erschienen in: Heidrun Aigner, Sarah Kumnig (Hg.) Stadt für alle! Mandelbaum 2018
SHERI AVRAHAM UND NIKI KUBACZEK
Die urbanen Undercommons
Autonomie der Migration und Politik der Nachbar_innenschaft
Wir schreiben diesen Artikel in den ersten Tagen der Regierung von Kurz, Strache und Co.1 Entsetzt, wütend und frustriert
sind wir angesichts des rechtsextrem-neoliberalen Konglomerats,
56 welches über die nächsten Jahre Gesetze beschließen, Razzien,
Kontrollen und Abschiebungen durchführen, Leute verprügeln
und einsperren (lassen) wird. Sozialstaatliche Leistungen für Marginalisierte und Ausgebeutete werden noch weiter gekürzt werden,
während völkische, katholische, männerbündlerische, kapitalistische, faschistische, rassistische, nationalistische und rechtsextreme
Positionen mit staatlich-bewaffneter Gewalt umgesetzt und institutionell verankert werden. Gleichzeitig glaubt laut einer Umfrage
gerade einmal jede_r Vierte, dass sich die Regierungsarbeit unter
der neuen Regierung verschlechtern wird (vgl. Knittelfelder 2017).
Uns drängt sich die Frage auf, wie die Zahl derer, die diese Regierung ablehnen, sie als schlecht und illegitim empfinden, erhöht
werden kann. Wir werden uns im Folgenden nicht nur mit der
Aufteilung in Regierungsbefugte und Regierungsunbefugte
beschäftigen, sondern vor allem mit der Dreiteilung der Bevölkerung in Regierende, in Bürger_innen, die ihre Stimme abgeben
1
Am 15. Oktober 2017 haben in Österreich 57,5 Prozent von 6,4 Millionen
Stimmberechtigten die konservative Partei ÖVP unter der Führung von
Sebastian Kurz beziehungsweise die rechtsextreme FPÖ mit dem Parteiobmann Heinz-Christian Strache gewählt.
können, und zuletzt in jene, die keine Stimme besitzen, die sie
abgeben könnten. Dafür werden wir insbesondere auf die Autonomie der Migration, die differenzielle Inklusion und auf die postmigrantische Gegenwart eingehen. Weiters werden wir die Widerständigkeit des Ankommens allen Hindernissen zum Trotz und die
nachbar_innenschaftliche Politik mit dem Begriff der Undercommons verknüpfen. Dadurch wollen wir zeigen, dass es Kräfte und
Sozialitäten auf der Ebene des Städtischen, des Bezirks und der
Gemeinde gibt, die sich nationalstaatlicher Identifikationen entziehen und diese somit kontinuierlich infrage stellen. Diese Potenzialität eines anderen Zusammenlebens, -kämpfens und -fühlens
jenseits der Figur des Bürgers werden wir dann als urbane Under- 57
commons beschreiben.
Differenzielle Inklusion
Wenn es eine zentrale Devise der gegenwärtigen österreichischen neoliberal-rechtsextremen Regierung gibt, dann ist es der
Ausschluss „illegaler“ und „krimineller“ Migration. Keine Botschaft zieht sich so kontinuierlich durch den Wahlkampf von
Strache und Kurz wie die Versicherung darüber, dass sie die böse,
illegitime und maßlose Migration stoppen würden. Spätestens
nachdem der Ex-Integrationsminister und jetzige Bundeskanzler
Kurz seinen Wahlkampf darauf aufbaute, sich damit zu rühmen,
dass er die Balkanroute geschlossen habe (als ob Migrationsrouten einfach geöffnet und geschlossen werden könnten), muss klargeworden sein, dass Integration und Ausschluss die beiden Seiten der gleichen Medaille sind. Es geht also nie um den schlichten
Ausschluss von Migration, sondern vielmehr um eine ausbeutende
differenzielle Inklusion (vgl. z. B. Mezzadra 2007), und das zunehmend unter Anwendung, Duldung oder Förderung mörderischer
Mittel. Grenze ist nie einfach nur eine Linie um ein nationales
Territorium herum gewesen, sondern immer schon ein Gefüge
aus vielen unterschiedlichen Mechanismen der Ausbeutung, des
Ein- und Ausschlusses. Grenze schließt manche ein und manche
aus, je nachdem welche Arbeitskraft gerade benötigt wird. Das
meint der Begriff der differenziellen Inklusion. Wenn es hier um
die Frage gehen wird, was die Autonomie der Migration mit den
nachbar_innenschaftlichen Verbindungen zu tun hat, dann können wir eines damit schon vorwegnehmen: Gehen wir von der
Grenze als Mechanismus differenzieller Inklusion aus, so wird die
Antwort nicht in der schlichten Forderung nach Einschluss liegen.
Denn Einschluss findet ständig statt: der Einschluss von hochausgebildeten Arbeitskräften, von Reichen oder von Arbeitskräf58 ten, die bereit sind, unter prekärsten Bedingungen in der Landwirtschaft, der Sexarbeit oder der Pflege zu arbeiten. Es dreht sich
daher immer auch um die Frage, wer unter welchen Bedingungen eingeschlossen wird und ob die Einschlüsse hilfreich bei Ausbeutung und Gewinnmaximierung sind. Gleichzeitig, das darf
nicht vergessen werden, haben Kämpfe von Marginalisierten –
seien sie auf kollektiver oder auf individueller Ebene – oft genau
den Austritt aus der Marginalisierung, also den Einschluss, zum
Ziel: Der Einschluss könnte bedeuten, endlich einen Aufenthaltstitel zu bekommen, die Anerkennung von unsichtbaren Lebensrealitäten zu erreichen oder die Vergabe von Rechten durchzusetzen, wie etwa dem Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe, wie es in
Österreich für den 1. Jänner 2019 geplant ist. Weil der Einschluss
aller zwar als theoretische Forderung sehr begrüßenswert ist, in der
Realität aber immer nur als dieser oder jener Einschluss stattfinden
wird, wurden die Bedingungen sowie die Effekte des Einschlusses, der Anerkennung oder der Sichtbarkeit (also des Einschlusses
ins Feld der Sichtbarkeit und des Repräsentiert-Seins) immer wieder mit Skepsis diskutiert (vgl. zu den Ambivalenzen des Sichtbarwerdens von migrantischen oder queeren Lebensrealitäten Schaffer 2008 oder zu den Ambivalenzen der rechtlichen Anerkennung
lesbischer und schwuler Partnerschaften Mesquita 2011). Dass
Grenze nie der totale Ausschluss sein kann, hat also einerseits mit
den Mechanismen von Ausbeutung und der Reproduktion von
Herrschaft zu tun, indem widerständige und marginale Positionen punktuell immer wieder eingeschlossen werden, um so die
herrschende Ordnung progressiv wirken zu lassen und Widerstand
kleinzuhalten. Nicht zuletzt kommt die Unmöglichkeit des totalen Ausschlusses aber auch daher, dass die Kräfte und Lebensrealitäten an den Rändern nicht aufhören zu existieren. Egal ob das die
Kontrolle und Regierung so möchte oder nicht: es werden kontinuierlich Pläne geschmiedet und Wege erkundet, der Kontrolle zu
entkommen, sich zu verstecken oder doch durchzukommen. So 59
findet die Migration immer wieder einen Weg, manchmal ist er
unbeschwert und hoffnungsvoll, manchmal von Willkommensgesten wie im Sommer 2015 begleitet, manchmal teuer, tödlich
oder von massiver Gewalt gekennzeichnet.
Autonomie der Migration
„[E]s gibt eine Autonomie der Auswanderung gegenüber der
Politik der Staaten und das gilt sowohl für die Emigration
wie für die Immigration. […] Das ist anscheinend schwierig zu kapieren, aber trotzdem wichtig; […] Man kann zwar
der Emigration mit repressiven Mitteln begegnen, die Rückkehr der ImmigrantInnen ‚fördern‘, aber man kann nicht
die Flüsse nach Programmierung und Dafürhalten öffnen
und sperren. […] Klar kann man den Leuten Anreize geben,
damit sie weggehen, aber man kann das nicht so hinkriegen,
dass jemand, der nicht weg will, doch geht, oder dass jemand
bleibt, der unbedingt weg will. Es gibt also gewichtige Einschränkungen bei dieser Art von Regulierungsmaßnahmen.“
(Moulier-Boutang 2010: 36).
Um die 2000er Jahre begann eine Debatte um das, was die „Autonomie der Migration“ genannt wurde: Diese Diskussion war unter
anderem stark von der aktivistisch-künstlerischen Gruppe Kanak
Attak beeinflusst, die sich antirassistisch, antinationalistisch und
gegen jegliche Form der Identitätspolitik stellte. Es waren diese
und andere aktivistische Zusammenhänge, die sich mit der Frage
beschäftigten, wie Migration dargestellt werden kann jenseits
von Dämonisierung als bedrohlicher Flut von ungeheuren Dingen und gewalttätigen Männern und auch jenseits des viktimisierenden Narrativs, das Migrant_innen als passive, unselbstständige
Opfer mit Kopftuch darstellt. Was der Begriff der Autonomie auf60 zeigen möchte, ist, dass Migration insofern autonom von Grenze
und Kontrolle ist, als sie nichtsdestotrotz, also trotz aller Verunmöglichungen, Filter und Hürden, stattfindet; wenn auch unter
jeweils unterschiedlichen Bedingungen. Damit zwingt die Migration die Kontrolle, sich immer wieder neu zu positionieren, weil
Migrant_innen kontinuierlich neue Taktiken, neue Wege und
neue Netzwerke (er-)finden. Die Migration stellt damit die „Festung Europa“ fortlaufend infrage; ohne jedoch völlig unabhängig zu sein von den Regulierungs- und Abschottungsmaßnahmen.
Die Autonomie meint hier also weniger eine heroische Unabhängigkeit, sondern vielmehr die Widerständigkeit und Erfindungskraft der Migration, welche die Kontrolle ein stückweit vor sich
hertreibt. Unter dieser Perspektive ist die gegenwärtige repressive
Migrationspolitik kein souveräner, allmächtiger Eingriff mehr,
sondern eine Reaktion auf die Grenzüberquerungen seit und vor
dem langen Sommer der Migration 20152. Die These der Autonomie der Migration verschiebt somit die Vorstellung von Objekt
und Subjekt der Grenze: Die Migration ist nicht dem Nationalstaat unterworfen, als ob Erstere das Objekt und Letzterer das
2
Zur Autonomie der Migration nach 2015 vgl. auch Kubaczek 2016.
Subjekt wäre. Vielmehr macht sich die Migration – als Subjekt,
wenn man so will – die Regulierungs- und Überwachungspraktiken zu ihrem Objekt, insofern sie diese zwingt, sich immer wieder
neu auszurichten, je nachdem welche Routen, und welche Tricks
die Migration erfindet. Es stimmt natürlich, dass die Routen der
Migration entscheidend von den Grenzen, Kontrollen und Filtern geformt sind, aber nicht minder sind diese Barrieren, Regierungs- und Regulierungspraktiken Reaktion und somit Produkt
und Objekt der Migration. Diese Verschiebung in der Vorstellung,
was Grenze ist, und dass diese sich ständig den Widerständen entsprechend neu ausrichten muss, sehen wir als Ausgangspunkt von
Denormalisierung, Denaturalisierung und Delegitimierung der 61
Grenzpraktiken. Das Gefühl, dass diese Migrationspolitik weder
normal, natürlich noch legitim ist, bildet die Grundlage für den
Widerstand gegen die rassistische, ausbeutende und imperiale
Grenzpolitik, die nämlich vor allem darüber funktioniert, so zu
tun, als sei sie die einzige Alternative.
„Lagers are often located in the middle of nowhere. No one
sees us, we cannot see anyone. No one hears us, we cannot
hear anyone. No one talks to us, we cannot talk to anyone!
We are invisible.“ (Asyl Strike Berlin 2012)
Schon vor fünf Jahren verwiesen Aktivist_innen auf die isolierende Funktion der Lager, welche als Unsichtbarmachung der
Effekte der Migrationspolitik funktioniert und somit eine Normalisierung bewirkt, welche die Verunmöglichung von Bündnissen
und Aufständen zur Folge hat. Folgerichtig fordert Johann Gudenus, FPÖ Vizebürgermeister von Wien und frischer Nationalratsabgeordneter, in den ersten Tagen der FPÖ-ÖVP-Regierung,
Migrant_innen, die in privaten Unterkünften leben, zukünftig in
Asylquartiere am Stadtrand umzusiedeln, um die Sicherheit der
Bevölkerung zu gewährleisten und Migrant_innen zu zeigen, dass
es nicht so gemütlich in Österreich sei, wie alle glauben würden
(vgl. red 2017). Grenze, also die Regierung der Migration, hat
somit wesentlich mit der Unterbrechung von sozialen Austauschprozessen zu tun, welche die Bedingung für die Wahrnehmung
der Gewalt der Migrationspolitik ist. Denn solange diese Gewalt
von den meisten Bewohner_innen eines Territoriums nicht oder
nicht wirklich wahrgenommen wird, wird sich auch kein breiter Widerstand regen. Diese Regulierung von Wahrnehmbarkeit,
Kontakten und Sozialität im Kontext der Migration ist somit Teil
der Unsichtbarmachung, Normalisierung und Reproduktion der
Grenze.
62
Mobile Commons
Die Zentralität von sozialen Kontakten für die Widerständigkeit betonen auch Papadopoulos und Tsianos (Papadopoulos/
Tsianos 2013). Sie fokussieren genau dieses Vermögen der Migration, Kontakte zu knüpfen und Verbindungen aufzubauen: Dafür
entwerfen sie den Begriff der Commons der Migration, welche
sie die Mobile Commons nennen. Der Begriff soll das Vermögen
der Migrant_innen unterstreichen, gemeinsam sich selbst zu organisieren; die Reise also selbst, das heißt gegen die Vorhaben der
Regulierung, zu unternehmen. Dabei heben Papadopoulos und
Tsianos jene Fähigkeit der Organisation hervor, die Wissen ebenso
umfasst, wie Infrastruktur, affektive Kooperation und gegenseitige
Unterstützung und Sorge, welche Subjekte entwickeln, wenn sie
sich entgegen den Regulierungsvorstellungen bewegen. Es geht in
dieser Lesart der Autonomie nicht um einsame asoziale Wesen,
sondern um ein gemeinsames widerständiges Vermögen, welches
die Migration, ein Weiterkommen und ein Verweilen immer wieder ermöglicht: alltägliche Praktiken des Entwischens oder der
gegenseitigen Unterstützung, soziale Räume unterhalb des Radars
existenter politischer Strukturen. Hier verschränken sich sowohl
die materiellen als auch die affektiven Formen der Unterstützung,
welche die Bedingung des Weiterkommens darstellt. Die Autonomie der Migration liegt somit auch im Vermögen, sich diesen
Begrenzungen insofern zu entziehen, als sie immer wieder aufs
Neue soziale Netzwerke und affektive Bündnisse sowie genau
dadurch Imaginationsräume der Bewegungsfreiheit (vgl. ebd.)
herstellen kann. Ausgehend von diesen Commons der Migration
wollen wir uns in Richtung der Commons nach der Migration, der
Commons des Ankommens bewegen. „Everyone who lives in the
same place should have the same rights“, fordert Henrik Lebuhn
in seinem Aufsatz „Urban Citizenship, Border Practices and Immigrants’ Rights in Europe“ (Lebuhn 2013). Wir stimmen vollkommen zu. Nur, was ist, wenn das nicht der Fall ist? Was passiert vor 63
der Zusprache von Rechten? Was fehlt, wenn Rechte zurückgehalten werden und was passiert nach dem unendlich kurzen Moment
der Ab- beziehungsweise Zusprache von Rechten? Welche Rolle
spielen hier Imaginationsräume und Affekt, und welche Formen
des Gemeinsamen werden darüber ermöglicht oder verunmöglicht? Wenig funktioniert so unmittelbar und allumfassend, wenig
überzeugt so intensiv wie die Angst. Angst ist das, was der Bürger
dieser Tage zuallererst zu haben scheint. Angst vor der „Flut“ der
Migration. Vor den „Dingen“, die durch Schlepper unkontrollierbar eingeschleust werden, nicht bereits im Meer ertrunken oder
der Wüste verdurstet sind und jetzt Frauen nächtens verfolgen, die
Arbeitsplätze stehlen und die Staatskassen aussaugen. Eine Flut an
Dingen, die über die nationalen, heimischen, häuslichen und persönlichen Grenzen hinweg hereinschwappen. Der einzige Schutz
vor dieser Flut an bedrohlichen Dingen ist die Burg. In der Burg
verschanzen sich die Bürger, erfüllt von panischer Angst vor der
einfallenden Bedrohung von außen. Die Brücken werden hochgezogen und die Gräben geflutet, auf dass endlich der Rest auch
ertrinke und untergehe. Die Leute sterben und gehen zugrunde,
aber die Burg wird längst unterlaufen, längst unterwandert.
Undercommons
Stefano Harney und Fred Moten schreiben in ihrem Buch
die Undercommons – Flüchtige Planung und schwarzes Studium
(2013/2016) über Liebe und Freund_innenschaft; über Planung
in Kontrast zu Governance und Logistik und über universitäre
Professionalisierung als Vernachlässigung und Ausbeutung, welche ständig die Möglichkeit des Lernens bedroht. Es geht ihnen
um die Ausdifferenzierung und Verfeinerung aktueller kapitalistischer Logistik sowie um die widerständige, flüchtige, unregierbare
Umgebung der Politik:
„[D]er Kolonialismus [erscheint] als Selbstverteidigung.
64
Aggression und Selbstverteidigung werden […] in ihr Gegenteil verkehrt, aber das Bild der eingekreisten Festung ist trotzdem nicht falsch. […] Die Festung war tatsächlich umgeben,
sie wird belagert von dem, was sie noch immer umgibt, vom
Gemeinsamen außerhalb und unter – vor und vor – der Einfriedung. Die Umgebung bekämpft die Wagenburg in ihrer
Mitte und stört die Gegebenheiten vor Ort mit ihrer gesetzeswidrigen Planung.“ (Harney/Moten 2016a: 11)
Die Umgebung der Burg, die Umgebung der Politik ist also immer
vor und vor: Vor Einfriedung, vor dem Einschluss, vor der Eingrenzung, im räumlichen sowie zeitlichen Sinne. Harney und Moten
sprechen von einem Gemeinsamen, das sich in den Zwischenräumen, im Untergrund flüchtig organisiert und vernetzt: eine
lokale oder temporäre Form des Gemeinsamen, das oft nur für
einen bestimmten Zweck existiert. Eine Versammlung, die sich im
nächsten Moment womöglich schon wieder aufgelöst hat. So wie
die Autonomie der Migration sind auch die Undercommons das,
was die Versuche der Regulierung, Regierung und Kontrolle herausfordern. Es geht hier um eine Form von Widerstand, die wenig
mit Heroismus zu tun hat, manchmal vielleicht nicht einmal viel
mit Absicht: eine Form des Widerstands, welcher dem Wunsch
entspringt, anders leben zu wollen, sich anders bewegen, anders
nachdenken oder lernen zu wollen, als es von der Grenze, dem
Kapitalismus oder der Universität vorgesehen ist. Die Undercommons entwickeln Harney und Moten aus einem Umfeld heraus,
in dem sie die Wichtigkeit von Freund_innenschaft als Voraussetzung des Studierens betonen und einen Begriff der Planung
formulieren, welcher sich entgegen der kapitalistischen Logistik
vollzieht. Dabei beziehen sie sich immer wieder auf die schwarze
radikale Tradition, welche ein ausfransendes Gefüge aus Geschichten, Praxen und Konzepten darstellt, die den Pan-Afrikanismus
und Black Nationalism genauso umfasst wie Black Marxism und
Black Internationalism. Was die schwarze radikale Tradition ver- 65
bindet, ist die Herausforderung des systemischen Rassismus und
das Ziel, eine grundsätzliche Veränderung zu erreichen. Vor allem
ist sie eine Tradition des Widerstands und der Selbstbestimmung
der Afrikanischen Diaspora.
Die Geschichte der schwarzen radikalen Tradition reicht
zurück in den Widerstand gegen die europäische Versklavung. So
schreibt etwa Cedric Robinson in seinem Buch Black Marxism:
The Making of the Black Radical Tradition (1983) nicht nur über
die Haitianische Revolution, welche von Sklav_innen angeführt
wurde, sondern auch über Sklav_innenaufstände in Brasilien, den
Vereinigten Staaten oder in anderen Kolonien. Immer wieder liefen Sklav_innen davon und bildeten Maroon Gemeinschaften,
auf welche sich Harney und Moten auch in den Undercommons
beziehen. Eine der berühmtesten Protagonist_innen des Widerstands gegen die Sklaverei ist vermutlich Harriet Tubman, die
hunderten Sklav_innen bei ihrer Flucht half. Sie floh selbst vor der
Sklaverei und war Teil eines wichtigen Schleppereinetzwerks, der
Underground Railroad, welches im 19. Jahrhundert in Nordamerika ca. 100.000 Sklav_innen die Flucht in Gebiete ermöglichte,
in denen die Sklaverei zumindest gesetzlich verboten war. Die
Underground Railroad – ähnlich den gegenwärtigen Fluchtrouten
und Schleppereinetzwerken – funktionierte über unterschiedliche
temporäre Ankerpunkte, die für einige Zeit Unterschlupf boten,
bis man zur nächsten Station weiterfloh. Neben diesen sehr eindeutigen Formen des Widerstands meint die schwarze radikale
Tradition aber auch jene Formen des alltäglichen und subtilen
Widerstands, welche Sklav_innen auf den Plantagen tagtäglich
praktizierten: die Verweigerung von Arbeit, das Vormachen, krank
zu sein, langsamer zu arbeiten, der Diebstahl oder die Beschädigung von Eigentum.
66
In ihr, aber nicht von ihr sein
Parallel zu diesen Anknüpfungen an die schwarze radikale
Tradition setzen sich Harney und Moten mit der Universität und
ihren Mechanismen der Wissensverwertung, der -auf- und -abwertung auseinander:
„Angesichts dieser Umstände kann man sich in die Universität nur einschleichen und stehlen, was geht. Ihre Gastfreundschaft missbrauchen, ihre Mission stören, […] in ihr, aber
nicht von ihr sein – das ist der Weg, den die subversive Intellektuelle in der modernen Universität einschlagen muss.“
(Harney/Moten 2016a: 21)
Sie plädieren für ein kriminelles Verhältnis zur Universität: von ihr
zu stehlen, in und außerhalb von ihr zu sein, aber niemals von ihr,
immer gegen die Affizierung ihrer Anrufung. Harney und Moten
argumentieren, dass Kritik, und insbesondere die kritische Intellektuelle, die Voraussetzung der Existenz wie der Reproduktion
der Universität ist, weil diese die so notwendige lebendige Arbeit
in die Universität bringt. Gleichzeitig ist es genau das kritische
Wissen, das von der Universität nicht als Wissen oder als notwendiges Wissen anerkannt, sondern als naives, unprofessionelles oder
irrelevantes Wissen abgewertet wird. Ähnlich verhält es sich – in
Anschluss an obige Überlegungen zur differenziellen Inklusion –
mit der gleichzeitigen Abhängigkeit und Abwertung von migrantischer Arbeitskraft. Wenn die Universität abhängig ist von dieser
lebendigen Arbeit der Kritik, dann bedeutet das auch, dass in ihr
Kräfte leben, die sie instabil machen und der universellen Idee von
Wissen immer wieder Risse zufügen. Die Bedingungen für diese
Risse sehen die beiden Autoren in den kleinen Austauschprozessen und Begegnungen, die sich auf den Gängen vor dem Hörsaal,
in der Cafeteria, in den Sitzreihen während des Unterrichtet-Werdens, manchmal auch zwischen den Lehrenden ereignen. Es sind
solche Begegnungen, in denen und durch die das Studium stattfindet. In Abwendung von der Hierarchie zwischen Unterrich- 67
tenden und Unterrichteten geht es ihnen um eine Sozialität, die
unterhalb, während und rund um das Unterrichten herum stattfindet, hindurch durch die Haut des Unterrichtens.
„Aber vielleicht sind die Undercommons weniger ein Set
von gemeinsamen Fähigkeiten oder eines imaginierten
gemeinsamen Raums – worauf der Begriff des Gemeinsamen/der Commons oft abzielt – und handeln daher möglicherweise weniger von kollektivem Leben als vielmehr von
versammeltem Sein, beziehungsweise von einem Sein, das
zugleich versammelt und verteilt ist, zugleich gestohlen und
weggegeben, das nicht genug ist, aber schon ganz gut und
reichlich; oder vielleicht von kollektivem Leben in nicht versammeltem, unordentlichem, verstreutem Sein.“
(Harney/Moten 2016b)
Die Undercommons fokussieren also temporäre, spontane Verbindungen, welche manchmal länger existieren und manchmal nach
einem Moment schon wieder vorüber sind. Sie stehen immer in
Opposition zur Politik, weil die Politik der Versuch ist, sie zu kontrollieren, zu repräsentieren und zu kategorisieren. Kritik, welche
sie als Ursprung der Politik bezeichnen, ist einerseits offensicht-
lich notwendig, birgt aber gleichzeitig die Gefahr der Einordnung:
Politik und Kritik sind antisozial und radioaktiv verseucht, wie sie
sagen; Kritik ist Gefährdung des Gemeinsamen. Daher ist es notwendig, auch immer wieder und immer von Neuem vor der Kritik zu fliehen.
Politik der Nachbar_innenschaft, oder: Postmigrantische Realitäten
„Ich teile meine Probleme mit dir, und du wirst mit deinen
FreundInnen teilen. Und wenn die Zeit kommt, in der wir
kämpfen müssen, werden wir zusammenkommen und es
wird kraftvoller sein.“(Muhammad 2013)
68 Numan Muhammad, einer der Aktivist_innen des Refugee Protest
Camps Vienna macht hier einen Begriff des Probleme-Teilens und
somit der Sorge stark, welcher obige Überlegungen zu den Mobile
Commons sowie die feministische Auseinandersetzung um Sorge
als zentrale und gleichzeitig vernachlässigte Arbeit3 nachklingen
lässt. Der Protest, mit dem diese Forderung nach dem Teilen von
Problemen einherging, war eine von vielen Aktionen, welche über
die letzten Jahre immer wieder den alten antirassistischen Slogan
Wer hier ist, ist von hier aktualisierten. Diese Logik des Hier-Seinsals-ein-von-hier-Sein wurde in sehr unterschiedlichen Formen realisiert: durch Proteste gegen Abschiebungen an den Flughäfen,
das Verstecken der von Abschiebung Bedrohten wie beispielsweise in der Gemeinde Alberschwende 2015, das Untertauchen
von Arigona Zogaj in Vöcklabruck 2007 oder die unterschiedlichen Unterstützungspraktiken und Kontakte an und rund um die
Bahnhöfe und Grenzposten im Sommer der Migration 2015. Aber
auch die munizipalistischen Bewegungen4 , welche über die letz3
4
Vgl. etwa Precarias a la deriva 2014.
Zu den neuen Munizipalismen in Spanien vgl. auch Brunner/Kubaczek/
Mulvaney/Raunig: Die neuen Munizipalismen. Soziale Bewegungen und
ten Jahre vor allem in Spanien eine breite Mobilisierung erfuhren, gehören zur Politik der Nachbar_innenschaft, in dem sie das
Anwesend-Sein am gleichen Ort der Staatsbürgerschaft vorreihen.
Entgegen der Stimmabgabe an professionelle Politiker_innen peilen auch die neuen Munizipalismen ein Gemeinsames-ProblemeLösen an:
„Erst dann, wenn alle Bewohner_innen eines Territoriums
sich versammeln, kommunizieren, diskutieren und gemeinsam Entscheidungen treffen, die sie betreffen, kann die Politik aufhören, das Geschäft einiger weniger zu sein.“
(Huguet 2017)
Selbst wenn über Internierung, Isolierung, Kriminalisierung und 69
Abschiebung weiter fleißig daran gearbeitet wird, dass die Austauschprozesse, Kontakte und Beziehungen zwischen Neuangekommen und Hier-Aufgewachsenen verunmöglicht werden: Die
Kontakte werden immer wieder stattfinden, mehr oder weniger,
schwieriger oder leichter. Widerstand wird immer wieder als nachbar_innenschaftliche Organisierung aufpoppen, Probleme werden entgegen den Isolationsbestrebungen unter Freund_innen
geteilt werden, Schüler_innen werden sich immer wieder gegen
die Abschiebung ihrer Mitschüler_in wehren; auch wenn diese
Formen des Widerstands gegenwärtig massiv unter Beschuss geraten. Gerade deshalb gilt es, an die mannigfaltigen Weisen dieser
Widerstände anzuknüpfen und sie zu verstärken.
Migrant_innen werden hier ankommen und Sozialität, Kultur und Alltag weiter formen und verformen. So wie sich die
Migration ihre Wege durch die Landschaften sucht, so zieht sie
auch ihre Linien im Sozialen, den Verunmöglichungen immer
wieder trotzend. Diese Schaffung von Lebensrealitäten, welche
von anderen Orten beeinflusst ist, ohne dass sie trennscharf auf
die Regierung der Städte (2017).
einen bestimmten anderen Ort zurückzuführen ist, wurde in letzter Zeit unter dem Begriff des Postmigrantischen diskutiert (vgl.
u. a. Mecheril 2014 oder Foroutan 2014). Postmigrantisch könnte
als Zustand bezeichnet werden, in dem sich vergangene Migration in Lebenspraxen übersetzt hat, welche immer wieder an das
Woanders-verortet-Sein erinnern und dabei die Vorstellung der
Homogenität des Nationalen verunsichern und verunmöglichen.
Die mikrosoziale Politik der Nachbar_innenschaft und den postmigrantischen Moment verbindet jene Kraft, welche die nachbar_
innenschaftlichen Zusammenhänge, die Ebene der Stadt oder der
Gemeinde jenseits oder gegen die nationalstaatlichen Zu- und
70 Festschreibungen positioniert. Diese lokale Form des Gemeinsamen ist der Beweis dafür, dass Migration nicht aufhören wird
anzukommen und Realität schaffen wird. Diese Kraft des Ankommens und hier Netzwerke und Verbindungen Aufbauens allen
Hindernissen zum Trotz wollen wir im Folgenden über den Begriff
der Urbanen Undercommons beschreiben.
Urbane Undercommons
„Scheiss Metropolen“ steht auf einer Wand des 15. oder
16. Wiener Gemeindebezirks, wir haben vergessen, wo genau.
Den Hass auf die Metropole haben wir nicht vergessen, weil er
uns wichtiger scheint als der genaue Ort seiner Artikulation. Es
ist ein Hass auf Gentrifizierung, Verdrängung und Mieterhöhungen mit hippem Antlitz. Und wir lesen ihn als Hass auf das
romantisierende Bild der Stadt als aufgeschlossener Ort der Avantgarde, welches sich gegenüber dem rückschrittlichen Land präsentiert. Unterentwickelte, rückständig ländliche Gegend einerseits,
zukunftsorientierte, offene und hippe Stadt andererseits. Gegen
diese Dichotomisierung zwischen Land und Stadt, zwischen
Stadtzentrum und Randbezirken, gegen die Verklärung der Stadt
als per se fortschrittlich, wollen wir einen Begriff des Urbanen
ins Feld führen, in dem das Urbane keine Insel der Weltoffenheit
ist, sondern vielmehr eine ausfransende und relative Verdichtung
von Erfahrungen und Geschichten, die nie ohne Migration sein
könnte; egal ob es sich um Migration vom Land oder aus einem
anderen Land handelt. Gegen das romantisierte Bild der Stadt
als Metropole wollen wir hier einen Begriff des Urbanen verwenden, welcher an seine Bedeutungsgeschichte anschließt: Das Wort
„Stadt“ entwickelte sich im Mittel- und Althochdeutschen aus den
Begriffen „Stätte, Ort“ heraus. Seit dem 13. Jahrhundert wird es als
Bezeichnung für einen Wohnort vieler Menschen verwendet (vgl.
Kluge 2001: 873). Genau in diesem Bedeutungsvorhof der Stadt
als Stätte der Vielen wollen wir das Urbane als relative Verdich- 71
tung vorschlagen – gegen eine Dichotomisierung von Stadt und
Land. Der Begriff des Urbanen, der Begriff der Stadt, trägt also
immer schon die Migration, die einen Ort formt und verdichtet, in
sich. Städte sind damit seit jeher Stätten des Ankommens von und
des Verformens durch Migration. Und sie sind immer auch Orte
des Durchzugs. So fanden über die letzten Jahre und Jahrzehnte
und erst recht davor ständig Begegnungen statt, welche der nationalstaatlichen Einfriedung, Abschottung und Ausbeutung trotzten; beziehungsweise einer anderen Logik, einer anderen Affektivität folgten. Es waren Verschwörungen und Verknüpfungen, die
nicht in der Idee von Bürgerschaft und Stimmabgabe aufgingen,
sondern vor und nach dieser Entmachtung und Identifizierung
stattfanden: manchmal im Kampf um einen Aufenthaltstitel oder
Meldezettel, im nächsten Moment ganz woanders, beim Sich-Verstecken, Pläne-Schmieden und Zeit-Verschwenden. Entlang dieser
Kräfte im Dazwischen, im Untergrund und an den Rändern, die
weder einfach unabhängig noch einfach abhängig von den (national-)staatlichen Zentren der Macht sind, aber immer eine etwas
andere Weise des Ankommens vollziehen, als der Nationalstaat es
gern hätte, wollen wir im Folgenden die urbanen Undercommons
umreißen:
1.) Die urbanen Undercommons sind der Versuch, jene Kräfte zu
fassen, die einen Ort formen und dabei andere Örtlichkeiten in
diesen Ort einfügen. Es geht also um jene Kraft, jene Potenzialität, durch die Migration die Stadt formt, verändert und
verformt. Eine Kraft, die in einen Ort eingreift und dabei die
nationalstaatliche Ebene untergräbt, indem sie andere Formen des Zusammenlebens, Zusammendenkens und Zusammenfühlens erfindet, als von der nationalstaatlichen Ebene
vorgegeben. Der urbane Moment der urbanen Undercom72
mons bezieht sich hier weniger auf die hippe, weltoffene,
globalisierte Metropole, die sich vom Land abgrenzt, sondern beschreibt eine relative Verdichtung an einem bestimmten Ort, an dem sich der urbane Raum, die Stadt ausgestaltet. Denn spätestens der Blick in die Geschichte verrät: Ohne
Migration gäbe es keine Stadt. Über diese unauflösliche Verbindung zwischen Migration und Stadt ist die Stadt, der
urbane Raum, in ständiger Transformation begriffen; nicht in
absoluter, aber in relativer Unabhängigkeit von der nationalstaatlichen Rasterung.
2.) Die urbanen Undercommons funktionieren als ein Sein innerhalb und außerhalb der Institution, das sich aber immer wieder von Neuem gegen ein Von-der-Institution-Sein stellt. Als
kriminelle Praxis nützen sie das Gesetz, um es auszunützen.
Somit bilden sie die Umgebung der Bürger_innenschaft und
des Rechts. Immer vor oder nach der Zusprache von Recht
und vor oder nach Identifizierung und Entmachtung durch
die Bürger_innenschaft stehlen sie, was dafür notwendig ist,
um hier anzukommen und hier Leben gemeinsam zu ermöglichen: das Sich-wo-Melden, einen Aufenthaltstitel oder das
Wahlrecht erkämpfen oder das Finden von Lücken im Gesetz.
Nicht jenseits des Rechts, sondern diesseits und in den Ritzen organisieren sich die urbanen Undercommons. So wichtig dieses Stehlen von Orten ist, an denen Ressourcen konzentriert vorhanden sind – manchmal ist die Universität einer
dieser Orte, manchmal ist es die Stadtregierung –, so schwierig ist es auch oft, den Punkt auszumachen, an dem das Stehlen in ein Von-der-Institution-Sein übergeht. Diese Gefahren
des institutionellen Einschlusses, der Anrufung und des Aufgehens in der Institution bleiben bestehen. Die Aneignung
und Umverteilung von Ressourcen und Möglichkeiten ist
unvermeidlich; die Pflege des Lebens außerhalb juridischer
Logiken und kapitalistischer Identifikation ist dringend not- 73
wendig: Es gilt, sich immer wieder aus der Burg der Bürger
hinauszustehlen; nicht auf sie einzugehen, um nicht in sie, in
ihr auf- und unterzugehen.
3.) Die urbanen Undercommons verweisen darauf, dass das Zusammensein nur hier und jetzt, nur lokal und in der Gegenwart
stattfinden kann. Die urbanen Undercommons sind nachbar_
innenschaftliche Verbindungen, welche im einen Moment
stärker oder intensiver, im anderen loser und nebensächlicher
gelebt werden, aber sie drehen sich beständig um Affekte,
Sozialität und Sorge. Die urbanen Undercommons sind damit
Kräfte, welche sich stabilen Identifikationen widersetzen und
stattdessen immer in Bewegung sind, flüchtig, auf der Flucht
vor Festschreibungen und Einfriedungen. Und die urbanen
Undercommons sind eine Form des Gemeinsamen, die von
genau jenen geprägt sind, die – ginge es nach dem Nationalstaat – nicht hier sein dürften, aber trotzdem hier sind. Es
handelt sich also um eine Ansammlung von sehr unterschiedlichen Lebensrealitäten, welche teilweise durch eine Vielzahl
von Migrationen, Fluchtbewegungen oder verbotenen Ausflügen hier angekommen sind – gestern, vorgestern oder viel-
leicht auch noch gar nicht. In anderen Worten heißt das, dass
die urbanen Undercommons zwar von der Migration und
ihren Erfahrungen ausgehen, aber auch über diese hinausreichen und auf jene Formen des Gemeinsamen abzielen, welche Menschen miteinschließen, die hier geboren sind, oder
solche, die hier wählen dürfen, oder die die nicht abgeschoben werden können.
Conclusio
Die urbanen Undercommons stellen Formen des Widerstands und des Gemeinsamen dar, die sich der abgeschlossenen
74 Identifizierung in gleichem Maße widersetzen wie dem depolitisierenden Universalismus, welcher die radikal unterschiedlichen
Lebensrealitäten und Möglichkeiten über einen falschen Gleichheitsbegriff ignoriert. Der Begriff der urbanen Undercommons ist
der Versuch, die Verbindungen, Netzwerke, Freund_innenschaften, Prozesse des Lernens, Verlernens, der Imagination, des Denkens und Fühlens zu bezeichnen, welche von genau dieser Maxime
des Hier und Jetzt geprägt sind: Wir sind die, die jetzt zusammen
hier sind. Damit eröffnen die urbanen Undercommons, entgegen der imaginierten Gemeinschaft des Nationalstaats und entgegen gegenwärtiger Phantasien von Abschottung und differenzieller Einbürgerung, andere Imaginationen, andere Formen des
Gemeinsamen und ein anderes Begehren. Es ist der Bruch auf
jenen Ebenen der Vorstellung, des Kommunalen und des Affekts,
welcher die Grundvoraussetzung für die Destabilisierung, Delegitimierung und Denormalisierung dieser rechtsextrem-neoliberalen Regierung im konkreten und des normalisierten Paradigmas der Nationalstaatlichkeit im Weiteren darstellt. Die urbanen
Undercommons verweisen so auf eine neue Form des Zusammenlebens und Zusammenkämpfens – vielleicht auf eine kommende
andere Demokratie hin, aber das ist nicht so wichtig. Wichtig ist,
dass sie die Widersprüchlichkeit der repräsentativen Demokratie
aufzeigen und darauf verweisen, dass Entscheidungen für einen
Ort von den Bewohner_innen getroffen werden müssen, anstatt
durch professionelle Politiker_innen. Migration wird also nicht
aufhören anzukommen. Dadurch kreiert sie kontinuierlich postmigrantische Realitäten und nachbar_innenschaftliche Sozialitäten jenseits oder eher diesseits des Nationalstaats sowie der Vorstellung von Bürgerschaft und Stimmabgabe. Diese Kraft, die immer
wieder die Hindernisse und Regierungsversuche austrickst und
trotz allem ankommt, haben wir über die urbanen Undercommons beschrieben. In Anknüpfung an die unauflösbare Verknüpfung von Stadt und Migration haben wir schließlich vorgeschla- 75
gen, eine Idee der Stadt als Stätte der Vielen auszubuchstabieren,
um diese Kräfte des Ankommens vor und gegen den Einschluss
durch Nationalstaat, Bürger_innenschaft und Kapitalismus in den
Vordergrund zu stellen. Die Existenz der urbanen Undercommons
heißt nicht, dass alles gut ist – offensichtlich ist das ganz und gar
nicht der Fall. Stattdessen wollen wir mit den urbanen Undercommons auf existierende Formen des Widerstands verweisen und
so dafür plädieren, an den vielen Knotenpunkten der urbanen
Undercommons anzusetzen, sie auszubauen, zu pflegen und zu
stärken. Es wird in nächster Zeit noch viel mehr nachbar_innenschaftliche Vernetzung, Ressourcen-Stehlen, Teilen und Umverteilen gebraucht; Straßenfeste, Sprachkurse, öffentliche Proteste,
Soli-Aktionen und spontane Interventionen in der U-Bahn oder
im Club gegen den neoliberal-rechtsextremen Alltag. Es wird auch
schlicht Geld und Aufenthaltstitel brauchen, und es wird nicht
zuletzt um gemeinsame Sorgepraxen gehen, immer wieder darum,
zuzuhören, zu antworten, die Stimme nicht abzugeben und wieder zuzuhören.
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