen durchdenkt, die in der Tat “unmenschlich”
erscheinen mögen. Selbst wenn sie es sein sollten, darf
uns dies jedoch nicht dazu verleiten, Singers Gedanken
zu verwerfen, ohne sie genau zu untersuchen. Dies gilt
auch in bezug auf seine These, daß sich der moralische
Status personaler Wesen von dem nichtpersonaler We
sen unterscheidet. Was die zu Beginn dieses Abschnitts
erwähnten Stellen betrifft, so läßt sich nämlich minde
stens zweierlei zu Singers Gunsten anführen:
(i) Wenn Singer (1979: 112) betont, daß “das Töten
einer Person in der Regel schlimmer [ist] als das Tö
ten eines anderen Wesens, das sich nicht selbst als eine
Wesenheit mit einer Zukunft sehen kann”, so befür
wortet er damit nicht das Töten von Kleinkindern oder
geistig Behinderten; die Betonung liegt vielmehr auf
dem Wort ‘schlimm’, d.h., das Töten von empindungs
fähigen Wesen ist in Singers Augen immer schlimm.
Allerdings ist das Töten von Personen (aus präferenz
utilitaristischer wie wohl auch aus anderer Sicht) noch
schlimmer als das Töten nichtpersonaler Wesen, weil
in diesem Fall aufgrund des Selbstbewußtseins und der
Fähigkeit, Wünsche in bezug auf die eigene Zukunft zu
haben, mehr Interessen verletzt werden, als dies beim
Töten nichtpersonaler Wesen der Fall ist.42 Aus dieser
Sicht ist also das Töten eines nichtpersonalen Wesens
nicht als solches moralisch erlaubt, sondern es ist im
Vergleich zum Töten einer Person weniger schlimm,
41. Aus unseren Überlegungen folgt auch nicht, daß der
personale Begriff des Menschen ethisch prinzipiell unan
gemessen wäre, noch, daß wir zum biologischen Begriff
übergehen sollten. Ebenso bedeutet die Problematisierung
von Singers Thesen nicht, daß sich damit die Gegenposi
tionen automatisch als richtig erwiesen hätten.
42. Die These, daß das Töten von Personen moralisch ein
größeres Problem darstellt als das Töten anderer Wesen,
kann übrigens vertreten werden, auch wenn nicht nur Per
sonen als Träger von Rechten gelten. Eine andere Frage ist,
ob die erwähnte Begründung plausibel ist. Wenn wir die
Annahme, daß Rechte auf den Interessen betroffener Wesen
beruhen, so interpretieren, daß es dabei nicht auf Interessen
ankommt, die jemand hat, sondern auf etwas, was im Inter
esse von Wesen ist, die durch Handlungen betroffen sind, so
erscheint Singers Position jedenfalls eher angreifbar als bei
seiner eigenen Deutung.
43. Wie ich im folgenden zu zeigen versuche, ist es in den
von Singer verwendeten Beispielen etwas problematisch, die
Interessen der Betroffenen so miteinander zu vergleichen,
wie er dies tut. Selbst wenn dies möglich wäre, folgte daraus
allerdings nicht, daß uns Singer zum Töten von behinderten
Säuglingen ermutigte bzw. aufforderte.
23
KRITERION
Argument gilt nur unter der Voraussetzung, daß für ein
anderes, gesundes Kind die Möglichkeit der Existenz
vom Tod des kranken Kindes abhängt und daß die Tö
tung eines bereits geborenen Kindes “moralisch nicht
verwerlicher ist als die Abtreibung”.45
(ii) Singer (1979: 185f.) betont selbst, “daß weder
die Hämophilie noch das DownSyndrom ein Leben
nichtlebenswert machen würden. Wer einen Fötus mit
einem dieser Schäden abtreiben läßt in der Absicht, ein
anderes Kind zu bekommen, das nicht geschädigt sein
wird, sieht Föten offensichtlich als austauschbar oder
ersetzbar an. […] Daß man von der Schädigung eines
Fötus weiß, wird weithin als Grund für die Abtreibung
anerkannt.” Da nun aber “die Geburt keine moralisch
bedeutsame Grenzlinie markiert”, erscheint es unplau
sibel anzunehmen, “Föten vor der Geburt dürften ‘er
setzt’ werden, neugeborene Säuglinge dagegen nicht.”
Unter der Voraussetzung, daß es moralisch erlaubt ist,
kranke Föten abzutreiben, und daß die Geburt primär
nichts am moralischen Status von Kindern ändert, ist
demnach also in Fällen wie dem vorhin beschriebenen
auch das Töten von Säuglingen moralisch erlaubt.
Diese hypothetische Annahme bringt weniger Sin
ger in Verlegenheit als manche seiner Gegner, nämlich
jene, die es für “unmenschlich” halten zu erwägen, daß
das Töten von menschlichen Wesen, die bereits gebo
ren sind, moralisch geechtfertigt sein könnte, die aber
andererseits für ein Recht auf Abtreibung eintreten. Sin
ger (1979: 186) sitzt diesbezüglich in einem Boot mit
jenen, die konsequent das Prinzip der “Heiligkeit des
menschlichen Lebens” verfechten, denn diese halten es
nicht nur für moralisch verwerlich, daß nichtpersonale
Menschen, die bereits geboren sind, getötet werden,
sondern auch, “daß eine Frau einen Fötus abtreibt, von
dem sie weiß, daß er geschädigt ist.” Singers Argument
stellt demnach uns alle wieder vor zwei Alternativen:
Wenn wir jegliche Möglichkeit der moralischen Recht
fertigung von Euthanasie ausschließen wollen, so müs
sen wir auch unsere Einstellung zur Abtreibung von
Kindern gründlich überdenken; wenn wir andererseits
Abtreibung für moralisch gerechtfertigt halten, dann
müssen wir auch in Kauf nehmen, daß in gewissen Fäl
len das Töten eines geborenen menschlichen Wesens
moralisch erlaubt ist oder gar ein geringeres Übel dar
stellt als das Abtreiben eines Fötus.
das Geschlecht des Kindes, daß aber nicht alle Söhne
von Frauen, die Trägerinnen des HämophilieGens sind,
die Krankheit wirklich erben: “Nach der Statistik ist die
Hälfte der Söhne von weiblichen Überträgern völlig
normal. Sie sind weder Bluter noch Überträger. Wenn
wir wissen, daß eine schwangere Frau Krankheitsüber
trägerin ist, so wissen wir damit lediglich, daß der Fötus
eine Chance von 50% hat, ein Bluter zu werden. Vie
le Frauen […] halten es für besser, dieses Risiko nicht
einzugehen. Sie ziehen es vor, den Fötus abzutreiben
und versuchen es erneut, in der Hoffnung, eine Toch
ter zu bekommen. Das bedeutet, daß von hundert unter
solchen Umständen abgetriebenen Föten fünfzig völlig
normal sind. Das Problem besteht darin, daß wir vor
der Abtreibung nicht wissen können, welches die nor
malen sind. Dieses Problem ließe sich beseitigen, wenn
die Frau bis nach der Geburt warten könnte, bevor sie
die Entscheidung für oder gegen das Leben ihres Kin
des trifft. Würde man den Zeitpunkt der Entscheidung
ändern, so würde das die Zahl der Leben, die ausge
löscht werden müssen, mit einem Schlag um die Hälfte
reduzieren. Ebenso würde es möglich machen, daß eine
Überträgerin des HämophilieGens ohne jedes Risiko
männliche Kinder bekommt.”44
Dieses Argument zeigt, daß Singer nicht ohne wei
teres das Töten nichtpersonaler Menschen propagiert,
sondern im Vergleich zwischen dem Töten einer be
stimmten Zahl von Säuglingen und dem Töten einer
doppelt so großen Zahl von Föten die erste Alternative
für moralisch eher gerechtfertigt hält als die zweite.
Allerdings ist auch das nicht unbedingt Singers These
über die moralische Rechtfertigung bestimmter For
men des Tötens, sondern sein Argument enthält meh
rere hypothetische Annahmen, z.B. die folgenden:
(i) Das Argument gilt laut Singers (1979: 188) eige
nen Worten nur unter der Voraussetzung, daß das Le
ben von Föten und Säuglingen für sich betrachtet
werden kann. “Wenn wir die Wirkungen auf andere
in Betracht ziehen, kann sich das Bild ändern. Die ge
samte Schwangerschaft mitsamt den Wehen durchste
hen, nur um ein Kind zu gebären, über das man dann
entscheidet, es solle nicht am Leben bleiben, wäre of
fenkundig eine schmerzliche Prüfung, die einem fast
das Herz zu brechen vermag.” Ebenso könnte sein, daß
“es mehr Paare gibt, die eine Adoption wünschen, als
normale Kinder, die für eine Adoption zur Verfügung
stehen” und daß unter dieser Voraussetzung “ein kin
derloses Paar bereit wäre, einen Bluter zu adoptieren”.
In beiden Fällen wäre es moralisch nicht gerechtfertigt,
einen hämophilen Säugling zu töten, sondern Singers
45. Singers Argumentation für die moralische Gleichwer
tigkeit von Abtreibung und Kindestötung ist weitgehend ne
gativ, d.h., sie beruht auf der Widerlegung von Argumenten,
denen zufolge es möglich sein soll, eine Grenze zu ziehen,
bis zu der es moralisch erlaubt ist, ein Kind zu töten. Wenn
es keine solche Grenze gibt, dann ist jegliches Töten nicht
personaler Wesen gleichwertig (solange nicht durch andere
Gründe gerechtfertigt werden kann, daß die Fälle unter
schiedlich zu behandeln sind).
44. Singer (1979: 184–188). Die These, daß das Töten von
behinderten Säuglingen sehr oft kein Unrecht sei, indet sich
im Anschluß an diese Überlegungen.
24
BEMERKUNGEN ZU SINGERS THESEN
stellen, daß er bestimmte Formen des menschlichen
Lebens für “lebensunwert” halte. Jener Vergleich resul
tiert vielmehr aus dem Utilitarismus (der als ethische
Theorie durchaus anerkannt ist). Darum ist uns durch
eine “Verteufelung” von Singers Thesen nicht gedient.
Wenn diese und die ihnen zugrunde liegende Ethik Pro
bleme aufwerfen, so müssen wir vielmehr schauen, wo
sich diese versteckt halten. Eine Möglichkeit ist dabei,
daß Singers Position nicht so konsequent ist, wie sie
zunächst erscheint. Tatsächlich läßt sich die Art, wie
Singer die Interessen von Menschen miteinander ver
gleicht, mindestens in zweierlei Hinsicht kritisieren:
(i) Laut Singer (1979: 183) kann sich etwa durch den
Tod eines Fötus oder eines behinderten Säuglings für
eine Frau die Möglichkeit eröffnen, ein weiteres, ge
sundes Kind zu bekommen. Es ist denkbar, daß dieser
Gedanke für eine Frau bei der Entscheidung für oder
gegen eine Abtreibung eine gewisse Rolle spielt. Des
senungeachtet widerspricht er jedoch einer These, die
Singer (1979: 93) mit Vehemenz vertritt, nämlich daß
wir Wesen nur “entsprechend ihren wirklichen Qualitä
ten behandeln” können, nicht aber “entsprechend den
Qualitäten, die für ihre Gattung normal sind”. Da laut
Singer (1979: 179f.) “die potentielle Fähigkeit eines
Fötus, ein rationales, selbstbewußtes Wesen zu wer
den, nicht als Grund dagegen gelten kann, ihn in einem
Stadium zu töten, in dem er diese Eigenschaften noch
nicht hat”, kann die Aussicht auf ein mögliches gesun
des Kind auch kein Argument sein, um damit den Tod
eines existierenden kranken Kindes zu rechtfertigen. In
diesem Fall steht Singer vor zwei Alternativen, näm
lich entweder auch die potentiellen Merkmale von exi
stierenden Säuglingen und Behinderten anzuerkennen
oder aber alle Wesen nur “entsprechend ihren wirkli
chen Qualitäten” zu beurteilen. In beiden Fällen ist
das Töten der existierenden Wesen durch das utilitari
stische Argument moralisch nicht gerechtfertigt, im ei
nen, weil Kinder und geistig Behinderte dann potenti
ell als Personen gelten, im anderen, weil die möglichen
Eigenschaften nichtexistierender Kinder (wie z.B. de
ren Gesundheit) außer acht gelassen werden können.49
(ii) In einem anderen Beispiel erörtert Singer (1979:
166) die Möglichkeit, daß eine Frau vorhabe, “sich
im Juni einer Bergsteigerexpedition anzuschließen”,
aber im Januar erfährt, “daß sie im zweiten Monat
Da Singer Abtreibung sehr wohl für moralisch ge
rechtfertigt hält, fährt er im Boot der Verfechter des
Prinzips der “Heiligkeit menschlichen Lebens” eher als
“blinder Passagier” (oder agent provocateur) mit. Dar
über hinaus nimmt er damit selbst der betreffenden Prä
misse ihren hypothethischen Charakter.46 Laut Singer
werfen also Abtreibung und Kindestötung die gleichen
moralischen Probleme auf (freilich immer noch unter
der hypothetischen Annahme, daß dabei das betrof
fene Kind nur für sich betrachtet werden kann, ohne
daß auch die Wirkung auf andere berücksichtigt wird).
Daraus folgt allerdings nicht, daß Abtreibung und
Kindestötung durch die bisher erwähnten Argumente
moralisch gerechtfertigt wären. Singer führt indes noch
einen weiteren Grund an, der mit der vergleichenden
Bewertung des Lebens von Kindern zu tun hat. Eine
Frau kann z.B. planen, “daß sie zwei Kinder haben will.
Wenn eines stirbt, während sie im gebärfähigen Alter
ist, kann sie an seiner Stelle ein anderes empfangen.
Angenommen, eine Frau, die zwei Kinder geplant hat,
hat ein normales Kind und bringt dann ein hämophiles
zur Welt. Die Belastung, die dieses Kind bedeutet, mag
zwar den Verzicht auf ein drittes Kind unvermeidlich
machen; sollte aber das mißgebildete Kind sterben, so
würde sie noch ein Kind bekommen. Und es ist eben
falls plausibel anzunehmen, daß die Aussichten auf ein
glückliches Leben für ein normales Kind besser wären
als für ein hämophiles. Sofern der Tod eines geschä
digten Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes mit
besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt,
dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn
der behinderte Säugling getötet wird.”47
Viele von uns dürften den Gedanken an die Möglich
keit eines bewertenden Vergleichs zwischen dem Leben
verschiedener Menschen und das darauf basierende
Töten eines dieser Menschen intuitiv ablehnen. Dies ist
laut Singer auf die jüdischchristliche Tradition unseres
Denkens zurückzuführen; dagegen werde in vielen Kul
turen das Töten von Kindern, Behinderten oder Alten un
ter bestimmten Voraussetzungen moralisch gebilligt.48
Unabhängig davon, ob wir jenen Gedanken akzeptieren
oder nicht, ist es freilich unplausibel, Singer zu unter
46. Dies ändert freilich nichts daran, daß Singers Überle
gungen für alle relevant sind, die für Abtreibung eintreten.
47. Singer (1979: 183). Dieses Argument ist auch auf Kinder
mit DownSyndrom oder mit Spina biida anwendbar. Singer
(1979: 166) argumentiert darüber hinaus ähnlich mit Bezug
auf die Abtreibung im allgemeinen.
48. Da Singer (1979: 13ff.) den moralischen Relativismus
ablehnt, kann er Kindestötung übrigens nicht mit Bezug auf
solche kulturellen Fakten rechtfertigen. Insofern ist es etwas
überraschend, daß sich Singer (1979: 308) und Kuhse/Sin
ger (1985: 210) in diesem Kontext ausgerechnet auf Wester
marck (1906: Kap.13) berufen, der ausdrücklich einen ethi
schen Relativismus vertritt.
49. Übrigens sind die möglichen Merkmale wirklicher Men
schen moralisch eher bedeutsam als der Gedanke an die Exi
stenz möglicher Menschen, denn von wirklichen Menschen
läßt sich sinnvoll fragen, welche Merkmale sie potentiell
haben, während diese Frage in bezug auf ein nichtexistie
rendes Wesen reine Spekulation ist. Es erscheint auch selt
sam anzunehmen, daß wir an der “Produktion” von Kindern
so lange (mit entsprechendem “Ausschuß”) herumprobieren
können, bis wir “Erfolg” haben.
25
KRITERION
großen Hautlächen ständig Blasen bilden. “Verletzun
gen der Haut – an der Körperoberläche und auch inner
halb des Körpers – sind häuig. Ein Kind, das an Epi
dermolysis Bullosa leidet, ist oft wachstumsbehindert
und leidet an schwerer Anämie. […] Viele Kinder, die
an Epidermolysis Bullosa leiden, sterben innerhalb der
ersten zwei Lebensjahre. Bei Kindern, die überleben,
kann die Blasenbildung zurückgehen und sie können
oft ein zufriedenstellendes Leben führen.” Stephanie
wurde operativ und medikamentös behandelt; trotzdem
konnte sie “nicht genügend Nahrung oral zu sich neh
men und mußte intravenös ernährt werden. Sie verlor
Flüssigkeit durch die verletzte Haut […]; ihre innere
Haut blätterte ebenso ab wie die äußere. Obwohl Ste
phanie Morphin in hohen Dosen bekam, schien ihr
Leben weiterhin von Schmerz […] dominiert zu sein.
Sie wurde vom Krankenhauspersonal verschiedentlich
als ein ‘Brandopfer’ beschrieben, […] das sich jeden
Tag neue Verbrennungen zuzog. […] Die Ärzte ver
schrieben [zwar] weiterhin Antibiotika und Sauerstoff,
aber es wurde entschieden, daß Stephanie nicht wieder
belebt werden sollte, wenn ihr Herz zum Stillstand
kommen sollte. Das geschah zwei Monate und drei
Tage nach Stephanies Geburt – und Stephanie starb.”
In den Augen von Kuhse (und Singer) war der Ver
such, Stephanie Christopher trotz ihrer Krankheit am
Leben zu erhalten, nicht in deren Interesse, weil “ihr
kurzes Leben […] zum größten Teil von Schmerz und
Leid dominiert [war]; und selbst wenn Stephanie ein
paar zufriedene Momente erlebt haben sollte, dann ist
es schwer zu glauben, daß diese Momente sie für das
entschädigt haben, was sie erleiden mußte. Wenn wir
Stephanies Leben ausschließlich aus ihrer Innenper
spektive betrachten, dann scheint also kein Zweifel
zu bestehen, daß es besser gewesen wäre, wenn Ste
phanie kurz nach der Geburt gestorben wäre. Jetzt, da
Stephanie tot ist, erscheint dieses Urteil unbestreitbar.
Aber könnte man sagen, daß es während Stephanies
Lebenszeit in ihrem Interesse war, daß versucht wur
de, sie am Leben zu erhalten? Auch wenn ihre Chan
cen nicht gut aussahen, so bestand doch immerhin die
Möglichkeit, daß Stephanie überleben würde und ein
langes und glückliches Leben führen könnte.”52
Wie der Hinweis auf die Möglichkeit eines Überle
bens der Krankheit und eines zufriedenstellenden Wei
schwanger ist. Sie hat noch keine Kinder, aber die fes
te Absicht, in einem Jahr ein Kind zu bekommen. Die
Schwangerschaft ist nur deshalb unerwünscht, weil sie
zur unrechten Zeit kommt. […] Wenn Abtreibung bloß
deshalb falsch ist, weil sie die Welt einer künftigen Per
son beraubt, dann ist diese Abtreibung kein Unrecht;
sie verzögert lediglich den Eintritt einer Person in die
Welt.” Wenn dies das einzige Argument wäre, das für
Abtreibung vorgebracht werden kann, so hieße dies,
daß sie aus präferenzutilitaristischer Sicht abzulehnen
wäre. In jenem Beispiel wird nämlich nicht einfach der
Eintritt einer Person in die Welt verzögert, sondern es
werden grundlegend verschiedene Interessen mitei
nander verglichen. Die fragliche Frau mag zwar ein
starkes Interesse haben, an einer Bergsteigerexpedition
teilzunehmen, doch erscheint dieses Interesse gering im
Vergleich zum Interesse zu leben, das laut Singer allen
empindungsfähigen Wesen zukommt.50 Nur vergleich
bare Interessen können miteinander verglichen werden
– nicht nur bei alltäglichen Entscheidungen, sondern
auch bei der ethischen Güterabwägung.
(V) Singers Argumentation für die moralische Recht
fertigung von Abtreibung und Kindestötung beruht auf
dem Vergleich der Interessen der verschiedenen durch
die fraglichen Handlungen betroffenen Wesen. In ande
ren Fällen, in denen Singer das Töten (d.h. die Eutha
nasie) von Menschen ebenfalls für moralisch gerechtfer
tigt hält, bezieht er sich zwar ebenfalls auf die Interessen
der Betroffenen, doch begründet er diese These völ
lig anders. Die Rede ist von Krankheiten oder Verlet
zungen mit “schlechter” Prognose, die mit schwersten
Qualen verbunden sind. Auch in solchen Fällen beruht
die moralische Rechtfertigung von Euthanasie laut Sin
ger darauf, daß insgesamt mehr Glück geschaffen wird;
dies geschieht jedoch nicht dadurch, daß das Leben
eines kranken Menschen dem eines anderen, gesunden
Menschen geopfert wird, sondern die Vermehrung des
Glücks ergibt sich aus der Beseitigung des Leids jener
Menschen. Ein drastisches Beispiel dafür ist etwa die
Leidensgeschichte von Stephanie Christopher.51
Stephanie Christopher litt seit ihrer Geburt an Epi
dermolysis Bullosa, einer Krankheit, bei der sich auf
50. In Anlehnung an Locke (1690) können wir zwischen
primären und sekundären Interessen bzw. Rechten unter
scheiden: So ist etwa Leben und das, was (wie z.B. Nahrung
und Gesundheit) zu seiner Erhaltung dient, ein primäres In
teresse, während jene “Dinge des Lebens”, die (wie Eigen
tum, Freiheit oder Vergnügen) mit dessen Gestaltung zusam
menhängen, im Vergleich dazu sekundär sind.
51. Vgl. dazu Kuhse (1990a: 23ff.). In diesem Beispiel ist
zwar wieder von einem Kind die Rede, doch lassen sich
Kuhses Überlegungen auch auf andere Krankheiten und Ver
letzungen anwenden, die mit schwersten Qualen verbunden
sind. Ähnliche Fälle werden übrigens auch von Kuhse/Singer
(1985) und Singer (1979) diskutiert.
52. Kuhse (1990a: 25). In diesem Fall geht es um “nichtfrei
willige” Euthanasie. Analoge Überlegungen stellen Kuhse
und Singer (1979) jedoch auch in bezug auf freiwillige Eu
thanasie an, bei der eine menschliche Person selbst wünscht,
daß ihr Leiden ein Ende habe. Diese Ähnlichkeit zwischen
der Euthanasie personaler und nichtpersonaler Menschen
zeigt ebenfalls, daß wir es mit einem anderen Phänomen zu
tun haben und daß es falsch ist, dieses mit den anderen in
einen Topf zu wefen.
26
BEMERKUNGEN ZU SINGERS THESEN
terlebens zeigt, ist es nicht per se moralisch gerechtfer
tigt, ein menschliches Wesen sterben zu lassen oder gar
zu töten, das an einer Krankheit leidet, die (wie z.B.
Epidermolysis Bullosa) mit großen Qualen verbunden
ist und bei der die Prognose äußerst schlecht ist. Die
behandelnden Ärzte hatten also im Falle von Stepha
nie Christopher sehr wohl die Plicht, sie zu behandeln
und so ihre ÜberlebensChance zu nützen, wie gering
diese auch immer gewesen sein mag. Erst im Verlauf
der Krankheit stellte sich allmählich heraus, daß die
Behandlung nicht den erhofften Erfolg hatte, weshalb
die Ärzte ihre Einstellung änderten und die Patientin
schließlich “aufgaben”. Ihre Bemühungen stellten sich
also retrospektiv als sinnlos und grausam heraus; damit
ist nicht gesagt, daß sie es von vornherein waren. In
diesem Zusammenhang ist nämlich zweierlei zu unter
scheiden, und zwar einerseits die Frage, ob es Umstän
de geben kann, in denen es moralisch gerechtfertigt ist,
einen Menschen sterben zu lassen oder gar zu töten,
andererseits aber die Frage, wie gut wir derlei Umstän
de erkennen können. Wie es heißt, ist irren menschlich.
Darum kann Euthanasie aus Mitleid nie gerechtfertigt
sein, so lange ein Irrtum auch nur einigermaßen wahr
scheinlich ist.53 Es kann jedoch jener Punkt erreicht
werden, an dem selbst der vernünftigste Mensch zu
Wundern Zulucht nehmen muß, um seiner Hoffnung
Sinn zu verleihen. Es kann auch die Situation eintre
ten, daß die Entscheidung, einen Menschen bei allen
Qualen am Leben zu erhalten, schwerer zu rechtferti
gen ist als die Entscheidung zur Euthanasie.
Kuhse und Singer behaupten nicht, daß es in Fällen
wie dem von Stephanie Christopher von vornherein
moralisch gerechtfertigt wäre, den betroffenen Men
schen ihre Qualen durch Euthanasie zu ersparen, wohl
aber, daß die Situation eintreten kann, in der wir um
eine Entscheidung nicht herum kommen, wobei sich
moralische Probleme ergeben, wie auch immer wir
entscheiden. Bezeichnenderweise äußert Kuhse den
Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Behandlung von Ste
phanie Christopher in Form einer Frage. Tatsächlich
stehen wir vor der Frage, ob das Leben von Menschen
unter allen Umständen zu erhalten ist, also auch dann,
wenn es bei extrem schlechter Prognose mit großen
Qualen verbunden ist. Diese Frage ist nicht neu, son
dern die Menschen im allgemeinen und die Ärzte im
besonderen mußten immer schon von Fall zu Fall ent
scheiden; die moderne Intensivmedizin stellt uns aber
erst recht vor diese Frage. Wir müssen eine Antwort
darauf inden; diese kann zwar anders ausfallen als
jene von Singer, doch ist sie auf jeden Fall zu begrün
den. Was Singers Antwort betrifft, so fällt auf, daß sich
seine Argumentation in bezug auf solche Formen von
Euthanasie durch mindestens zwei Merkmale gegen
über den anderen Beispielen auszeichnet:
(i) Die Überlegungen sind weitgehend kasuistisch,
d.h. auf konkrete Fälle bezogen, in denen es schwie
rig ist, sich gegen Euthanasie zu entscheiden. Dies legt
nahe, daß es laut Singer keine allgemeine Regel für
Euthanasie geben kann, sondern daß von Fall zu Fall
entschieden werden muß, wobei sie nur in ganz be
stimmten (jeweils zu charakterisierenden) Fällen mora
lisch gerechtfertigt ist. Andererseits weist dies auf die
Notwendigkeit hin, solche Fälle möglichst genau zu
beschreiben, um jeglichem Mißbrauch vorzubeugen.
(ii) Anders als sonst argumentiert Singer bei Fällen
von schwerstem Leid primär mit der Innenperspektive
der davon Betroffenen.54 Wenn Personen von solchem
Leid betroffen sind, dann ist auf jeden Fall ihr eigener
Wille zu respektieren; bei nichtpersonalen Menschen
müssen andere “nach bestem Wissen und Gewissen”
für sie entscheiden. Der Erwerb des erforderlichen Wis
sens mag uns ebenso schwer fallen wie die Belastung
des Gewissens mit der Entscheidung; andererseits ist
nicht auszuschließen, daß sich jemand die Entschei
dung allzu leicht macht (weshalb in dieser Hinsicht
noch viel theoretische Arbeit zu leisten ist). Zudem ist
jedoch auch zu bemerken, daß Singers Universalismus
in diesem Argument in den Hintergrund tritt.
53. Darüber hinaus ist jede Form von unfreiwilliger Eutha
nasie abzulehnen, d.h. von Tötungsakten, die gegen den
Willen der Betroffenen verstoßen, wann auch immer dieser
geäußert wurde oder wie auch immer er sonst erschlossen
werden kann. Wenn also z.B. eine Person zu einem bestimm
ten Zeitpunkt ihres Lebens äußert, daß sie im “Ernstfall” auch
unter größten Schmerzen am Leben erhalten werden möch
te, so ist dieser Wunsch zu respektieren. Diese Position ver
tritt auch Singer (1979: 177, 199f.) Es ist also absurd, seine
Überlegungen in die Nähe des unter dem Namen ‘Euthana
sie’ laufenden Programms der Nationalsozialisten zu rücken,
nicht zuletzt auch deshalb, weil bei der “nichtfreiwilligen”
Euthanasie nur die mit guten Gründen zu vermutende Innen
perspektive der Betroffenen eine Rolle spielt, nicht aber das
Interesse von anderen.
Im Rückblick auf die erwähnten Beispiele zeigt sich,
daß wir es tatsächlich mit verschiedenenartigen Argu
menten zu tun haben; diese unterscheiden sich vonein
ander nicht nur aufgrund der jeweils behandelten
Probleme, sondern auch wegen Singers ethischer
5. Schluß
54. Insbesondere in bezug auf DownSyndrom und Hämo
philie geht Singer vom Vergleich verschiedener Interessen
aus. Dagegen spielt das LeidensArgument bei Spina biida
eine gewisse Rolle, weil in diesem Fall das Leben mit einem
hohen Maß an Leiden verbunden ist. Allerdings ist Singers
(1979: 2101f.) Argumentation auch bei dieser Krankheit auf
die Schwere der Fälle bezogen; das heißt andererseits nicht,
daß sie in jedem Fall stichhaltig ist.
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Grundhaltung. Wie die Diskussion der verschiedenen
“Thesen” gezeigt hat, sind nicht alle davon gleich plau
sibel; insofern ist also Singer/Kuhse (1990: 122) recht
zu geben, daß noch “keine plausible Antwort” auf die
von ihnen untersuchten Fragen vorliegt. Dies und die
Erörterung von Singers “Thesen” zeigt weiter, daß die
Erwartung deinitiver Antworten auf jene gravierenden
Fragen tatsächlich fehlgeleitet ist. In Singers “Thesen”
werden Probleme oft diskutiert – ohne den Anspruch,
die jeweilige Angelegenheit endgültig entschieden zu
haben. Manche dieser “Thesen” laufen der “Tyrannei
des Gewohnten” zuwider; dies kann als Grund für ihre
Ablehnung dienen, oder aber (für Kritiker und Verteidi
ger von Singer) als Anstoß für die Suche nach besseren
ethischen Theorien – ganz im Sinne jener philosophi
schen Tradition, die Xenophanes mit der Bemerkung
begründet hat: “Nicht von Anfang an haben die Götter
den Sterblichen alles Verborgene gezeigt, sondern lang
sam inden sie suchend das Bessere.”55
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