Bilder, die nichts zeigen. Inszenierter Krieg
in der künstlerischen Fotografie
WOLFGANG BRÜCKLE
Es ist nicht leicht, einen Anfang der inszenierten Fotografie festzulegen. Damit meine ich hier nicht ihren zeitlichen Anfang, der mit
der Erfindung des Mediums unmittelbar einhergeht, sondern ihren
Ort in unserem Kategoriensystem. Wo, so könnte man deutlicher
fragen, ist ihr Ursprung zu suchen? Bei welcher Fotografie oder bei
welchen Erscheinungen auf Fotografien können wir ohne schlechtes
Gewissen aufhören, von ihrer Inszenierung zu sprechen? Es ist eine
inzwischen allgemein geläufige Auffassung, dass es keinen Nullpunkt des Stils gibt, und bei dieser Formfrage fängt die Inszenierung schon an. Ein gutes Lehrstück bildet in dieser Hinsicht der
2001 entstandene Dokumentarfilm War Photographer, in dem der
schweizerische Regisseur Christian Frei den Journalisten James
Nachtwey bei der Arbeit verfolgt. Alles in diesem Film scheint uns
zu beweisen, dass uns Nachtweys Werk Schnappschüsse im besten
Sinn dokumentarischer Momentaufnahmen der Wirklichkeit, wie sie
ist, vor Augen stellt. Dennoch erkennt man in seinen Bildern eine
hohe Stillage, die das Verfassersubjekt bestätigt oder, je nach Betrachtungsweise, verrät: eine routinierte Professionalität, eine dramatische Rhetorik, eine künstlerische Behandlung und am Ende
Bücher und Galerieformate. In einer Ausstellung können diese Fotografien ein regelrechtes Unwohlsein hinterlassen, verwandt mit
der Abneigung, die Roland Barthes angesichts der aufdringlichen
Mitteilungssucht von ›Schockfotografien‹ bekundet hat.1 Otto Karl
Werkmeister glaubte sogar, dass auf einem Bild von Nachtwey ein
Wachsoldat »statuarisch wie ein Legionär über besiegte Barbaren
1
Siehe Barthes, Roland: »Schockphotos« [frz. 1957]. In: Ders.: Mythen des
Alltags. Frankfurt a.M., 1964, S. 55-58, wo auf S. 56 von einem »Willen zur
Sprache«, der sich der freien Aneignung durch den Betrachter entgegensetzt, die Rede ist. Siehe außerdem Brückle, Wolfgang: »Welt-Bilder«. In:
Camera Austria, Jg. 23, Nr. 92, Graz, 2005, S. 80-81, hier S. 81 (über
Nachtweys Fotografien).
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Wolfgang Brückle
auf einem römischen Triumphalbild« posiere, und in einem von
demselben Fotografen fotografierten Leichentransport fand er den
Widerhall von Caravaggios Grablegung Christi.2 Er versichert uns,
dass auch Nachtwey selbst die Ähnlichkeit aufgefallen sein müsse,
und zumindest ist Werckmeister mit dergleichen Lesarten von Fotografien, die als dokumentarische Mitteilungen in den Bilderkreislauf
gelangen, in der Tat nicht allein. Nachtwey mag zwar durchaus ohne die ihm unterstellte Plünderung des abendländischen Bilderschatzes ausgekommen sein. Aber auch in der Besprechung einer
New Yorker Fotografie-Ausstellung hieß es über das Bild eines
Leichnams aus dem Irak-Krieg, er erinnere an die Tradition der
Darstellung des toten Christus: In dieser Verallgemeinerung geht
die Beherrschung der Weltwahrnehmung durch das Klischee sogar
noch über Werckmeisters ikonografischen Einzelfall hinaus.3 Wird
in ihr das Bild zu Unrecht unserer Bildung gefügig gemacht? Andernorts hat jedenfalls die Überzeugung, dass die Welt eine Bühne
für die Aufführung von Repertoire-Theater sei, unleugbare Folgen
für die bildliche Erzeugung von Schockeffekten gehabt. Auf diese
Grundlage stellte nämlich der Fotograf Eric Baudelaire eine sorgfältig arrangierte Szene aus dem Irak-Krieg, aufgebaut in wochenlanger Arbeit mit den Hilfsmitteln der Filmindustrie. Unter Zusammensetzung von achtzehn einzeln fotografierten Bildern entstand so ein
Diptychon, auf dem, wie wir nach genauerer Betrachtung feststellen
können, jede einzelne Figur auf einem für seine mehr oder minder
trügerische Authentizität bekannten Vorbild aus dem scheinbar
unendlichen Archiv der Bilder gründet (Abb. 1 und 7).4 Gewisser-
2
3
4
Werckmeister, Otto Karl: Der Medusa-Effekt. Politische Bildstrategien seit
dem 11. September 2001. Berlin, 2005, S. 33 u. 43f.
Siehe Heartney, Eleanor: »A War and Its Images«. In: Art in America, Jg. 92,
Nr. 9, New York, 2004, S. 51-55, hier S. 53. Vgl. auch Sontag, Susan: Das
Leiden anderer betrachten [amerik. 2003]. München u. Wien, 2003, S. 89:
»Wenn man in Fotos aus Kriegs- und Katastrophenzeiten gelegentlich den
Pulsschlag der christlichen Ikonographie zu spüren glaubt, so ist das keine
sentimentale Projektion.« Sontag sagt nicht, was es stattdessen sei. Vielleicht doch eine Projektion, nur eben nicht sentimental?
Besprechungen von Baudelaires Diptychon bringen Poivert, Michel:
»Théâtre des dernières guerres«. In: Vacarme, Jg. 10, Nr. 37, Paris, 2006,
S. 41-44; Zaoui, Pierre: »La fresque aux icônes. À propos de ›Dreadful Details‹ d’Éric Baudelaire«. Ebenda, S. 45-48 (ausführliche Beschreibung); Baqué, Dominique: »L’Image fixe pour repenser le monde«. In: Art Press, Jg.
29, Nr. 350, Paris, 2008, S. 52-59, hier S. 58. Baudelaires Titel ist einer
Bildlegende aus Alexander Gardners Photographic Sketchbook of the War
(2 Bde. Washington, D.C., 1866, Bd. 1, Nr. 36) entlehnt, woher auch mehrere seiner Figuren stammen. Vgl. hierzu auch Abb. 6 und 7.
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Bilder, die nichts zeigen
Abb. 1: Eric Baudelaire, The Dreadful Details, 2006
maßen macht Baudelaire hier eine Probe auf die Behauptung, dass
kein Drama nicht in Szene gesetzt ist. Trotzdem bleibt im Fall der
Fotografie die Frage nach der Sichtbarkeit des wirklichen Schreckens hinter den Floskeln, zusammen mit der nach ihren medialen
Voraussetzungen, bestehen.
Diese Frage ist natürlich nicht neu. Von Anfang an hat die Begeisterung über die Fähigkeit der Fotografie, mehr oder andere als
von ihrem Urheber vorgesehene Einzelheiten aufzuzeichnen, eine
Rolle gespielt, und Barthes betont sogar, dass ihn überhaupt nur
solche Einzelheiten, die der Fotograf nicht beabsichtigt hat, zu fesseln vermögen.5 Der Diskurs der Fotografie hat dieses Lob einer mediengeleiteten Idiosynkrasie auf Seiten des Betrachters dankbar
aufgenommen, aber die Anwendung gelingt nicht immer überzeugend; naturgemäß tut sich die Bildauslegung mit Inszenierungen
leichter als mit dem Zufall. Ein Beispiel dafür finden wir in einem
Aufsatz von Rosalind Krauss.6 Sie berichtet darin im Zuge des Versuchs, die Medienspezifik fotografischer Ansätze in der Gegenwartskunst zu bestimmen, von einem eigentümlichen Kinoerlebnis.
Krauss sah einen Dokumentarfilm von Henri Cartier-Bresson, entstanden 1945 unter anderem in Dessau. Eine der Szenen mündet
in ein Bild, das sie, wie viele von uns, als Fotografie desselben Urhebers schon kannte. Entlassene Lagerinsassen, die um einen
Tisch herum stehen, um ihre für die Heimkehr nötigen Papiere in
Augenschein nehmen zu lassen; eine auf die Abwicklung
5
6
Siehe Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie
[frz. 1980]. Frankfurt a.M., 1985, S. 57 u. passim, sowie zuvor Barthes
1964 (wie Anm. 1), S. 55.
Siehe Krauss, Rosalind: »›... And Then Turn Away?‹ An Essay on James
Coleman«. In: October, Nr. 81, Cambridge, 1997, S. 5-33, hier S. 11f.
87
Wolfgang Brückle
Abb. 2: Henri Cartier-Bresson, Dessau, Germany, 1945. In einem
Flüchtlingslager wird eine Gestapo-Informantin, die sich als
Flüchtling ausgegeben hatte, von einer Lagerinsassin erkannt
und bloßgestellt, 1945
ihres Falls wartende Frau in der Mitte; rechts eine weitere Frau im
Begriff, sie zu schlagen; die Umstehenden drängen sich heran, um
nichts zu versäumen: Hier wird eine Kollaborateurin vor unseren
Augen entlarvt (Abb. 2). Im Film geht die Szene so schnell vorbei,
dass Krauss nicht recht erfassen kann, was eigentlich passiert. An
die Prägnanz der Fotografie erinnert sie sich aber gut. Sie schließt
daraus zunächst, dass der neben der laufenden Filmkamera stehende Cartier-Bresson, als er dieselbe Szene fotografierte, wohl etwas an der Darstellung verändert haben müsse, so dass sie anders
als seine Filmszene die Choreografie und die formalen Effekte, die
dem Bild seine Heftigkeit und Einprägsamkeit verleihen, zur Geltung bringen konnte. Aber das ist nicht der Fall, wie sie tags darauf
bei Prüfung der Fotografie feststellen muss. Die Bilder zeigen jeweils
genau dasselbe. Nur die Unbeweglichkeit der Szene gibt Krauss im
Fall der Fotografie eine bessere Möglichkeit, das Durcheinander
aufzunehmen. Dabei fallen ihr beziehungsreiche Details ins Auge,
in denen sie erkennen will, was Barthes als ›dritten Sinn‹ und später, bei veränderter Gewichtung, als Punctum bezeichnet hatte.
Wichtig ist festzuhalten, dass Krauss fasziniert die Leistung des
Standbilds herausstreicht: Unter ihren Augen beginnt es mehr zu
erzählen, als der Film preisgegeben hatte. So weit, so gut. Dieselbe
Gedankenfigur finden wir natürlich bei anderen Autoren auch.
Krauss nimmt außerdem zunächst an, der Vorzug der Fotografie
müsse im Arrangement des Bildes gelegen haben, folglich in der Inszenierung des Tatbestands durch den Fotografen. Dieser von ihr
anfangs gehegte Verdacht erweist sich aber nicht nur als unbegründet, sondern im Zusammenhang mit ihrem Gedankengang als
88
Bilder, die nichts zeigen
geradewegs fehlgeleitet. Denn Krauss verweist, indem sie sich auf
den ›dritten Sinn‹ beruft, auf gerade die Eigenschaften, die der Fotograf keinesfalls hätte bewusst gestalten können: Eine Inszenierung
muss damit als Grund für die besondere Wirkung der Szene auf
unserem Bild entfallen. Andererseits scheint mir aber, dass Krauss
hier über das Ziel hinausschießt. Denn die Einzelheiten, die sie als
bedeutsam hervorhebt, wirken allesamt auf die diegetische Ebene
der Bilderzählung ein, jedenfalls wenn man von einem angeblich
das Modell von Barthes bestätigenden, in der Beschreibung von
Krauss aber eigentlich völlig unnützen Hinweis auf den verknautschten Reißverschluss an der Seite der Jacke einer der abgebildeten Personen absieht.7 In Wahrheit spricht sie genau die Bildeigenschaften an, die Cartier-Bresson selbst als Produktivkräfte in
der Erzeugung des ›entscheidenden Augenblicks‹ wahrgenommen
hätte, und damit die Bildeigenschaften, von denen sich Barthes vermutlich gelangweilt gefühlt haben würde: die Dramatik der Szene
und die Teilnahme der Umstehenden, unterscheidbar in ihrer historiografisch aussagekräftigen Kleidung, ein flüchtiger, das Ereignis
schlüssig zusammenfassender Augenblick.8 Ist hier wirklich eine
dem Fotografen unzugängliche Zufälligkeit am Werk? Offensichtlich
ist es nicht immer leicht zu bestimmen, was genau beabsichtigt
war. Zumindest in theoretischer Hinsicht betritt Krauss mit ihrem
Verweis auf Barthes schwankenden Boden, zumal jener selbst nach
Durchsicht einiger Aufnahmen von Koen Wessing einräumt, dass
der Effekt, der ihn an einer von ihnen gereizt hatte, auch auf anderen zu entdecken ist; mit Rücksicht darauf müsste er auf den Fotografien eigentlich Stil oder Strategie und damit eben die Theatralik
oder Inszenierung entdecken, die er ablehnt.9 Trotzdem liegt auf der
Hand, was Barthes gemeint hat: den Funken Zufall, der uns sagt,
dass der Fotograf wenigstens teilweise nur Zeuge und nicht Regisseur war. Kürzlich unterzog Michael Fried Die Helle Kammer, worin
sich dieser Gedanke findet, einer neuen Lektüre; er entdeckte dabei
7
8
9
Damit haben sie Teil an der ›Entwicklung‹, die, als Bestandteil des klassischen Diskurses, von Barthes gerade nicht als Movens der fotografischen
Erfahrung betrachtet wird. Vgl. Barthes 1985 (wie Anm. 5), S. 52, sowie zuvor Barthes, Roland: »Der dritte Sinn. Forschungsnotizen über einige Fotogramme S. M. Eisensteins« [frz. 1970]. In: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt a.M., 1990, S. 4766, insb. S. 61f. Der Hinweis auf den Reißverschluss findet sich bei Krauss
1997 (wie Anm. 6), S. 12.
Siehe Cartier-Bresson, Henri: »Der rechte Augenblick« [frz. 1952]. In:
Ders.: Auf der Suche nach dem rechten Augenblick. Aufsätze zur Photographie und Erinnerungen an Freunde. Berlin u. München, 1998, S. 11-29,
insb. S. 13 u. 15 (mit einer Apologie seiner eigenen Praxis).
Vgl. Barthes 1985 (wie Anm. 5), S. 31.
89
Wolfgang Brückle
eine enge Verwandtschaft von Barthes’ Vorlieben mit einer Tradition
antitheatralischer Malerei in Europa.10 Diese Malerei sieht entsprechend der von Fried seit langem durch die Kunstgeschichte verfolgten Leitdifferenz eine Unterdrückung aller theatralischen Momente
durch eine scheinbare Absorption der Figuren in das Handlungsgefüge der Bilderzählung vor und lässt sich, wie Fried meint, bis in die
Gegenwartsfotografie hinein verfolgen. Sogar offenkundig inszenierte Bilder können seiner Auffassung nach diese Tugend verkörpern,
wenn ihre Dramaturgie nur völlig von den ästhetischen Grundsätzen der antitheatralischen Tradition durchdrungen ist.
Abb. 3: Jeff Wall, Dead Troops Talk (a vision after an ambush of
a Red Army patrol, near Moqor, Afghanistan, winter 1986), 1992
Das gilt folgerichtig sogar für ein Bild wie Jeff Walls Dead Troops
Talk (a vision after an ambush of a Red Army patrol, near Moqor, Afghanistan, winter 1986) von 1992 (Abb. 3). Es gehört zu den bekanntesten Werken des Künstlers, was zum Teil an seinem für die
Werkentwicklung bedeutsamen Zustandekommen mithilfe von Montageprozessen am Rechner liegt; es stellt somit ein Paradebeispiel
für den von Wall selbst als ›kinematografisch‹ bezeichneten Zweig
seines Gesamtwerks dar.11 Bekanntlich hat Wall die Szenen in Ein-
10 Siehe Fried, Michael: Why Photography Matters as Art as Never Before. New
Haven u. London, 2008, S. 95ff., sowie mit Einwänden Brückle, Wolfgang:
»Absorption Revisited« [Besprechung von Fried, Photography]. In: Art History, Jg. 33, Nr. 4, Oxford, 2010 (bei Redaktionsschluss im Erscheinen).
11 Vgl. die Angaben zu Kat.-Nr. 46 in Vischinger, Theodora; Naef, Heidi (Hg.):
Jeff Wall. Catalogue raisonné 1978-2004. Göttingen, 2005, S. 337-338,
hier S. 338. Unter Hinweis auf Walls Selbstverortung zwischen ›regelrechter‹ und kinematografischer Fotografie handelt über das Bild Brougher,
Kerry: »Der Fotograf des modernen Lebens«. In: Ausst.-kat. Museum of
Contemporary Art, Los Angeles: Jeff Wall. 13. Juli bis 5. Oktober 1997
90
Bilder, die nichts zeigen
zelaufnahmen festgehalten und dann zusammengefügt; sogar die
Wunden wurden erst nachträglich mit den Körpern der fröhlich miteinander plaudernden Untoten verbunden. Allerdings ist diese Tatsache für die Bildwirkung nicht unmittelbar von Bedeutung, denn
die Szene hätte sich fraglos, wenn auch mit größerer Mühe, ohne
digitale Hilfsmittel ähnlich fotografieren lassen. Unleugbar dagegen
ist der Werkstattcharakter der Szene: Es ist nicht zu übersehen,
dass hier eine erfundene Begebenheit vorliegt. Siegfried Kracauers
Beschreibung der Fotografie als »Gemenge, das sich zum Teil aus
Abfällen zusammensetzt«, drängt sich auf: ein Fragment, wie er
sagt, weil sie den Sinnzusammenhang der Bestandteile des Bildes
nicht einbegreift.12 Zwar meint Kracauer den Zusammenhang ›hinter‹ den Erscheinungen, nicht auf der Ebene der Erscheinungen
selbst. Aber schon mit dem Hinweis, dass dieser Zerfall der Welt in
Einzelteile einem Traum, in dem die Tagesreste durcheinanderkommen, nahekommt, lässt an Walls Afghanistan-Montage denken, hat
sie doch der Künstler seinerseits mit Rücksicht auf ihre eigentlich
sinnwidrige Zusammenstellung von Einzelszenen als eine ›Vision‹
bezeichnet. Das hielt andererseits Susan Sontag nicht davon ab,
dem Bild eine Schlüsselstellung in ihrem Buch Das Leiden anderer
betrachten einzuräumen. Sie rückt es ans Ende einer mäandrierenden Erörterung der Vor- und Nachteile bildlicher Aufarbeitung und
Verbreitung von Schrecken und Leid, worin das Bild eine paradoxe
Botschaft auszugeben scheint. Die Figuren auf dem Bild sprechen
miteinander, obwohl sie ausweislich des Titels und ihrer grässlichen
Wunden tot sind. Sie sprechen aber, wie Sontag meint, nicht mit
uns; sie haben uns nichts mitzuteilen. Hier liegt scheinbar ein Paradox vor, denn die Entzifferung des Bildsinns scheint Sontag nicht
schwer zu fallen. Allerdings kann man, wenn man es genau nimmt,
nicht von einer Entzifferung sprechen. Vielmehr allegorisiert Sontag
die Szene, die doch eigentlich, indem sie die Soldaten nur miteinan-
(hrsg. v. Kerry Brougher). Zürich, 1997, S. 13-42, hier S. 38f. Sein Verhältnis zum Kino kommentiert Wall u.a. in Pelenc, Arielle: »Correspondence
With Jeff Wall«. In: Duve, Thierry de; Groys, Boris; Pelenc, Arielle (Hg.): Jeff
Wall. London, 1996, S. 8-23, hier S. 9ff. u. 22, sowie in Wall, Jeff; Chevrier,
Jean-François: »A Painter of Modern Life« [zuerst als »At Home at Elsewhere« (1998/2001)]. In: Ausst.-kat. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a.M.: Jeff Wall: Figures and Places. Selected Works from 1978-2000.
28. September 2001 bis 3. März 2002 (hrsg. v. Rolf Lauter). München u.
London, 2001, S. 168-185, hier S. 173ff. Die konzeptuellen Verschiebungen in Walls Standpunkt behandelt Brückle, Wolfgang: »Almost Merovingian: On Jeff Wall’s Relation to Nearly Everything«. In: Art History, Jg. 32,
Nr. 5, Oxford, 2009, S. 977-995, hier S. 979f. u. passim.
12 Kracauer, Siegfried: »Die Photographie« [1927]. In: Ders.: Aufsätze 19271931 (= Schriften Bd. 5.1). Frankfurt a.M., 1990, S. 83-98, hier S. 86.
91
Wolfgang Brückle
der und nicht mit uns beschäftigt zeigt, den hergebrachten Gepflogenheiten einer absorptiven Erzählkunst folgt. Sontag wünscht,
dass uns gerade diese Vernachlässigung des Betrachters verstören
möge. Wir sollen uns aufwühlen lassen von dem Schrecken, dessen
wirkliches Gegenstück wir nicht kennen und uns auch nicht ausmalen können.13 Zugleich wäre fraglich, wie das Bild eine solche
Wirkung entfalten könnte, wenn es den Schrecken nicht doch vorstellbar machen würde. Bei Sontag steht es nicht so, aber man
muss ihrem Gedankengang entnehmen, dass diese Doppelleistung
gerade durch die Künstlichkeit der Inszenierung verständlich gemacht werden soll: Vermittels der Inszenierung zeigt das Bild, dass
es nicht zeigen kann, was es uns dennoch vor Augen führt. In einer
überraschenden Wendung nimmt Sontag am Ende einer Klage über
die Schwierigkeit der bildlichen Übermittlung echter Erfahrung an,
dass diesem Bild eine Lektüre zugutekommt, die ihr bei der Betrachtung von dokumentarischer (also nicht inszenierter) Fotografie
als vergeblich erscheinen würde.14
Fried hat diesen Gedanken aufgegriffen, aber dabei verwandelt.
Er stellt in seinen Augen eine Bestätigung dafür dar, dass Wall das
Ideal einer antitheatralischen Kunst erfüllt, dass also ihre Erzeugnisse in Unkenntnis der Existenz eines Betrachters wie eine geschlossene Welt (statt wie eine Bühne) zu bestehen scheinen. Und
er sieht die große Chance der Fotografie darin, dass sie, anders als
das Kino, das theatralische, für die Kunst bedrohliche Moment
nicht nur flüchten, sondern sogar überwinden kann. Es ist kein
Wunder, dass er auch Walls Dead Troops Talk in diesem Zusammenhang anführt: Dass die Figuren ins Gespräch vertieft sind, ist
für ihn ein Zeichen für die Anwendung eines bis auf Denis Diderot
zurückgehenden ästhetischen Paradigmas.15 Er vernachlässigt dabei allerdings den grotesken Charakter der anekdotischen Schilderung, die keine erzählerische Kohärenz entfaltet und gewissermaßen wirkt, als sei das Schauspiel unterbrochen worden: Das lässt
eigentlich Glaubwürdigkeit und damit ein Eintauchen des Betrachters, wie es die antitheatralische Tradition ermöglicht, nicht zu.
Vielleicht deshalb hat umgekehrt Krauss dieselbe Fotografie als Bei13 Vgl. Sontag 2003 (wie Anm. 3), S. 133f. u. 136. Pierre Zaoui eignet sich
diese Auslegung für seine eigene Darstellung von Baudelaires Dreadful Details fast wörtlich, aber ohne Hinweis auf seine Quelle an. Siehe Zaoui 2006
(wie Anm. 4), S. 47f.
14 Man kann einen Schritt weitergehen und mit Fried annehmen, dass die offene Künstlichkeit des Bildes es in Sontags Augen vor der Bedrohung einer
unangemessenen Ästhetisierung, der die dokumentarische Fotografie im
Bilderkreislauf allenthalben ausgesetzt ist, gerade beschützt. Siehe Fried
2008 (wie Anm. 10), S. 34f.
15 Vgl. Fried 2008 (wie Anm. 10), S. 102.
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Bilder, die nichts zeigen
spiel für ein angebliches Scheitern von Wall herangezogen. Sie hat,
obwohl sie wie Fried von der Rolle der Fotografie in der Debatte um
die Legitimität der Gegenwartskunst überzeugt ist, zu Wall lange
geschwiegen. Als sie sich schließlich äußerte, quittierte sie seine Afghanistan-Szene mit der Verachtung, die sich, als ihre einzige nennenswerte Äußerung über sein Werk, wie eine lange fällige Endabrechnung ausnimmt: Baron Gros? Géricault? Krauss weist auf diese
üblichen Vergleichsgrößen aus dem Bestand der Historienmalerei
nur hin, um ihnen entgegenzuhalten, dass Walls Bild sie selbst eher
an den pompösen Salonmaler Ernest Meissonier erinnere, und fügt
ziemlich giftig hinzu, dass noch dazu Meissonier wenigstens habe
zeichnen können.16 Offen gesagt: Es ist nicht leicht zu begreifen,
was sie mit dieser Spitze meint. Will sie sagen, dass Wall nicht fotografieren könne? Ist die digitale Manipulation des Mediums grundsätzlich unstatthaft, Zeugnis eines Mangels an Kompetenz? Es ist in
der Tat möglich, dass sie darauf hinauswill. Denn die Verurteilung
Walls steht in demselben Text, der Cartier-Bressons Dessauer Fotografie untersucht, und seinen eigentlichen Schwerpunkt hat er in
dem Versuch von Krauss, mediengerechte künstlerische Aktivitäten
für eine Zeit, in der programmatische Mediengerechtigkeit keine
Kernfrage mehr bildet, auf neuer Grundlage zu bestimmen. Wall
scheitert ihrer Meinung nach an dieser Aufgabe, weil er der Malerei
nacheifert und »sprechende Bilder« schafft: Bilder, deren narrative
Qualitäten, wie sie sagt, in ihrer Geschwätzigkeit das Hier und Jetzt
der Fotografie unendlich zu dehnen erlauben.17 Aber das Argument
wirkt nicht ganz überzeugend. Denn natürlich will Wall gar nicht
dieses Hier und Jetzt bewahren, schon weil die Fotografie nicht sein
einziges Bezugsmedium darstellt, und außerdem könnte CartierBressons Bild demselben Vorwurf ausgesetzt werden: Deutet nicht
Krauss, indem sie seine erzählerische Leistung sogar höher einschätzt als die des gleichzeitig entstandenen Filmmitschnitts, eben
eine solche Dehnung des Augenblicks in der Nacherzählung des Ereignisses an? Einerseits ja, aber andererseits hat Cartier-Bresson
bei ihr den Kredit des unmittelbaren Realitätsbezugs. Die gattungsspezifischen Leistungen der Fotografie, zu denen sie unter anderem
das berichtende Bild zählt, entgehen in Krauss’ Augen ihrer Kritik
an der Narrativität, in der die Ansichten ihres einstigen Lehrers Cle-
16 Siehe Krauss 1997 (wie Anm. 6), S. 28.
17 Siehe Krauss 1997 (wie Anm. 6), S. 29. Sie beruft sich, ohne eine Quelle zu
nennen, auf Wall selbst. Möglicherweise bezieht sie sich dabei auf Pelenc
1996 (wie Anm. 11), S. 10. Die Bezeichnung von Walls Werken als »Talking
pictures« (zu Deutsch auch: Tonfilme) spielt zugleich auf seinen Hang zum
Kinematografischen an.
93
Wolfgang Brückle
ment Greenberg widerhallen.18 Nun sieht auch Walls Fürsprecher
Fried durchaus die Schwierigkeit, die sich für eine Verteidigung der
inszenierten Fotografie aus medientheoretischer Sicht ergibt. Er hat
deshalb gelegentlich auf ein Punctum hingewiesen, dass er in einem
Lichtreflex auf Walls Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, Barcelona zu entdecken glaubte, sowie auf eine Äußerung von
Wall, derzufolge die unkontrollierbaren Momente, die sein Apparat
einfängt, zu den wesentlichen Bestandteilen seiner Kunst gehören.19
Der Hinweis auf Barthes, schon bei Krauss nicht völlig überzeugend, geht hier aber zweifellos an der Sache vorbei. Walls Bilder
sind derartig streng konstruiert, dass etwaige Zufälle nur auf eine
Laxheit in der Werkstatttätigkeit verweisen könnten und nicht auf
eine fotografisch vermittelte Außenwelt: Man mag dergleichen ein
Punctum nennen, aber man wird nicht leicht verständlich machen
können, wie sich daraus eine Befreiung aus dem durchorganisierten
Guckkastentheater ergeben sollte. Ein unachtsam gesetzter Farbklecks auf einem Gemälde von Gros oder Géricault hätte etwa dieselbe Bedeutung. Letztlich entfaltet Walls Afghanistan-Szene wohl
eher gerade deshalb Wirkung, weil der Betrachter die Künstlichkeit
gar nicht in Frage stellt. Werckmeister glaubt zu beobachten, dass
die gegenwärtig aus den Informationsmedien verdrängten Schrecken, ins Groteske gesteigert, über die Kunst wiederkehren.20 In
Dead Troops Talk haben wir ein Beispiel, das seine Behauptung
stützen könnte und, wenn wir ihr folgen, das unterdrückte ›Reale‹
als Bezugsgröße zu rekonstruieren erlaubt.
18 Wir vernachlässigen hier die Verzerrung, die mit Krauss’ Zuweisung von
Reklame- und Modefotografie unter das ›Dokumentarische‹ einhergeht:
Um diese Gattungen in einem Atemzug mit der Dokumentarfotografie im
engeren Sinn nennen zu können, muss man, als gemeinsamen Nenner, Eigenschaften des Apparats an die Stelle einer sozialen Gebrauchsweise setzen und den Hang zur Inszenierung, der in Reklame- und Modefotografie
gleichermaßen vorherrscht, verschweigen. Auch die Behauptung von
Krauss, Wall habe zwar ein Medium erfunden, sei dessen Besonderheiten
jedoch nicht gerecht geworden, stellt wohl sogar vor dem Hintergrund ihrer Theorie eine gedankliche Unmöglichkeit dar. Siehe Krauss 1997 (wie
Anm. 6), S. 29.
19 Vgl. Fried 2008 (wie Anm. 10), S. 74, und Walls eigene, von Fried angeführte Äußerung in Estep, Jan: »Picture Making Meaning: An Interview with
Jeff Wall«. In: Bridge Online, Jg. 2, Nr. 1, 2003, S. 1-4, hier S. 3. Mir scheint
allerdings nicht, dass das von Wall ebenda in Anspruch genommene »unpredictable something« mit Barthes’ Punctum zwangsläufig identisch sei;
es kann sich auch auf den Verlauf des schöpferischen Prozesses beziehen.
20 Vgl. Werckmeister 2005 (wie Anm. 2), S. 16. Er spricht von der »Bildkultur«,
meint aber mit diesem vagen Begriff vor allem Kunstäußerungen in den
populären Medien.
94
Bilder, die nichts zeigen
Aber unser Problem ist damit noch nicht vom Tisch, denn dieses
›Reale‹ sagt nichts über den Zwiespalt zwischen Inszenierung und
Dokumentarismus in der Fotografie aus. Das geht aus dem Vergleich von Walls Dead Troops Talk mit einer künstlerischen Tradition, die bisher im Zusammenhang mit seinem Werk keine Beachtung fand, deutlicher hervor. Im Ersten Weltkrieg arbeitete für die
australische Berichterstattung der Fotograf Frank Hurley. Er nahm
seinen Auftrag ernst, stand betreffs seines Verständnisses von den
damit verbundenen Aufgaben aber nicht im Einklang mit seinem
Vorgesetzten Charles Bean. Der verlangte von ihm, im Dienst an der
historiografischen Treue nur unbearbeitete Fotografien abzuliefern.
Einerseits hatte Hurley auch durchaus den Anspruch, festzuhalten,
was ihm vor Augen stand. Aber er sah andererseits seine Arbeitsbedingungen und die Beschränkungen der Technik als ein unüberwindliches Hindernis an. Vergeblich versuchte er, auf einem Negativ
die tatsächlich zugleich erfolgenden Ereignisse zu vereinen. Der
große Maßstab der Kampfhandlungen – »weit verstreute Menschen,
eine von Dunst und Rauchwolken getrübte Luft, Granaten, die nicht
zur rechten Zeit explodieren wollten« – machte ihm das unmöglich:
Alle Bestandteile für ein Bild waren da, aber wenn er die Aufnahmen abends entwickelte, war er enttäuscht, weil sie sich darauf
nicht zusammenbringen ließen.21 Vermutlich hätte er mit Sontag in
der Auffassung übereingestimmt, dass der wirkliche Schrecken mit
den Mitteln der Fotografie nicht zu erfassen ist: Einen Ausweg sah
Hurley in der Nachbearbeitung flauer Bilder und schließlich im
Kombinationsdruck von mehreren Negativen, wie wir sie aus der
Kunstfotografie des 19. Jahrhunderts kennen, hier wohlgemerkt mit
dem Anspruch, einen dem Medium anders unzugänglichen Wirklichkeitseindruck nachzubilden. Dass er auf Geheiß von Bean nicht
einmal Wolken in seine Bilder einspeisen durfte, schien ihm abwegig, zumal andere Kriegsberichterstatter ebenfalls mit den von ihm
ins Auge gefassten Techniken arbeiteten, und er drohte mit einer
Kündigung, um wenigstens für Ausstellungszwecke weiter an seinen Montagen arbeiten zu dürfen, was ihm denn auch gestattet
wurde.22 Damit war freilich auch eine klare Grenze zwischen die
Verwendungsweisen seiner Bilder gezogen: hier die Dokumentation,
dort die Kunst. Hurley hätte diese Unterscheidung wohl nicht aus
21 Hurley, Frank: »War Photography«. In: The Australasian Photo-Review, Jg.
26, Nr. 2, Sydney, 15. Februar 1919, S. 164-165, hier S. 164. Die Schlüsselpassage des an entlegenem Ort veröffentlichten Texts wird in wohl jeder
Veröffentlichung über Hurley zitiert; vgl. z.B. Millar, David P.: From Snowdrift to Shellfire. Capt. James Francis (Frank) Hurley 1885-1962. Sydney,
1984, S. 51.
22 Vgl. McGregor, Alasdair: Frank Hurley. A Photographer’s Life. London,
2004, S. 170f.
95
Wolfgang Brückle
Abb. 4: Frank Hurley, A wave of Infantry going over the top
to resist a counter attack, Zonnebeke, 1917
freiem Willen vorgenommen; er wollte Dokumentation und Kunst
aneinander stärken. Bernd Hüppauf weist deshalb seinen Bildern
einen dem modernen Kriegsgeschehen nicht angemessenen, vor der
echten Erfahrung zurückschreckenden Anspruch auf die komplette
und kontinuierliche Wirklichkeit zu, aber damit ist er wohl nicht im
Recht.23 Zumindest war es Hurley seinem eigenen Zeugnis nach gerade um die Wiedergabe der authentischen, von der Fotografie nicht
erfassten Erfahrung zu tun. 1917 entstand auf diese Weise A wave
of Infantry going over the top to resist a counter attack, Zonnebeke,
wovon ein 1918 in London ausgestellter, gut sechs Meter breiter Abzug schon wegen seiner schieren Größe leicht neben Walls Kriegsszene bestehen kann (Abb. 5 und 6).24 Wir sehen die Schützengrä23 Siehe Hüppauf, Bernd: »Hurleys Optik. Über den Wandel von Wahrnehmung«. In: Hickethier, Knut; Zielinski, Siegfried (Hg.): Medien/Kultur.
Schnittstellen zwischen Medienwissenschaft, Medienpraxis und gesellschaftlicher Kommunikation. Knilli zum Sechzigsten. Berlin, 1991, S. 113130, insb. S. 116 u. 122, sowie Ders.: »Experiences of Modern Warfare and
the Crisis of Representation«. In: New German Critique, Jg. 20, Nr. 59, Durham, 1993, S. 41-76, insb. S. 53. Beide Beiträge vertreten die Auffassung,
dass der moderne Krieg modernistische Darstellungsformen notwendig
macht.
24 Ein Abzug trägt zusammen mit Hurleys Unterschrift das Datum 1917, das
sich aber auch auf das dargestellte Ereignis beziehen könnte. In London
wurde das Bild ausdrücklich als »composite picture«, später aber verschiedentlich ohne diesen Hinweis gezeigt. Es tauchte in Ausstellungen und
Druckerzeugnissen auch als Over the Top, The Raid, An Episode After the
Battle at Zonnebeke auf. Ausweislich einer Tagebuchaufzeichnung von
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Bilder, die nichts zeigen
Abb. 5: James Hurley, [Australische Truppen beim Vormarsch,
Okt. oder Nov. 1917]
ben im zerschossenen, von Stacheldrahtverhauen durchzogenen
Feld, hier und da Einschläge von Geschützfeuer, im Vordergrund
zum Angriff übergehende australische Infanterie, darüber einen
Fliegerangriff, also alles, was Hurley tatsächlich gesehen, aber nicht
auf eine Platte hatte bringen können. Für dieses Bild griff er deshalb auf zwölf einzelne Fotografien zurück. Hüppauf befand 1993,
dass uns die Frage nach der Berechtigung dieses Vorgehens nicht
mehr wichtig erscheinen müsse. Aber vielleicht ist angesichts der
Entwicklung unserer Bildmedien seine Ansicht ihrerseits überholt.
Walls Dead Troops Talk, entstanden etwa zur selben Zeit wie Hüppaufs Beitrag, gilt als ein hervorragendes Beispiel für seine Neigung
zur Verschränkung der Medien Fotografie, Malerei und Kino. Man
kann bei Hurley etwas Ähnliches am Werk sehen. In anderen Riesenfotografien, die, teilweise sorgfältig eingefärbt, während des Ersten Weltkriegs für Ausstellungszwecke geschaffen wurden, hat man
»Techniken der humanistischen Historienmalerei, die Reise des
Films auf dem fliegenden Teppich, den Illusionismus des Stereoskops« miteinander wetteifern sehen, und Hurley schloss mit seinem
monumentalen Bild, das ebenfalls »kinematographisch« genannt
wurde, unmittelbar an diese Versuche an. Gewiss sind Zweifel daran, dass wirklich eine stereoskopische Raumillusion mit diesen Aufnahmen verbunden werden könne, berechtigt, und auch die LesHurley maß der Londoner Abzug 6,1 x 4,6 m; vgl. Jolly, Martyn: »Australian
First-World-War Photography. Frank Hurley and Charles Bean«. In: History
of Photography, Jg. 23, Nr. 2, London, 1999, S. 141-148, hier S. 142. Obige Abbildung bezeugt allerdings eher ein Verhältnis von 7 zu 4.
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Wolfgang Brückle
barkeit der voranstürmenden Soldaten auf Hurleys Schlachtenpanorama als eine Folge zweier aufeinander folgender Zeitabschnitte
der Handlung ist mit Vorsicht aufzunehmen. Aber den Vergleich mit
einem Kinoerlebnis lassen der Maßstab und die Choreografie des
noch dazu vielleicht teilweise gestellten Bildes dennoch kaum weniger plausibel erscheinen als bei Wall, so sehr bei jenem auch die
rückwärtige Beleuchtung an der Wirkung Anteil hat und, jedenfalls
zu Beginn, mit einem medienkritischen Anspruch einherging (übrigens zeigte auch Hurley in seiner Londoner Ausstellung farbige
Lichtbilder von der Front, und in den Schauräumen spielte täglich
eine Militärkapelle auf).25 Insofern ist das Argument schon der
Struktur nach bemerkenswert. Denn es stellt eine Vorwegnahme
der medientheoretischen Selbstverortung von Wall dar, wenn auch
unter Abzug von deren geschichtlichen Dimensionen. Es besagt in
der Zuspitzung, dass diesen Fotografien ein ästhetisches Sondermerkmal vermittels der hybriden Einverleibung anderer Ausdrucksmittel zuwächst. Damit hätten beide Künstler ein Medium
›erfunden‹, wie sich mit Krauss sagen ließe, oder wenigstens an seiner Entwicklung Anteil und müssten nicht schon wegen ihrer diesbezüglichen Konzepte als Irrläufer eingeordnet werden.
Das heißt nicht, dass wir beider Künstler Bilder deshalb als gleichermaßen gelungen anzusehen hätten. Hurleys Ausstellungsinszenierung hat in einem unzweideutigeren Sinn als Walls Leuchtkästen
Anteil an einer Gesellschaft des Spektakels.26 Überhaupt sind seine
Kompositionen und die von ein paar gleichgesinnten Zeitgenossen
25 Vgl. Jolly, Martyn: »Composite Propaganda Photographs During the First
World War«. In: History of Photography, Jg. 27, Nr. 2, London, 2003, S.
154-165, hier S. 162 (über die Mediensymbiose der Riesenfotografien).
Jolly vermutet in Teilen der Angriffsszene eine bloße Übung hinter den Linien. Siehe Jolly 1999 (wie Anm. 24), S. 144. Dixon empfindet Hurleys Bild
als »cinematic«, weil die beiden Angriffswellen aufeinander folgende Einstellungen zu zeigen scheinen; das Bild erinnert ihm zufolge auch an Dioramen, Bühnen und Filmkulissen, wie sie nach dem Krieg auf Museumsausstellungen Einfluss hatten. Siehe Dixon, Robert: »Travelling Mass Media
Circus: Frank Hurley’s Synchronized Lecture Entertainment«. In: Nineteenth
Century Theatre and Film, Jg. 33, Nr. 1, Manchester, 2006, S. 60-87, S. 74.
Mehr kuriositätshalber sei erwähnt, dass Migaryou Walls Dead Troops Talk
als eine Parabel auf den Ersten Weltkrieg bezeichnete, allerdings ohne diese Beziehung näher zu erläutern. Siehe Migayrou, Frédéric: Jeff Wall. Simple
indication. Brüssel, 1995, S. 147.
26 Gegen eben diese Gesellschaft des Spektakels richtet sich (unter Übernahme des Begriffs von Guy Debord) der Versuch von Krauss, den Medienbegriff einer Neubewertung zu unterziehen. Siehe Krauss, Rosalind: »Reinventing the Medium«. In: Critical Inquiry, Jg. 25, Nr. 2, Chicago, 1999, S.
289-305, insb. S. 291 u. 301ff., und zuvor andeutungsweise Krauss 1997
(wie Anm. 6), S. 5, 9f. u. 20.
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Bilder, die nichts zeigen
wohl eher ein ästhetischer Fehlschlag gerade wegen der großen
künstlerischen Geste, die in ihnen zum Ausdruck kommt: wegen ihrer umstandslosen Fortsetzung von Bildanordnungen des 19. Jahrhunderts und ihres Wetteiferns mit dem theatralischen Massenschauspiel. Sie kommen insofern Meissonier sicher näher als Wall,
auch wenn man, mit etwas gutem Willen, in der willkürlichen Aufreihung zweier Ansichten desselben Schützengrabens auf unserem
Beispiel (worin man einen Anhaltspunkt für dessen ›kinematografische‹ Wirkung gesehen hat) einen auf die Künstlichkeit der gesamten Darstellung hinweisenden Fingerzeig erkennen könnte: Wenn
man so will, haben wir hier einen Ansatzpunkt für die Offenlegung
eines inszenierten Spuks oder, mit Rücksicht auf Walls Dead Troops
Talk gesprochen, einer ›Vision‹. Diese Auslegung wäre wohl kaum in
Hurleys Sinn gewesen, und bisher ist auch niemand sonst auf sie
verfallen. Trotzdem muss man fragen, wieso auch sein Bild nicht
wirkt wie eine Fotografie. Eine Antwort darauf muss die Eigenschaften einbeziehen, die wir dem Medium zuzuschreiben gewohnt sind,
also seine indexikalische Verbindung mit der Wirklichkeit. Barthes
verfocht ein besonderes Verhältnis des Betrachters zu fotografischen Bildern unter Hinweis darauf, dass wirklich gelebt habe, wer
darauf zu sehen ist, und Peter Geimer sagte unter Berufung auf ihn
in einem Aufsatz über Bilder, die man nicht zeigt (auf diesen Titel
spiele ich in meinem eigenen an), die gelegentliche Unterdrückung
solcher Bilder in der Presseberichterstattung sei auf das von den
Verantwortlichen vorausgesetzte Bewusstsein des Publikums davon,
dass die Menschen wirklich gelebt haben, zurückzuführen.27 Wenn
das aber gilt, wenn also die Fähigkeit der Fotografie, einen Abdruck
des wirklich gewesenen Lebens zu erzeugen, den Skandal und den
Wert der Bilder darstellt, dann müsste das grundsätzlich auch für
Hurleys Kompositionen gelten. Offenkundig hat er in seine Bilder
eingegriffen. Aber die Bestandteile seiner großflächigen Werke sind
fotografisch entstanden und zeigen etwas, das wirklich gewesen ist:
nicht in dieser Zusammenstellung, nicht im selben Augenblick, aber
immerhin in seinen Teilen, von dramatischen Beleuchtungseffekten
einmal abgesehen, und mit eben jener innigen Verbindung zwischen
Bild und Referent, die der Fotografie in den Augen von ontologisch
argumentierenden Befürwortern des Mediums ihre Sonderstellung
verschaffen. Warum, so müssen wir also fragen, haben die Solda27 Vgl. Geimer, Peter: »Bilder, die man nicht zeigt«. In: Derenthal, Ludger;
Ruelfs, Esther; Sykora, Katharina (Hg.): Fotografische Leidenschaften. Marburg, 2006, S. 245-257, hier S. 254 u. passim. Auch Hurley sah sich, passend zu Geimers Ausführungen, dem im Übrigen damals für die gesamte
Bildberichterstattung geltenden Verbot einer fotografischen Abbildung von
Gefallenen aus den eigenen Reihen ausgesetzt; vgl. Millar 1984 (wie Anm.
21), S. 52.
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ten, von denen die Hälfte die Schlacht von Ypern nicht überlebt haben mag, nicht dieselbe Faszination für ihre Betrachter wie die fotografischen Bilder, in denen Barthes eine ›Realpräsenz‹ vermittelt findet? Offenbar schafft der indexikalische Charakter der Fotografie allein keine ausreichende Grundlage für ihren ästhetischen Realitätseffekt. Nehmen wir versuchsweise an, Hurleys Schlachtenszene
gründe nur auf ein Negativ: Wir würden sie mit völlig anderen Augen sehen. Wenn wir das voraussetzen, hat die große oder kleine
Wirkung ebenso viel mit der Integrität eines fotografischen Bildes zu
tun wie mit der Referenzialität jener einzelnen Bestandteile, die uns
vor allem gefangen nehmen. Ausschlaggebend wäre dann nicht die
Person, die gelebt hat, sondern der Moment im Ganzen, insofern er
gewesen ist. Man könnte hinzufügen: nicht eine erratische Präsenz
des versprengten Augenblicks, sondern dessen Verbindung mit einer kontinuierlichen Geschichte, die, wenn auch undurchsichtig,
bis in die Gegenwart des Betrachters reicht. Kracauers Behauptung,
die Fotografie enthülle den fragmentarischen Charakter der Realität, ist vor diesem Hintergrund als irreführend anzusehen. Es ist
auf dieser Grundlage auch nicht mehr ganz leicht, zwischen Studium und Punctum noch zu unterscheiden: Krauss ›studiert‹ das
Dessauer Bild, beruft sich aber auf dessen durch ein Punctum abgesicherte Autorität. Und Barthes steuert vielleicht selbst auf die
Überlagerung von Studium und Punctum zu, wenn er die epische
Dehnung des Moments auf der Fotografie eines Jungen, von Barthes selbst durch eine Frage nach dessen späterem Verbleib hervorgerufen, mit dem Ausruf quittiert: »Welch ein Roman!«28 Ist diese
Fotografie nicht ›geschwätzig‹, wenn sie ein Roman ist? Sie ist es
nicht im Sinne eines inszenierten Narrativs, wohl aber mit Rücksicht auf die Einladung, sie als Fragment eines größeren Zusammenhangs zu betrachten.
Anscheinend können wir daraus schließen, dass nicht das
Punctum allein den Authentizitätserweis für die Gesamtdarstellung
gibt, also deren Theatralik entgegenwirkt oder den Verdacht, sie
könnten inszeniert sein, unterläuft. Vielmehr müssen wir annehmen, dass umgekehrt die historische Integrität der Gesamtdarstellung für die Authentifizierung des Bildes sorgt, in der wir nur auf
dieser Grundlage nach dem vielberufenen Funken Zufall zu suchen
geneigt sind (ungefähr so scheint es Krauss angesichts des Dessauer Bildes ergangen zu sein). Deshalb halten wir nicht in Baudelaires Szene aus dem Irakkrieg danach Ausschau, obwohl die Zu28 Barthes 1985 (wie Anm. 5), S. 95. Es ist leicht einsichtig, dass er das ›Romanhafte‹ nicht als zwangsläufig mit der literarischen Gattung verbunden
sieht. Barthes betont diese Voraussetzung im Zusammenhang mit seiner
Untersuchung von Eisenstein-Einzelkadern. Siehe Barthes 1990 (wie Anm.
7), S. 64.
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Bilder, die nichts zeigen
Abb. 6 und 7: Alexander Gardner, Home of a Rebel Sharpshooter,
1863 (links) und Eric Baudelaire, The Dreadful Details (Detail),
2006 (rechts)
sammenstellung der Figuren auf den ersten Blick allemal so seltsam wirkt wie etwa Wessings Nicaragua-Schnappschuss: Sie würde
uns verblüffen, wenn wir in die Integrität der Fotografie Vertrauen
setzen würden, aber sie dient hier umgekehrt der Zerrüttung dieser
Integrität. Unsere Unlust, nach diesem Zufall als einem Ausweis der
Wirklichkeit in den überarbeiteten Fotografien von Hurley und Wall
zu suchen, stellt eine Bestätigung desselben Sachverhalts dar. Barthes mystifiziert in gewisser Hinsicht sein persönliches Verhältnis
zur Fotografie, weil er der Tatsache entkommen will, dass wir uns
über unser Verständnis von der Wirklichkeitsgemäßheit der Bilder
in einem fortwährenden Diskurs verständigen. Auch Hurleys Bilder
wurden ihm ausgesetzt, als sich Besucher seiner Londoner Ausstellung darüber beschwerten, dass einige offenkundig gestellte Aufnahmen ihr Vertrauen in alle anderen damals gezeigten Fotografien
zersetzten.29 Zweifellos befand sich unser Beispiel unter den Bildern, an denen sie Anstoß nahmen, und vor Baudelaires Dreadful
Details mögen Betrachter ähnliche Bemerkungen machen. Aber wie
vermutlich schon 1918 in London, so ist auch in seinem Fall der
Kollateralschaden begrenzt. Denn durch seinen Angriff auf die allgemeine Floskelhaftigkeit unseres Bilderhaushalts wird unser Verhältnis zu seinen Vorbildern nicht grundsätzlich verändert. Nehmen
wir Alexander Gardners Fotografien von den Grausamkeiten des
amerikanischen Bürgerkriegs (Abb. 6). Sie behalten alle wirklichkeitsstiftenden Merkmale auch nach der Aneignung durch Baudelaire (Abb. 7). Dass auch sie zum Teil arrangiert waren, indem
Gardner und sein Mitarbeiter Timothy O’Sullivan Leichen hier- und
dorthin verlagerten, ändert an dieser Tatsache nicht viel. Der tote,
in einem Schützenstand liegende Konföderierte ist in Wahrheit an
29 Siehe den am 25. Mai 1918 auf der Grundlage von Besucherklagen verfassten Bericht von Capt. John Linton Treloar, zit. in Jolly 2003 (wie Anm. 25),
S. 165.
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anderer Stelle gefallen und vom Fotografen an einen für die Aufnahme vorteilhafteren Ort des Schlachtfelds getragen worden. Diese
Vorgeschichte gehört zu dem Bild, wie es sich uns heute darstellt:
auch dies ein Roman, wenngleich nicht ganz derselbe, den Gardner
in seiner Bildlegende erzählt.30 Er zeugt davon, dass, der Inszenierung zum Trotz, die fotografische Referentialität noch Wirkung entfalten kann. Was bleibt vor diesem Hintergrund von Wall, was bleibt
von Baudelaire? Keiner von beiden ist bestrebt, die dokumentarische Fotografie überflüssig zu machen. Beider Werke können, insofern sie als Satire zu lesen sind, wohl auch nur als einmalige Stellungnahmen erfolgreich sein, wobei Walls Beitrag die größere Komplexität durch seinen Bezug auf ein Gesamtwerk, das verschiedene
Grade von Inszenierung durchläuft, entfaltet. Krauss bleibt von diesem Beziehungsgeflecht unbeeindruckt, weil der Mediengebrauch
durch diese Unterschiede nicht beeinflusst wird, während sich für
Fried die Frage, ob sich die Zurichtung von Fotografie zum großen
Historienbild lohnt, wegen seiner grundsätzlichen Befürwortung von
antitheatralischen Formeln letztlich erübrigt. Die voraussetzungsreichen Urteile, die sich daraus ergeben, müssen uns hier nicht
weiter beschäftigen; stattdessen wähle ich am Ende dieser skizzenhaften Erörterung des Inszenierungsproblems einen anderen Gesichtspunkt: Oft wird behauptet, die Fotografie habe ihren medienontologischen Kredit durch die Möglichkeit der digitalen Überarbeitung verspielt. Wall und Baudelaire könnten dafür als Zeugen angeführt werden; Hurley wäre in diesem Sinne ihr Lehrherr. Aber man
kann auch umgekehrt sagen, dass ihre Arbeiten in medienästhetischen Debatten überhaupt nur deshalb der Rede wert sind, weil wir
zwar wissen, dass Fotografien inszeniert und konstruiert werden
können, aber dass die Fotografie, über fließende Grenzen hinweg,
auch anders kann.
30 Die Aufnahme (Abb. 6) erscheint im Sketchbook als Nr. 41. Vgl. Young, Elizabeth: »Verbal Battlefields«. In: Young, Elizabeth; Lee, Anthony W.: On
Alexander Gardner’s »Photographic Sketchbook« of the Civil War. Berkeley,
Los Angeles u. London, 2007, S. 52-106, insb. S. 54. Das Bild wird mit
Rücksicht auf einen Ausstellungskatalog von 1863 auch Timothy O’Sullivan
zugeschrieben. Vgl. Frassanito, William A.: Gettysburg. A Journey in Time.
New York, 1975, S. 192. Zaoui behauptet von Baudelaires Dreadful Details,
dass darin Klischees in Ikonen verwandelt würden. Siehe Zaoui 2006 (wie
Anm. 4), S. 48. Beide Begriffe sind schlecht gewählt.
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