43
2017
Itinera Beiheft zur SZG Supplément de la RSH Supplemento della RSS
Museen als Orte geschichtspolitischer
Verhandlungen. Ethnografische
und historische Museen im Wandel
Lieux des négociations politiques
de l’histoire. L’évolution des musées
d’ethnographie et d’histoire
Herausgegeben von / édité par
Andrea Brait / Anja Früh
Itinera 43 / 2017
Beiheft zur Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte
Supplément de la Revue Suisse d’Histoire
Supplemento della Rivista Storica Svizzera
Herausgeber / Editeur / Editore
www.sgg-ssh.ch
Redaktion / Rédaction / Redazione
© 2017 Schwabe Verlag Basel – Separatum – Open Access erst ab 19.6.2020 gestattet
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développement, Genève, amalia.ribi@graduateinstitute.ch
Vorstand der SGG / Comité de la SSH / Comitato della SSS
Dr. Sacha Zala, Bern, Präsident; Prof. Dr. Bernard Andenmatten, Lausanne, vice-président;
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Villettemattstrasse 9, 3007 Bern, generalsekretariat@sgg-ssh.ch
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Publiziert mit Unterstützung von / Publié avec le soution de / Publicato con il sostegno di
SAGW
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Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften / Académie suisse des sciences humaines et sociales
Universiät Freiburg / Université de Fribourg
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Abbildung Umschlag / Photo de couverture: Depot du Centre de Conservation et
de Ressources du Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée, Marseille.
© Yves Inchierman, MuCEM, prise du 18 décembre 2013
© 2017 Schwabe Verlag Basel
Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz / Basel
Printed in Switzerland
ISBN 978-3-7965-3647-2
www.schwabeverlag.ch
Anja Früh / Andrea Brait:
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
Laurent Dedryvère:
Museale Initiativen im deutschnationalen Milieu Österreichs
am Beispiel des Vereins «Deutsche Heimat» (1905–1914) . . . . . . . . . . .
13
Christian Ganzer:
«Bedingungslose Hingabe an die sowjetische Heimat».
Identitätsformierung im Museum der Verteidigung
der Brester Festung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
Christian Sammer / Lioba Thaut:
Im Mittelpunkt steht der Mensch. Zur Geschichtspolitik
des Deutschen Hygiene-Museums in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
Christina Späti:
Die Schweiz und der Holocaust: Rezeption, Erinnerung und
museale Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
Andrea Brait:
Debates about National Museums. About a Completed Project
in Switzerland, a not yet Realized Project in Austria and
a Failed Attempt in France . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
Audrey Doyen / Serge Reubi:
Les réseaux de donateurs et de marchands des musées
ethnographiques suisses dans les processus d’acquisition:
définir le savant et construire la ville . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
Fabrice Grognet:
Le Musée de l’Homme et ses deux vies. Retours sur
une relation qui unit musée et politique en France . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
Franka Schneider:
Handgreifliche Geschichte. Dingpolitiken im Museum
für deutsche Volkskunde Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
Anja Früh:
Europäisierung(en) im musealen Feld. Zur Transformation
der ethnografischen Museen in Basel, Berlin und Marseille
(2000–2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
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Inhaltsverzeichnis / Sommaire
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Bjarne Rogan:
Between Politics of Memory and Politics of Art.
The Making of a New National Museum in France . . . . . . . . . . . . . . . . .
157
English Summaries . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173
Autorinnen und Autoren / Auteures et auteurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
179
Handgreifliche Geschichte. Dingpolitiken im Museum
für deutsche Volkskunde Berlin
Volkskundliche Museen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren veritable
Orte geschichtspolitischer Verhandlungen, insofern sie vergangene materielle Kultur als lebendige Quelle kultureller, nationaler Identität der Gegenwart postulierten
und vor dieser Folie sammelten, aufbewahrten und ausstellten. Geschichtspolitik
war dabei immer auch konkrete Dingpolitik1. In einer weiten Definition von Politik handelte es sich um Entscheidungen, die das Sein von Dingen als volkskundliche Objekte im Museum definierten und festschrieben.2 Mit dieser Definition beschränkte sich Geschichtspolitik im Museum nicht nur auf solche Ausstellungen, in
denen Geschichte präsentiert wurde. Vielmehr zeitigten auch die Praktiken und
Politiken im Depot3 auf einer konkreten Dingebene geschichtspolitische Effekte.
Am Beispiel des volkskundlichen Museums in Berlin4 beschreibt der Aufsatz drei
Formen musealer Dingpolitik im Depot, in der unterschiedliche Dimensionen von
Geschichte und Vergangenheitsbezügen involviert waren: erstens die Kanonisierung volkskundlicher Objekte im Zusammenhang mit der Gründung des Museums
1889; zweitens die Formatierung volkskundlicher Objekte in Inventaren und Katalogen als Form alltäglicher musealer Mikro-Politik; und drittens am Beispiel der
Frage der Bereinigung von Objektbeständen im Zuge der institutionellen ‘völkischen’ Reorganisation des Museums schliesslich jene Politiken, die Objekte als
deutsch/nicht-deutsch definierten.
1
2
3
4
Bruno Latour meinte mit dem Terminus, dass Realpolitik immer auch Dingpolitik, also eine Politik
mit und durch Dinge ist. Bruno Latour, Realpolitik to Dingpolitik, or How to Make Things Public, in:
ders., Peter Weibel (Hg.), Making Things Public: Atmospheres of Democracy, Cambridge 2005, S. 14–
41.
Vgl. auch Annemarie Mol, Ontological Politics. A Word and Some Questions, in: John Law, John
Hassard (Hg.), Actor Network Theory and After, Oxford 1999, S. 74–89.
Zur noch immer ungeschriebenen Geschichte des Depots vgl. York Langenstein, Das Prinzip Ordnung:
Inventarisation und Dokumentation als roter Faden der Museumsarbeit, in: Walter Fugger, Kilian Kreilinger (Hg.), Sammlungsdokumentation. Geschichte, Wege, Beispiele, München/Berlin 2001, S. 9–17.
Zur Geschichte des Museums vgl. Ulrich Steinmann, Die Entwicklung des Museums für Volkskunde
von 1889 bis 1964, in: Staatliche Museen zu Berlin (Hg.), 75 Jahre Museum für Volkskunde zu Berlin 1889–1864, Berlin 1964, S. 7–47; Erika Karasek, Ein Jahrhundert Engagement für die Volkskunde
1889–1989, in: Staatliche Museen zu Berlin (Hg.), Kleidung zwischen Tracht und Mode. Aus der Geschichte des Museums für Volkskunde 1889–1989, Berlin 1989, S. 5–29.
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Franka Schneider
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Franka Schneider
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«Handgreifliche Volkskunde», oder: Die Kanonisierung ‘volkskundlicher’
Dinge
Allgemein gelten Museen heute als Institutionen der Vergegenständlichung von Geschichte par excellence. Sie geben ihr «Form und Präsenz» und stellen «der Öffentlichkeit einen Ort und einen Ritus bereit, der es möglich macht, der Vergangenheit
zu begegnen».5 Die Vergangenheit, die hier gespeichert und präsentiert wird, ist jedoch immer auch eine disziplinär gerahmte Erzählung, etwa als Natur-, Technik-,
Kunst- oder Kulturgeschichte. Museen kanonisieren dabei historische Erzählungen
auf bestimmte Weise; und sie generieren dabei immer auch ein «Kanonisches zweiter Ordnung»6. Dieses Kanonische zweiter Ordnung begründet und legitimiert Museumstypen. Es bestimmt jenen musealen Klassifikationsprozess, in dem naturgeschichtliche Objekte von kunsthistorischen, kulturgeschichtlichen, technischen und
so weiter geschieden werden7 – ein Prozess, der entscheidet, ob ein Objekt überhaupt Eingang in ein Museum finden kann, und der zugleich die Bedingung und
Fortschreibung kanonischer Ordnung ist. Dieser Prozess der Kanonisierung von
Gegenstandsbereichen und Museumstypen war im 19. Jahrhundert grundlegend für
die Herausbildung des modernen Museums, die sich im Zuge der Ausdifferenzierung der Wissenschaften vollzog.8 Mit musealen Sammlungsordnungen und Zeigeanordnungen wurde dabei immer auch versucht, akademische Disziplinen zu begründen und zu legitimieren oder neue disziplinäre Sichtweisen zu stabilisieren.9
Auch die Gründung des Berliner Museums für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes im Jahre 1889 lässt sich als ein solcher Prozess der
Kanonisierung beschreiben. Denn hier etablierte sich ein neuer Museumstyp – das
volkskundliche Museum oder Heimatmuseum im weitesten Sinne10 –, mit dem sich
eine spezifische Vorstellung und Vergegenständlichung von (Kultur-)Geschichte
verknüpfte und der zugleich die Idee, Dinge als integralen Teil des volkskundlichen
Kanons zu verstehen, besonders beförderte.
5 Dorothea von Hantelmann, Carolin Meister, Einleitung, in: dies. (Hg.), Die Ausstellung. Politik eines
Rituals, Zürich/Berlin 2010, S. 7–18, hier S. 9.
6 Anke te Heesen, Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg 2012, S. 23.
7 Ludmilla Jordanova, Objects of Knowledge: A Historical Perspective on Museums, in: Peter Vergo
(Hg.), The New Museology, London 1989, S. 22–40, hier S. 23.
8 Vgl. Tony Bennett, The Exhibitionary Complex, in: Reesa Greenberg, Bruce W. Fergusion, Sandy
Nairne (Hg.), Thinking about Exhibitions, London/New York 1996, S. 81–112.
9 Siehe auch die Beiträge von Audrey Doyen und Serge Reubi für die Schweiz sowie jene von Frabrice
Grognet und Bjarne Rogan für Frankreich in diesem Band.
10 Vgl. Martin Roth, Heimatmuseum. Zur Geschichte einer deutschen Institution, Berlin 1990, S. 30, 33.
Die überregionale Wirkung der Berliner Museumsgründung einschränkend dagegen: Erika Karasek,
Hintergründe zur Entstehung und Wirkungsweise von Volkskunde- und Heimatmuseen um 1900, in:
Forschungen und Berichte / Staatliche Museen zu Berlin 20/21 (1980), S. 593–599.
129
Dabei ist die Gründung besonders interessant, denn anfänglich war ein eigenständiges Museum nicht geplant. Ursprünglich sollte nur «eine nationale Abteilung
für Trachten und Geräte nach schwedischem Vorbild im Rahmen des Berliner Völkerkundemuseums» entstehen11; die volkskundliche Forschung war als Teil einer
grösseren ethnografischen, integrierten vergleichenden Erforschung nationaler, europäischer und aussereuropäischer Kulturphänomene gedacht.12 Als allerdings das
Berliner Königliche Museum für Völkerkunde im Jahre 1886 eröffnete, reichte der
Platz bereits für die ausserhalb Europas gesammelten Dinge nicht aus. Eine ‘nationale Abteilung’ im Völkerkundemuseum einzurichten, blieb daher ein aussichtsloses Unterfangen.13
Die dann vollzogene Gründung eines eigenständigen volkskundlichen Museums
legitimierten volkskundliche Akteure rhetorisch mit Verweis auf die Leer- und
Fehlstellen bisher bestehender Sammlungs- und Forschungsprogramme.14 Zum
einen wurden bisherige volkskundliche Sammlungen als unvollständig bezeichnet,
da sie sich auf Sagen und Märchen, Lieder und Sprichwörter konzentrierten und
dabei die «handgreifliche Volkskunde» vernachlässigt hätten.15 «Handgreifliche
Volkskunde», diese heute merkwürdig anmutende Formulierung, meinte die systematische Beschäftigung mit handfesten, greifbaren Objekten aus den Bereichen
Siedlung, Haus und Hof, Kleidung (Tracht), Sitte und Brauch, Wirtschaft und Verkehr, Aberglauben und Medizin.
Zum anderen wurde die Gründung des Museums auch mit Verweis auf andere
Disziplinen legitimiert und zugleich die volkskundlichen Sammlungsaktivitäten im
System der Wissenschaften positioniert. Für Rudolf Virchow, Mediziner und MitInitiator des Museums, war die Sammlung von alltäglichen Gegenständen vor der
eigenen Haustür dringend notwendig, weil sie eine bedeutsame Lücke zwischen
11 Heidi Müller, Die Sammlungskonzeption des Museums für Deutsche Volkskunde von der Gründung
1889 bis zum Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch der Berliner Museen 34 (1992), S. 185–194, hier S. 185.
12 Vgl. Dagmar Neuland-Kitzerow, «…denn niemand kann sagen, wo die Kunst beginnt und wo die Arbeit des täglichen Lebens endet». Das Wirken Rudolf Virchows für das «Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes», in: Geraldine Saherwala u.a. (Hg.), Zwischen Charité
und Reichstag. Rudolf Virchow, Mediziner, Sammler, Politiker. Begleitbuch zur Ausstellung «Virchows Zellen. Zeugnisse eines engagierten Gelehrtenlebens in Berlin», Berliner Medizinhistorisches
Museum der Charité (29. August – 27. Oktober 2002), Berlin 2002, S. 113–122, hier S. 114f.
13 Vgl. Steinmann, Entwicklung, S. 9.; Müller, Sammlungskonzeption, S. 185.; Neuland-Kitzerow, Virchow, S. 114.
14 Folgende Überlegungen basieren auf Arbeiten im DFG-Projekt „Volkskunde in Metropole“ unter der
Leitung von Wolfgang Kaschuba und Leonore Scholze-Irrlitz. Vgl. Franka Schneider, Sabine Imeri,
Kanon revisited: Potenziale und Grenzen wissenspraxeologischer Ansätze für die historische Analyse
volkskundlichen Wissens, Berlin 2013, unveröffentlichtes Manuskript; sowie Sabine Imeri, Wissenschaft in Netzwerken. Volkskunde in Berlin um 1900, Berlin 2015, unveröffentlichtes Manuskript.
15 Ulrich Jahn, Das neubegründete Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes zu Berlin, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 19 (1889), S. 334–343,
hier S. 334, 335.
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Handgreifliche Geschichte
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Franka Schneider
Ethnologie, Archäologie und Ur- und Frühgeschichte einerseits und Kunstgeschichte andererseits füllte. Während sich zum Beispiel die etablierte Kunstgeschichte vorrangig mit den bildenden Künsten als höchster Leistung menschlicher
Kulturtätigkeit beschäftigte, ging es für Virchow um ein besseres Verständnis
«menschlicher Kulturentwicklung». Es gelte daher auch, die «Geschichte der Arbeit“ zu erforschen, «denn niemand kann sagen, wo die Kunst beginnt und wo die
Arbeit des täglichen Lebens endet». Vor allem die ethnologischen und prähistorischen Forschungen hätten für die frühen Kulturstufen aufgezeigt, dass «aus der Arbeit des Tages allmählich die höheren Aufgaben eines idealen Strebens hervorwachsen». Die volkskundliche Sammlung sollte sich daher jenen «vorgeschichtliche[n]
Überlieferungen» widmen, die in das «Leben der Kulturvölker» hinübergezogen
waren. Ihre Objekte lieferten «die Fäden», an welche sich «die Zusammenhänge
von jetzt und vordem in unmittelbarer Verbindung anreihen» liessen.16 Virchow
knüpfte hier an ein kulturevolutionistisches (Geschichts-)Modell an, das vorgeschichtliche, volks- und völkerkundliche Perspektiven vereinte. Während sich in
diesem Modell die (west-)europäischen Gesellschaften selbst als ‘Zivilisationen’
mit einem enormen materiellen Fortschritt entwarfen, den etwa dann die Weltausstellungen17 demonstrierten, fungierten prähistorische und ethnologische Objekte
als Zeugnisse und Repräsentationen der Kulturstufe der ‘Wildheit’. Volkskundliche
Objekte wiederum – obgleich in der Gegenwart aufgefunden und aufgezeichnet –
wurden als Spuren der unmittelbaren Vergangenheit der europäischen Zivilisationen gedeutet. Von volkskundlichem Interesse waren dabei weniger ‘tote’ Reste,
Relikte, Überbleibsel – also das Aus- und Abgestorbene –, sondern vor allem
«Überlebsel»18. Damit waren kulturelle Handlungen, Sitten und Gebräuche vergangener Kulturstufen gemeint, welche durch Gewohnheit in die Gegenwart – in die
europäische Zivilisation – gelangten, deren Sinn sich aber hier nicht mehr erschloss
und die deshalb beispielsweise als «Aberglaube» galten. Gegenstände waren dabei
nicht nur Beweis für solche Überlebsel kultureller Handlungen, vielmehr stimulierten sie diese.19 Zum volkskundlich interessanten Objekt wurde dabei vor allem das,
16 Rudolf Virchow, Das Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes in Berlin, in: Die Gartenlaube Nr. 26 (1889), S. 435–436, hier S. 436.
17 Vgl. Martin Wörner, Vergnügen und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851–1900,
Münster 1999.
18 «Überlebsel» ist eine direkte Übersetzung von survival, der berühmten Formel des Ethnologen E.B.
Tylor: «Survival in Culture [...] even now sets up in our midst primaeval monuments of barbaric
thought and life.» Edward B. Tylor, The Collected Works of Edward Burnett Tylor, Bd. 3/4: Primitive
Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art, and Custom
[1871], London/Tokio 1994, hier Bd. 3, S. 19. Zur hier involvierten kulturevolutionistischen Zeitkonzeption, die auch für alle nachfolgenden ethnologischen Strömungen massgeblich blieb, vgl. Johannes
Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes Its Object, New York 1983.
19 Gottfried Korff, Volkskunst und Primitivismus. Bemerkungen zu einer kulturellen Wahrnehmungsform um 1900, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 48 (1997), S. 373–394, hier S. 379.
131
was sich über ein Noch definieren liess, was aber unweigerlich verschwinden, untergehen oder vernichtet würde.20 Ganz im wörtlichen Sinne Konrad Köstlins war
Volkskunde hier «Todansager»21, der das vermeintliche ‘Absterben’ eines Objekts
konstatierte. Der gesellschaftliche Wandel wurde dabei nicht selten als Verlustgeschichte mit rhetorisch konventionalisierten Mustern der Rückschau22 erzählt.
Diese Rede vom Verlust wurde dabei zumeist mit «empiristischen Mahnrufen»23
verbunden, die moralisch an die Rettung von Objekten appellierten und die Volkskunde als Rettungswissenschaft legitimierten. «Handgreifliche Volkskunde» hiess
dann neben dem Wortsinn des Anfassens und Be-Greifens, auch «handgreiflich
werden» im Sinne eines «Eingreifens», das dem «Verschwinden» von Dingen entgegensteuerte.24 Die zu sammelnden und zu rettenden Objekte wurden dabei als
Überlebsel betrachtet und häufig nach ihrem Status in Gebrauchskontexten unterschieden: Trachten zum Beispiel waren bereits verschwunden, also ‘abgestorben’
und wurden nur noch in Truhen aufgespürt, aber ihre Gebrauchskontexte waren
noch erfahrbar. Oder sie waren ‘im Aussterben’, aber noch nicht ganz verschwunden. Oder sie waren noch lebendig, noch im Gebrauch. Gerade in dieser Rhetorik
des «Noch» wurde die Geschichtserzählung, welche die Vergangenheit als Verlust
entwarf, kulturevolutionistisch variiert. Verkürzt formuliert ging es nicht nur darum,
durch Sammlungen und Ausstellungen Geschichte lebendig werden zu lassen.25
Vielmehr ragte Vergangenheit in die Gegenwart. Es wurde lebendige Geschichte
gesammelt, die aber – so zeigte es das «Noch» an – verschwinden würde.
20 Vgl. zum Beispiel die Mittheilungen aus dem Museum für deutschen Volkstrachten und Erzeugnisse
des Hausgewerbes zu Berlin 1/1 (1897), S. 3.
21 Konrad Köstlin, Heimat und Geschwindigkeit oder: die wohlfeile Rede von der Kompensation, in:
Siegfried Becker, Martin Scharfe (Hg.), Volkskundliche Tableaus. Eine Festschrift für Martin Scharfe
zum 65. Geburtstag von Weggefährten, Freunden und Schülern, Münster/München 2001, S. 29–42,
hier S. 31; vgl. dazu auch Anja Mede-Schelenz, Musealisierung, Volkskultur und Moderne um 1900.
Die Sammlung zur ländlichen Kleidung des Vereins für sächsische Volkskunde, Leipzig 2013, besonders S. 11–15.
22 Diese Form der Rückschau nannte Raymond Williams «Pastorale», vgl. Raymond Williams, The country and the city, London 1973.
23 Bernd Weiler, Die Ordnung des Fortschritts. Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der «jungen» Anthropologie, Bielefeld 2006, S. 87.
24 «Eingreifen» meinte auch die aktive Wiederbelebung von Objekten oder ihrer Gebrauchsweisen, wie
etwa durch Trachtenerhaltungsvereine. Vgl. zu dieser Differenzierung: Schneider, Imeri, Kanon revisited, S. 3.
25 Vgl. zu dieser Vorstellung, lebendige Bilder im Museum zu zeigen, Stephen Bann, Die Kleidung Klios.
Museale Darstellung von Geschichte im 19. Jahrhundert, in: Ulrich Borsdorf, Heinrich Theodor Grütter (Hg.), Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt/New York 1999, S. 303–
318, hier S. 310. Er verweist darauf, dass es erst seit Ende des 19. Jahrhunderts darum ging, auf diese
Weise ein Geschichtsbewusstsein zu erzeugen (vgl. ebd., S. 318).
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Handgreifliche Geschichte
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Politiken des Speicherns: Objektgeschichte als unbestreitbare Tatsache
Die Kategorisierung von Objekten als Überlebsel, die noch oder nicht mehr in Gebrauch waren, war für das Sammeln handlungsanleitend und strukturierte auch die
Interpretation des vor Ort Vorgefundenen. Insbesondere bei der Aufstellung von
Entwicklungstypologien scheint dies unerlässlich gewesen zu sein. Dabei ging es
immer darum, Objekte, die gemeinsam in der Gegenwart aufgefunden wurden, so
zu verzeitlichen, dass sie in unterschiedlichen Zeiten in der Vergangenheit angesiedelt werden konnten. Doch diese Form der Verzeitlichung entlang des «Noch»
wurde beim Inventarisieren und Katalogisieren von Sammlungsobjekten selten
abgebildet.
Beispielhaft lässt sich dies in einem Vergleich von Text und Inventarbucheintrag aufzeigen. In seinem Text «Volkstümliches aus dem Hümmling» im ersten
Mitteilungsheft des Museums berichtet der Maler Eugen Bracht ausführlich von
einer Reise in den Hümmling, zu dieser Zeit zur preussischen Provinz Hannover
gehörend, und seiner Untersuchung des «eigenartigen Kopfputz[es] der Frauen und
Mädchen»26 jener Gegend. Hierbei erkannte er verschiedene Haubenformen, die er
nach Herstellungs- und Tragezeitpunkt sowie mit Blick auf das Alter der Trägerinnen verzeitlichte und in einer Entwickelungsreihe von Typen anordnete: Beginnend
bei einem Samthut, den er auf 90 Jahre alt schätzte. Dieser sei längst ausgestorben,
wurde aber vermutlich noch bis 1847/48 getragen. Nachgefolgt sei eine Haubenform, die nur noch von der älteren Generation getragen würde und die daher vor
etwa 30 bis 40 Jahren (um 1850/60) üblich gewesen sei. Abgelöst worden sei diese
wiederum von der aktuellen, noch gültigen Haubenmode, die zwar «alterthümlich»
wirke, jedoch «genau nach der 1895er Mode von einer Ortsputzmacherin
hergestellt»27 würde.
Fünf der im Text beschriebenen Hauben stiftete Bracht dem Berliner Volkskundemuseum. Sie fanden im August 1896 Eingang in das Inventarbuch28. Der Samthut
wird hier als «Braut- resp. Frauenhut von Samt 1820/1830» aufgeführt, während
die nachfolgenden Hauben alle als «jetzige Tracht» gekennzeichnet sind. Verschwunden aus diesen zeitlichen Angaben sind die Ausführungen Brachts zur Evo26 Eugen Bracht, Volkstümliches aus dem Hümmling, in: Mittheilungen aus dem Museum für deutsche
Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes zu Berlin 1 (1897), S. 7–18, hier S. 9.
27 Bracht, Volkstümliches, S. 10. Bemerkenswert ist, dass dieser Text Tracht als Phänomen der Mode zu
beschreiben versucht und damit von gängigen Erzählweisen abweicht, vgl. Lioba Keller-Drescher,
«Tracht» als Denkstil. Zum Wissensmodus volkskundlicher Kleidungsforschung, in: Gudrun König,
Gabriele Mentges, Michael Müller (Hg.), Die Wissenschaften der Mode, Bielefeld 2015, S. 169–184.
28 Inventarbuch des Museums für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes mit dem
Titel „Eingangsbuch (E.B.) 1890–1903 (Nachtragsv. 1904). Angelegt von H. Sökeland, bzw. Kustos
Höft“, S. 28. Ich danke dem Museum für Europäische Kulturen in Berlin, insbesondere Elisabeth Tietmeyer und Dagmar Neuland-Kitzerow, für die grosszügige Unterstützung bei der Recherche in den
Inventaren des Museums.
Handgreifliche Geschichte
133
lution der Hauben. Bei letzteren verwischt die Angabe «jetzige Tracht» gänzlich
den Unterschied zwischen dem frühsten und gegenwärtigen Herstellungs- beziehungsweise Tragezeitpunkt, den Bracht versuchte, genauer festzulegen.
Deutlich wird hier eine Transformation, die sich als Blackboxing auffassen lässt.
Blackboxing ist nach Bruno Latour in der Wissenschaftssoziologie ein Ausdruck für
Verstehen wir Verzeichnen als wissenschaftliche und technische Arbeit, in der unbestreitbare Tatsachen geschaffen werden, so ist deren Ergebnis der Eintrag in
einem Inventarbuch beziehungsweise Katalog. In den Einträgen ist zumeist der
komplizierte Prozess des Verzeichnens nicht mehr sichtbar, bei dem die Herkunft
eines Objektes bestimmt, sich auf seine Beschreibung festgelegt oder eine passende
Klassifikation getroffen werden musste. Verzeichnen ist daher keineswegs ein neutraler Akt, sondern politisch, insofern in jeder auszufüllenden Spalte eine Entscheidung für eine Beschreibung getroffen wird. Kontroversen werden geschlossen,30
weil streitbare Auslegungen und Bedeutungszuschreibungen des Vorgefundenen
nicht mehr sichtbar sind.
Eine Haube konnte im Wissensformat31 Inventarbuch folglich nicht eine Streitsache, sondern nur eine unbestreitbare Tatsache sein. Die Abwägungen und Überlegungen, die Bracht in seinem Text vornahm, konnten nicht übertragen werden.
Schliesslich konnte eine Haube nur in ein «Objektzeichen»32 übersetzt werden,
indem Informationen reduziert wurden. Somit mussten unklare Herstellungs- oder
Tragezeitpunkte vereindeutigt werden. Weder konnten angenommene Entwick29 Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main 2002 [1999], S. 373. Wesentliche Grundlage ist die konzeptionelle Verknüpfung von
Dingen, Tatsachen und Streitsachen, wobei Latour Dinge als Streitsachen auffasst (mit Rekurs auf das
lat. res = Ding/Streitsache), die über das Blackboxing zu Tatsachen, zu Objekten werden. Vgl. Ders.,
Realpolitik to Dingpolitik; sowie ders., Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt am
Main 2010 [2005], S. 199.
30 Vgl. zu einer solchen Schliessung einer Kontroverse durch museale Formate: Chris Wingfield, A case
re-opened: the science and folklore of a ‘Witch’s Ladder’, in: Journal of Material Culture 15/3 (2010),
S. 302–322.
31 Vgl. zum Wissensformat: Jenni Boie, Antonia Davidovic-Walther, Carsten Drieschner, Michaela
Fenske, Silke Göttsch, Wolfgang Kaschuba, Lioba Keller-Drescher, Franka Schneider, DFG-Forschungsverbund «Volkskundliches Wissen und gesellschaftlicher Wissenstransfer. Zur Produktion kultureller Wissensformate im 20. Jahrhundert», in: Michael Simon, Thomas Hengartner, Timo Heimerdinger (Hg.), Bilder, Bücher, Bytes. Zur Medialität des Alltags. 36. Kongress der Deutschen
Gesellschaft für Volkskunde in Mainz, 23. bis 26. September 2007, Münster 2009, S. 183–199.
32 Karin Knorr Cetina, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt am Main 2002, S. 45.
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«das Unsichtbarmachen wissenschaftlicher und technischer Arbeit durch ihren eigenen Erfolg […]. Wenn eine Maschine reibungslos läuft, wenn eine Tatsache feststeht,
braucht nur noch auf Input und Output geachtet zu werden, nicht mehr auf ihre interne Komplexität. Daher das Paradox: Je erfolgreicher Wissenschaft und Technik
sind, desto undurchsichtiger und dunkler werden sie.»29
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Franka Schneider
lungstypologien noch die diesen zugrundeliegende Geschichtsauffassungen Eingang finden. Denn Inventare hatten zuallererst die verwaltungsrechtliche Funktion
des Besitznachweises und übernahmen die Aufgabe eines unveränderlichen
«Archivbeleges»33. Das Format verlangte das einzelne, spezifische Kleidungsstück
in ein Sammlungsobjekt zu transformieren, das sich durch objektive Eigenschaften
auszeichnet und darin allen anderen Objekten der Sammlung gleicht. Die Rubriken
waren daher so allgemeingültig, dass alle Objekte darin Platz fanden. Hier wurde
erst das Museumsobjekt im eigentlichen Sinne geschaffen, das durch die Einordnung in den übrigen Sammlungsbestand definiert und mittels Inventar, Katalog und
Etiketten stabilisiert wurde.34
Geschichtspolitik durch Inventar- und Katalogeinträge meint daher vor allem
Standardisierung35: Als Infrastrukturen des kulturellen Gedächtnisses36 speichern
Inventare und Kataloge eine von Interaktionen, Zirkulationen und Verflechtungen,
von Gebrauchsweisen und Entwicklungen bereinigte Geschichte des Museumsobjekts. Diese wird vielmehr festgelegt auf eine Zeit und eine Herkunft, wobei das
Museum als letzte biografische Station eines Objekts die massgebliche Orientierung für die Einträge gibt.37 Seine Geschichte wird nicht narrativ erzählt, sondern
durch Regeln formatiert, die die «Gleichförmigkeit, Kontinuität und Objektivität»38
musealen Objektwissens über verschiedene zeitliche und räumliche Kontexte hinweg absichern helfen.
Deutsche Dinge: Dingpolitiken des Eigenen
Die museale Zurichtung von Objekten wird überdies durch das auf der konkreten
Ding-Ebene operierende Klassifikationssystem vollzogen. Es inkorporiert dabei
einzelne Stücke in die Sammlung und ordnet sie in den Gesamtbestand ein. Dieses
33 Friedrich Waidacher, Museologische Grundlagen der Objektdokumentation, Staatliche Museen zu Berlin 1999, S. 19.
34 Vgl. Franka Schneider, Tracht als Karteikarte. Zur relationalen Materialität von Museumsdingen, in:
Karl Braun, Claus-Marco Dieterich, Angela Treiber (Hg.), Materialisierung von Kultur. Diskurse,
Dinge, Praktiken, Würzburg 2015, S. 527–533. Zu Rolle von Etiketten vgl. Anke te Heesen, Beschriftungsszenen. Über Etiketten und ihre Bedeutung, in: Dies., Bernhard Tschofen, Karlheinz Wiegmann
(Hg.), Wortschatz. Vom Sammeln und Finden der Wörter, Tübingen 2008, S. 107–114.
35 Vgl. Geoffrey C. Bowker, Susan Leigh Star, Sorting Things Out. Classification and Its Consequenses,
Cambridge, Mass./London 1999.
36 Vgl. Wolfgang Ernst, Im Namen von Geschichte: Sammeln – Speicher – Er/Zählen. Infrastrukturelle
Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses, München 2003.
37 Chris Wingfield, Reassembling the London Missionary Society Collection: Experimenting with Symmetrical Antrhopology and Archeological Sensibility, in: Rodney Harrison, Sarah Byrne, Anne Clarke
(Hg.), Reassembling the Collection. Ethnographic Museums and Indigenous Agency, Santa Fe 2013,
S. 61–87, hier S. 75, 83.
38 Daniela Döring, Das verrückte Inventar. Über ver/schränkte Wissensräume im Museum, in: Trajekte.
Zeitschrift des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin 20 (2010), S. 7–10, hier S. 10.
135
«grouping» ist ein zentraler Aspekt musealen Sammelns, bei dem ein Ding mit anderen Objekten in Beziehung gesetzt wird.39 Aus einer Ansammlung von Objekten
wird dadurch eine Sammlung; ohne ein solches Ordnungssystem würde es sich nur
um eine Anhäufung von Dingen handeln, die durch die Existenz im selben Raum
ihr Gemeinsames findet. Die Klassifikation ist die massgebliche Basis dafür, die
Vielheit der Stücke unter einem gemeinsamen Ordnungsprinzip zu vereinen und zu
einem Ganzen werden zu lassen. Sie subsumiert die einzelnen Dinge unter einem
allgemeinen Dach kulturellen Sinns.40
Im Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes
wurden die Dinge durch eine topografische Klassifikation zusammengehalten, die
als ein machtvolles Instrument anzusehen ist: Es strukturierte die Auswahl von Objekten aus bestimmten Regionen ebenso wie es via Objektpolitik Region herstellte.41 Auf diese Weise wurden politische Verwaltungseinheiten, Landschaft und
Dinge miteinander verknüpft,42 was die gesammelten Objekte regionalisierte und
den politischen Raum wie die Landschaft kulturalisierte. Der Regionalkatalog des
Museums (re)produzierte damit auch einen Blick auf Regionen als Wesenseinheiten, insbesondere indem er landespolitische Projekte reifizierte – wie etwa in
Bayern43 oder Württemberg44 –, die auf die Vereinheitlichung eines Gebiets zielten
und lokale Besonderheiten zugunsten einer gemeinsamen Landesidentität abzuschwächen suchten.
Zugleich sollte sich die Sammlung von solchermassen regionalisierten Dingen
auf deutsche Gebiete beschränken. Denn das Ziel war es, so Virchow zur Eröffnung
des Museums 1889, «der Kunde aller deutschen Volksstämme und aller deutschen
Gauen zu dienen»45. Unter dem Signum, ein «deutsches Volksmuseum»46 zu sein,
bei dem Dinge als ‘deutsche’ Museumsobjekte nationalisiert wurden, unterstützte
39 Sharon Macdonald, Collecting Practices, in: dies. (Hg.), A Companion to Museum Studies, Malden,
Mass./Oxford 2006, S. 81–97, hier S. 82.
40 Vgl. Ernst, Im Namen von Geschichte, S. 516.
41 Vgl. Karin Becker, Das Bildarchiv und die Konstruktion von Kultur, in: Zeitschrift für Volkskunde 93/
II (1997), S. 235–253; Antje Coburger, Sammlungsordnung und Wissenskonstruktion im Kontext von
Institutionengeschichte, in: Jana Klawitter, Henning Lobin, Torben Schmidt (Hg.), Kulturwissenschaft
digital. Neue Forschungsfragen und Methoden, Frankfurt am Main 2012, S. 33–53.
42 Vgl. Konrad Köstlin, Tracht und die Inszenierung von Authentizität. Bewegliche Ästhetik im Alltag
der Moderne, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 98 (2002), S. 207–220, hier 214. Zur Regionalität als Organisations- und Ordnungsprinzip der Volkskunde vgl. Boje u.a., DFG-Forschungsverbund.
43 Vgl. Armin Griebel, Tracht und Folklorismus in Franken. Amtliche Berichte und Aktivitäten zwischen
1828 und 1914 mit einer Quellenedition, Würzburg 1991.
44 Vgl. Lioba Keller-Drescher, Die Ordnung der Kleider, Tübingen 2003.
45 Wiedergegeben durch den Kustos des Museums: Ferdinand Höft, Zur Geschichte des Museums für
deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes in Berlin, in: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 6 (1900), S. 97–104, hier S. 98.
46 Ein häufig verwendeter Begriff, vgl. zum Beispiel Jahn, Das neubegründete Museum, S. 335.
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das Museum dabei einen föderativen Nationalismus, der kulturelle regionale und
einzelstaatliche Traditionen pflegte und damit zugleich die Akzeptanz des Nationalstaats befördern wollte.47 Gezeigt wurden allerdings nicht nur Gegenstände aus
dem Deutschen Reich, sondern auch aus deutschsprachigen Gebieten jenseits der
Grenzen. Dahinter stand die Idee, dass jene «in Wirklichkeit von Deutschen bewohnt werden»48. Zur Geltung kamen hier vor allem räumliche Klassifikationen
nach ethnischen Gesichtspunkten, wie sie etwa den Ideen zu «deutschen Sprachinseln» oder zum «Grenzland-» oder «Auslandsdeutschtum» zugrunde lagen.49
Anders lag jedoch der Fall bei der Stube aus Hindeloopen, einer kleinen holländischen Stadt an der Nordsee. Die Stube wurde 1898 zusammen mit 10 Trachten
für 7650 Mark angekauft und ab 1899 im Hofgebäude des Museums gezeigt.50 Mit
diesem Ankauf besass das Museum nicht nur einen Publikumsschlager, es verliess
auch den deutschsprachigen Sammlungsraum und kaufte sich zudem ein zentrales
Symbol des nationalen Diskurses der Niederlande ein. Denn eine solche Stube
wurde zum Beispiel nicht nur in der Historischen Ausstellung im Jahre 1877 (Leeuwarden) als Teil «friesischer Nationalkultur» gezeigt. Sie wurde auch im Zuge der
Weltausstellungen in Paris 1878 und 1900 zum Symbol nationaler Identität, «zur
Visitenkarte der Niederlande par excellence».51 Das Museum hingegen erwarb die
Hindeloopener Stube nicht als ein holländisches Nationalsymbol. Vielmehr ergänze
sie «die deutschen Sammlungen in sehr glücklicher Weise in Bezug auf den
Friesenstamm».52 Massgeblich für diese Auffassung war ein Geschichtsmodell, das
das Gebiet an der Nordsee als das historische Gebiet des ‘Friesenstammes’ dachte.
Der Stammesbegriff war dabei durch «Vorstellungen von Kontinuität und Gemeinschaft» geprägt, mittels derer ein «einheitlicher Volksteil […] auf die Substanz
eines alten germanischen Stammes» zurückgeführt wurde.53 Den ‘Friesenstamm’
verstand etwa Virchow als wesentlich für die «physische Anthropologie der Deut47 Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München
2000, S. 78f.
48 Museum für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes, Führer durch die Sammlung,
2. Auflage, Berlin 1895, S. V.
49 Vgl. zur «Sprachinsel- und Grenzlandvolkskunde» in Böhmen: Petr Lozoviuk, Interethnik im Wissenschaftsprozess. Deutschsprachige Volkskunde in Böhmen und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen,
Leipzig 2008.
50 Steinmann, Entwicklung, S. 25.
51 Adriaan de Jong, Die Dirigenten der Erinnerung. Musealisierung und Nationalisierung der Volkskultur in den Niederlanden 1815–1940, Münster u.a. 2007, S. 94, 120; vgl. auch Uwe Claassen, Die
Kunst der Welt in lokaler Rezeption: Das Hindeloopener Zimmer, in: Staatliche Museen zu Berlin
(Hg.), Faszination Berlin. Kultur Kontakte Europa, Berlin 1999, S. 27–44.
52 Führer 1914, S. 5. Ergänzung war die Stube insofern, als das Museum auch Objekte aus Ostfriesland
zeigte (ebd., S. 12–13).
53 Hermann Bausinger, Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse, Berlin/Darmstadt
1971, S. 106; vgl. auch Wolfgang Emmerich, Germanistische Volkstumsideologie. Genese und Kritik
der Volksforschung im Dritten Reich, Tübingen 1968.
137
schen», da er sich am wenigsten mit anderen Ständen vermischt habe.54 Ähnlich
wertete Virchow daher die Hindeloopener Stube als selbstverständlichen Teil der
deutschen Sammlung des Museums, die «als ein bleibender Schmuck der Hauptstadt die Erinnerung an eine Zeit des niederdeutschen Kunstgewerbes erhalten
wird»55. Aktuell mag Hindeloopen nicht Teil des deutschen Sammlungsgebietes
sein, in historischer Perspektive – als Teil des ‘Friesenstammes’ – schon, so liesse
sich diese Ansicht zusammenfassen. Allerdings blieb das Museum hinsichtlich der
Zugehörigkeit der Stube zum ‘Friesenstamm’ in der öffentlichen Darstellung unentschieden, denn das Ensemble wurde in den seit 1908 erscheinenden Führern durch
die Ausstellung immer als «Holländische Stube» aufgeführt und in den Museumsräumen auch nicht zusammen mit den ‘ostfriesischen’ Objekten gezeigt.56
Die Hindeloopener Stube konnte also als holländisch oder (nieder-)deutsch
klassifiziert werden, die Nationalisierung des Dings57 blieb uneindeutig – ein Umstand, der zu einer aufschlussreichen Kontroverse im Nationalsozialismus führte.
Das Museum hatte sich hier als ein völkisches Museum neu ausgerichtet.58 In diesem Zusammenhang wurden auch die Bestände des Depots gesichtet. Nicht deutsche Objekte sollten ausgesondert und an das Berliner Völkerkundemuseum abgegeben werden.59 Zur Disposition stand 1939 auch die Hindeloopener Stube, die nur
noch magaziniert war. Das Volkskundemuseum wollte die Stube allerdings nur
gegen eine stattliche Summe abtreten, «um eine ihm wünschenswert deutsche
Sammlung [zu] erwerben».60 Die Generaldirektion der Staatlichen Museen zu Ber-
54 Jong, Dirigenten, 133. Ähnlich auch Müller, Sammlungskonzeption, 191. Nach Jong wurde bereits die
Ausstellung der Stube 1877 als Verweis auf die Bedeutung Frieslands für die deutsche Geschichte gewertet. Die Friesen hätten, so die Kölnische Zeitung, «deutsche Art länger unverfälscht verwahrt als
irgendein anderer Germanenstamm». Jong, Dirigenten, S. 129.
55 Rudolf Virchow, Verwaltungsbericht für das Jahr 1898, in: Zeitschrift für Ethnologie 30 (1898),
S. 561–565, hier S. 563.
56 Sie zeigte ausserdem Möbel aus der Stube in der niederländischen Abteilung der Internationalen Volkskunstausstellung 1909 im Berliner Warenhaus Wertheim. Vgl. Karl Brunner, Die Königliche Sammlung für deutsche Volkskunde auf der internationalen Ausstellung für Volkskunst, Berlin 1909, in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 19 (1909), S. 281–286, hier S. 282.
57 Vgl. Jong, Dirigenten; Gudrun M. König, Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien u.a.
2009.
58 Vgl. zur Geschichte des Museums im Nationalsozialismus: Elisabeth Tietmeyer, Konrad Vanja, Das
Museum Europäischer Kulturen und der Nationalsozialismus: eine Geschichte der Anpassung in zwei
Teilen, in: Jörn Grabowski, Petra Winter (Hg.), Zwischen Politik und Kunst. Die Staatlichen Museen
zu Berlin in der Zeit des Nationalsozialismus, Köln 2013, S. 387–408; Timo Saalmann, Die Kunstpolitik der Berliner Museen 1919–1959, Berlin 2014, sowie Roth, Heimatmuseum, besonders S. 52,
137–143.
59 Zum Verhältnis beider Museen im Nationalsozialismus vgl. Tietmeyer, Vanja, Museum; zum Austausch von Objekten vgl. Beatrix Hoffmann, Das Museumsobjekt als Tausch- und Handelsgegenstand.
Zum Bedeutungswandel musealer Objekte im Kontext der Veräußerungen aus dem Sammlungsbestand
des Museums für Völkerkunde Berlin, Berlin u.a. 2012.
60 Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv (SMB-ZA), I/MVK 26, Bl. 29, Otto Bramm an den Generaldirektor vom 16.8.1939.
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lin, die die Summe bewilligen musste, lehnte ab mit dem Verweis, dass die Stube
«nach ihrer sachlichen Zugehörigkeit» offensichtlich in die «Eurasische Abteilung»
des Völkerkundemuseums gehöre und daher unentgeltlich abzugeben sei.61 Weil
Konrad Hahm, Leiter des Museums für Deutsche Volkskunde, damit nicht einverstanden war, entspann sich in der Folgezeit ein Disput über die Zugehörigkeit der
Westfriesen, bei dem historisches Wissen, disziplinäre Positionen sowie politische
Argumente ausgetauscht wurden. So legte etwa Hahm Beschwerde gegen die Verfügung des Generaldirektors ein mit dem Verweis, dass die Stube sehr wohl zum
«Sammelprogramm» gehöre, welches «von Anfang an grossdeutsch und kontinental-germanisch» gewesen sei. Das Museum habe «ebenso eine Schweizer-, eine Elsässer-, eine Siebenbürger Stube, wie wir in unserer Hausmodellsammlung westfriesische und jütische (also dänische) Modelle besitzen». Ausserdem wies Hahm
darauf hin, dass auch «auf den neuesten, parteiamtlich genehmigten deutschen Bauernhauskarten das westfriesische Haus ganz selbstverständlich zum volkskundlichen Bereich der deutschen- und kontinental-germanischen Bauernkultur» gerechnet würde.62
Von Seiten des Völkerkundemuseums wurde dagegen argumentiert, dass die
Westfriesen zwar mit den niederdeutschen Stämmen verwandt seien,
«jedoch seit Jahrhunderten eine von der reichsdeutschen verschiedene Entwicklung
zu eigener Nationalität und Schriftsprache genommen haben. Dementsprechend werden die Niederländer – ebenso wie etwa die Dänen – in der Völkerkunde stets getrennt vom deutschen Volk behandelt. Ein Vergleich der Friesen mit den Elsässern
und Schweizern ist nicht treffend, da letztere die hochdeutsche Schriftsprache beibehalten haben und Angehörige eines Stammes sind, dessen Majorität in Deutschland
siedelt. Von den Friesen dagegen lebt nur ein kleiner Teil in Deutschland, wo er zum
grössten Teil seine Sprache aufgeben hat und eingedeutscht worden ist.»63
Da die Friesen zum holländischen Volk gehörten und nicht zum deutschen, was sie
von Schweizern und Elsässern unterschied, sei das Völkerkundemuseum auch für
sie zuständig. Unterstrichen wurde dieses Argument auch mit dem Hinweis auf
volkskundliche Schriften, so unter anderem auf das Buch Die deutsche Volkskunde
des Volkskundlers Adolf Spamer, der «die Niederländer nicht zum deutschen Volkstum» rechne, jedoch die Elsässer und Schweizer behandle.64
61 Staatliche Museen zu Berlin, Zentralarchiv (SMB-ZA), I/MVK 26, Bl. 29 Rückseite, Antwort des
Generaldirektors [Otto] Kü[mmel] vom 17.8.1939.
62 SMB-ZA, I/MVK 26, Bl. 36, Konrad Hahm an den Generaldirektor vom 10.10.1939.
63 SMB-ZA, I/MVK 26, Bl. 32, Zur Äusserung Herrn Prof. [Konrad] Hahm’s gab Herr Prof. [Hermann]
Baumann am 27.9.39 folgende Erklärung, i.A. [Kunz] Dittmer vom 28.9.1939.
64 SMB-ZA, I/MVK 26, Bl. 33, K[unz] Dittmer vom 10.10.1939. Eben jener Adolf Spamer wird als Berliner Universitätsprofessor seitens der Generaldirektion dann als neutraler Schiedsrichter angefragt.
Er begrüsste zwar die Ausweitung der Sammlungsaktivitäten von Völkerkundemuseen auf europäische Gebiete, bestritt aber die Priorität des Volkskundemuseums, «deutsche Bauernstuben» zu zeigen,
139
An diesem Beispiel wird sehr deutlich, dass die Definition eines ‘deutschen’
Objektes und damit auch der Sammlungsbereich des Berliner Volkskundemuseums
durchaus kontrovers behandelt wurde. Die Kontrahenten operierten dabei mit Rekurs auf vermeintlich historische Untersuchungen aus dem Bereich der Sprach-,
Siedlungs- und Hausforschung mit Begriffen wie «Stamm», «Volk» oder «Nationalität» und brachten unterschiedliche Vorstellungen von ‘germanischer Kontinuität’ und ‘Gemeinschaft’ in Anschlag. Die Gegenwart nationalstaatlicher Ordnung,
etwa der Schweiz, wurde hierbei von beiden Seiten ignoriert. Im Disput wurden
keineswegs die Begriffe selbst oder die Untersuchungen infrage gestellt. Die Vorstellung eines ‘deutschen Volkstums’ oder ‘germanischer Stämme’ stand nicht in
Frage ebenso wenig wie der ‘völkische Zweck’ der Sammlungen, denn die Akteure
beider Institutionen hatten bereits Ausstellungen in diesem Sinne organisiert.65 Vielmehr ging es darum, unter Bezugnahme auf diese Begriffe und Untersuchungen die
Zuständigkeit für ein Sammlungsgebiet zu reklamieren. Die Klassifikation von Objekten aus dem Ausland als ‘deutsch’ beziehungsweise ‘germanisch’ war dabei auch
von tagesaktueller Politik durchtränkt, wie Hahms Hinweis auf die parteiamtlichen
Schriften belegt. Noch deutlicher wird dies in einem Kommentar Otto Bramms,
Mitarbeiter am Volkskundemuseum. Am 27.9.1939 teilte er offenbar telefonisch
mit, das Museum sei «froh», die «Stube los zu werden». Sie könne im Volkskundemuseum «aus politischen Rücksichten […] nicht aufgestellt werden». Denn: «Die
niederländische Regierung würde nämlich in diesem Falle annexionistische Absichten der deutschen Regierung vermuten, was im Falle einer Aufstellung der Stube
im M.f.Völkerkunde nicht der Fall sei.»66 Das Deutsche Reich hatte unmittelbar
vorher einen verbrecherischen Angriffskrieg begonnen, in dem 1940 auch die Niederlande besetzt wurden. Bramms Kommentar erscheint daher wie die Vorwegnahme dieser Ereignisse. Der Kommentar ist jedoch nicht nur aufgrund dieser
tagespolitischen Dimension verstörend. Vielmehr machte er nur offensichtlich, was
sonst zumeist verborgen bleibt: Die Sammlung und Aufbewahrung von Objekten
im Depot ist ein dingpolitischer Akt, der nicht nur das Eigene und Andere materiell
definiert und stabilisiert, sondern immer auch in den politischen Raum ausgreift.
nicht. SMB-ZA, I/MVK 26, Bl. 40 und Rückseite, Adolf Spamer an den Generaldirektor vom
2.11.1939. Die Angelegenheit hatte sich damit erledigt, die Stube verblieb im Volkskundemuseum, wie
eine Notiz des Generaldirektors vom 3.11.1939 ebendort belegt.
65 Vgl. dazu Tietmeyer, Vanja, Museum.; Roth Heimatmuseum.
66 SMB-ZA, I/MVK 26, Bl. 32, Zur Äusserung Herrn Prof. [Konrad] Hahm’s gab Herr Prof. [Hermann]
Baumann am 27.9.39 folgende Erklärung, i.A. [Kunz] Dittmer vom 28.9.1939.
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Schlussbemerkung: Depot und Geschichtspolitik
Der Aufsatz untersuchte exemplarisch die zumeist nicht-öffentlichen musealen
Dingpolitiken im Depot als eine Form von Geschichtspolitik. Zur Anwendung kam
dabei ein Begriff von Geschichtspolitik, der über die (meist konfliktreiche) Bezugnahme auf historische Schlüsselereignisse67 hinausgeht und sich auf museale Identitätspolitiken und Geschichtskulturen68 im weitesten Sinne bezieht. Am Beispiel
des Berliner Volkskundemuseums wurden drei Formen von Geschichte und Vergangenheitsbezügen im Depot skizziert: erstens die historische Herausbildung
disziplinär verankerter Museumstypen und die damit einhergehende kanonische
Zurichtung von Objekten, zweitens die Formatierung und Standardisierung von Objektgeschichte in Inventar und Katalog und drittens die Geschichte der Nationalisierung von Objektbeständen mit besonderem Augenmerk auf die Konstruktion
‘deutscher’ Dinge.
Der Aufsatz ergänzt mit dieser Perspektive auf Geschichtspolitiken im Depot
nicht nur solche Analysen, die die Aktualisierung und Repräsentation von Geschichte in Museumsausstellungen in den Blick nehmen.69 Vielmehr sind auch diesbezüglich gängige Unterscheidungen von Depot und Ausstellung, von Deponieren
und Exponieren zu diskutieren: Für Gottfried Korff zum Beispiel ist das Museum
«sowohl durch seine bewahrende (= deponierende) wie durch eine interpretierendaktualisierende (=exponierende) Beziehung zur Vergangenheit gekennzeichnet».
Während Museumsarbeit im Depot vor allem Arbeit am Gedächtnis sei und im
«Modus der Potentialität» agiere, um Objekte für zukünftige Aktualisierungen kulturellen Sinns zu speichern, seien Ausstellungen vor allem Erinnerungsarbeit, die
im «Modus der Aktualität» das Gesammelte «von einer jeweiligen Gegenwart aus
neu dimensioniert».70 Der hier vorgelegte Aufsatz zeigte indes, dass auch im Depot
jeweils aktuelle Geschichts- und Vergangenheitskonstruktionen zum Tragen kamen,
die wesentlich das Sein von volkskundlichen Objekten im Museum definierten und
formatierten, ihren Aufenthalt stabilisierten oder destabilisierten. Auch im Depot
fand (und findet) fortwährend eine Interpretation und Aktualisierung von Vergangenheit statt, allerdings meist vor der Öffentlichkeit verborgen.
67 So zum Beispiel: Heinrich August Winkler, Einleitung, in: ders. (Hg.), Griff nach der Deutungsmacht.
Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004, S. 7–13.
68 Vgl. zum Beispiel: Wolfgang Kaschuba, Geschichtspolitik und Identitätspolitik. Nationale und ethnische Diskurse im Kulturvergleich, in: Beate Binder, Wolfgang Kaschuba, Peter Niedermüller (Hg.),
Inszenierung des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten, Köln u.a. 2001, S. 19–
42; Rosemarie Beier (Hg.), Geschichtskultur in der zweiten Moderne, Frankfurt/New York 2000.
69 Vgl. auch Anna Joss, Anhäufen, forschen, erhalten. Die Sammlungsgeschichte des Schweizerischen
Nationalmuseums 1899 bis 2007, Zürich 2016.
70 Gottfried Korff, Speicher und/oder Generator. Zum Verhältnis von Deponieren und Exponieren im
Museum (2000), in: ders. (Hg.), Museumsdinge deponieren-exponieren. Hrsg. von Martina Eberspächer, Gudrun König und Bernhard Tschofen, Köln u.a. 2002, S. 167–178, hier S. 170.