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Originalveröffentlichung in: Michels, Norbert (Hrsg.): Hendrick Goltzius (1558-1617) : Mythos, Macht und Menschlichkeit : aus den Dessauer Beständen, Petersberg 2017, S. 72-85 (Kataloge der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau ; 21) DAS SKULPTURALE IM WERK VON HENDRICK GOLTZIUS DAS KULPKSTRE Die monumentale Schönheit des ,Knollenmanns, batische Verkürzungen erlaubt, anhand deren Goltzius seine Vir­ tuosität vorführt kann. Nicht allein dem heutigen Betrachter erscheint der 1589 von Hen­ drick Goltzius geschaffene ISMWRLVRSONHRE (Kat. Nr. VI. 11) hyper- Greift Goltzius mit den t aSlRUmRU den Aspekt der Bewegtheit der trophiert. Bereits zeitgenössisch kam die Bezeichnung .Knollen­ CGZKEieRULVRHmRU auf, konzentriert er sich mit dem VRSONHRE ganz mann“ auf, die in Anlehnung an Leonardo da Vinci um die Meta­ auf die in sich ruhende Standfigur. Unserem heutigen Blick erschei­ pher ,Sack voller Nüsse“ ergänzt worden ist.1 Beide Benennungen nen die uKRSLt aSlRUmRU weitaus interessanter, schließlich muten sie zielen darauf, dass sich die exzessiv ausgebildete Muskulatur — wie wie Vorgriffe auf die Moderne an. Bei Goltzius ist der Sturz aber in unserer Zeit bei Bodybuildern - förmlich verselbstständigt hat. keine generelle Metapher der menschlichen Existenz, sondern Fol­ Die Person entschwindet gleichsam in ihrer Körperlichkeit, die - ge des anmaßenden Himmelssturms der Stürzenden, während Her­ derart eigenständig geworden — monströs ist und ins Lächerliche kules - wie die römischen Feldherren - einen Tugendhelden ver­ umschlägt. körpert. Auch wenn wir versucht sind, in den t aSlRUmRU Goltzius Modernität zu erkennen, während wir in seinem Herkules einen Freilich ging es Goltzius keineswegs um die Herbeiführung eines .Knollenmann“ oder ,Sack voller Nüsse“ sehen und ihn damit als solchen Effektes. Ein Blick in sein Oeuvre zeigt, dass er konsequent historische Kuriosität betrachten, können diese Werke doch nicht die Körperlichkeit der 1586 entstandenen CGZKEieRULVRHmRU wei­ gegeneinander ausgespielt werden, weil sie RKURU Gedankenkreis bil­ terentwickelt, welche der Herkules sowohl mit seinem immensen den. Und da Herkules den Menschen im Vollbesitz seiner Hand­ Format von 55,5 x 40,4 cm als auch im Grad der Ausarbeitung lungsfähigkeit veranschaulicht, während die Stürzenden metapho­ übertrifft. Die acht für Rudolf II. geschaffenen CGZKEieRULVRHmRU risch ihren Missbrauch vor Augen führen, ist der bezeichnender­ sind mitunter stark bewegt, wobei der Schwerpunkt selbst bei VMo weise unmittelbar nach den .artistisch-experimentellen“ t aSlRUmRU SA KNELnMmRE (Kat. Nr. VI.3), der mit seiner ausgreifenden Bewe­ entstandene Herkules als Schlüsselwerk aus Goltzius’ voritalieni­ gung den gesamten Bildraum durchmisst, stets im Zentrum des scher Zeit anzusehen, zumal es Goltzius’ eigene Hand ist, mit der Körpers ruht, was den Heldenfiguren eine schier unantastbare in­ Herkules die Keule hält (Abb. 30). nere Statik verleiht und Horatius Codes Sturmangriffwie ein schwe­ bendes Heraneilen anmuten lässt. Andere Helden wiederum, wie Denn Herkules Hand weist dieselbe Fingerhaltung und dasselbe der in Rückenansicht gezeigte DASiNELuAHRSKNELnMSTNE (Kat. Nr. Aderngeflecht auf wie Goltziusim Jahr zuvor als ein den Kupfer­ VI.6), sind als eher unbewegte Standfiguren dargestellt. Die Kör­ stich imitierendes Federkunststück gezeichnete eigene rechte Hand. perlichkeit der CGZKEieRULVRHmRU weist somit gleichermaßen einen Auch bei Herkules ist der Daumen weit nach oben abgespreizt, der Aspekt der Bewegung wie der Ruhe auf. Mit den 1588 nach Zeich­ Zeigefinger in einer wie versteift wirkenden Weise übermäßig ange­ nungen von Cornelis Cornelisz van Haarlem angefertigten uKRS winkelt, der ausgestreckte Mittelfinger verkrümmt nach unten weg­ t aSlRUmRU (Kat. Nr. VI.7-10 ) erhebt Goltzius die Bewegtheit zum gebogen, der Ringfinger hingegen anatomisch weitgehend normal eigenen Darstellungsgegenstand, indem er den Figuren den Boden ausgebildet, während der kleine Finger direkt am Gelenk des Hand­ entzieht und sie dadurch ganz der sie zu Tode bringenden Schwer­ tellers nach innen weggeknickt. Entgegen dieser unnatürlichen Hal­ kraft ausliefert. Die innere Statik der Stürzenden und der Sog der he­ tung umfasst Herkules mit der anderen Hand das Horn des Aeo- rabziehenden Schwerkraft stehen in einem zuvor nie gesehenen lus, der er im Hintergrund niederringt, mit fest geschlossenem Griff. Spannungsverhältnis, das einen vom runden Bildformat hervorge­ Da auf der Vorzeichnung zum Kupferstich Herkules’ linke die rech­ hobenen Zustand der Schwerelosigkeit erzeugt und artistisch-akro- te Hand darstellt, ist dort das Seitenverhältnis zu Goltzius eigener rechten Hand gewahrt. Auf der Druckgraphik hingegen wird Goltzi­ us rechte zu Herkules’ linker Hand, was eben jenem von Karel van chöLdKHHRZLTAULsR SMmRöLVRSONHREL,MZASKNE,LgBr1o5B,L8SMUlR,LCK9OEZNERNZLvZE RSmAZ, Mander hervorgehobenen Umstand entspricht, dass Goltzius durch ­UTökSöL8PoghBrDzog den von heißen Kohlen verursachten entstellenden Unfall die rech- I 73 Leonardo da Vinci mir ihr gemeint hat: „Wolle an deinen Figuren nicht alle Muskeln deutlich machen, denn wennschon dieselben an ihrem Platze vorhanden sind, so werden sie doch nicht sehr deutlich sichtbar, wenn die Gliedmaassen, an denen sie sich befinden, nicht in grosser Kraftanspannung oder Arbeit sind. Und die Gliedmaas­ sen, die unbeschäftigt bleiben, seien ohne Hervorhebung der Mus­ kulatur. Thust du nicht so, wirst du statt einer Figur eher einen Sack voller Nüsse nachgeahmt haben.“6 Nach Leonardo dürfen Muskeln nur plastisch herausgearbeitet wer­ den, wenn diese auch tatsächlich angespannt sind, da die Muskeln - wie jeder beobachten kann — nur in angespannten Zustand her­ vortreten. Aber genau das ist beim Heldenkörper des Herkules auch im Ruhezustand der Fall, der - genau besehen — gar kein Ruhezu­ zföLVRUmSKiOLIMH lKNE,LIMH lKNE(LSRie RLVAUm,LgB..,LsKU R,Lcz,fL)Lzc,cfLiZ,LsRyHRSE stand im Sinne einer gänzlichen Erschlaffung der Muskulatur ist. DNERNZLVAASHRZ,L­UTökSLkLfB. Um dies zu verdeutlichen, werfen wir einen Blick auf den für Golt­ zius vorbildlichen VRSONHRELpMZASKNE von Willem van Tetrode (um 1525-1580, Abb. 29).7 Die am antiken VRSONHREL-ASURER inspirier­ te Hand „sein ganzes Leben lang nichtrecht öffnen konnte“ und sie te, gegen 1565 geschaffene Bronze zeigt Herkules nicht im Kontra­ damit nur wie eine linke Hand zu gebrauchen war.2 Und dennoch post auf seine Keule gestützt, sondern breitbeinig stehend, wobei hält Herkules die Keule, so wie Goltzius die Werkzeuge seiner Ta­ das Stehen zugleich ein Ausschreiten ist: Die Beine sind zueinan­ ten - Zeichenstift und Grabstichel -, mit größter Sicherheit und der versetzt und der hintere Fuß vom Boden gelöst, ein Bewegungs­ einer ihm eigenen Eleganz. Van Mander spricht von der „Helden­ impuls, der auch den leicht gedrehten Oberköper und den deutlich kraft seiner Zeichenkunst“.3 Beim ISMWRULVRSONHRE handelt es sich gewendeten Kopf bestimmt. Herkules scheint bereits die nächste folglich um ein programmatisches Werk, das neben der moralischen Gefahr im Blick zu haben, darum erhebt er die mächtige Keule. Dimension auch dezidiert auf die Kunst als solche gerichtet ist. Durch das auf ein mögliches Handeln gerichtete Bewegungsmo­ ment wird die von Herkules’ Körperstellung gebildete, in sich ruhen­ Um unseren Blick auf den Körper des ,Knollenmanns* diesem Ge­ de Dreiecksform in äußerste Spannung versetzt. Allein das leichte halt entsprechend neu zu justieren, sei die Feststellung von Peter Anheben der Verse scheint die gesamte Muskulatur zu aktivieren. Paul Rubens herangezogen, die menschlichen Körper seien derart de­ Der klassische Kontrapost des antiken Vorbildes wird in die Darstel­ generiert, „[...] daß die jetzigen Körper den vorigen nicht mehr lung des heldischen Handlungspotenzials überführt, das jederzeit gleich zu seyn scheinen. Man könnte solches auch aus den Schrif­ realisiert zu werden vermag und auch im Ruhezustand gegeben ist. ten [der Antike] mutmaßen [...]. Wenn diese von der ehemaligen Größe der Menschen sprechen, so reden sie von Helden, Riesen Eben diese Disposition greift Goltzius auf und überträgt sie in den und Cyklopen. Haben sie nun gleich hierinnen viel Erdichtetes vor­ Kupferstich. Das raumgreifende Ausschreiten der Skulptur, welches gebracht, so haben sie doch ohne Zweifel auch einige Wahrheiten im Umgehen der Figur vom Betrachter aktiviert wird, ist auf der mit einfließen lassen.“ Auch formten, fährt Rubens fort, die Men­ Druckgraphik weit mehr ein Standmotiv, das dennoch den Aspekt schen der Antike durch ausdauernde Leibesübungen ihre Körper, der Herantretens und Weiterschreitens beinhaltet: Herkules’ rech­ so dass die Glieder wuchsen und außerordentlich zunahmen.4 ter Fuß verweist auf den zurückgelegten Weg und die auf ihm voll­ brachten Heldentaten, während der linke Fuß die nach rechts aus Mit Rubens auf Golzius geblickt, haben wir folglich keinen Knol­ dem Bild führende Bewegung vorwegnimmt. Im Gegensatz zu Te- lenmann vor Augen, sondern einen Heldenkörper, der vor dem Hin­ trodes Darstellung blickt Herkules jedoch in die entgegengesetzte tergrund einer restituierten mächtigen Körperlichkeit ausgebildet Richtung der vom wehenden Gewand unterstrichenen Körperbewe­ worden ist, wie sie lebensweltlich nicht mehr angetroffen werden gung, wodurch einerseits das Standmotiv fixiert wird, andererseits kann. Eine solche Körperlichkeit verstellt nicht die Person oder ver­ aber Herkules’ Wirkradius eine Erweiterung auf das gesamte vor schüttet gar ihren Geist, was Herkules zu einem unberechenbaren ihm liegende Terrain erfährt. Monstrum machen würde, vielmehr entspricht ihr — wie Rubens 74 I hervorhebt — ein ebenso machtvoller Geist.5 Insistieren wir aber den­ Hatte Tetrode den Kontrapost des VRSONHREL-ASURER in eine .han­ noch darauf, dass die Bezeichnung,Knollenmann*, respektive ,Sack delnde Ruhe* überführt und der Herkulesfigur damit eine ganz neue voller Nüsse* in gewisser Weise treffend ist und fragen danach, was Ausdrucksdimension verliehen, übernimmt Golztius diese motivi- MARTIN KIRVES sehe Ausprägung, um sie seinerseits zu modifizieren. Die in ange­ ßigen weiß, um Dank der RZ,RSAU KA weitblickend und gerecht zu spannter Bereitschaft stehende Muskulatur ist bei seinem VRSONHRE handeln, wodurch Herkules zugleich die Tugenden der EA,KRU KA noch weit ausgeprägter, wodurch sich Ruhe und Handlung bis zur und KNE K KA verkörpert, die von dem überlegenden Geist zeugen, Ununterscheidbarkeit annähern: In derselben nun als Rückenan­ der den machtvollen Körper regiert. Damit bildet Herkules gleich­ sicht gegebenen Haltung handelnder Ruhe' ringt Herkules im Bild­ sam die Summe der CGZKEieRULVRHmRUö mittelgrund mit Antäus, während die durch Keule und Hauer aus­ gestellte Beidhändigkeit zusätzlich Herkules’ ,Ruhe, als Handlungs­ macht ausstellt. Der skulpturale Raum der Kunst Die übersteigerte Muskulatur erfüllt zudem eine diesen Gehalt noch steigernde Funktion. Ist Tetrodes Herkules auf leichte Untersicht Lenken wir die Aufmerksamkeit auf die mit dem Titel des Beitrags angelegt, wodurch die Skulptur monumentalisiert wird, auch wenn angekündigte übergeordnete Fragestellung nach Goltzius’ Verhält­ es sich — ihrer realen Größe nach besehen — um eine Kleinplastik nis zur Skulptur, kann festgehalten werden, dass uns die Skulptur — handelt, wird die Monumentalität von Goltzius’ VRSONHRE zunächst wie selbstverständlich - auf Schritt und Tritt begegnet ist. Ganz of­ durch die schiere Größe erzeugt, indem Herkules zum Himmel auf­ fensichtlich in Tretrodes VRSONHRELpMZASKNE, weit unauffälliger mit ragt und auch der Breite nach beinahe den ganzen Bildraum dieses Rubens Ausführung zur antiken Körperlichkeit, die dem vom künst­ äußerst großformatigen Blattes durchmisst, so dass Herkules zu­ lerischen Umgang mit der Skulptur handelnden, um 1610 verfass­ gleich in Auf- und Untersicht erscheint. Das Großformat präsen­ ten Fragment üRLKZK A KMURLE A NASNZ entnommen ist, und nicht tiert Herkules aber nicht allein in seiner Gesamtheit, es erzwingt zuletzt in der mit Rubens hergeleiteten Kategorie der zum Kolos­ ebenso eine nahsichtige Betrachtung, bei der die Einzelheiten den salen wachsenden Monumentalität.9 In welch außerordentlichem Blick an sich binden. Angefangen von den Adern der Füße und Maße die Skulptur als Ausgangs- und Zielpunkt der Kunst galt, Hände bis hin zu den einzeln ausgearbeiteten Haarsträhnen der Lö­ führt eindringlich die von Cornelis Cort (1533 (?)—1578) 1578 wenmähne bietet die nahsichtige Betrachtung eine Fülle von Phä­ nach Jan van der Straet (gen. Johannes Stradanus) gestochene Dar­ nomenen, zu denen auch die sich einzeln darbietenden Muskeln stellung üKRLEieGURULPaUE R (Abb. 31) vor Augen. Goltzius hatte das gehören. Demgegenüber sind die bei Tetrode ebenfalls markant aus­ Werk seines Landsmannes Cort äußerst genau studiert - wie die gebildeten Muskeln von innen her organisch vermittelt, so dass der Entsprechungen der noch zu betrachtenden Stichtechnik zeigen - Eindruck einer fließenden, sich zu den jeweiligen Muskeln verfes­ , daher wird gerade das manifestartige kunsttheoretische Bild Golt­ tigenden Bewegung entsteht, die den Körper innerlich belebt. Ist zius besonders interessiert haben, zumal er einige Jahre später zu­ dieses harmonische Teil-Ganze-Verhältnis antik-italienischer Pro­ sammen mit Karel van Mander und Cornelis van Haarlem die Haar­ venienz - Tetrode war Schüler Benvenuto Cellinis (1500-1571) - lemer Akademie gründen wird.10 vom Ganzen her gedacht, kommt dem Teil bei Goltzius eine weit größere Eigenständigkeit zu. Geht das Einzelne bei Tetrode im Gan­ Begeben wir uns auf die Suche nach den einzelnen Künsten im dar­ zen auf, baut sich das Ganze bei Goltzius für den nahsichtigen Blick gestellten Atelier, entdecken wir die Malerei rechts im Bild. Auch aus dem Einzelnen auf, was zweierlei bewirkt: Zum einen gewinnt wenn die pKi NSA ein monumentales Wandgemälde schafft, ist sie der Körper durch die ausgeprägte Eigenständigkeit der detailzen­ dennoch in den Hintergrund gerückt und versinkt beinahe gänz­ trierten Einzelformen einen ornamentalen Zug, der Herkules eine lich im Schatten. Und doch ist der pASAäMUR, welcher von den Küns­ freilich ganz anders konzipierte, spezifisch nordalpine Schönheit ten der Vorrang gebühre, nicht das vorrangige Thema des Bildes. verleiht, bei der auch die für sich betrachtet eher unansehnlichen Dem akademisch ausgerichteten, die Ausbildung zum Künstler mit Einzelheiten - wie Goltzius’ Hand - als etwas Kostbares und in sich umfassenden Ateliersujet gemäß geht es vielmehr um die Genese Kraftvolles erscheinen.8 Zum anderen erfolgt durch die vom For­ der Künste, die sich - Rubens weiteren Ausführungen in seinem mat forcierte Wahrnehmung von Herkules’ Körper vom ausgear­ Traktatfragment entsprechend - aus zweierlei Quellen speist: aus beiteten Einzelnen her die eigentliche Monumentalisierung der Fi­ der im linken Bildvordergrund gezeigten kA NSA in Form der vUAo gur, die Herkules ins Kolossale wachsen lässt. Durch die Fülle den MZKA, anhand derer akribisch der Knochen- und Muskelaufbau, Blick an sich bindender, bereits für sich mächtig erscheinender Ein­ also das physische Innenleben der menschlichen Gestalt studiert zelheiten bietet sich dem Betrachter eine regelrechte Körperland­ wird, während auf der gegenüberliegenden Seite die Antike in Form schaft dar, welche die tatsächliche Landschaft förmlich in den Schat­ einer an der uRUNELpNmKiA orientierten Statuette als Studienobjekt ten stellt. Die durch scharfe Kontraste herausmodellierten Muskeln der vollkommenen äußeren Form der menschlichen Gestalt dient. weisen weit mächtigere Formationen auf als die raue Berglandschaft, Dass das Studium der Statuette eben nicht allein für die Skulptur, was Herkules monumentalem Körper zusätzlich Härte verleiht und sondern für alle Künste maßgeblich ist, wird verdeutlicht, indem ihn als Verkörperung der“MS K NmM erscheinen lässt. Eine übermensch­ genau vor ihr die vSieK Ri NSA als abstrakteste aller Künste platziert liche Stärke, die er — wie die Ruhehaltung zeigt - aber auch zu mä­ ist. Auch die Architektur ist, oder, aus unserer heutigen Perspekti- DAS SKULPTURALE IM WERK VON HENDRICK GOLTZIUS I 75 zgöLnMSURHKELnMS LUAieLwMeAUURELt SAmAUNE,LüKRLEieGURULPaUE R,LgB1.,LPN,“RSE Kie,LCK9OEZNERNZLvZE RSmAZ,LCK9OE,SRU RUOAeKUR ,L­UTöLkSöLCpopo8­o5z.g 76 I MARTIN KIRVES ve gesprochen — sie war an der menschlichen Gestalt orientiert - gehalten wird, ist das Tote mit der Venus gleichsam zum Leben er­ sowohl was die Proportionen als auch die Ausformung betrifft. Für wacht: Das Stand- und Spielbein des Skeletts und das angedeutete die zur Architektur gehörende Ornamentik steht wiederum die Na­ Anheben der Arme sind zu weitergeführten Eigenbewegungen der tur in Form des Blattwerks neben der Statuette als Studienobjekt körperlich im blühenden Leben stehenden Venus geworden. Mit zur Verfügung. Vor dem Architekten — ebenfalls unmittelbar neben dem Sprung in die Kunst hinein wird das Tote im Modus der Skulp­ der Statuette — ist ein Kupferstecher bei der Arbeit gezeigt. Die Be­ tur lebendig. Eben hierin besteht der Grund für die Dominanz der nennung seiner Kunst als ,Typorum eneorum INCISORIA' ist ge­ Skulptur innerhalb des alle Künste umfassenden akademischen Ate­ genüber Stradanus’ Vorzeichnung von Cort hinzugefügt worden.11 liers. Die Skulptur bestimmt die Mitte und letztlich auch die Tiefe Prominent am vorderen Bildrand platziert, reflektiert sie die me­ des Bildraums, wo mit der -NEMSKA das plastische Verfahren des Ab­ diale Verfasstheit des Bildes und lenkt die Aufmerksamkeit des Be­ formens dargestellt ist, nicht um die Skulptur als höchste Kunst zu trachters darauf, dass das Panorama der Künste durch das Medium krönen, die potentiell alle anderen Künste in sich enthält, sondern der Druckgraphik formiert worden ist. Der in präziser vU KxNA ge­ weil der Skulptur über ihre Eigenständigkeit als Kunstgattung hinaus schnittene und im Vergleich zu den anderen Benennungen größe­ zugleich die Funktion einer vermittelnden Kunstform zukommt, re und deutlich ausgestellte Begriff ,Incisoria, verweist zugleich auf und dies gleich in zweifacher Hinsicht. Zum einen bildet sie die Corts eigene, mit Goltzius technisch so verwandte Kunst des Ein­ Schnittstelle zur Natur, durch welche die Kunst ihre naturgemäße schneidens, worauf noch zurückzukommen sein wird, da das Ein­ Lebendigkeit erhält, zum anderen kann ihr diese Lebendigkeit wie­ schneiden ein Skulptieren ist, was das üblicherweise zum Nachweis derum entnommen werden, um sie in andere Kunstgattungen zu des ausführenden Stechers verwendete EiNH,öbEK — verdeutlicht, so transferieren, weshalb die Venus nicht wie die andern Kunstwerke dass auch auf dieser Ebene eine Bezüglichkeit zur Skulptur besteht. des Ateliers im Entstehungsprozess gezeigt wird, sondern als Studi­ enobjekt fungiert. Neben der Venusfigur ist bildmittig auf einem Holzgestell die tiNH,o NSA mit einem lossprengenden Pferd situiert und auf dem Stein­ Die Kunst manifestiert sich in der Skulptur und geht zugleich durch postament darüber die t A NASKA mit einer mehrere Figuren umfas­ diese hindurch. So ist das Schlachtengemälde der pKi NSA insofern senden allegorischen Darstellung Roms. Damit wird die Skulptur eine Zusammenführung der tiNH, NSA und t A NASKA, als im Wand­ interessanterweise intern in tiNH, NSA und t A NASKA aufgegliedert, gemälde das dort mit einem Reiter versehene Pferd der tiNH, NSA wobei die Übereinanderordnung durchaus als Hierarchie zu verste­ Teil einer vielfigurigen Szenerie ist, durch welche sich die t A NASKA hen ist: Das kraftvolle Pferd, dem zur vollgültigen Statue neben der gegenüber tiNH, NSA auszeichnet, wobei die pKi NSA die monumen­ Größe noch der befehlshabende Herrscher fehlt, wird von der viel- tale Dimension der t A NASKA anschlägt. Die Skulptur liegt im Rü­ figurigen, weit monumentaleren CMZA überragt, die der Breite nach cken des Malers, wodurch verdeutlicht wird, dass die Malerei die den Großteil des Bildraums einnimmt und - nebenbei bemerkt - Skulptur voraussetzt, zugleich aber über diese hinausgeht. Schließ­ durchaus mit der von Goltzius als Titelblatt für die CGZKEieRULVRHF lich ist die Malerei nicht auf eine Einzelfigur oder eine allegorische mRU geschaffenen Roma verwandt ist. Die Komplexität der Statue Figurengruppe beschränkt, sie veranschaulicht eine vollwertige eKEo umfasst, wie die integrierte Kleinplastik vor Augen führt, die gan­ MSKA,LqAE außerhalb der praktikablen Darstellungsmöglichkeiten ze Bandbreite der Skulptur. Die raumgreifende Mittelachse des Bil­ der Freiplastik liegt. Dies allerdings um den Preis einer entmateria­ des wird also von der Skulptur bestimmt, die auch auf die beiden lisierten Körperlichkeit, die nicht mehr dieselbe unmittelbare Prä­ Wurzeln der Kunst ausgreift. Schließlich führt die Statuette der Ve­ senz ausstrahlt, die den Körpern der Skulptur eignet, was durch die nus nicht erst zur Kunst, sie ist es bereits und daher örtlich aus­ ins Licht getauchten Skulpturen verdeutlicht wird, während die drücklich der tiNH, NSA zugeordnet. Und weisen nicht auch die ana­ Körper der Malerei ins Dunkle abfallen. tomischen Modelle eine skulpturale Qualität auf, indem ihre Kör­ per ebenso wie diejenigen der Skulptur real ausgedehnt und leblos Überall im Bild finden sich klassische Argumente des Paragone, oh­ sind? ne dass die Künste allerdings gegeneinander ausgespielt würden.12 Vielmehr sind die im Paragone herausgetretenen Besonderheiten Aber gerade durch die Herstellung dieser äußerlichen Entsprechung der einzelnen Gattungen hier innerhalb des genetisch aufgefächer­ wird im Bild der wesentliche Unterschied zwischen vUA MZKA und ten Systems der Künste eingebettet. Als Äußerung innerhalb des vS R aufgezeigt. Das Skelett entspricht in Ausrichtung und Haltung Paragone verstanden, wäre das Bild eine Kapitulation des Malers der Venusfigur, ein Bezug, der durch die auf beiden Seiten präsen­ Stradanus und des Stechers Cort vor der Skulptur. Hier hingegen ten Zeichenschüler nochmals verstärkt wird, so dass Skelett und Ve­ wird ein Kunstverständnis dargelegt, sowohl die Malerei als auch nus - der Leserichtung entsprechend - als Abfolge aufeinander be­ den Kupferstich von der Skulptur her zu denken. Eine Auffassung, zogen werden. Während das Skelett ein Relikt des Lebens ist, das die gleichermaßen Goltzius wie Rubens teilten und die beide Künst­ mit seinen zusammengeschraubten Knochen an einem Seil aufrecht ler zu einer genialen Aktivierung der Skulptur für den Kupferstich, DAS SKULPTURALE IM WERK VON HENDRICK GOLTZIUS I 77 respektive die Malerei geführt hat, woraus der skulpturale Charak­ Verlebendigung und Versteinerung ter ihrer jeweiligen Kunst resultiert. Und doch wird uns Rubens in gewisser Hinsicht noch als Goltzius’ Antipode wiederbegegnen. Goltzius’ Herkules ist keine Skulptur, aber dennoch skulptural. Nach Eben jenes bei Stradanus und Cort bildlich dargelegte, ftir alle Küns­ hinsichtlich von Goltzius Umgang mit der Skulptur ein erstes Ergeb­ der erfolgten näheren Bestimmung des skulpturalen Charakters kann te relevante ,Schaffen von der Skulptur her“ hat auch Goltzius’ ISMF nis festhalten werden, das zugleich ein spezifischer Modus der schöp­ WRULVRSONHRE geprägt. Mögen im Rahmen der Haarlemer Akademie ferischen Bezugnahme auf die Skulptur ist: Indem die Skulptur auf die erfolgte anatomische Studien die Ausformung der Muskulatur mit dargelegte Weise transformiert wird und die aus der Transformation bestimmt haben, war es doch der VRSONHRELpMZASKNE Tetrodes, der hervorgehende Figur nicht als Skulptur erscheint, aber dennoch skulp­ — auf den Atelierstich bezogen - auf Goltzius’ Werkbank gestanden turale Qualitäten aufweist, wird die Skulptur ihrerseits verlebendigt. hat und als Studienobjekt diente. Ganz offensichtlich ging es Golt­ Seine Transformation in die Druckgraphik .befreit“ Herkules aus sei­ zius dabei keineswegs darum, die Skulptur zu kopieren. Würde be­ nem Zustand, .bloß“ Skulptur zu sein und setzt ihn in einen seiner reits die Kopie eine Übersetzung, nämlich ein Über-Setzen der Gestalt gemäßen Handlungsraum hinein, so dass Herkules’ stehen­ Skulptur in die Druckgraphik sein, geht Goltzius über eine solche de Ruhe“ auch innerbildlich ausagiert werden könnte. Übersetzung hinaus. Anstatt Herkules als Skulptur erscheinen zu lassen, knüpft Goltzius in seiner Darstellungsweise an Formgebun­ Erfolgt die Verlebendigung also, indem die Skulptur im Kupferstich gen Albrecht Dürers und Lucas van Leydens an, die in ihrer detail­ gerade nicht als Skulptur erscheint, so ist es für die Verlebendigung je­ fokussierten und dabei zugleich malerisch-ornamentalen Eigenart der doch genauso entscheidend, dass die Skulptur als skulpturale Quali­ Skulptur geradewegs entgegenstehen. Der VRSONHRELpMZASKNE wird tät gewahrt bleibt, da überhaupt nur dann eine Verlebendigung vor­ von Goltzius innerhalb des Mediums des Kupferstichs in dezidiert liegen kann. Bei der Verlebendigung wird folglich die Skulptur ins druckgraphischen Darstellungsmodi neu geschaffen und zudem in Skulpturale transformiert, das, auf diese Weise von der Skulptur ab­ einen Herkules’ eKE MSKA veranschaulichenden szenischen Zusam­ gelöst, die neugeschaffene Figur innerlich befestigt und damit genuin menhang eingebettet. Wie die Malerei bei Stradanus und Cort lässt ihren Gehalt mitbestimmt. Das derart von der Skulptur losgelöste Goltzius also die Skulptur hinter sich, wobei sein Herkules aber Skulpturale ist trotz seiner Relevanz ftir Herkules’ Charakteristik nicht noch weit mehr als das Gemälde der pKi NSA von der Skulptur her unmittelbar augenfällig, sondern subkutan präsent, weshalb der Be­ gedacht und durch diese hindurchgegangen ist. Der VRSONHRELpMF zug auf Tetrodes’ Skulptur seitens der Kunstgeschichte erst spät be­ ZASKNE wurde weder im Sinne einer Übersetzung kopiert, noch voll­ merkt worden ist und seitdem durchaus nicht einhellig als maßgeb­ ständig ersetzt, er wurde SAUE“MSZKRS , wobei in die neugeschaffe­ lich angesehen wurde.13 Damit ist aber erst eine Art und Weise von ne Form das Substantielle der Skulptur — ihre spezifische ästheti­ Goltzius’ künstlerischem Umgang mit der Skulptur herausgearbeitet sche Artikulation - als skulpturale Qualität eingegangen ist. worden. Um einen weiteren Modus zu erschließen, betrachten wir Die Freistellung der Figur im Bild, die zwar weit ausschreitet, aber lebendigung der Skulptur bereits durch das Sujet vorgegeben ist.14 den 1593 geschaffenen pyäZAHKMU (Kat. Nr. IV11), bei dem die Ver­ durch den schmalen bildparallelen Erdstreifen der zum Vordergrund hin ansteigenden Landschaft dennoch wie auf einem Postament Der Bildhauer sitzt in einer weitgehend unbestimmten Ateliersitua­ präsentiert wird, schafft bildintern skulpturale Rahmenbedingungen, tion auf einem Kapitell und schaut die an der antiken uRUNEL,NmKo die Herkules’ skulptural hergeleiteten Körper in einer für die Groß­ iA orientierte Galatea sehnsüchtig an. In der einen Hand noch das skulptur charakteristischen kolossalen Monumentalität erscheinen Bildhauereisen haltend, mit dem er Galatea geschaffen hat, reicht er lassen. Zudem bewirkt die durch Licht- und Schattenkontrast he­ ihr - wie von Ovid beschrieben - mit der anderen Blumen, da Pyg­ rausmodellierte Muskulatur des unmittelbar an die Bildgrenze he­ malion im Kunstwerk ein reales Wesen erblickt.15 Und tatsächlich rangerückten Herkules eine der Skulptur äquivalente körperliche scheint Galatea eine Annahme mit den Fingern ihrer rechten Hand Präsenz. Dabei wird Herkules — wie oben hervorgehoben - einer zumindest anzudeuten. Ja, ihre ganze Haltung scheint in eine Bewe­ durch das Großformat forcierten nahsichtigen Betrachtung zugäng­ gung überzugehen, was das Eintreten ins Leben und damit eine tat­ lich, die seinen Körper als eine vom Auge zu durchwandernde ana­ sächliche Verlebendigung des Kunstwerks bedeuten würde. Gala­ tomische Landschaft erscheinen lässt. tea hat mit dem vorderen Fuß die Bodenplatte teilweise bereits ver­ lassen, während der auf den Ballen angehobene hintere Fuß den da­ zu nötigen Impuls gibt. Vom angedeuteten Verlassen des Sockels her gesehen, wirkt der leichte S-Schwung ihres Körpers wie eine an­ hebende elegante Laufbewegung, bei der auch die Arme ins Schwin­ gen geraten, so dass sich die lebendig gewordene Galatea in ihrer gänzlich unverhüllten Schönheit präsentieren würde. 78 I MARTIN K1RVES Im Gegensatz zu Herkules ist Galatea innerhalb der Bildwelt aber Der Pygmalion-Stich ist also eine programmatische Reflexion über keine lebendige Person, sondern - trotz aller Andeutungen - eine den Status der Kunst, über ihr Potenzial und ihre Reichweite, die cha­ Skulptur. Während einfachere Lösungen des vom Sujet vorgegebe­ rakteristischerweise gerade anhand der Skulptur darlegt wird.19 Im nen Darstellungsproblems Galatea zur Hälfte oder bereits vollstän­ Gegensatz zu den bisher betrachteten Werken der voritalienischen dig verwandelt zeigen, fokussiert Goltzius die Verwandlung von der Zeit haben wir es nicht mit skulpturalen Figuren zu tun, hier ist die Skulptur her, ohne dass dabei der kategoriale Sprung vom Kunstwerk Skulptur selbst mit den Mitteln der Druckgraphik dargestellt worden. zum Lebewesen bereits erfolgt wäre. Goltzius lotet hier die Gat­ Um dies auf die beschriebene diffizile Weise einer Verschränkung zwi­ tungsgrenzen aus. Auch wenn die Differenzen zwischen Pygmali­ schen Skulptur und realer Figur überhaupt leisten zu können, bedurf­ on und Galatea, was die Formierung der Körper und ihre von der te es zuvor der Erkundung des Skulpturalen an der Skulptur selbst. Licht-Schatten-Wirkung bestimmte Erscheinungsweise angeht, äu­ ßerst gering sind, wird Galatea eindeutig als Skulptur gesehen, die freilich gerade im Begriff steht, ihr ,bloßes* Skulptur-Sein zu über­ Goltzius’ Staunen winden.16 Ist bei Galatea ein Überschreiten der Skulptur angelegt, erfolgt im Gegenzug eine Annäherung Pygmalions an die Skulp­ Für eine damalige Künstlerkarriere recht spät, nämlich nicht in den tur. Wird Pygmalion durch das Kapitell skulptural ausgerichtet, Ausbildungsjahren, sondern als weithin bekannter Künstler zog sind es vor allem seine Augen, die denjenigen Galateas gleichen. Goltzius 1590 mit 32 Jahren nach Rom. In der hagiographisch ver­ Durch die starke Verschattung wirken sie beinahe pupillenlos, und fassten Vita schreibt Karel van Mander, dass Goltzius schwer krank gerade die pupillenlosen Augen sind das markanteste skulpturale gewesen sei und wenig Hoffnung auf Heilung bestanden habe, er in Merkmal Galateas. Rom jedoch gesundet sei, während ihn nach der Rückkehr nach Haarlem zwei Jahre später die alte Krankheit erneut heimgesucht Weit mehr als um Galateas Verwandlung ging es Goltzius bei der habe.20 Die Pilgerfahrt zur Kunst also, namentlich zu den Skulptu­ wechselseitigen gattungsüberschreitenden Annäherung um die chi- ren der Antike, hatte ihn geheilt, und solange er in ihrer Sphäre astische Verschränkung zwischen Kunstwerk und Künstler, ihre spe­ weilte, ist er bei Kräften geblieben. zifische .Vermählung*, von der die Bildunterschrift spricht und die in abgeleiteter Weise auch für den Betrachter gilt und sich letztlich auf jedes Kunstwerk beziehen lässt. In Rom wurde Goltzius wieder zum Kunststudenten, der - so van Mander -, obwohl in Rom eine Seuche tobte und die Luft von Ver­ wesungsgeruch erfüllt war, die antiken Statuen zeichnete, wovon die Dem griechischen Maler Zeuxes von Herakleia entsprechend, der aus im Teyler-Museum in Haarlem aufbewahrte Studienmappe mit ins­ den schönsten Jungfrauen eine ideale Schönheit gebildet hat, schuf gesamt 64 Blättern zeugt.21 Dabei hatte Goltizus ganz offensichtlich Pygmalion eine vollkommene Frau, die - Ovid zufolge — frei von jeg­ die Begegnung mit jenen Skulpturen am tiefsten beeindruckt, die lichen Fehlern der Natur war.17 In ihrer als Kunstwerk real gewor­ ihm, sei es aus druckgraphischen Reproduktion oder durch andere denen Idealität geht das Geschöpf des Künstlers über die Lebenswelt Werke, wieTetrodes VRSONHRELpMZASKNE, gebrochen, bereits durch und hinaus. Damit ist die Sphäre der Kunst der Lebensraum der Ideali­ durch geläufig zu sein schienen. Das Ansichtigwerden der Originale tät, so dass in dieser Hinsicht die Skulptur gar nicht tatsächlich le­ ließ Goltzius jedoch - den Betrachtern auf dem Stich des VRSONHRE bendig werden muss, um eine Verlebendigung zu sein. Durch den -ASURER (Abb. 32) entsprechend - die Skulpturen mit staunenden Au­ als ihr Triumphbogen fungierenden Durchgang ist Galatea als Kunst­ gen ganz neu entdecken und sie, wie es der Künstler auf seinem v,MHH werk in den Bereich des Lebens eingetreten, wo sie — vom Bogen TMZL8RHTRmRSR zeigt, minutiös studieren und zwar nicht als vorbildli­ nobilitiert und zugleich an dieser Stelle gehalten - in ihrer verle­ che Art und Weise einer für andere Medien fruchtbar zu machenden bendigten Idealität erkannt, bewundert und begehrt wird. Dabei Figurenbildung, sondern Ae Skulptur. ist ihre Präsenz von einer derartigen Intensität, das Galatea Pygma­ lions verklärten Augen als ein tatsächlich reales Wesen erscheint, Um die in den beiden angesprochenen Stichen manifest werdende wofür Ovid den für die italienische Renaissance maßgeblichen To- Neuausrichtung von Goltzius’ künstlerischem Umgang mit der Skulp­ pos anführt, dass das wahre Kunst sei, was keine Kunst zu sein tur greifbar zu machen, kommen wir nochmals auf Rubens Traktat­ scheint.18 Um eben dieses Potenzial der Kunst darzustellen, die in­ fragment üRLKZK A KMURLE A NASNZ zurück, aus dem wir bereits anläss­ nerweltlich nicht gegebene Idealität auf eine derartige Weise zu ver­ lich des kolossalen Körpers von Herkules zitiert hatten. Schließlich anschaulichen, die sie Pygmalions absorbiertem Blick und damit wird mit dem Titel eben danach gefragt, was eine Imitation der Skulp­ potenziell jedem Betrachter als real in der Lebenswelt gegenwärtig tur zu sein habe.22 erscheint, muss Galatea auch innerbildlich Kunstwerk bleiben und als solches erkenntlich sein. Rubens zufolge ist die Nachahmung der antiken Skulpturen uner­ lässlich und müsse so intensiv betrieben werden, dass der künstle- DAS SKULPTURALE IM WERK VON HENDRICK GOLTZIUS I 79 zcöLVRUmSKiOLIMH lKNE,LVRSONHREL-ASURERöLgBhc,LPN,“RSE Kie,LCK9OEZNERNZLvZE RSmAZ,LCK9OE,SRU RUOA6KUR ,LCpopo48ogfözr. 80 I MARTIN KIRVES rische Geist von dieser Art und Weise der Figurenbildung „ganz an­ gefüllt“ sei. Dabei dürfe die Skulptur aber gerade nicht AHE Skulptur nachgebildet werden, vielmehr sei die „Materie“ (materia) von der „Gestalt“ (forma) und der „Figur“ (figura) zu unterscheiden, die in der Malerei und entsprechend auch in der Zeichenkunst und Druck­ graphik weit naturalistischer zur Darstellung kommen könne als dies in der Skulptur der Fall sei. Ganz so, wie es Rubens mit höchs­ ter Virtuosität in seinen Werken vorfuhrt, bei denen die Haut im Ge­ gensatz zur „undurchsichtigen“ Skulptur einen durchscheinenden Charakter gewinnt und dadurch eine Phänomentiefe aufweist, die der Skulptur aufgrund ihrer materiellen Beschaffenheit verschlos­ sen bleibt. Die Imitation der Skulptur besteht also eben darin, sie zu verlebendigen, wie dies Goltzius auf seine Weise beim ISMWRULVRSF ONHRE getan hatte. Angesichts der Originalwerke geht Goltzius nun aber dazu über, die Skulpturen AHE Skulpturen nachzubilden. Wer­ fen wir dazu einen vergleichenden Blick auf Rubens’ und Goltzius’ Versionen des sMSEMELTMZL8RHTRSmR (Abb. 33 und 34). Rubens imitiert die Skulptur seinen eigenen Maßgaben entspre­ chend: Die Epidermis wird gleichsam auf die Muskulatur hin trans­ zzöLpR RSLpANHLCN6RUE,LüRSLsMSEMLTMZL8RHTRmRSRL0üR AKH3,LNZLg5fc,LSM RLPSRKmR,Lzh,LBL)Lc5LiZ, DR SM,MHK AULDNERNZLM“LvS LkRqLßMSO,L­UTöLkSLcffcögcL6 parent und überall finden sich von der Bewegung des Oberkörpers hervorgerufene Einfaltungen und Aufwerfungen der Muskeln, was zu einer zerklüfteten, regelrecht anti-skulpturalen Konturlinie führt. Und während bei der Originalskulptur - wie Rubens im Traktat hervorhebt - die Beleuchtung nur allzu oft der Ausprägung des Körpers gegenläufig ist, konkretisiert sie hier seine Prägnanz, wobei die Weiß­ höhungen wie ein Eigenleuchten des Körpers wirken, das zusammen mit dem warmen Rötelton den Eindruck der Lebendigkeit verstärkt. Zur malerischen Entfaltung der Rückenpartie wählt Rubens eine eher flächige Ansicht. Trotz aller den Torso aus seinem skulpturalen Zu­ stand herauslösenden Verlebendigung, handelt es sich letztlich aber doch um eine Skulptur, was die abgearbeiteten Stellen am Gesäß deut­ lich markieren. Der Hals hingegen mündet in einen dezidiert zeich­ nerisch angelegten Haaransatz, was dem am Gesäß angedeuteten Stein geradewegs entgegensteht, so dass Rubens hier eine seinen Richtlini­ en der Imitation entsprechende Transformation der Skulptur vor Au­ gen führt.23 Demgegenüber sind bei Goltzius sämtliche Bruchstellen des Torsos mit derselben Präzision herausgearbeitet wie die unbeschä­ digte Oberfläche, wobei die weit detailliertere Steinstruktur der Bruch­ kanten den Eindruck der Materialität verstärkt, von der - Rubens zu­ folge - bei der Imitation doch gerade zu abstrahieren sei. An der lin­ ken Schulter ist eine breite ausgebrochene Stelle durch die Verschat­ tung der ins Fleisch hineinreichenden Kante eigens hervorgehoben und am ansonsten unversehrten rechten Oberschenkel eine abge­ platzte Stelle deutlich herausgearbeitet worden, die doch ohne wei­ teres hätte übergangen werden können. Auch ist die Oberfläche der Skulptur in einer Art und Weise mit schwarzer Kreide gestaltet, dass sie — von der grauen Tonalität unterstützt - ganz „nach Stein schmeckt“. Und nicht zuletzt ist im Gegensatz zum flächenartig ent­ zröLVRUmSKiOLIMH lKNE,LüRSLsMSEMLTMZL8RHTRmRSR,LgBhf7hg,LEieqASlRLPSRKmR,LVAASHRZLsRyHRSE wickelten Rücken bei Rubens eine Ansicht mit höchster raumerzeu- DNERNZ,L­UTöLkSLP­Lfzf DAS SKULPTURALE IM WERK VON HENDRICK GOLTZIUS I 81 Torsos, die zugleich eine bildliche Aussage darüber ist, wie die Imita­ tion der Skulptur zu erfolgen habe und was diese leisten könne. Entspricht Rubens’ Interpretation genau demjenigen Modus des künst­ lerischen Umgangs mit der Skulptur, den wir an Goltzius’ ISMWRZ VRSONHRE unter dem Stichwort der Verlebendigung als Transformati­ on der Skulptur herausgearbeitet haben, geht Goltzius sämtlichen von Rubens formulierten Maßgaben widersprechende Interpretation des Torsos in die genau gegenteilige Richtung. Die Skulptur wird nicht als verlebendigte Figur, sondern AHE Skulptur dargestellt, was beinhaltet, dass „Figur“ und „Materie“ nicht als voneinander abtrennbar, son­ dern genuin miteinander zusammenhängend verstanden werden. Auf unsere Begrifflichkeit bezogen bedeutet dies, dass das Skulpturale nicht als etwas von der Skulptur Loszulösendes behandelt wird, um es als Mittel für eine jenseits der Skulptur verortete Darstellung zu aktivieren. Diese Form der Bezugnahme auf die Skulptur ist daher keine Transformation, sondern ein Transfer. Zielt die Transformati­ on auf eine Verlebendigung, worin besteht dann Rir Goltzius das Dar­ stellungsziel des Transfers? Um dieses zu erschließen, betrachten wir seinen wohl berühmtesten Stich, die Rückenansicht des VRSONHRE -ASURER, der erst posthum im Jahre 1617 von Härmen Adolfsz (tätig um 1663-1622) veröffentlich worden ist und zu einer geplanten Serie von Darstellungen antiker Skulpturen gehören sollte. Im Vergleich zum ISMWRULVRSONHRE ist das Aufragen in den Himmel durch die Untersicht abermals gesteigert. Herkules scheint gar sei­ nen Kopf leicht beugen zu müssen, als ob ihm die Welt zu klein wä­ re. Die büstenartig angeschnittenen Betrachter, deren Köpfe gerade einmal bis zu Herkules’ Füßen reichen, inszenieren die Kolossalität zusätzlich, indem ihre auf Herkules’ Antlitz zielenden Blicke eine bilddurchmessende, die gesamte Skulptur einfassende Achse des Se­ hens etablieren, die auch den Bildbetrachter die Skulptur immer wie­ der in aufsteigender Richtung beschauen lässt.25 Im Gegensatz zum pyäZAHKMU wird hier die Unterschiedlichkeit zwischen Personen und Skulptur als etwas Unüberbrückbares ausgestellt und dadurch eine zBöLVRUmSKiOLIMH lKNE,LVRSONHREL-ASURER,LSM RLPSRKmR,LgBhg7hc,LVAASHRZLsRyHRSELDNERNZ, ­UTökSöLkfgh Aura der Unberührbarkeit erzeugt, welche die beiden Betrachter auf Distanz hält, aus der heraus sie Herkules voller Bewunderung be­ staunen, ganz so, als ob Ihnen die oben zitierte Äußerung Rubens’ von der verlorenen heldischen Großartigkeit durch den Kopf ginge.26 gender Torsion gewählt, wodurch die Skulptur nochmals in ihrer Ge­ genständlichkeit betont wird.24 Das Verlorene erfährt hier keine Renaissance im Sinne einer Verle­ bendigung, es wird als Denkmal präsent, das zugleich die Vollkom­ 82 I Auch wenn Goltzius’ Zeichnung im Vergleich mit Rubens’ Version menheit der Kunst der Antike vor Augen führt. Der von den bild­ den Anschein einer objektiven Bestandsaufnahme hat, handelt es internen Betrachtern vorgegebenen Rezeptionshaltung folgend, ist sich bei der Übertragung des Torsos in ein anderes Medium, wie oben auch der Bildbetrachter fasziniert von der machtvollen Muskelland- bereits hervorgehoben, dennoch um eine Neugestaltung, an der — wie schaft, deren Kraftfülle durch die rückseitig übermächtig erschei­ auf dem Stich des Apoll gezeigt — das gewahrende Auge und die schöp­ nende Keule paraphrasiert wird. Im Gegensatz zum rohen, letztlich ferische Hand des Künstlers beteiligt sind. Da also auch bei Goltzius unförmigen Stein der Keule ist Herkules’ Körper geradewegs ele­ — notwendigerweise — ein schöpferischer Spielraum ausgefullt wor­ gant und selbst in der ruhenden Haltung kraftvoll bewegt, was nicht den ist, ist auch seine Version eine zeichnerische Interpretation des zuletzt der feste Griff, mit dem Herkules die Äpfel der Hesperiden MARTIN KIRVES hält, vor Augen führt. Im Vergleich mit dem ISMWRULVRSONHRE weist cher thematisiert und im Pygmalion-Stich zum eigenständigen Bild­ auch der Körper des VRSONHREL-ASURER den Blick bindende Einzel­ thema erhoben wird. Eben dieser imaginative Aspekt der Skulptur heiten auf, doch sind diese weit mehr miteinander vermittelt und ist- nebenbei bemerkt - Gotthold Ephraim Lessings (1729—1781) vom Ganzen der Figur her entwickelt. Der Eindruck einer höheren Ausgangspunkt seiner im ’AMOMMU entwickelten Gattungstheorie. Homogenität wird durch den dunklen Ton der verschatteten Skulp­ tur befördert, die sich silhouettenhaft vor dem hellen Fond des Him­ Goltzius’ in die Druckgraphik mündender Transfer antiker Skulptu­ mels abhebt und durch diesen Figur-Grund-Kontrast zugleich in ren bringt keine Studien oder Reproduktionen, sondern Kunstwer­ ihrer Skulpturalität ausgestellt wird. Dazu arbeitet Goltzius eben ke im vollgültigen Sinne hervor, die ihr Darstellungsziel, das inhalt­ jene Opazität der Skulptur heraus, vor deren Nachahmung Rubens lich ausgerichtete Skulpturale an der Skulptur zu veranschaulichen, so eindringlich gewarnt hatte, da sie der materiellen Verfasstheit der auf derart vollendete Weise realisieren, dass diese Werke zugleich Skulptur geschuldet sei, die den Zeichner nicht binde und dazu Endpunkte innerhalb von Goltzius’ Oeuvre darstellen. Vielleicht führe, anstelle der Figur bloß Stein nachzuahmen. sind sie deshalb nicht zu Lebzeiten herausgebracht worden, zumal Das Darstellungsziel des Transfers besteht gegenüber demjenigen sich Goltzius später auf ein gänzlich neues Gebiet, nämlich die Ma­ der Transformation also darin, das Skulpturale nicht abzulösen, son­ lerei warf. Und doch führte die Entdeckung der Skulptur zu einer dern mNSie die Darstellung der Skulptur das die Skulptur wesentlich dritten Bezugsmöglichkeit, die aus der Darstellung der Skulptur AHE Auszeichnende zu entwickeln. Das Wesen der Skulptur wird zeich­ Skulptur hervorgeht: die allegorische Verdichtung, wie sie sich auf nerisch erschlossen und druckgraphisch dargestellt.27 Dazu geht dem Goltzius’ die Götter als Statuen präsentierenden pHAUR RUlyOHNE fin­ Kupferstich bei Goltzius ein zweistufiges Verfahren voraus.28 Zu­ det (Kat. Nr. II.4-7), auf den hier allerdings nicht näher eingegan­ nächst wird die Skulptur mit schwarzer Kreide ins Medium der gen werden kann. Neben den drei verschiedenen Modi der inner­ Zeichnung transferiert, wie wir dies am sMSEMLTMZL8RHTRmRSR beob­ halb von Goltzius’ Oeuvre sondierten künstlerischen Bezugnahmen achtet haben, dann — und dies ist das Bemerkenswerte - fertigt Golt­ auf die Skulptur, die Transformation, den Transfer und die allego­ zius eine Version in Rötel an, die in ihrer Konkretion des Fleisches rische Verdichtung, ist das Skulpturale - wie anhand der Bezeich­ den Charakter einer Verlebendigung hat (Abb. 35). Die weißlichen nung Jncisoria“ auf Corts akademischem Atelier angedeutet - zu­ Partien wirken — wie bei Rubens - als Eigenleuchten und doch wird dem auf der basalen Ebene der Formierung des Bildes virulent, wo­ das Skulptur-Sein nicht abgelegt. Gerade die weißlichen Stellen, rauf in einem abschließenden Ausblick eingegangen wird. insbesondere die Schulterpartie, gibt den Stein frei, so dass der Le­ bendigkeitseffekt vermittels des Steins erreicht wird. Wenn auch keine Verlebendigung, so bewirkt Goltzius’ Transfer der Skulptur Skulpturale Formierung dennoch eine im Pygmalion-Stich thematisierte Lebendigkeitswir­ kung, die durch die Forcierung des Skulpturalen an der Skulptur Betrachtet man das druckgraphische Werk von Goltzius äußerst erreicht wird. Im Bereich des Figürlichen ist das Skulpturale frei­ nahsichtig auf die mit dem Grabstichel erzeugten Lineaturen hin, lich stets auf eine konkrete inhaltliche Darstellung hin ausgerich­ wird auffällig, dass sich in der Adaption der Werke Bartholomäus tet, so dass Goltzius’ Hervortreiben des Skulpturalen darauf fokus­ Sprangers eine bestimmte Formierungsweise Bahn bricht, deren Er­ siert ist. In diesem Zusammenhang ist auch die Wahl der Rücken­ finder möglicherweise Goltzius selbst war: die taillierte Linie.29 Ei­ ansicht zu sehen. Goltzius hatte durchaus auch eine Vorderansicht nen Schwung beschreibend, setzt sie filigran ein, entfaltet sich an­ mit schwarzer Kreide gezeichnet, doch gerade die Rückenansicht schwellend und klingt, sich wieder verjüngend, aus. Wenn zu Recht kündet auf weit eindrücklichere Weise von der dargelegten Macht­ darauf hingewiesen worden ist, dass die Lineaturen des Kupferstichs fülle, die auch hier mit einer sich in der harmonisch ausgegliche­ durch den sie erzeugenden Grabstichel eine Breitenausdehnung auf­ nen Haltung mitteilenden Besonnenheit gepaart ist. weisen, so dass es sich eigentlich nicht um Linien, sondern um ne­ Die den Betrachter gefangennehmende eindrucksvolle Wirkung der gegenstände gebildet werden, bekommt die Lineatur durch die Tail- Rückenansicht rührt aber auch daher, dass die Skulptur auf gestei­ lierung zudem optisch eine räumliche Extension.30 beneinanderstehende Flächen handelt, aus denen die Darstellungs­ gerte Weise als Imaginationsgegenstand präsentiert wird. Von den bildinternen Betrachtern bestärkt, denkt der Beschauer die ihm un­ Als ein solches räumliches Gebilde wird die taillierte Linie von Wil- zugängliche Ansicht mit, was nicht in demselben Maße der Fall wä­ lam Hogarth (1657-1764) aufgegriffen, der an ihr seine Theorie re, wenn die Vorderseite dargestellt worden wäre. Wird der Imagi­ der ’KURLM“L8RAN y entwickelt. Ohne diese Theorie hier im Einzelnen nationsraum der Skulptur bei der Transformation vom Künstler auf darlegen zu können, ist sie für unseren Zusammenhang dennoch bestimmte Weise ausgefüllt, woraus die transformierte Figur her­ äußerst aufschlussreich, da Hogarth die ’KURLM“L8RAN y genuin an vorgeht, eröffnet Goltzius durch den Transfer der Skulptur den Ima­ die Skulptur zurückbindet. Er fasst sie eben nicht - wie der Begriff ginationsraum, der vermittels der bildinternen Betrachter als sol­ suggeriert - als konkrete, in einer bestimmten Gradation in die Flä- DAS SKULPTURALE IM WERK VON HENDRICK GOLTZIUS I 83 z5öLdKHHKAZLVMäAS e,LseRLvUAHyEKELM“L8RAN y,LpHA RL­,Lg1Bz,LDR SM,MHK AULDNERNZLM“LvS LkRqLßMSO,L­UTökSöLzcözB0cc3 84 I ehe ausschwingende Linie, sondern als räumliches Formierungsprin­ Ohne uns in seine Theorie zu vertiefen, kann doch festgehalten wer­ zip, das bereits selbst räumlich indiziert ist, wie es jene die ’KURLM“ den, dass Hogarth mit seiner vUAHyERLmRSLtieGUeRK bildlich von der 8RAN y konstruktiv herleitende Figur 26 auf der 1753 geschaffenen Skulptur ausgeht, weil die Skulptur reale räumliche Gebilde sind, vUAHyEKELM“L8RAN y,LpHA RL­ (Abb. 36) zeigt. Derartige Darstellungen während die Räumlichkeit in den anderen künstlerischen Medien haben Hogarth zufolge aber einzig einen Hilfscharakter, durch den fiktional ist. Als raumgenerierendes, bereits in sich räumlich verfass­ die ’KURLM“L8RAN y zwar schematisch veranschaulicht werden kann, tes Prinzip ist die ’KURLM“L8RAN y das einzig adäquate Mittel, die Figu­ die aber in eben dieser Ausformung bei der Formierung der Bildfi­ ren der Bildrealität auf eine visuell überzeugende Weise zu schaffen. guren keineswegs vorkommen muss.31 Vorbildlich realisiert findet sich Und da sich die ’KURLM“L8RAN y in den taillierten Lineaturen des Kup­ die ’KURLM“L8RAN y hingegen in den Skulpturen der Antike, die auf ferstichs konkret als Mittel der Formierung manifestiert, ist das ,sculp- dem Skulpturenhof der pHA R / versammelt sind. Bezeichnenderwei­ sit, des Kupferstichs nicht allein auf der Ebene der Werkzeuge und se ist der VRSONHREL-ASURER auch hier in Rückenansicht und in der von ihres Gebrauchs mit der Skulptur verwandt, die Lineaturen sind - Goltzius vorgegebenen dunklen Tonalität gegeben. Auch die von mit Hogarth gedacht — KULEKie skulptural verfasst. Die drei Modi der Rubens formulierte und von Golzius bildlich dargestellte grundsätz­ Bezugnahme auf die Skulptur werden daher durch die taillierte Li­ liche Differenz zwischen den Zeitgenossen und den antiken Figuren neatur von der Formierung des Bildes her in ihrem skulpturalen Cha­ hat Hogarth aufgegriffen und zur Steigerung der Augenfälligkeit ins rakter befestigt. Goltzius hatte die Darstellung seiner eigenen Hand Humoristische gewendet: der Tanzmeister steht stocksteif neben dem zunächst als Federkunststück gezeichnet, die taillierte Linie also zeich­ die ’KURLM“L8RAN y exemplifizierenden vU KUMNEL-ASURER- nerisch imitiert und dadurch als sein spezifisches künstlerisches Mit­ MARTIN KIRVES tel thematisiert. Die taillierte Lineatur ist die formale Wurzel von Golt­ zius’ skulpturaler DAUKRSAö Dementsprechend hat Goltzius auf dem 1597 gestochenen Porträt von Frederik de Vries (Kat. XII.4) hervor­ 21 Van Mander — Leben (Ed. Floerke, 1906), II, S. 235. Zu Goltzius neuem Sehen an­ lässlich der Begegnung mit den antiken Skulpturen vgl. Hirschmann 1919, S. 70-71. 22 Die hier verwendete Übersetzung ist abgedruckt in: Evers, Hans Gerhard: Peter Paul Rubens. München 1942. S. 433-434. Eine Neuübersetzung nebst einer kritischen gehoben, den Jungen oder den Sohn „naturgetreu mit phidiasischer Quellenedition des in zwei Abschriften überlieferten lateinischen Textes der 1720 in Hand“ dargestellt zu haben.33 Von hier aus ließe sich der aufgrund sei­ Paris verbrannten Originalhandschrift liefert Andreas Thielemann im Anhang seines für die Beschäftigung mit dem Traktatfragment grundlegenden Beitrags: Rubens’ Trak­ ner chronischen Unterbestimmtheit bei einer gleichzeitigen Überfül­ tat üRLKZK A KMURLE A NASNZö In: „Imitatio“ als Transformation. Theorie und Praxis der le an Konnotationen bewusst vermiedene Begriff des,Manierismus“ bei Antikennachahmung in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Ursula Rombach, Peter Sei­ Goltzius ebenso wie der im Anschluss an Karel van Mander hervor­ ler. Petersberg 2012, S. 95-150. gehobene proteische Zug seines Werks ganz neu beleuchten.34 Zum Traktat bezüglich der hier diskutierten Thematik siehe auch: Cody, Steven J.: Rubens and the „Smell Of Stone”. The Translation of the Antique and the Emulation of Michelangelo. In: Arion. A Journal of Humanities and the Classics, 20, no. 3 (Win­ ter 2013), S. 39-55. 1 Vgl. Ausst. Kat. Bremen 2014, S. 12, 52. 23 Andreas Thielemann schlägt in diesem Zusammenhang vor, statt von ,Transformati­ 2 Van Mander - Leben (Ed. Floerke, 1906), II, S. 225. 3 ebd., S. 337. für Rubens zu betonen. Thielemann 2012 (wie Anm. 22), S. 102. Da es Rubens aber 4 Piles, Roger de: Einleitung in die Malerey aus Grundsätzen. Aus dem Französischen gerade auf die durchführbare Trennung der Form von der Materie ankommt, die frei­ des Roger von Piles übersetzt. Leipzig 1760, S. 114-115. lich im Medium der Zeichnung eine Neumaterialisation erfährt, ist dennoch ,Trans­ 5 ebd. S. 113. 6 Leonardo da Vinci: Das Buch von der Malerei. Nach dem Codex Vaticanus (Urbi- 7 on4 von ,Transmaterialisation 4 zu sprechen, um die Relevanz des materiellen Faktors formation4 der adäquate Terminus. 24 Andreas Stolzenburg bezeichnet Goltzius’ Zeichnungen nach antiken Skulpturen als nas) 1270, hrsg. von Heinrich Ludwig. Wien 1882, Bd. I, S. 343, Nr. 334. „archäologisch getreue Bestandsaufnahmen, deren künstlerische Ästhetik dennoch Zur Vorbildlichkeit Tetrodes, auch über den VRSONHRELpMZASKNE hinaus, vgl. Goddard, vollauf überzeugt.“ Stolzenburg, Andreas: Hendrick Goltzius und die Antike. In: Ausst. Stephen H.: Goltzius working aroundTetrode. In: Goltzius and the third dimension, Ausst. Kat. Williamstown, Sterling and Francine Clark Art Institute, hrsg. von Ste­ Kat. Hamburg 2002, S. 17-26, hier S. 20. 25 Bei den beiden Betrachtern könnte es sich, einer von Cornelis Ploos van Amstel phen H. Goddard, James A. Ganz. Williamstown 2001, S. 3-56. Erstmals themati­ (1726-1798) im 18. Jahrhundert bemerkten, nicht mehr vorhandenen rückseitigen siert wurde Goltzius’ Bezugnahme aufTetrode von Radcliffe, Anthony: „Schardt, Te­ Notiz zufolge, um Goltzius selbst mit seinem Stiefsohn Jacob Matham oder um seine trode, and some possible sculptural sources for Goltzius.“ In: Netherlandish Manner- römischen Begleiter Jan Matthijsz Ban (1566-1624) und Philips van Winghe ism. Papers given at a Symposium in Nationalmuseum Stockholm. Sept. 21-22, 1984, hrsg. von Görel Cavalli-Björkmann. (= Nationalmusei skriftserie Bd. 4), Stockholm (1560-1592); vgl. Ausst. Kat. Amsterdam 1993, S. 362. 26 In einer 9,2 x 11,7 cm messenden, im Amsterdam Museum aufbewahrten Zeichnung 1985, S. 97-108. hat Goltzius die Porträts ganz genau auf ihren differenzierten Ausdrucksgehalt hin fest­ 8 Zur nordalpinen Ornamentalität vgl. Hetzer, Theodor: Das Ornamentale und die gelegt: Ist der hintere Beschauer mit leicht geöffnetem Mund visuell ergriffen, versucht Gestalt, hrsg. von Gertrude Berthold. Stuttgart 1987, S. 71-97. der vordere Betrachter die bewunderte Großartigkeit gedanklich zu durchdringen. Die 9 Otto Hirschmann wies zurecht daraufhin, dass sich bereits in den CGZKEieRULVRHmRU Zeichnung ist publiziert in: Ausst. Kat. Amsterdam / New York / Toledo 2003, Kat. ein neues plastisches Interesse an der Figur kund tut. Hirschmann, Hirschmann 1919, Nr. 42.3, S. 134 und: Ausst. Kat. Haarlem / London 2015 (wie Anm. 11), S. 117. S. 50. Zur Einordnung der Betrachter in die Kategorien der zeitgenössischen Affekttheorien 10 Zur Haarlemer Akademie vgl. van Thiel 1999, S. 59-90. vgl. Bätschmann, Oskar: Belebung durch Bewunderung. Pygmalion als Modell der 11 Aufgrund der olfensichdich engen konzeptionellen Zusammenarbeit mit Stradanus und Kunstrezeption. In: Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen seinen eigenständig gesetzten Pointierungen, signiert Cort hier nicht, wie für einen Kultur, hrsg. von Mathias Mayer, Gerhard Neumann. Freiburg i. Br. 1997, S. 325-370; ausführenden Stecher üblich, mit EiN,HEK , sondern bildmittig auf dem Fußschemel Weber, Gregor J. M.: verwondering. Anmerkungen zu einem Affekt der Kunstbe­ mit dem die Autorenschaft angebenden “RiK ö Die bereits 1573 von Stradanus ange­ trachtung. In: Ad Fontes! Niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts in Quellen, fertigte Vorlage ist publiziert in: Drawn from the Antique. Artists and the classical ide­ hrsg. von Claudia Fritzsche, Karin Leonhard und Gregor J. M. Weber. Petersberg al, Ausst. Kat. Teylers Museum, Haarlem, Sir John Soane’s Museum, London, hrsg. von Adriano Aymonino, Anne Varick Lauder. London 2015, S. 96. 12 2013, S. 386-408. 27 Vgl. dazu Doris Krystofs Hinweis auf den Lehrsatz von Goltzius’ spirituellem Men­ Eine Übersicht mit einer Quellenkompilation zum Wettstreit der Künste bietet Hess­ tor Dirck Volkertsz Coornhert in seiner JRmRONUE , dass das Bild zur Erkenntnis des We­ ler, Christiane J.: Zum Paragone. Malerei, Skulptur und Dichtung in der Rangstreit­ sens der Dinge führe; Krystof 1997, S. 125. kultur des Quattrocento. Berlin 2014. 28 Vgl. Abgekupfert. Roms Antiken in den Reproduktionsmedien der Frühen Neuzeit, 13 Ausst. Kat. Williamstown 2001, S. 13 Ausst. Kat. Kunstsammlung und Sammlung der Gipsabgüsse, Universität Göttingen 14 15 Eine Übersicht über die künstlerische Behandlung der Pygmalion-Themas bietet 2013-2014, hrsg. von Manfred Luchterhandt, Lisa Roemer, Daniel Graepler und Jo­ Blüm, Andreas: Pygmalion. Die Ikonographie eines Künstlermythos zwischen 1500 hannes Bergemann. Göttingen 2013, S. 23; Ausst. Kat. Haarlem / London 2015 (wie und 1900. Frankfurt a. M. [u. a.] 1988. Anm. 11), S. 111. Ovid, Metamorphosen, X, Z. 243-297. 29 16 Vgl. zum transitorischen Aspekt der Skulptur Ariane Mensgers Charaktersierung in: Zur Entwicklung der erstmals bei dem 1585 nach Bartholomäus Spränget gestoche­ nen Kupfer DASELNUmLuRUNELTMULuNHOAULa6RSSAEie deudich ausgeprägten Taillierung der Ausst. Kat. Basel 2016, S. 64 Linie vgl. Hirschmann 1919, S. 47-57. Vgl. auch Roettig, Petra: ’Oh gelehrter Sti­ 17 Ovid, Metamorphosen, X, Z. 243-246. chel, oh kunstfertige Hand4. Über Schrift und Bild in den Kupferstichen von Hen­ 18 ebd., Z. 254-255. drick Goltzius. In: Ausst. Kat. Hamburg 2002, S. 22-26. 19 Der mit dem Pygmalion-Stich verbundene theoretische Anspruch wird zusätzlich 30 Vgl. Friedrich, Alexander: Handlung und Gestalt des Kupferstiches und der Radie­ turenhofs der römischen Villa Sassi, wie ihn Maarten van Heemskerck auf seinem 31 Vgl. Kirves, Martin: Das gestochene Argument. Berlin 2012, S. 376-406. 1532 geschaffenen, im Haarlemer Frans-Hals-Museums aufbewahrten kunsttheore­ 32 Hogarth, William: Die Analyse der Schönheit. Dresden 1995, S. 17. tischen Bild ’NOAELZAH LmKRLDAmMUUA zeigt. 33 Ketelsen, Thomas: Hendrick Goltzius und die Metamorphose des Stichels. In: Ausst. deutlich durch die Übernahme der grundsätzlichen räumlichen Disposition des Skulp­ 20 Van Mander-Leben (Ed. Floerke, 1906), II, S. 231, 241. Zur Vita van Manders vgl. Müller, Jürgen: Die Masken der Schönheit. Die Vita des Hendrick Goltzius im ,Schil- rung. Essen 1931, S. 17-26. Kat. Köln 2012, S. 33- 62, hier S. 33. 34 Van Mander - Leben (Ed. Floerke, 1906), II, S. 247. der-BoecK Karel van Manders. In: Ausst. Kat. Hamburg 2002, S. 12-16. DAS SKULPTURALE IM WERK VON HENDRICK GOLTZIUS I 85