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Aus: Chris Dähne Die Stadtsinfonien der 1920er Jahre Architektur zwischen Film, Fotografie und Literatur Oktober 2013, 390 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 42,99 €, ISBN 978-3-8376-2124-2 Das Genre der Stadtsinfonie greift Prinzipien der Komposition auf und führt damit zu einer noch nie dagewesenen audiovisuellen Vorstellung moderner Räume. Diese verbreitet sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der prosperierenden Entwicklung der Metropolen: New York, Paris, Moskau, Berlin, Amsterdam, Sao Paulo und Tokyo. Chris Dähne stellt diese Interdependenzen von Stadt-Architektur und ihrer filmischen Darstellung in einer umfangreichen Zusammenschau weitgehend unbekannter literarischer, fotografischer und filmischer Versatzstücke im Zeitraum von 1825-1930 vor. Untersucht wird dabei die Rolle der Medialisierung, und hier im Besonderen des Mediums Film, bei der Produktion und Wahrnehmung vom urbanen Raum und seiner Architektur – und umgekehrt die Rolle von Raum und Architektur im Film. Chris Dähne (Dr.) forscht und lehrt zur Theorie und Geschichte der modernen Architektur an der Bauhaus-Universität Weimar. Weitere Informationen und Bestellung unter: www.transcript-verlag.de/ts2124/ts2124.php © 2013 transcript Verlag, Bielefeld Inhalt 9 Einleitung 13 19 Thema und Motivation Zur Methode 27 1 27 35 Reflexionen zum Verhältnis von Architektur und Film Darstellungen und Interpretationen von Raum in Literatur, Fotografie, Film und deren Wechselwirkungen 45 2 46 Städtebaulich-architektonische und demografische Einblicke 48 55 60 71 76 Architektur zwischen den Medien Darstellungen von Raum zur Zeit der Herausbildung der modernen Metropole 1800-1922 In der Literatur Die romantische Stadtbeschreibung: E.T.A. Hoffmann, Victor Hugo, Emile Zola Die frühmoderne Stadtbeschreibung: Hermann Meißner, Natsume Soseki In der Fotografie Das realistische Abbild lebloser Natur: Nicéphore Niépce, Louis Jacques Mandé Daguerre, Gaspard Félix Tournachon (Nadar), Hippolyte Bayard, Peter Henry Emerson Das realistische Abbild lebendiger Natur: Eadweard Muybridge, Jules Etienne Marey Das experimentelle Abbild der Dinge: Christian Schad, Man Ray, László Moholy-Nagy 81 Das realistische Abbild von Raum: Jean-Eugène-Auguste Atget, Alfred Stieglitz Im Film »Motion picture snapshots« des städtischen Lebens en Plein air: Gebrüder Lumière und Skladanowsky 90 Die Entwicklung der kinematografischen Sprache 90 Die Herausbildung technischer und künstlerischer Zusatzelemente: Musik, Schauspiel, Filmarchitektur, Licht 98 Die Entwicklung filmischer Ausdrucks- und Gestaltungsmittel: Kamerafahrt und -schwenk, Nahaufnahme, Überblendung, Filmschnitt 103 Der Umgang mit Raum Plein air und im Studio: Urban Gad, Giovanni Pastrone 85 111 3 Darstellungen von Raum in der Interbellumsperiode 1911-1930 111 Städtebaulich-architektonische und demografische Einblicke In der Literatur 115 Die moderne Stadtbeschreibung: Dos Passos, Alfred Döblin, Kawabata Yasunari In der Fotografie 127 Das technisierte Abbild von Raum: Anton Giulio Bragaglia, Alvin Langdon Coburn, Albert Renger-Patzsch, Alexander M. Rodtschenko Im Film 138 Der experimentelle Umgang mit Raum im Studio: Karl Heinz Martin, Karl Grune 144 Erweiterte filmische Ausdrucks- und Gestaltungsmittel: Montage 152 Der experimentelle Umgang mit dem abstrakten und urbanen Raum en Plein air und im Studio: Viking Eggeling, Hans Richter, Walter Ruttmann, Fernand Léger 164 170 173 178 188 198 Sinfonische Großstadtfilme – Städtesinfonien Von der Stadtschilderung zur Stadtsinfonie Die Stadtsinfonie aus filmhistorischer Sicht Die ›bereinigte‹ Filmform Die sinfonische Komposition der Stadt Die Analyse der Stadtsinfonien Charles Sheeler und Paul Strand, New York Manhatta (1921) 210 222 236 248 260 272 Alberto Cavalcanti, Paris Rien que les heures (1926) Dziga Vertov, Moskau Sagaj, Sowjet! (1926) Walter Ruttmann, Berlin Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (1927) Joris Ivens, Amsterdam Regen (1929) Institute for Municipal Research, Tokyo Fukko Teito Shinfoni (1929) Adalberto Kemeny und Rodolfo Rex Lustig, São Paulo São Paulo, a Sinfonia da Metrópole (1929) 279 4 Die Rolle des Raums im Film unter besonderer Berücksichtigung der Stadtsinfonie 279 Zur Zeit der Herausbildung der modernen Metropole 282 In der Interbellumsperiode 282 Zusammenfassung der motivischen und stilistischen Merkmale 298 Die Rolle von urbanem Raum und Architektur im Film – und vice versa die Rolle des Films bei der Produktion und Wahrnehmung von Architektur 307 Rückkopplungen zwischen Darstellung und Wahrnehmung, aus Sicht von Regisseur und Rezensent 312 In der Gegenwart: Ausblick 319 321 323 357 363 Anhang Abkürzungsverzeichnis Archivalien Bibliografie Filmografie Zwischentitel und Drehbücher Einleitung »Es ist die Wahrheit, daß der Film neue Welten entdeckt hat, die uns bis dahin verborgen gewesen waren [...].«1 Die Erfahrung der Stadt gründet sich auf Gleichzeitigkeit. Diese Gleichzeitigkeit besteht zwischen einer physischen urbanen Umgebung und deren medialer Repräsentation. So jedenfalls formuliert es der Konzeptkünstler Victor Burgin in seinem Buch Some Cities: »At the same time that the city is experienced as a physically factual built environment, it is also, in the perception of its inhabitants, a city in a novel, a film, a photograph, a television programme, a comic strip, and so on.«2 Nach Burgins Überlegungen beruht die Wahrnehmung und Aneignung unserer urbanen Welt also auf einem physischen, tatsächlich vorhandenen Raum – und zugleich einem künstlerisch konstruierten. Durch den Gebrauch und durch die Wahrnehmung – durch Anfassen und durch Ansehen – vollzieht sich ein Prozess, wie ihn der Philosoph Walter Benjamin im Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beschreibt.3 So gesehen ist der »Raum« eine Umgebung, in der man sich leibhaftig befindet – und zugleich eine Erscheinung, eine Imagination, die man sich bildhaft, anschaulich vorstellt.4 1 Balász 1980, S. 37. 2 Burgin 1996, S. 175. 3 Benjamin 1963, S. 40. 4 August Schmarsow unterscheidet in diesem Sinne Ende des 19. Jahrhunderts einerseits den »eigenen Raum«, in dem wir uns befinden, von dem die optische und haptische Wahrnehmung vom eigenen Körper ausgeht, 10 Der urbane Raum in den Stadtsinfonien der 1920er Jahre In einer Stadt zu leben schafft Gewohnheiten. Es sind diese Gewohnheiten, die unsere Einstellungen dem wirklichen Raum gegenüber bestimmen. Bilder von Räumen und Gebäuden anzuschauen, evoziert jedoch andere Erfahrungen, als konkret darin zu wohnen. Wo der »physische Raum« nur durch die Erfahrung des Menschen gewonnen wird, ist der »visuelle Raum« das Resultat des Sehens. Dieser im Bild zur Erscheinung gebrachte Raum unterliegt einer bestimmten Art und Weise der Darstellung.5 Mit ihr wird Raum nicht nur bildhaft, sondern durch ein »abstraktes Ordnungsschema«6 darüber hinaus modifiziert und re-produziert. Im Unterschied zum »physischen« Raum bleibt der »visuelle« nur eine flüchtige und ausschnitthafte Vorstellung. Beides ist different, und doch erlaubt gerade die alltägliche Vermischung von Anordnungen ihrer Gleichzeitigkeit zu sprechen – wie beispielsweise im Titel der vorliegenden Arbeit: Architektur zwischen Film, Fotografie und Literatur. In diesem Fall verwandelt sich mittels ästhetischer Anschauung und medialer Gestaltung der physische, der reale Raum zu einem Darstellungs- und Reflexionsraum. Es ist ein artifizieller Raum, der zugleich frappierende Ähnlichkeiten mit dem wirklichen besitzt. Eine solche Ähnlichkeit, der Literaturwissenschaftler und Semiotiker Jurij M. Lotmann nennt sie »heimtückisch«,7 ist ein Faktum der Kultur.8 Sie ist und andererseits den »allgemeinen« und »objektiven Raum«, der nur als Bild visuell wahrgenommen werden kann. Er entsteht erst in der Distanz von Mensch und Sehfeld. Vgl. Zug 2006, S. 27f. 5 Die Verwendung des Begriffes »Darstellung« stützt sich zum einen auf den Entstehungsprozess von Architektur. Ihre Räume werden mit den Worten Gernot Böhmes zum »Medium der Darstellung« in Zeichnung, Animation und Rendering, Modell, wirklichem Bauwerk und schlussendlich Fotografie. Vgl. Böhme 2006, S. 16. Zum anderen sind es die Räume der Stadt selbst, die für Frieda Grafe das Medium Film zu einer Darstellung von ihr verknüpft. Vgl. Grafe 1987, S. 396-413. 6 Böhme 2004, S. 129f. Vgl. alternativ: Ingarden 1962, S. 339f. 7 Lotman 1977, S. 11f. 8 Für Böhme konstituiert sich der Alltagsraum als Überlagerung unserer Wahrnehmung der Umgebung mit Mustern der Repräsentation. Es sind Muster, die, wie Lotmann bestätigt, kulturell eingeübt sind. Vgl. Böhme 2004, S. 137. Einleitung sowohl durch vorangehende künstlerische als auch durch bestimmte historische Bedingungen gebildet. Beides führt dazu, Imagination und Realität zu verwechseln – eine scheinbare Verwechslung, wie der Artikel des Designers und Typografen Erik Spiekermann in der form vom Februar 2010 bestätigt. Spiekermann warnt davor, dass heutige Kunstwerke und Bauwerke aufgrund einer illustrativen, nahezu perfekten, aus Milliarden von Pixeln aufgebauten Darstellung die Erfahrung und das Erleben ihrer Wirklichkeiten nahezu hinfällig werden lassen.9 Nicht durch das Anfassen, sondern durch das Ansehen wird eine virtuelle und imaginäre Wahrnehmung erzeugt, nach der zunehmend eine Beurteilung unserer physischen Räume erfolgt. Die folgenden Überlegungen stützen sich auf viele produktive und inspirierende Gespräche, die Anteil am vorliegenden Buch haben. Mein inniger Dank gilt an erster Stelle meiner Mentorin, Prof. Dr. Franziska Bollerey und Axel Föhl mit ihrem schier unbegrenzten Wissen. Sie haben mich von der Suche des Themas bis zu seiner Niederschrift hervorragend unterstützt und gefördert. Franziska Bollereys kreativen Impulsen und großem Vertrauen ist diese Arbeit zu verdanken. Des Weiteren geht mein Dank an Prof. Dr. Lorenz Engell, der mir in seinen Doktorantenkolloquien an der Bauhaus-Universität Weimar zum einen Einblicke in die Medientheorie bot und zum anderen eine Plattform zur Vorstellung und Diskussion meines Forschungsthemas. Dank gilt weiterhin Prof. Dr. Gerd Zimmermann für seine uneingeschränkte Unterstützung der Arbeit, ebenso Prof. Dr. Jörg Gleiter, der mir als Vertretungsprofessor an der Bauhaus-Universität die Beteiligung am dreijährigen Internationalen Studienprogramm Japan-KoreaDeutschland und dadurch Einblicke und Kontakte in die Metropole Tokyo ermöglichte. Hierdurch konnte ich auf Takeshi Arthur Thornton von der Yokohama National University treffen, dem Literaturhinweise beziehungsweise literarische Ausführungen zu Tokyo zu verdanken sind. Dank gilt hier auch Prof. Mototaka Mori von der Waseda University in Tokyo, der mir die Türen zum National Film Centre – The National Museum of Modern Art öffnete, sowie Herrn Tochigi Akira, Fumiaki Itakura und dem Tokyo Institute for Municipal Research, Herrn Tamura Yasuhiro und Herrn Ryuichi Kaneko, Kurator im Tokyo Metropolitan Museum of Photography, 9 Spiekermann Februar 2010, S. 26f. 11 12 Der urbane Raum in den Stadtsinfonien der 1920er Jahre um hier nur die geglückten Unternehmungen zu nennen. Professor Moris vermittelnde, über manch europäisch-asiatisches Kommunikationsproblem hinweghelfende Funktion und sein großes Engagement bei der Erforschung von Quellen und Materialien trug wesentlich dazu bei, dass die Stadtsinfonie von Tokyo in das Untersuchungsspektrum einfließen konnte. Hier sei auch Frau Simone Molitor vom Goethe-Institut São Paulo genannt, deren über einen Zeitraum von fast zwei Jahren andauernde Mühen letztendlich die Analyse der Stadtsinfonie von São Paulo möglich machten und der großer Dank gilt. Nicht zuletzt Ulrike Stiefelmayer, Kinoleiterin des Deutschen Filminstitutes/Filmmuseums Frankfurt a.M., und Winfried Günther ist es zu verdanken, dass die Raritäten der Stadtsinfonien aus São Paulo und Tokyo erforscht und beschrieben werden konnten. Ihr Vertrauen und Interesse am Thema ermöglichte die Durchführung einer Stadtsinfonie-Reihe im bis dato umfangreichsten Rahmen, von den Anfängen bis zur Gegenwart, im Juni und August 2009 im Frankfurter Filmmuseum. Mein Dank für die uneingeschränkte Bereitstellung von Untersuchungsmaterial und anregenden Gespräche geht auch an Adelheid Heftberger und Georg Wasner vom Archiv der Sammlung Dziga Vertov am Österreichischen Filmmuseum in Wien sowie André Stufkens, Leiter der European Foundation Joris Ivens in Nijmegen, ebenso wie Uschi Rühle und Christiane Eulig vom Textarchiv und Bibliothek/Mediathek des Deutschen Filminstituts, Ute Klawitter vom Bundesarchiv-Filmarchiv in Berlin. PD Dr. Helge Svenshon von der Technischen Universität in Darmstadt, Dr. Henning Engelke von der GoetheUniversität Frankfurt a.M. und Dr. Felix Lenz haben mir viele Denkanstöße und geistreiche Hinweise für die Arbeit gegeben. Für die Mithilfe am mehrsprachigen Text- und Bildwerk gilt mein Dank zudem Yoko Olbrich, Elisabeth Schuhmann und Isis Amaral, Antje Heuer, Rainer Becker, Adele Gerdes, Ronny Schüler und Stefanie Müller, Ulrike Höhle und Falk Schneemann. Ein abschließender und besonders betonter Dank gilt Daniel Albig und Frank Bangert. Einleitung Thema und Motivation Vorstellungen von Räumen erzeugen visuelle und sprachliche Bilder. Mehr noch als die statischen Bilder sind es die bewegten, die in imaginäre Räume entführen. Während die medialen Künste – wie in dieser Arbeit: Literatur, Fotografie und Film – ein schöpferisches Spiel mit Raum vollziehen, das den Blick auf ihn generiert, zeigt sich Architektur mit ambivalenter Tendenz. Einerseits versucht sie, mit überrealistischem Ansatz die Raumkunst in Materialität und Atmosphäre perfektionistisch nachzuahmen. Grund dafür sind seit jeher das Wirklichkeitsverlangen der Betrachter und die wirklichkeitsvortäuschenden Techniken. Andererseits besteht die allgemeine Neigung dazu, alles Kontextbezogene des Raums, urbane oder landschaftliche, gesellschaftliche und humane Beziehungen aus der Darstellung zu lassen. Bereinigt von allem erscheint Architektur nahezu als autonomes Kunstwerk, das unter seiner fotogenen Hülle komplexe Beziehungen verbirgt. Beide Arten, Architektur darzustellen, erwecken den Eindruck, man kenne das Objekt, ohne es je physisch erlebt zu haben. Unklar bleibt oftmals, ob das architektonische Objekt und seine Umgebung überhaupt existieren oder jemals existieren werden. Offensichtlich ist, dass ihre Darstellungen mediale Räume entwerfen, die anhaltende Beachtung und Bedeutung erlangen. Im Sinne kritischen Hinterfragens reflektiert diese Arbeit medial dargestellte und vermittelte Räume. Im Vordergrund stehen die des Films, ein »Produkt der Moderne, der Ära der Metropole«,10 der es sich in den 1920er Jahren mit der sogenannten Stadtsinfonie zu Aufgabe macht, die Metropolen New York (Manhattan), Paris, Moskau, Berlin, Amsterdam, São Paulo und Tokyo in Bewegtbildern zu fixieren. Beide Protagonisten sind vergleichsweise jung; der Film entwickelt sich Ende des 19. Jahrhunderts, die Metropole circa ein halbes Jahrhundert früher. Nahezu als Herausforderung nimmt sich die besondere Filmform – Stadtsinfonie – der Großstadt an. Sie gleicht einem unsichtbaren Ungetüm, »dessen Maste die reklamegeschminkte Brandmauer hinter Stadtbahnbogen ist, und das bisher nur in den Zahlenkolonnen der Statistiken über Lärm und Unglücksfälle, über Staub und Sterblichkeit darstellbar war [...]«,11 deren Rhythmus die Menschen 10 Bruno 2008, S. 72. 11 O. V. 24. September 1927a. 13 14 Der urbane Raum in den Stadtsinfonien der 1920er Jahre und ihren Lebensraum determiniert, schreibt die Deutsche Allgemeine Zeitung am 24. September 1927. Stimuliert vom großstädtischen Rhythmus versuchen die Künstler, in der Vergrößerung eines Wirklichkeitsausschnittes die zeitgenössischen Probleme – Entfremdung und Wirklichkeitsverlust – zu erfassen. Unter ästhetischen Gesichtspunkten gestaltet die Stadtsinfonie die Wahrnehmung des Alltäglichen. In der Zeit eines Tages werden visuelle und akustische Impressionen dokumentiert und assoziativ aneinandergefügt. Dies erfolgt nach Beschreibungen des Bauhauskünstlers László Moholy-Nagy mit »ausnutzung der apparatur, eigene optische aktion, optische tempogliederung, [...] viel bewegung mitunter bis zur brutalität gesteigert«.12 Die gestalterischen Strukturen und mechanisch-optischen Bewegungsformen der Stadt benutzt die Stadtsinfonie, um daraus das alltägliche Großstadtleben zu konstituieren. Rhythmus und Tempo beherrschen den 24-Stunden-Tag in diesen Filmen und steuern die Aktivitäten des Großstadtlebens, vom Anschalten der Maschinen am frühen Morgen bis zum kulturellen Vergnügen am späten Abend. Die Bewegungen des Alltags bestimmen daher das als Querschnitt konstruierte Gesamtbild der Stadt und auch deren Erfahrung. Sie ist gebunden an die veränderte Wahrnehmungsweise von Raum. Hervorgerufen durch »das Tempo unserer Zeit«, schreibt der Regisseur Walter Ruttmann13 im Aufsatz Malerei mit Zeit (1919), haben »Telegraf, Schnellzüge, Stenografie, Fotografie, Schnellpresse u.s.w. [...] eine früher nicht gekannte Geschwindigkeit in der Übermittlung geistiger Resultate«14 zur Folge. Die neue Zeit, die Schnelligkeit, mit der Informationen einströmen und bewältigt werden müssen, verlangt nach einer neuen Betrachtungs- und Darstellungsart. Das »mechanische [...] Auge«15 registriert »Tempi und Formen, Bewegungen und Richtungen [...]«,16 die nach dem Ordnungs- und Strukturprinzip der Sinfonie montiert werden. Die Sinfonie liefert die innere Struktur des Films, gestaltet und visualisiert die Großstadt als harmonisch ›zusam- 12 Vgl. Wingler 2000, S. 121. 13 Goergen 1989: Der Vorname Ruttmanns ist mit zwei Schreibungen in den Literaturen zu finden. Nach Brinckmann 2000, S.124 strich der Künstler das »h« aus Walt(h)er im Zuge der Neuen Sachlichkeit. 14 Ruttmann 1978, S. 63. 15 Vertov 2005, S. 45. 16 Balázs 2001a, S. 53. Einleitung menklingendes‹ Gesamtwerk. Inhaltlich aufeinander abgetönte Akzente17 und Bedeutungen entwickeln sich in großstädtischen Motiven, mittels der musikalischen und rhythmischen Ausdrucksform der Sinfonie. Sie komponiert die Raumfragmente einer vorgefundenen Welt zu schöpferischen Bildern beziehungsweise zu einem ›ornamentalen Bewegungsgebilde‹.18 Béla Balázs erkennt darin »ein rhythmisches Gebilde, das optisch erlebt wird und doch nicht sichtbar ist«.19 Wahrnehmungsleitende Motive der Zeit, Modernisierungen etwa in Form architektonischer Bauwerke und städtebaulicher Infrastrukturen beginnen sich mit den Techniken der Kinematografie zu verschränken. Licht, Bewegung, respektive Rhythmus und Montage sind die Gestaltungsprinzipien des Films, die zugleich zu Kennzeichen der Großstadt werden. Das Licht in Gestalt der Lichtreklamen der Gebäude und die dynamischrhythmischen Bewegungen auf den unter- und oberirdisch verlaufenden Verkehrsnetzen sind genau die städtebaulich-technischen Elemente, mit denen die schnelllebig-moderne Großstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbaut und abgebildet wird. Ihre Wahrnehmung und Erfahrung gleicht dem kinematografischen Verfahren der Montage, in der – so empfindet der amerikanische Dichter Ezra Pound seine Großstadt im Jahre 1922 – »the visual impressions succeed each other, overlap, overcross«.20 Ergebnis dieser Verschränkung, die letztendlich zur visuellen Umwandlung oder Umgestaltung räumlicher Eindrücke und Vorstellungen führt, ist nicht nur ein (Ab-)Bild, sondern eine neue Erkenntnis sowie ein neues Bewusstsein von Raum. Dessen neuer Darstellungs- und letztendlich bildnerischer Stadtform geht eine Analyse voraus, die das Medium selbst ausführt. Die Techniken des Films nehmen beim Dokumentieren und Analysieren von Raum auch gleichsam eine Übersetzung in eine andere Wissensform, in ein anderes Medium – hier des Films – vor.21 Sowohl die Stadt mit ihrer Architektur als auch der Film erforscht die ganze Skala der Imagination, gibt der Architekt Daniel Libeskind im Guardian im September 2004 zu Wort: »Architecture and film share an unbelievable miracle. They can construct, within 17 Vgl. ebd. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Williams 1974, S. 15. 21 Vgl. Hauser 1990. 15 16 Der urbane Raum in den Stadtsinfonien der 1920er Jahre their small parameters, the biggest of worlds. They explore all the scales of imagination.«22 Wie die Architektur hat auch der Film ursächlich mit dem Raum zu tun, der als »Laboratorium«23 der Erforschung und Wahrnehmung gebauter Umwelt dient, betont Anthony Vidler in seinem Aufsatz Die Explosion des Raums. Architektur und das filmisch Imaginäre (1996). Film ist daher ein Mittel zur Analyse sowie Darstellung von Raum, bildhaft und massenmedial – wie in Form der Stadtsinfonie – verbreitet. Im frühen 20. Jahrhundert löst die Wahrnehmung urbaner Räume eine Diskussion ihrer künstlerischen Darstellung aus. In Architektur und Städtebau halten neue Medien und Techniken zur Einzug, die nicht nur der »Übertragung«, »Vermittlung« und »Mittelbarkeit«24 ihrer Werke dienen. Die Medien, die literarischen (Schrift und Bild) und technischen (Fotografie und Film),25 benutzen die Strukturen der Räume, um ihre Neustrukturierung vorzunehmen. Insofern stellen sie Raum künstlerisch dar, indem sie ihn zugleich entwerfen und gestalten. Die Sujets der neuen Medien, der urbane Raum und seine Architekturen, sind inhaltlich und formal an ihrer Darstellung beteiligt. So ist Film ein Artefakt, das mit seinen technischen und schöpferischen Mitteln Raum »nicht re-produziert, sondern produziert«.26 Laut Filmkritiker Béla Balász ist »dies die ›Art, zu sehen‹, des Operateurs, seine künstlerische Schöpfung, der Ausdruck seiner Persönlichkeit, etwas, das nur auf die Leinwand projiziert sichtbar wird«.27 Dieser These schließen sich Fragen danach an, welche Rolle urbaner Raum und Architektur in den künstlerischen Medien bei der Komposition und Darstellung neuer Lebensräume spielt, und umgekehrt nach der Rolle der Medien bei der Produktion und Wahrnehmung von Architektur. Es sind Überlegungen, die sich mit Konzepten der Wahrnehmung und Produktion medialer Bilder befassen und dabei gesellschaftspolitische und kulturell relevante Themen berühren. Lassen sich Ansätze formulieren, um über eine Interpretation der Wirklichkeit zu einer kreativen Entwurfsstrategie von 22 Libeskind 13. September 2004, S. 16. Vgl. auch Göttler 15. September 2004, S. 14. 23 Vidler 1996, S. 13. 24 Vgl. Krämer 1998, S. 16. 25 Ebd. S. 11. 26 Balász 1980, S. 36. 27 Ebd., S. 37. Einleitung Räumen zu gelangen? Welche »neuen Erfahrungen und Operationsweisen«28 eröffnen die neuen Medien, die ohne sie unzugänglich sind? Beeinflussen die Darstellungen von Raum Theorie und Praxis von Architektur und Stadtplanung? Anliegen dieser Arbeit ist, das (unbewusste) Zusammenwirken von Stadtwahrnehmung und -vermittlung, das heißt von physischem Raum und seiner Darstellung, zu erfassen und zu vergegenwärtigen. Der Schwerpunkt liegt nicht in der rezeptiven Interpretation bildhafter Informationen über Räume gebender Städteporträts, sondern vielmehr darin, differente Formen künstlerischer Stadterfahrung und -produktion nahezulegen, insbesondere der Stadtsinfonie, die hier als »medienexperimentelle Raumkonzeption des 20. Jahrhunderts«29 verstanden wird. Die Betrachtungen erfolgen im Kontext künstlerisch-technischer Entwicklungen und ihrer historischen und zeitlichen Zusammenhänge. Noch vor der Entdeckung des Films widmen sich der Darstellung von Raum unter anderem die Literatur und Fotografie. Daher liegt es nahe, neben den filmischen auch die zeitlich vorausgehenden und parallel sich weiterentwickelnden literarischen und fotografischen Darstellungen vorzustellen. Dies erfolgt zum einen für die Zeit der Herausbildung der modernen Metropole ab Mitte des 19. Jahrhunderts und zum anderen für die Interbellumsperiode 1911-1930.30 Für beide Zeiträume wird urbaner Raum als faktische Stadtgeschichten mit demografischer und urbanistischer Entwicklung dem der zeitgleichen Rezeption in den Künsten – Literatur, Fotografie, Film – gegenübergestellt. Dabei führt die Beschäftigung mit dem früheren Zeitabschnitt in die historische Herausbildung künstlerischer Reproduktions- und Produktionsverfahren ein; die Beschäftigung mit der Interbellumsperiode gilt dann der Anwendung dieser Techniken auf ausgewählte künstlerische Werke und thematisierte Großstädte. 28 Krämer 1998, S. 17. 29 Gleininger/Vrachlotis 2008, S. 10. 30 Da sich bei den künstlerischen Darstellungen vom städtischen Raum ähnliche Methoden in beiden Zeitabschnitten finden lassen, kommt es zu dieser zeitübergreifenden Rezeption. Die Beschränkung der filmischen Werke auf den Zeitraum von 1920-29 wurde deshalb vorgenommen, weil mit Beginn des Tonfilms (1929) sich das Genre veränderte und Stadtfilme eher zu Werbe- und Propagandazwecken produziert werden. 17 18 Der urbane Raum in den Stadtsinfonien der 1920er Jahre Die Annäherung an das zentrale Thema – Stadtsinfonien – erfolgt aus filmhistorischer Perspektive, aus der heraus Verschränkungen und wechselseitige Einflüsse der Raum- und Bildkünste sichtbar werden, die schließlich in den filmischen Stadtsinfonien kulminieren. Diese sind begreifbar als Medien des Stadtbewusstseins, denen eine kritische und kontextbezogene Reflexion urbaner Lebensräume gelingt, die Architekturdarstellungen oftmals fehlt. Die Betrachtung ausgewählter Werke der Raum- und Bildkünste, insbesondere auch unter den Aspekten ihrer Aktualität und Relevanz, eröffnet insofern Zugänge zu über die Grenzen von Architektur und Städtebau hinausführenden Lesarten und neuen Möglichkeiten des Verständnisses von Raum – nicht nur mit Blick auf vergangene Epochen, sondern zugleich auch mit Blick auf das Heute. Der unmittelbaren Erfahrung ist die nun zurückliegende Moderne unzugänglich; erfahrbar ist sie heute nur in der Rekonstruktion und Projektion. Dies soll dem Leser ermöglicht werden über exemplarische Materialien – wie Kurzgeschichten und Romane, Fotografien und Collagen, Experimental- und Dokumentarfilme. In der Zusammenstellung eröffnen diese literarischen, fotografischen, filmischen und letztendlich faktischen31 Versatzstücke Sichtachsen auf das, was aus architektonischer Sicht die Quintessenz urbaner Räume im Film darstellt: auf Bilder, die wiederholt betrachtet oder ›gelesen‹ werden wollen. Dann erschließen sich möglicherweise – im Sinne des Nachempfindens künstlerisch-fantastischen Ordnens und Neukomponierens – alternative Raumkonzepte und innovative, etwa interdisziplinäre Denkansätze. In diese Richtung zielt die vorliegende Arbeit; ihr Interesse gilt Schnittstellen zwischen künstlerischen Medien, Architektur, Stadtplanung und Raumforschung – gerade im Hinblick auf die zunehmende Präsenz der Medien in unserer Erfahrungswelt. 31 Vgl. Kap. 2 und 3: Städtebaulich-architektonische und demografische Einblicke, S. 46f und S. 111f. Einleitung Zur Methode Als rezeptionsästhetische Ansätze dienen der Forschungsarbeit kulturhistorische und medientheoretische Überlegungen insbesondere Walter Benjamins, Siegfried Kracauers und Sergej Eisensteins. Auf sie stützt sich die Analyse und Rekonstruktion des Raums; der Raum, um den es hier geht, ist ein öffentlicher, geformt vom baulichen Zusammenspiel von Körpern (Bauwerken) und Volumen der Zwischenräume (Straße und Wege mit ihren Aufweitungen zu Plätzen und Innenräumen). Bei den Bauten und ihren Innenräumen handelt es sich um Einrichtungen der Großstadt, die – wie die übrigen Räume – als inhaltlicher und die künstlerischen Werke strukturierender Topos fungieren. Ihre physischen Eigenschaften – wie die Ausdehnung und Lage im realen Raum – und sinnlichen Qualitäten – wie Farbigkeit und Oberflächenwirkung – bilden sowohl die Struktur des Stadtorganismus als auch die Grundlage mannigfaltiger Darstellungsmöglichkeiten, durch die er zur Erscheinung gelangt.32 In Analogie zur anatomischen, in einzelne Bestandteile zerlegenden Analyse wird ein Weg durch die Oberfläche des Künstlerischen gebahnt; auf zwei Ebenen, der Motiv- und der Stil-Ebene, werden drei Gattungen zu je zwei Zeitperioden untersucht. Die Methode ist als hermeneutische Interpretation zu verstehen: Sie sucht zum einen das jeweilige Selbstverständnis der Künste zu bestimmen, und sie zeigt zum anderen empirische Bedingungen auf, das heißt sie vollzieht eine Re-Konstruktion des urbanen Raumes der Stadt, räumlich und zeitlich, beobachtungsbasiert. Grundlage bildet eine deskriptive und reflektierende Bildanschauung, die sich im ikonografischen Sinne versteht und über die Entschlüsselung medialer Darstellungen die Beurteilung der Rolle des Mediums und die der Räume vornimmt. Damit reiht diese Arbeit sich in den Diskurs um das Bild als Wissensform und kulturellen Bedeutungsträger ein. Die Analyse und Interpretation der Bilder erfolgt auf Motiv- und auf Stil-Ebene. Die Motiv-Ebene (Stadt und Architektur) fragt danach, welche Strukturelemente den urbanen Raum definieren. Denn diese werden zu raumprägenden Komponenten einer vorgefundenen Welt; zum einen als Gehäuse und materielles Gebilde und zum anderen aufgrund sinnlicher und immaterieller Eigenschaften, wie sie etwa Juhani Pallasmaa anführt: »It [architec- 32 Vgl. Ingarden 1962, S. 259f. 19 20 Der urbane Raum in den Stadtsinfonien der 1920er Jahre tural work] offers pleasurable shapes and surfaces molded for the touch of the eye, but it also incorporates and integrates physical and mental structures, giving our existential experience of being a strengthened coherence and significance. Architecture enhances and articulates our experiences of gravity, horisontality and verticality, the dimensions of above and below, materiality and the enigma of light and silence.«33 Diese gegenständlichen und atmosphärischen Komponenten werden sowohl in den medialen Darstellungen (Text, Fotografie, Bewegtbild) als auch den realen und materiellen Städten (Grafiken, Statistiken, Pläne) analysiert.34 Die Gegenüberstellung von medialer Darstellung und realer Stadt erfolgt, um deren Wahrnehmung fassbarer zu machen. Es ist eine vergleichende Gegenüberstellung, in die neben einer quantitativen Betrachtung der urbanisierten Räume (Wachstum und Demografie) auch qualitative Daten einfließen. Mit dieser Vorgehensweise wird der künstlerische Bildraum in Beziehung zum realgeschichtlichen Stadtraum gesetzt, der als Umfeld der filmischen Handlung wahrnehmbar ist. Wesentliche Bezüge entwickeln sich aus der gleichzeitigen Wahrnehmung von künstlerischer Darstellung und realer Dokumentation. Eine Anregung zu den wichtigsten Strukturelementen des urbanen Raumes liefern Walter Benjamins physiognomische Notationen. Mit dem Blick des umherschweifenden Flaneurs beschreibt der Philosoph die neue Topografie der Großstadt, ihre Dynamik und modernen Lebensräume. Sie lassen sich in Kategorien einteilen, die im globalen sowie im regionalen Maßstab betrachtet werden und damit eine Matrix für die analytische Rezeption bilden. Ergänzt werden diese Notationen durch analoge, jedoch zeitversetzte Motive von Siegfried Kracauer, Architekt und Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts. Die Klassifizierung der Strukturelemente urbaner Räume erfolgt aus der Perspektive der beiden Autoren; kurz vorgestellt werden die Metropolen entlang der Aspekte: stadt- und architekturgeschichtliche Entwicklung 33 Pallasmaa 2005, S. 13. 34 Bei dieser Trennung der medialen »Werkzeuge« zeigt sich wieder die Verschränkung der Disziplinen. Denn nicht nur die Künste, sondern auch der Städtebau und die Architektur fertigen fotografische Bilder an, die hier rein dokumentarischen Zwecken dienen. Einleitung (Gesamtstadt, Quartiere und Straßen), klimatische und atmosphärische Anmutung, Tag und Nacht. Gesamtstadt Quartiere Die Beobachter der Großstadt, die Flaneure,35 lassen die sich Mitte des 19. Jahrhunderts unüberschaubar entwickelnden urbanen Räume zu bevorzugten Motiven literarischer Beschreibungen werden.36 Ihre Aufenthaltsorte sind die von der Architektur gestalteten und mit einem bestimmten Zeitkolorit versehenen Räume. Als »Phantasmagorien«37 beschreibt sie Benjamin in einem kurzen Text zu Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts (1935). In ihnen haben sich topografische Formationen der Modernität eingeprägt, zu denen »die ›Banlieue‹ [gehören], die Vorstädte und Peripherien, das Umland und die Außenbezirke der Stadt, menschenleere nächtliche Straßen und Plätze, überfüllte Boulevards, Passagen, Arkaden und Warenhäuser – kurzum der gesamte räumliche Apparat der konsumorientierten Großstadt«.38 Als Schauplätze ziehen sie die Blicke auf sich; hier finden die Aktionen, Reaktionen und Interaktionen statt. Insofern werden diese Orte zu kontrastierenden Erfahrungsräumen, gleichzeitig das öffentliche Erscheinungsbild der Stadt vor architektonischer Kulisse prägend. Straßen Die Straßen und Promenaden werden mit ihren Verkehrsmitteln zum beschleunigten Massenort. Der Verkehr und seine neuen Formen, auf und unter der Erde und in der Luft – von Nachrichten und reklameverzierten Gebäuden begleitet –, lassen die Großstadtstraße zu einem Hauptelement der Metropole werden. Mit Straßeneinrichtungen wie Kiosken, Uhren und 35 Der Flaneur tritt in Gestalt eines aristokratischen Dandys im 18. Jahrhun- 36 Vgl. Edgar Allan Poes The Man of the Crowd (1840) oder Georg Christoph dert in Erscheinung. Vgl. Stöbe 7. Dezember 1998. Lichtenbergs Briefe aus England (1776-1778) von London und LouisSébastien Merciers Tableaux de Paris (1783-1788) oder Charles Baudelaires Tableaux Parisiens (1840-1850) von Paris. 37 Benjamin 1977, S. 179f. 38 Vidler 1996, S. 21. 21 22 Der urbane Raum in den Stadtsinfonien der 1920er Jahre Haltestellen bestückt, schleusen sich durch den Straßenraum die von Verkehrszeichen und Ampeln geregelten Verkehrsströme; die Stadt-, Untergrund- und Hochbahnen, Busse, Automobile und Straßenbahnen sorgen für Beschleunigung. Aufgrund der beschleunigten Bewegungen und unerwarteten Ereignisse bilden sich die Straßen für Kracauer zum »Sammelpunkt flüchtiger Eindrücke [...]«39 heraus. Bald entdeckt der Flaneur die Innenräume, sodass das Wort ›Straße‹ hier nicht nur diese selbst meint, sondern, wie Kracauer weiter ausführt, ihre »Erweiterungen«.40 An Stelle der Straßen tritt das Gefüge von Straßen und räumlichen Aufweitungen, die verkehrstechnischen oder landschaftsarchitektonischen Plätze. Benjamin erwähnt den Markt(platz), der kurz nach seiner Entdeckung durch die Flaneure von den Warenhäusern abgelöst wird. Warenhäuser gehören den von Kracauer genannten innenräumlichen Erweiterungen an, die als öffentliche Gebäude transitorischen Zwecken dienen, wie auch Passagen – Vorstufen der Warenhäuser –, Bahnhöfe, Flughäfen, Hotel- und Ausstellungshallen; die Konstruktionen aus Stahl und Beton prägen als moderne Ingenieurbauwerke das physische Bild der Stadt. Ausgeschlossen von der flaneurhaften Notation bleiben die logistischen und administrativen Einrichtungen, die den urbanen Raum zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum massenmedialen Informations- und Nachrichtenort der Druckereien und Funktürme herausbilden. Klimatische und atmosphärische Anmutungen Nun geht von den räumlichen Komponenten der Großstadt, die Benjamin und Kracauer beschreiben, auch eine psychisch-sinnliche Prägung aus. Das heißt, die ihrer städtischen Matrix eingeschriebenen Eigenschaften wie Geometrie und Gestalt, Textur und Materialität, Ton und Farbe veranlassen zu subjektiven Wahrnehmungen und Assoziationen. Es handelt sich hierbei nicht um die soeben erläuterten, planerisch definierten Strukturelemente des urbanen Raums, sondern um die sinnlich wahrgenommenen. Deren Wahrnehmung beeinflusst kontrollierbare und nicht-kontrollierbare Faktoren, die zu einer Veränderung seiner räumlichen Erscheinung führen. Gemeint ist zum Beispiel die atmosphärische, individuell empfundene Anmutung eines Raumes. Sie ist etwas bei der Planung der Straßen und angren- 39 Kracauer 1985, S. 98. 40 Ebd. Einleitung zenden Gebäude bewusst architektonisch Gegebenes;41 die Atmosphäre ist insofern eine objektgebundene Qualität, die man emotional empfindet – für den Philosophen Gernot Böhme dasjenige, »was zwischen den objektiven Qualitäten einer Umgebung und unserem Befinden vermittelt [...]«.42 Doch obwohl von Städteplanern, Architekten und Innenarchitekten erzeugt, kommt Atmosphäre erst durch das Zusammenspiel der klimatischen und natürlichen Einflüsse von Licht und Dunkelheit, Wind, Regen und Nebel als wahrnehmbare Stimmungsgestalt und sinnliche Qualität zum Vorschein. Ergänzt werden sollte Böhmes Definition der atmosphärischen Anmutung an dieser Stelle um die Aspekte: Ton und Klang, Geräusch und Lärm (zum Beispiel Verkehrslärm). Auch von diesen akustischen Momenten gehen besondere Atmosphären aus, die das Alltagsleben und die Bewohner umgeben. Die klimatischen und atmosphärischen Anmutungen manipulieren, modellieren und erzeugen Dispositionen sowie Eigenschaften von Gebäuden und Räumen43 und werden mithin zum wichtigen Analysepunkt. Tag und Nacht Aufgrund der Erfindung künstlicher Lichtquellen wandelt sich die tradierte Funktion und Nutzung von öffentlichen urbanen Räumen. So entwickelt sich mit dem Gaslicht, das seit 1819 Paris, London und Berlin seit 1826 nächtlich erleuchtet, und dem elektrischen Licht spätestens Ende des 19. Jahrhunderts das Nachtleben der modernen Großstadt. Es ist ab den 1920er Jahren ein Licht, das sich nun nicht mehr von den schwach scheinenden Straßenlaternen her entfaltet, sondern sich in einem Lichtermeer an Reklame- und Innenraumbeleuchtung der Geschäfts- und Vergnügungsviertel in den Straßen ausbreitet. Das elektrische Licht wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum wichtigen Bestandteil des Neuen Bauens und der Selbstinszenierung der Großstadt. Großflächige, erleuchtete Schaufensterfronten aus Glas sowie Leuchtbänder und -schriften erzeugen in der Dunkelheit illuminierte Räume, die eine intensive Synthese von Vergnügen und Handel herstellen. Den Konsum begleitet ein kommerzielles und werbendes Licht, 41 Vgl. Böhme 1995, S. 97. 42 Böhme 2006, S. 16. 43 Das in den letzten Jahren bekannteste Beispiel aus der Architektur ist das von Diller Scofidio 2002 geschaffene Blur Building, der Wolkenpavillon, für die Expo in Yverdon les Bains, Schweiz. 23 24 Der urbane Raum in den Stadtsinfonien der 1920er Jahre das sich zu einer eigenen Raumsphäre verselbständigt und die räumliche Lesbarkeit der Großstadt verändert. Ebenso wie die Stadt nutzen die künstlerischen Darstellungen das Potential der Illumination bewusst zu räumlichen Inszenierungszwecken.44 In ihnen werden die Straßen und angrenzenden Gebäude im natürlichen Licht von Tag und Nacht und akzentuierten Spots zu Motiven kontrastierender Imagination – und dies gilt es gleichermaßen zu berücksichtigen. Neben der Motiv-Ebene gibt es die Stil-Ebene (künstlerisches Medium); hier wird gefragt nach der Art und Weise der Darstellung in Film, Fotografie und Literatur. Mit dem Blick des Flaneurs auf die Oberfläche der modernen Alltagswelten entwickelt Kracauer seine Theorie des Films, die der Analyse filmischer Oberflächenerscheinungen45 dient. Mit der Technik der Kamera und der subjektiven Disposition des Wahrnehmenden enthüllt sich seiner Meinung nach die materielle Welt und Übersehenes wird sichtbar.46 Daher benutzt Kracauer den Film für seine filmanalytischen, -historischen und -theoretischen Arbeiten stets nur als »Mittel, um gewisse soziologische und philosophische Aussagen zu machen«.47 Was genau die Mittel des Films sind, mit denen sich die Erscheinungen großstädtischer Räume enthüllen lassen, suchen Sergej Eisensteins Ansätze offenzulegen. Der Regisseur, Kritiker und Theoretiker deckt einerseits die kulturelle Vergangenheit des Mediums auf, hervorgegangen aus anderen Künsten wie der Literatur oder auch Musik;48 die seiner Einschätzung nach von der Literatur geprägte »Ästhetik des filmischen Sehens« transformiert die Filmkunst zu einer »Ästhetik der bildhaften Darstellung einer Ansicht über eine Erscheinung«.49 Zum anderen liefert diese Auffassung zur Ästhetik und Technik der Montage eine neue Form der Wahrnehmung, mit der 44 Die Vorführung einer inszenierten Illumination findet in der Aktion ›Berlin im Licht‹ vom 13. bis zum 16. Oktober 1928 statt. In: Frecot 2002. 45 Vgl. Kracauer 1977, S. 50. 46 Vgl. Koch 1996, S. 127. 47 Belke/Renz 1989, S. 118. 48 Für Eisenstein liegt die Ästhetik des amerikanischen Films Griffiths im viktorianischen Roman Dickens’ begründet. Vgl. Eisenstein 1960, S. 157229. 49 Ebd., S. 203. Einleitung sich die Großstadt, deren komplexes und diskontinuierliches »Splitterwerk«, erfassen und narrativ bewältigen lässt. Die Montage wird zum schöpferischen Mittel, mit dem es nicht nur gelingt, mehrere Fakten gegenüberzustellen oder konträre Erscheinungen zu vereinen, sondern unbekannte Relationen50 und unerreichbare Ideale – auch im Hinblick auf die rhythmische Ausdrucksstärke, die Wirkung von Thema und Sujet – zur Darstellung zu bringen. Nicht nur im Sinne des Zeigens und Darstellens, sondern vielmehr des Bezeichnens und Hervortretenlassens werden den künstlerischen Gedanken filmische Sprache und Ausdruck51 verliehen. Die Montage wird im Film als »Instrument« angewandt, um mit einem ähnlichen Bestreben wie es Kracauer äußert, neue Aussagen und Qualitäten mit den Prinzipien der Einheit im Mannigfaltigen52 – hier: der großstädtischen Räume und ihrer Bauten – zu schaffen. Die visuellen Erscheinungen von Raum werden im Sinne einer ikonografischen Beschreibung untersucht. Jede Abbildung der Realität unterliegt der »äußeren« Beeinflussung und Bestimmung zum einen durch den Abbildner (beispielsweise Kameramann/Operateur), der über die Einstellungsgrößen53 (Beobachtungsstandort, Blickrichtung und -führung, Blickwinkel und -perspektive, Beobachtungsausschnitt (Kadrage) und -geschwindigkeit) entscheidet. Zum anderen beeinflusst der Regisseur, welcher in Zusammenarbeit mit Drehbuchautor, Kameramann, Filmbildner und Filmarchitekten eine Bildkomposition von Filmraum und Schauspielern entwirft. An deren Realisierung arbeiten Kostümmeister, Fotografen, Maskenbildner, Maschinisten, Schreiner, Maler, Tapezierer, Schlosser usw. mit, nicht zu vergessen Beleuchter und Tonmeister, welche die Atmosphäre, Licht und Ton, Musik 50 Vgl. Moholy-Nagy 1979, S. 238. 51 Eisenstein 1960, S. 218. 52 Ebd., S. 228. 53 »Die Einstellung ist die Zelle der Montage«, in: Eisenstein 1977, S. 28, und besteht aus Einzelbildern, die ohne Unterbrechung der Aufnahme von der Kamera gefilmt wurden. Dabei ist die gefilmte Zeit mit der Realzeit identisch (vgl. Beller 2002, S. 11). Eine Szene bestand im frühen Film der Lumières und Skladanowkys nur aus einer Einstellung (»shot«), charakterisiert durch die Einheit von Raum und Zeit (= single-shot scene). Die ersten multiple-shot films setzten sich aus einer Reihung von in sich ungeschnittenen Szenen zusammen. 25 26 Der urbane Raum in den Stadtsinfonien der 1920er Jahre und Geräusch gestalten. Mittels der medienspezifischen technischen Hilfsmittel gelingt die filmische Inszenierung einer imaginierten Welt. Regisseur und Kameramann greifen mit Schnitt und Montage, Überblendung, Totale und Nahaufnahme, Zeitraffer und -lupe in den dokumentierten Raum ein, der zu einem neuen montiert wird.