Es ist der 22. September 1937, der Staatsbesuch Mussolinis in Berlin wird vorbereitet und SS-Verbände gehen mit besonderer Härte gegen unerwünschte Personen im Straßenbild vor. Unterdessen tobt in Spanien der Bürgerkrieg, und in Moskau...
moreEs ist der 22. September 1937, der Staatsbesuch Mussolinis in Berlin wird vorbereitet und SS-Verbände gehen mit besonderer Härte gegen unerwünschte Personen im Straßenbild vor. Unterdessen tobt in Spanien der Bürgerkrieg, und in Moskau werden seit dem Vorjahr Schauprozesse geführt, in deren Rahmen Hauptvertreter der Politikergeneration der Oktoberrevolution liquidiert werden. Wer hat da die Muße, über Fossilien ausgestorbener Lebewesen nachzudenken? In Peter Weiss' Roman Die Ästhetik des Widerstands gehen die antifaschistischen Haupfiguren an diesem Tag ins Naturkundemuseum. Hinterher fliegt der Erzähler über Berlin und konstatiert, dass "alles materiell" sei, "daß wir allem auf Tod und Leben ausgeliefert" und die "Haufen der Toten" "nicht wegzuleugnen seien".
Das Nachdenken über den Tod sowie das Totengedenken ist für den politischen Widerstand, wie er in diesem Roman gedacht wird, unentbehrlich. Es ist als bediente sich der Erzähler des Mottos, mit dem Freud sein Essay "Zeitgemäßes über Krieg und Tod" (1915) beschließt: "Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein", und in diesem Sinne weiterdenkend: Wenn du weiterkämpfen willst, vertiefe dich in historische Niederlagen.
Die dem Roman implizite Kritik am Darwinomarxismus führt ins Zentrum des Problems, das mit der Suche nach einer anderen Ästhetik, nach einer anderen Politik verbunden ist. Der Anspruch besteht darin, Widerstand jenseits des Fortschrittsparadigmas zu denken und zu üben, Widerstand ohne Verdrängung der Katastrophe. Dabei ist die naturwissenschaftliche Seite der Frage nach Tod und Leben diesen am historischen Materialismus geschulten Romanfiguren alles andere als gleichgültig: Materialität hat hier durchaus mit Kreatürlichkeit im Sinne einer Natur- und Todesverfallenheit zu tun. Es gilt, das Widerstandsdenken in Weiss' Roman ins Verhältnis zu Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Ansatz zu setzen, zur Evolutionstheorie Darwins und ihrer Rezeption durch die Arbeiterbewegung sowie in Relation zu Freuds Begriff des Todestriebs. Diese Konstellation dient dem Versuch, politischen Widerstand zugunsten einer Form von Hoffnung zu konzipieren, die nicht von der Abwehr des Unerträglichen abhängt. Damit geht die so implizite wie durchgehende Kritik des populären sozialistischen Darwinismus einher, deren Artikulation im vorliegenden Beitrag die für den Roman so zentrale Rolle des Kreatürlichen und Organischen erhellt.