Location via proxy:   [ UP ]  
[Report a bug]   [Manage cookies]                

Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Ab $11.99/Monat nach dem Testzeitraum. Jederzeit kündbar.

Plasmatropfen: Roman
Plasmatropfen: Roman
Plasmatropfen: Roman
eBook284 Seiten3 Stunden

Plasmatropfen: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Helen ist Malerin. Und sie hat übernatürliche Kräfte. Zwei Tage vor der Eröffnung ihrer Ausstellung werden alle ihre Bilder gestohlen. Anstatt sich um die Aufklärung des Falls zu kümmern, fliegt sie zurück in ihre griechische Heimatstadt Egio. Während sich Helen wieder ihrer künstlerischen Arbeit widmet, untersucht ihr Partner Lenell die tektonische Grenze, auf der Egio liegt. Das Privatleben des Paares ist bewegt, sie können sich ihren eigenen Verletzungen und den Versehrungen der Welt immer weniger entziehen. Und die Frage, die sich einmal gestellt hat, bleibt: Ist es möglich, angesichts der Bruchstellen, die uns umgeben, nur nach persönlicher Erfüllung zu streben? Und wofür soll man die eigenen Kräfte einsetzen – zumal wenn sie, wie in Helens Fall, sogar telekinetisch sind?
Plasmatropfen erzählt von inneren und äußeren Verwerfungszonen, von Plattentektonik und Sehnsucht, Permafrost und Kunst. Joshua Groß protokolliert nicht, was war, sondern imaginiert, was passieren könnte, in einer Welt, die sich immer mehr dem Surrealen und Märchenhaften annähert.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum29. Aug. 2024
ISBN9783751809825
Plasmatropfen: Roman
Autor

Joshua Groß

Joshua Groß, 1989 in Grünsberg geboren, studierte Politikwissenschaft, Ökonomie und Ethik der Textkulturen. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Anna Seghers-Preis 2019, dem Hölderlin Förderpreis 2021, dem Literaturpreis der A und A Kulturstiftung 2021 sowie mit einem Aufenthaltsstipendium des Literarischen Colloquium Berlin 2021 und ist mit Prana Extrem für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 in der Kategorie Belletristik nominiert. Bei Matthes & Seitz Berlin erschienen Prana Extrem, Flexen in Miami und Entkommen.

Mehr von Joshua Groß lesen

Ähnlich wie Plasmatropfen

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Plasmatropfen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Plasmatropfen - Joshua Groß

    TEIL 1

    Normalnull

    1

    Helen stand nachts an der Tankstelle, neben dem Taxi. Außerhalb von Lelystad, im Norden der Niederlande. Es stürmte, aber Helen brauchte Snacks. Sie kam von ihren Aufbauarbeiten im Raumfahrtmuseum und war unterwegs in die Stadt, zu ihrem Apartment. Die Straßenlampen an den Überspannleitungen bebten, deshalb wankte das Licht andauernd. Staub wurde aufgewirbelt, spiralförmig. Die Wolkenschicht pulsierte cremig. Unweit schimmerten die Logos eines Fast-Food-Restaurants. Helens glatte, schwarze Haare reichten knapp über ihre Ohren; an den Ohrläppchen hingen jeweils goldene Ringe. Auf unmerkliche Weise hatte sie eine lange Nase und große, zu den Seiten geschwungene Augen; ausgreifende Brauen. Ihre Lippen waren schmal. Sie hatte eine schwarze Bluse und eine weiße Stoffhose an.

    Kurz hielt sie inne und betrachtete das Einkaufszentrum gegenüber, das besetzte Palazzo. Das Gelände war gesäumt von einer zweifach gesicherten Befestigungszone, verbarrikadiert hinter blinkenden, holografischen Sperrmarkierungen und Backsteinmauern. Angeblich waren überall Sprengsätze angebracht, um Räumkommandos fernzuhalten. Es gab nur eine Zufahrtsmöglichkeit: ein schweres Eisentor, schwarz lackiert; eine matte, abschreckende Fläche, vor der drei Menschen in blauen Overalls und Skimasken standen, schwer bewaffnet, das Sicherheitsteam des Palazzos.

    Helen lief zum Shop der Tankstelle. Die Schiebetüren öffneten sich automatisch. Die Verkaufsräume waren rosafarben erleuchtet. Sie ging ratlos durch die Gänge, nahm sich eine Flasche Cola und einen Packen Kakao aus dem Kühlregal. Die grauen Fliesen waren gerade gewischt worden. An manchen Stellen waren sie feucht, und Helen hinterließ absichtlich die Abdrücke ihrer Turnschuhe darin. Auf einer Ablage blinkte die vollautomatische Kaffeemaschine grell auf, weil Wasser nachgefüllt werden musste.

    Helen stellte die Cola und den Kakao auf den Tresen und verlangte vier Rubbellose. Kaugummikauend kam die junge Frau mit ihren blau gefärbten Haaren Helens Wünschen nach. Helen zog eine EC-Karte aus der Tasche und bezahlte. Sie bedankte sich. Die junge Frau nickte ihr zu und fragte, ob sie noch mehr brauche. »Ich verstehe nicht«, sagte Helen, »mehr von was?« »Einfach mehr von allem«, sagte die junge Frau. Helen überlegte. Schließlich sagte sie: »Ich nehme zwei Käsebrötchen und noch mal vier Rubbellose.« Wieder zahlte sie mit ihrer EC-Karte. »Noch mehr?«, fragte die junge Frau. Helen schaute unschlüssig rum. Sie war besorgt, ob der Taxifahrer warten würde. Sie zuckte mit den Schultern und wendete sich ab. Als sie wieder rauskam, stockte sie. Der Wind war stärker geworden. An einem der Stahlträger, die das Wellblechdach der Tankstelle stützten, war ein Spender für Einweghandschuhe angebracht; aus dem Gehäuse wand sich ein Band aneinander haftender, fast durchsichtiger Schutzhüllen, das im Sturm heftig hin und her geworfen wurde. Sobald es für einen Moment ruhiger war, trank Helen verwirrt Cola. Dann sah sie zu, wie das Plastikband von Neuem zu tanzen schien. Der Spender gab unentwegt weitere Schutzhüllen aus. Offenbar war der Bewegungssensor vom Wind ausgetrickst worden. Helen starrte auf das sich schlängelnde, rauschende Plastikband, das von selbst immer länger wurde. Unmenschlich schön, dachte sie. Während sie zum Taxi lief, näherte sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein weißer Lieferwagen mit abgedunkelten Scheiben. Auf Höhe der Tankstelle verlangsamte der Lieferwagen sein Tempo und rollte eine Weile dahin, fast geräuschlos, bevor er plötzlich quietschend beschleunigte und an der nächsten Kreuzung abbog. Helen hatte nicht erkennen können, wer sich darin befand. Sie streckte ihre Wirbelsäule und blickte in die Richtung, in die der Lieferwagen verschwunden war. Eine Sturmböe blähte ihr Shirt weg vom Körper. Fast wäre ihr die Papiertasche mit den Käsebrötchen aus der Hand geweht worden. Sie stieg ins Taxi und legte ihre Einkäufe ab.

    »Bitte noch nicht losfahren«, sagte Helen.

    Sie kramte ihre Augentropfen hervor und ließ etwas Flüssigkeit auf ihre Pupillen laufen.

    »Okay«, sagte sie. »Ich bin bereit.«

    Nachdem Helens Pupillen erfrischt waren, betrachtete sie aufmerksam die Alleen, durch die sie chauffiert wurde. Orange Straßenlampen. Schwankende Sommerbäume. Bürogebäude, deren Fensterfronten aufblendeten. Kreisverkehre. Helen war müde. Dass sie gerade unter Normalnull war, fand sie schlimm, wirklich schlimm. Schon bald wurde sie vor dem Apartmentkomplex abgesetzt und bezahlte den Fahrer. Sie stemmte sich gegen den Sturm und lief, einer Panikattacke nahe, zur Tür. Sperrte auf. Schritt den Flur entlang. Noch immer piepte der Feuermelder in der leeren Erdgeschosswohnung. Seit ihrer Ankunft in Lelystad piepte der Feuermelder permanent. Helen ließ den Aufzug kommen. Der Marmorimitatboden schimmerte. Helens Puls passte sich dem Feuermelder an. Wahrscheinlich war nur die Batterie schwach. Sie war seit fünf Tagen in Lelystad. Die Anfrage, ihre Tuschemalereien im Raumfahrtmuseum auszustellen, war für sie die Möglichkeit, außerhalb der üblichen Kontexte (Museen, Galerien, Kunstvereine etc.) aufzutreten. Mittlerweile war sie renommiert und berühmt genug. Deshalb hatte sie zugesagt – obwohl Lelystad unter Normalnull lag und Helen sich unbehaglich fühlte, wenn sie unter Normalnull war. Immer schon hatte sie sich unter Normalnull unbehaglich gefühlt. Existenziell falsch. Ihre Kräfte kamen durcheinander. Aber sie wollte die Ausstellung unbedingt machen. In drei Tagen würde die Eröffnung stattfinden. Anschließend würde Helen zurück nach Griechenland fliegen, wo sie hauptsächlich lebte. Mit Lenell, dem Seismologen. Dort würde sie wieder in ihrem Atelier arbeiten, das von Agaven und Palmen umgeben war. Im Aufzug ließ ihr Unbehagen nach. Das Apartment war im vierten Stock. Nichts piepte. Sie ließ Wasser in die Badewanne laufen. Helen steckte den Papphalm in den kleinen Folienkreis der Kakaopackung und trank, während sie sich entkleidete. Sie musste den Kragen ihres Shirts weit dehnen, um ihn über die klobige Kakaopackung zu bekommen. Aber sie hatte Kakaobedarf und Entkleidungsbedarf gleichzeitig. Mit der freien Hand stellte sie den Plastikmülleimer neben die Badewanne, legte sich zwei Rubbellose aufs Fensterbrett und begab sich ins warme, dampfende Wasser. Als sie rausschaute, sah sie am Himmel den Sturm. Ja, es stimmte, der Sturm war sichtbar, ein paar Momente lang. Zwei Möwen wurden jäh verweht, fast als würden sie gebeamt werden, ruckartig waren sie im Himmel um fünfzig Meter verschoben worden, und ihr weiß schimmerndes Gefieder hatte währenddessen streifenhaft nachgewirkt.

    2

    Die Rubbellose hatten Space-Thematik. Es waren quadratische Kartons. Auf der linken Hälfte war in malerischer Überhöhung ein Deep-Sky-Objekt abgebildet, ein Knoten aus Galaxien und interstellaren Gasen, sehr verheißungsvoll inszeniert, lila und silber, in schwarzer Schrift stand Nachtelijke Hemel darauf. Rechts befanden sich zwölf silbern überzogene Punkte (sechs untereinander angeordnete Reihen mit jeweils zwei Feldern), wiederum umgeben von Farben, in denen Helen die Tiefe des Alls spüren sollte. Außerdem waren ein paar QR-Codes aufgedruckt, das Symbol der niederländischen Lotterie, eine Seriennummer sowie kleingedruckt die Erklärung für das Gewinnspiel. Um zu gewinnen, brauchte man nebeneinanderstehend eine Kombination aus einer Zahl und einem Symbol. Der Hauptgewinn lag bei 77000 Euro. Dafür war das Freirubbeln eines Mondes sowie der Zahl 77 vonnöten. Helen verdiente genug Geld mit dem Verkauf ihrer Bilder. Lenell verdiente genug Geld mit seiner Forschungsstelle an der Universität. 77000 Euro kam Helen nicht endlos viel vor. Vielleicht setzte bei ihr auch eine innere Inflation ein. Inflation des Erfolgs. Die Lose hatte Helen aus Verdruss gekauft, weil sie vom Gefühl, nach unten gesogen zu werden, heimgesucht wurde. In den Boden einbrechen, in Schlünde stürzen, pausenlos. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals Rubbellose gekauft zu haben. Egal, dachte sie. Es wird schon Spaß machen. Sie blieb lange in der Wanne; wenn sie fröstelte, ließ sie heißes Wasser nachlaufen. Sie hatte sich einen Badezusatz gekauft, der nach Kiefernnadeln roch, und sie hatte den Eindruck, die Kiefern in ihren Muskeln zu spüren. Manchmal schaffte sie es beim Baden nicht, ruhig zu werden, sondern wurde im Gegenteil stetig nervöser durch das Nichtstun in der Wanne. Aber heute war sie so müde, dass die Nervosität nicht ausbrechen konnte oder sie nicht überfiel, oder sie konnte nicht in die Nervosität fallen. Sie war endlich wieder über Normalnull. Ihre Wohnung war ein Panikraum. Manchmal meinte Helen, wenn sie aus dem Fenster über Lelystad schaute, sie könne schimmernd eine Fläche wahrnehmen, vielleicht rosa oder weißlich, eine Fläche, die Normalnull markierte. Und wie eine Meerestopografie lagen darunter die meisten Areale der Stadt, eigentlich versunken, überschwemmt, überkommen. Helen befiel eine Trauer dabei, oder teilweise auch Angst. Sie betrachtete dann die Lichter, minimal gefärbt von der schimmernden Fläche, und fragte sich, ob das die Zukunft sei. »Welche Zukunft?«, sagte sie leise. Einfach die Zukunft als solche, antwortete sie sich. Aber jetzt, inmitten des Badezusatzes, dachte Helen nicht an die Zukunft, sie dachte nicht an die Meereshöhe, sie empfand nicht mal ihren Körper als versunken, obwohl das nahelag. Sie dachte nicht an ihre Ausstellung, die fast fertig war. Sie dachte nicht an Lenell. Wenn sie die Augen öffnete, konnte sie durch die allmählich beschlagene Fensterscheibe den Mond sehen. Sie sah den Mond leicht verschwommen, ohne an ihn zu denken. Erst später richtete sie sich auf, lehnte sich mit dem Rücken an die schräge, gewölbte Wannenwand, griff nach einem Tuch und trocknete sich die Hände sorgfältig ab, die eingewellte Haut mit ihren unwillkürlichen Vertiefungen wehrte sich mehr als sonst. Helen wählte eine Nagelfeile aus ihrem Necessaire: Der angeraute, flache Stahl lief spitz zu, im vordersten Teil war ein glattes Dreieck. Lange hatte sich Helen kaum für Nagelfeilen begeistern können. Sie hatte nur Scheren genutzt, um an ihren Nägeln und ihrer Haut rumzuwerkeln, wenn sie nervös war. Das hatte sich ungefähr nach ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstag geändert – sowohl die Nervosität als auch die Finesse, mit der sie Maniküre betrieb. Mittlerweile besaß sie verschiedene Feilen. Sie begann also, die runden, silbern übersiegelten Felder auf dem ersten Rubbellos freizukratzen. Sie entdeckte Zahlen und Planetensymbole, aber nie nebeneinander, beispielsweise vier Euro und nichts, oder nichts und Saturn, das brachte keinen Gewinn, nicht mal ein Freilos, fuck. Helen hielt das Rubbellos so, dass die gummiartige, silberne Abdeckpaste neben der Badewanne in den Plastikmülleimer fiel. Schließlich warf sie das Los hinterher. Sie nahm aber direkt das zweite vom Fensterbrett und kratzte weiter. Sie war ein bisschen angefixt. Schwierig. Wieder nur Nieten, Nieten, Nieten, Nieten, Nieten, bis sie in der letzten Spalte zwei Monde nebeneinander sah. Das irritierte Helen, weil ja eigentlich immer eine Kombination aus Zahl und Symbol erscheinen sollte. Zwei Monde nebeneinander, das musste ein Fehler sein. Helen betrachtete ihr Rubbellos, drehte es um, las die Erläuterungen auf der Rückseite, aber der Fall von zwei sich nebeneinander befindenden Symbolen war nicht beschrieben. Helen glitt wieder ins Wasser, es schwappte über ihrem Kopf, nur ihre Hände hielten weiterhin hochgestreckt das Rubbellos.

    3

    Am nächsten Morgen frühstückte Helen ein paar abgepackte Pains au chocolat, sie trank Orangensaft aus der Flasche und Kaffee, den sie sich mit ihrem mitgebrachten Kännchen gekocht hatte. Das Rubbellos mit den zwei Monden hielt sie beim Zähneputzen in der Hand, grübelnd, aber sie wollte nicht bei der Bezahlhotline der niederländischen Lotterie anrufen. Stattdessen klemmte sie es mit einem Kühlschrankmagneten, der das Logo der Apartmentvermietung zeigte, an den metallenen Spiegelrahmen im Flur, gleich neben die Tür. Helen schminkte sich die Augen, eigentlich tuschte sie nur die Wimpern. Dann nahm sie den Aufzug runter in die Gefahrenzone. Kurz hielt sie dabei die Luft an, sammelte sich, und atmete ein. Jedes Mal war sie überrascht, dass weiterhin Sauerstoff vorhanden war. Ihre Brustmuskulatur verspannte sich. In der vermutlich leeren Erdgeschosswohnung piepte der Feuermelder noch immer. Helen fuhr mit dem Linienbus raus zum Raumfahrtmuseum, das sich auf dem Flughafengelände befand. Viele Touristïnnen mit Koffern waren im Bus. Das Wetter war gut, sehr mild. Der Wind hatte nachgelassen, aber nicht ganz. Als das besetzte Palazzo auftauchte, schaute Helen neugierig, was sie erkennen konnte. Wie immer. Die Sicherheitsleute, die reglos herumstanden; die Befestigungszone; die holografischen Markierungen, Barrikaden, Backsteinmauern, Stacheldrahtzäune, beschriftete Tücher, die von den Dächern hingen, etc. Helen schaute in den Himmel und sah wieder die schimmernde Fläche und begriff wieder, wie weit sie selbst unter Normalnull war. Gruselig.

    Im Ausstellungsraum fühlte sie sich ein bisschen abgeschirmter; es gab kein Tageslicht, dafür waren die Wände samtblau, und Helen probierte noch ein paar Feinheiten aus, wie sie mit den tuschebemalten Fahnen und Papierarbeiten umgehen könnte. Sie war ziemlich perfektionistisch. Manchmal kamen Technikerïnnen vom Museum und fragten, ob sie Hilfe brauchte, aber Helen verneinte. Gegen Mittag besprach sie sich mit ihrer Pariser Galeristin Bianca per Videoanruf. Auch Lenell schickte sie Bilder. Sowohl Lenell als auch ihre Galeristin waren beeindruckt. Am späten Nachmittag hatte sie das Gefühl, fertig zu sein. Sie räumte die übrig gebliebenen Materialien weg und saugte den sogenannten Sonderausstellungsraum, der unbehelligt blieb von Astronautenanzügen und Mondgestein und Berechnungen und Forschungsberichten und Antriebsraketen. Sie saugte heimlich; nicht, weil es ihr nicht erlaubt war, aber die Direktorin würde sie schelten, wenn sie davon erführe. Die Direktorin war darum bemüht, dass ihr Team zuvorkommend sei. Helen beeilte sich. Noch zwei Tage bis zur Eröffnung.

    Helen nahm den Bus in die Stadt. Im Apartmentkomplex piepte der Feuermelder in der Erdgeschosswohnung. Im Aufzug lockerte sich Helens Muskulatur. Am Spiegel hing das Rubbellos. Helen kochte sich Kaffee. Sie beantwortete Mails auf dem Balkon, überhalb der schimmernden Fläche. Sie trug dunkelblaue Leinenhosen und BH. Sie war barfuß. Sie hockte im Schneidersitz an der Hauswand, auf einem Sofakissen, im Sonnenlicht. Neben ihr stand die Kaffeetasse. Menschen, die nach ihren Bildern fragten, verwies sie an die Galerie; Freundïnnen berichtete sie knapp, aber zugewandt, wie es ihr erging; Spam und Werbung löschte sie. Sie bestellte sich indisches Essen. Nachdem sie das Essen bekommen hatte, hörte sie Musik und saß, bis die Sonne verschwand.

    4

    Vielleicht sollte sie eine Atemmaske einpacken (wegen Körperhorror) und ein paar tourismusmäßige Aktivitäten starten, überlegte Helen am Tag vor der Eröffnung. Sie hatte frei. Die Pressekonferenz würde komischerweise unmittelbar vor der Eröffnung stattfinden. Helen wunderte sich darüber, aber es störte sie nicht. Die geplanten Interviews mit internationalen Kunstmagazinen würde sie später von Griechenland aus geben. Lenell war derweil wieder hoffnungslos verschwunden in seinen seismologischen Analysen, und vermutlich verschwand er in den seismologischen Analysen, weil er hoffnungslos in sich selbst verschwunden war. Helen hoffte, dass er nicht schon wieder Tavor nehmen würde. Aber mit einer hoffnungslosen Traurigkeit verbat sie sich, ausschweifend darüber nachzudenken. Sie fragte Lenell, ob er ihr ein Foto vom Meer schicken würde – so hatte er wenigstens einen externen Auftrag, der übers Überleben hinausführte. Ein paar solcher Anfragen konnte sie stellen, aber nicht ständig. Lenell musste sich selbst kümmern. Zur Therapie gehen (was er meistens auch tat). Sie konnte nicht alles auffangen. Das war keine zumutbare Perspektive für ihr Miteinander. Aber deshalb wäre auch ein vorwurfsvolles Gewissen sich selbst gegenüber oder bloßes Mitleid Lenell gegenüber destruktiv. Helen machte hundert Jumping Jacks und schattenboxte sich danach zehn Minuten lang konzentriert durchs Wohnzimmer, bevor sie duschte und sich in die Stadt aufmachte. Natürlich piepte der Feuermelder in der Erdgeschosswohnung. Mit strammem Blick navigierte Helen zu einer Apotheke und kaufte dort eine kleine Sauerstoffkartusche sowie eine Atemmaske. Sie empfand sich selbst als lächerlich, aber dann spürte sie Erleichterung, eine sich wundersam fortsetzende Erleichterung in den Zellen; sie empfand diese Erleichterung mit der gleichen Skepsis, mit der sie als Kind die Domino-Days im Fernsehen verfolgt hatte – weil in jeder Sekunde ein Stopp hatte passieren können, ein Versiegen, ein Hindernis im System erwachsen, das die Ausbreitung der Erleichterung verhinderte. Und die gleiche Skepsis wallte in Helen bezüglich ihres Körpers. Aber dass sie ihr Notfall-Kit im Rucksack hatte, ermöglichte Helen jetzt touristische Aktivitäten. Wobei sie schnell touristenhaft enttäuscht war. Lelystad war ziemlich langweilig, zumindest aus touristischer Perspektive. Wahrscheinlich musste sie einfach ans Meer, aber das konnte sie zu Hause auch, wo es nichts Touristisches hatte, sondern etwas von Work-Life-Balance, oder etwas von Ausgleich des Lebens. Was dabei ausgeglichen wurde? Das Nichtleben natürlich. Helen überlegte, im Meer bis zum Horizont zu schwimmen, oder zumindest an diesem dämlichen Damm entlangzuschwimmen, bis er enden würde. Aber sie tat es nicht, weil sie touristisch unterwegs war. Sie stand in einer Einkaufsstraße und schaute sich im Internet an, was Lelystad zu bieten hatte. Die Houtribschleusen. Das ging als Sehenswürdigkeit durch. Sie machte sich auf. Endlich ein Anlaufpunkt, endlich nicht mehr dieses endlose touristische Schlendern, das nur die eigene Ratlosigkeit euphemisieren sollte. Das wurde Helen schnell zu viel. Sie hörte Musik und wurde wieder normal ungeduldig, wenn andere Menschen zu gemächlich liefen oder nicht wussten, wo sie hinwollten. Wieder bemerkte Helen einen langsam fahrenden weißen Lieferwagen, als sie an einer Ampel wartete. Aber sie entschied, dass das nichts zu bedeuten hatte. Stattdessen wollte sie in einem Café zwischenstoppen. Jetzt, wo sie eine Entscheidung getroffen hatte, fühlte sie sich nicht mehr so gehetzt. Sie wusste, dass sie nicht den halben Tag würde sinnlos herumschlendern müssen. Zu den Houtribschleusen dauerte es zu Fuß eine Stunde. Helen setzte sich unter eine orange Markise, in die hinterste Ecke, direkt an der Scheibe des Cafés, unscheinbar, neben sich Blumenkübel. Sie streckte ihre Beine aus, überall der warme Wind, an ihren Knöcheln, den Fersen, am Saum ihrer Hosenbeine. Sie bestellte sich Salat und Espresso. Das sommerliche Treiben in der Innenstadt war ulkig: Fußgängerïnnen und E-Scooter-Fahrerïnnen und Essenslieferantïnnen und Geschäftsleute. Ein kleines Mädchen trug eine Plüschmeerjungfrau herum. Außerhalb von Helens Sichtfeld spielte jemand Gitarre. Jugendliche hatten sich Energydrinks geholt. Glasfassaden glänzten und Backsteinmauern glänzten. Helen erhielt das gewünschte Foto von Lenell – aufgenommen von der Terrasse ihres gemeinsamen Bungalows. Das Meer war wie eine gekippte Fläche zwischen Pinien sichtbar, ohne Oberflächenstruktur, eingefasst von Landmassen und Hausdächern. Über Hügeln entschwand jäh der Himmel. Helen hatte Heimweh. Sie zoomte in die Pinien, schaute perplex in die Nadelansammlungen und begriff, dass dieser Grünton in Lelystad nicht vorkam. Sie fertigte einen Screenshot von den Nadeln an und bedankte sich bei Lenell mit Herz-Emojis.

    5

    Ein paar Stunden hatte Helen im Café verbracht – zeichnend und lesend und Sprachnachrichten aufnehmend –, ehe sie sich aufraffte, um die Houtribschleusen zu sehen. Lenell war mit dem Motorboot im Golf von Korinth unterwegs gewesen. Von Egio aus (die Stadt, in der sie lebten) hatte er Inseln angefahren, um dort seine Seismografen zu prüfen, Inventurfahrten, die er nur machte, wenn er halbwegs wohlauf war. Helen liebte es, ihn bei diesen Arbeiten zu begleiten: von Insel zu Insel mit seinem hellblauen Motorboot; auf Hügel klettern, die mit Pinien bewachsen waren, wilden Salbei riechen, Felsformationen überwinden, von Ziegen betrachtet werden – und vor allem zu spüren, wie präzise und raffiniert Lenell vorging. Im Klettern und Justieren bewegte er sich anders als im Mentalen, seine professionelle Tätigkeit zweckentfremdete ihn aus seiner Starrheit heraus. Helen bewunderte, wie behände er sich verhielt, metadatennährend. Manchmal schliefen sie miteinander,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1