N° 02
2021
Frauen und
Corona-Proteste
Nadine Frei
Ulrike Nack
Basler Arbeitspapiere
zur Soziologie
Basel Working Papers
in Sociology
doi: 10.31235/osf.io/bn8vk
© 2021
Nadine Frei
Ulrike Nack
Herausgegeben durch / published by:
Seminar für Soziologie, Universität Basel
Seminar for Sociology, University of Basel
Gestaltung / Design: Heidi Franke
Inhaltsverzeichnis
Abstract
2
Einleitung
Erste Perspektive: Impfungen als Angriff auf die Natur und das Weibliche
3
5
Zur Neubestimung der Geschlechterverhältnisse
Polarisierung der Geschlechtscharaktere und Verwissenschaftlichung der Differenz
Romantisches Naturverständnis und Idealisierung des Weiblichen
Zweite Perspektive: Die Affirmation der Hoheit über die Sorge um die
Angehörigen als Gefährdung der Gesellschaft
Die Sorge um die Angehörigen
Der Widerspruch der Trennung von privat und öffentlich
Fazit
Referenzen
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7
9
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15
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Abstract
Unser Artikel unterbreitet einen theoriegeleiteten Deutungsvorschlag zur Frage, wie die
breite Beteiligung von Frauen an den Corona-Protesten verstanden werden kann. Dafür
betrachten wir zwei zentrale Themen ihres Protestes: Impfen und Sorge um ihre Angehörigen. Aus einer soziologischen Perspektive zeigen wir auf, inwiefern ihr Protest die
für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft konstitutive vergeschlechtlichte Trennung
zwischen privater und öffentlicher Sphäre affirmiert und welche Rolle romantisches
Denken darin einnimmt. Die Frauen nehmen die ihnen zugewiesene gesellschaftliche
Rolle der sorgenden Frau und des Naturwesens an. Aus einer philosophischen Perspektive beleuchten wir, wie diese Affirmation mit einer Gefährdung der Gesellschaft einhergeht. Diese gründet, wie wir mit Hegel offenlegen, in einem Widerspruch von Frau und
Gesellschaft. In ihrem Protest zeigt sich paradigmatisch die dialektische Bewegung von
Affirmation und Gefährdung der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung.
Schlüsselwörter
Corona-Protest, Frauen, Geschlechterverhältnisse, Impfung, Romantik, Hegel
Our article proposes a theoretical interpretation of women‘s broad participation in the
coronavirus protests. For this purpose, we consider two central themes of their protest:
vaccination and caring for their loved ones. From a sociological perspective, we show
how their protest affirms the gendered division between the private and the public
spheres that is constitutive of bourgeois capitalist society, and what role romantic
thought plays in this. The women accept the social role assigned to them as caring
women and creatures of nature. From a philosophical perspective, we illuminate how
this affirmation is accompanied by a threat to society. That threat is based, as we point
out with Hegel, on a contradiction of woman and society. Their protest reveals paradigmatically the dialectical movement of affirmation and endangerment of the bourgeois
capitalist order.
Keywords
Corona-virus protest, women, gender relations, vaccination, romanticism,
Hegel
2
N° 2
Einleitung
In der Analyse der Corona-Pandemie und
ihren Auswirkungen wird in medialen,
aber insbesondere in wissenschaftlichen
Debatten von Anfang an auch eine Geschlechterperspektive eingenommen. Bestehende geschlechtliche Ungleichheiten
werden durch die coronabedingten Maßnahmen und eine damit im Verbindung
stehende wirtschaftliche Krise verschärft
(vgl. Kohlrausch und Hoevermann 2020).
Frauen sind – aufgrund der horizontalen
und vertikalen Segregation in der Berufssphäre – nicht nur von einer stärkeren Arbeitsbelastung u.a. aufgrund veränderter
Abläufe, intensiverer emotionaler Beanspruchung und einem erhöhten Infektionsrisiko betroffen, sondern übernehmen
auch mehr Verantwortung für die zunehmende Reproduktionsarbeit im privaten
Bereich, zum Beispiel im Homeschooling
oder der zusätzlichen Kinderbetreuung
(vgl. Kohlrausch und Zucco 2020; Villa
2020; Möhring et al. 2020; Petzold et al.
2020).1 Trotz der zunehmenden Thematisierung der Auswirkungen auf Frauen im
Bezug auf die Corona-Krise fehlt eine geschlechtsspezifische Analyse in der Untersuchung der aktuell in Deutschland, in der
Schweiz und in Österreich stattfindenden
Corona-Proteste. Wenngleich bislang keine
empirische Einzel-Untersuchung zu den
Frauen, die an den Corona-Protesten in den
deutschsprachigen Ländern teilnehmen,
vorhanden ist, so lässt sich zumindest aus
den Studien von Nachtwey et al. (2020) und
Koos (2021) Folgendes gewinnen: Bei den
protestierenden Frauen handelt es sich vornehmlich um bürgerliche Frauen mit höherem Bildungsabschluss und deutscher
respektive österreichischer oder schweizerischer Staatsbürgerschaft, die gegenüber
–
Die aufgelisteten Momente sind nicht die einzigen
Gefährdungen für Frauen unter Coronabedingungen.
Zu ihnen gehören auch die steigende Gewalt gegen
Frauen unter Ausgangsbeschränkungen
(Steinert/Ebert 2020) oder die massiven
1
esoterischem Denken offen sind, die
Impfthematik als relevant ausweisen und
ihre Sorge um Kinder ausdrücken.
Wir diskutieren im Folgenden aus zwei eng
miteinander verwobenen Perspektiven –
einer soziologischen und einer philosophischen – heraus die Frage, was diese Frauen
dazu bewegen könnte, sich an den CoronaProtesten zu beteiligen. Es handelt sich um
eine theoriegeleitete Analyse, deren Thesen empirisch zu prüfen wären. Unser Anliegen ist es, weitere Debatten dieses bislang zu wenig beachteten Themas anzuregen. Für unsere Analyse nehmen wir zwei
zentrale Anliegen der Corona-Proteste in
den Blick: das Impfen und die Sorge um
ihre Angehörigen. Es sind vor allem
Frauen, so unsere erste These, die gegen
eine, aus ihrer Sicht drohenden, allgemeinen Impfpflicht auf die Straße gehen und
die weder sich selbst, noch ihre Kinder,
dem Leid oder den möglichen Nebenwirkungen der Impfung aussetzen wollen.
Und es sind vor allem Frauen, entsprechend unserer zweiten These, die die Maßnahmen gegen das Coronavirus als leidvolle Erfahrung und Einschränkung ihrer
Sorge um ihre Angehörigen wahrnehmen
und deswegen gegen sie aufbegehren. Wir
deuten ihre Teilnahme an den Corona-Protesten als eine Affirmation der ihnen zugewiesenen gesellschaftlichen Rolle: Sie erfüllen und verteidigen eine romantische
Vorstellung von Natur und die ihnen gesellschaftlich zugewiesene Sphäre des Privaten. Diese Affirmation stützt die für die
bürgerlich-kapitalistische
Gesellschaft
konstitutive vergeschlechtlichte Trennung
zwischen der privaten und der öffentlichen
Einschränkungen von Frauen mit Migrations- und
Fluchthintergrund (über die Auswirkungen der
Corona-Maßnahmen für Geflüchtete allgemein vgl.
Berger 2020).
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3
Sphäre.2 In der Verteidigung der privaten
Sphäre als ihre Sphäre liegt allerdings ein
genuin gesellschaftsgefährdendes Moment, welches auch in den Corona-Protesten zum Ausdruck kommt: Indem die Frau
eine spezifische Vorstellung von Natur und
damit der ihr zugewiesenen privaten
Sphäre verteidigt, stellt sie sich gegen die
Gesellschaft. Indem sie sich gegen die Maßnahmen zum Schutz der Gesellschaft3 ausspricht, gefährdet sie eben jene Gesellschaft, auf deren Rollenzuteilung sie sich
in ihrem Protest beruft.
Ziel unserer Überlegungen ist es, eine allgemeine dialektische Bewegung aufzuzeigen, die in den Corona-Protesten der
Frauen geradezu paradigmatisch hervortritt: Die für die bürgerlich-kapitalistische
Gesellschaft konstitutive vergeschlechtlichte Sphärentrennung birgt trotz Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse
gleichzeitig eine Gefährdung der Gesellschaft. Wir werden dies aus zwei verschiedenen Perspektiven verdeutlichen. Aus einer soziologischen Perspektive nehmen
wir die These, dass manche Frauen Impfen
als Angriff auf die Natur und in der Konsequenz auf sich selber sehen, in den Blick.
Zur ihrer Untersuchung erfolgt ein Abriss
der Neubestimmung der Geschlechterverhältnisse im Übergang zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Dabei beziehen
wir uns insbesondere auf marxistisch-
feministische Theorien, welche die kapitalistische Ausdifferenzierung von privater
und öffentlicher Sphäre vergeschlechtlicht
denken und damit zum Teil auf ältere Debatten innerhalb der Soziologie beziehungsweise den Anfängen der institutionalisierten Geschlechterforschung. Wir betrachten die vergeschlechtlichte Trennung
zwischen privater und öffentlicher Sphäre
unter den Aspekten einer dichotomen Vorstellung von Natur und Kultur sowie einer
Ausdifferenzierung zwischen Heim und
Markt. Um zu verstehen, wie es zur gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Sphärentrennung gekommen ist, setzen wir uns
mit der Romantik auseinander, der nicht
nur eine Idealisierung der Natur inhärent
ist, sondern auch die Idealisierung von
Emotionalität, Mütterlichkeit und Gemeinschaft. Das Vorgehen lässt verstehen, inwiefern Impfen als Angriff auf die Natur
aufgefasst werden kann und inwiefern
Frauen, die ihre gesellschaftliche Zuweisung in die private Sphäre und die Vorstellung von sich selbst als Naturwesen akzeptieren, Impfen als einen Angriff auf sich
selber sehen.
Aus einer philosophischen Perspektive befassen wir uns eingehender mit der Problematik der Sorge um die Angehörigen. Unsere These ist, dass die Affirmation der
Rolle der Frau, die durch die vergeschlechtliche Trennung von privater und
–
2
Wir verstehen unter Kapitalismus einen
„übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhang“
(Degele/Winker 2011: 71). Dieser setzt die
Akkumulation von Kapital zum höchsten Zweck jeder
(Re)produktion. Die kapitalistische Produktionsweise
strukturiert die Produktion von Gütern, die soziale
Reproduktion und zwischenmenschliche Beziehungsund individuelle Subjektivierungsweisen entlang der
Achsen Klasse, Geschlecht und race (Knapp/Klinger
2007). Damit ist nicht gesagt, dass jede
gesellschaftliche Erscheinung durch Kapitalismus
determiniert ist, noch dass es keine
gesellschaftlichen Bewegungen geben kann, die sich
gegen kapitalistische Strukturierungen richten. Das
Gegenteil ist der Fall. Gleichwohl nehmen wir
Kapitalismus als Grundstruktur moderner
Gesellschaften an, dem vergeschlechtliche und
4
N° 2
rassistische Ungleichheiten inhärent sind (vgl.
Aulenbacher et al. 2012). Vgl. im Weiteren Adamczak
2017; Mies 2015; Scheele/Wöhl 2018).
Nicht alle staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung
der Corona-Pandemie zielen auf die Gesundheit der
Mitglieder der Gesellschaft, sondern setzen sich z.B.
Wirtschaftsförderung zum Ziel. Auch scheinen
manche Maßnahmen, etwa die Abriegelung von
Gefängnissen und Geflüchtetenunterkünften, die
Gesundheit der direkt Betroffenen eher wenig zu
berücksichtigen. In Bezug auf die zentralen Themen
der beteiligten Frauen an den Corona-Protesten sind
vor allem jene staatlichen Maßnahmen relevant, die
unter der Begründung des gesundheitlichen Schutzes
der Gesellschaft erlassen werden.
3
öffentlicher Sphäre geschaffen wird, eben
jene Gesellschaft gefährden kann, die auf
dieser Trennung beruht. Wir deuten die Beteiligung von den Frauen an den CoronaProtesten, die aufgrund der Sorge um ihre
Angehörigen protestieren, als Verteidigung ihrer Hoheit über die private Sphäre.4
In der Verteidigung der Sorge um ihre Angehörigen stellen sie sich zum vermeintlichen Schutz ihrer Nächsten gegen die
staatlichen Maßnahmen zum Schutz der
Gesellschaft. Unter Rückgriff auf Hegels
Überlegungen zum Verhältnis von Frau
und Gesellschaft entwickeln wir die Deutung, dass diese Gefährdung auf dem Widerspruch der Trennung von privater und
öffentlicher Sphäre beruht und dahingehend den bürgerlich-kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnissen geradezu
eingeschrieben ist.
Erste Perspektive: Impfungen als
Angriff auf die Natur und das
Weibliche
Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie kristallisiert sich eine Haltung heraus,
die als Kritik gegen eine Impfpflicht zur Bekämpfung des Corona-Virus formuliert
wird (vgl. Frei et al. 2021: 253), aber im
Grunde eine ablehnende Haltung gegenüber Impfungen generell meint.5 Impfkritik ist zwar kein neues Phänomen,6 jedoch
ergeben sich für Impfgegner:innen mit den
aktuellen Corona-Protesten Anknüpfungsmöglichkeiten, diese Kritik im Rahmen
eines größeren Protestes auf die Straße zu
tragen. Eine Idealisierung der Stärke des
Immunsystems, naturgegebene (Selbst)Heilungskräfte, die Natürlichkeit der eigenen Immunkraft sowie die Reinheit des
Körpers werden der Unnatürlichkeit und
Künstlichkeit, die dem Impfen und den
Pharmaunternehmen attestiert werden,
gegenüber gestellt. In diesem Kontext diskutieren wir aus einer historisch-soziologischen Perspektive folgende These: Manche
Frauen nehmen das Impfen als Angriff auf
die Natur im Allgemeinen und auf das
Weibliche im Besonderen wahr.
Die gesellschaftliche Zuweisung der Frau
als Naturwesen auf die private Sphäre und
die damit verknüpfte Vorstellung des
Weiblichen sind moderne Entwicklungen,
die zwar seit ihrem Ursprung Veränderungen unterworfen sind, denen jedoch eine
gewisse Kontinuität eigen ist, wie wir am
Beispiel der Corona-Proteste argumentieren. Um dem geschlechtsspezifischen Zusammenhang zwischen der privaten und
der öffentlichen Sphäre, Natur und Kultur
sowie Heim und Markt nachzugehen, blicken wir zunächst auf die Neubestimmung
der Geschlechterverhältnisse im Übergang
zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Wir konzentrieren uns dabei auf
drei Momente: Erstens skizzieren wir die
mit der Entstehung des Kapitalismus einhergehende Ausdifferenzierung zwischen
–
4
Exemplarisch zur Zurückweisung von staatlichen
Maßnahmen und die Verteidigung des elterlichen
Hoheitsgebietes siehe die Website
www.elternstehenauf.de (Stand 21.04.2021).
5
Ihre Kritik ist nicht begründet in einer staatlich
angekündigten Impfpflicht, vielmehr wird eine solche
von ihnen behauptet. Es geht in unseren
Überlegungen also nicht um Impfskeptiker:innen im
Allgemeinen, sondern um Impfgegner:innen, die ihre
Ablehnung von Impfungen in einem rechtsoffenen
Protest artikulieren.
6
Das Impfen hat eine lange kontroverse Geschichte,
deren Anfang sich ins 18. Jahrhundert datieren lässt
(vgl. Krüger/Krüger 2015: 100). Reich rekonstruiert in
ihrer qualitativen soziologischen Studie über das
Impfen in den USA Begründungen von Eltern, mit
denen diese ihre ablehnende Haltung gegenüber
Impfungen rechtfertigen. Nach Reich verstehen sich
Eltern als Expert:innen ihrer eigenen Kinder, weshalb
sie ihrem eigenen Urteil mehr vertrauen als
»qualifizierten« Expert:innen (vgl. Reich 2016.: 67ff.).
Sie lehnen Impfungen mit der Begründung ab, dass
diese ein künstlicher Eingriff gegenüber der
natürlichen Immunkraft darstellen (vgl. Reich 2016:
97ff.). Zudem hegen sie ein tiefliegendes Misstrauen
gegenüber Pharma-Unternehmen (vgl. Reich 2016:
118).
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5
Heim und Markt.7 Zweitens fokussieren
wir uns auf die Etablierung der Vorstellung
einer grundlegenden Andersartigkeit von
Frauen und Männern, mit der eine Abkehr
von einer aristotelischen und christlichen
Tradition einhergeht, in der eine Inferiorität der Frau in ihrem Defizitcharakter zum
Mann gesehen wurde (vgl. Badinter 1984:
20f.). Die neue, nun natürliche8, Legitimation der Geschlechterverhältnisse versucht, im modernen Geschlechterverhältnis den „vernünftige[n] Plan und Zweck der
Natur“ (Hausen 2001: 169) wissenschaftlich
nachzuzeichnen. Verschiedene Wissenschaften – wir gehen veranschaulichend
auf die damals noch junge Soziologie ein –
interessieren sich für die Geschlechterdifferenz, um diese gleichsam zu legitimieren. Drittens wird die Bedeutung der Romantik mit ihrem spezifischen Naturverständnis in den Blick genommen. Die Romantik spielte die Rolle der bejahenden Ideologie, welche die Neubestimmung der Geschlechterverhältnisse nicht nur begrüßte,
sondern in einer Weise verklärte, die die
(gewaltvollen) gesellschaftlichen Verhältnisse außer Acht lässt. Dies lässt sich anhand zweier Aspekte im romantischen
Denken gut zeigen: erstens der Trennung
von Natur und Kultur, welche die Reinheit
der Natur behauptet und diese idealisiert,
um im gleichen Atemzug die Künstlichkeit
der Kultur abzulehnen. Zweitens anhand
der normativen Unterscheidung zwischen
Gemeinschaft und Gesellschaft, wobei die
private Gemeinschaft der anonymen Gesellschaft vorzuziehen sei. Die der Natur
und der Gemeinschaft zugesprochenen
Werte wurden in der Romantik idealisiert
und erhöht – und gleichzeitig damit die
Frau, der als »Naturwesen« der Bereich »Gemeinschaft«, also der privaten Sphäre,
zugewiesen wurde. Die natürliche und umsorgende Weiblichkeit wurde im romantischen Denken ein Ideal. Die Ausdifferenzierung von Heim und Markt, die mit einer
binären und hierarchischen Vorstellung
der Geschlechter einherging und die im romantischen Denken idealisiert wurde, bietet (noch) heute eine Grundlage zum Verständnis der Impfablehnung, welche
Frauen an den Corona-Protesten zum Ausdruck bringen. Erst die Akzeptanz der Vorstellung des romantisierten dualistischen
Geschlechterverhältnisses, welches Frauen
zu Naturwesen stilisiert, macht plausibel,
wie Impfungen von manchen Frauen als
Angriff auf die Natur und auf den eigenen,
natürlichen Körper verstanden werden
können.
Zur Neubestimung der
Geschlechterverhältnisse
Im Folgenden skizzieren wir, um die Neubestimmung der Geschlechterverhältnisse
im Übergang zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft im Kontext einer vergeschlechtlichten Sphärentrennung zu verorten, die historische Ausdifferenzierung
zwischen Markt und Heim mit Marx und
daran anknüpfend Federici. Marx analysiert den jahrhundertelangen Übergang
von der feudalen in die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft mit Fokus auf die Produktions- und Eigentumsverhältnisse und
die damit verbundenen Konsequenzen für
die Gesellschaftsordnung, welche die Sphärentrennung von Heim und Mark einschließt. Er wendet sich gegen liberale
Ökonomen wie Smith und Ricardo, die mit
ihren „Robinsonaden“ (MEW 23: 90) Positiverzählungen des Kapitalismus entworfen
hätten, nach denen dieser zum Wohle aller
–
7
Wobei anzumerken ist, dass die Trennung zwischen
privater und öffentlicher Sphäre nicht einfach auf
Heim und Markt zu verkürzen ist, auch wenn wir
diese Begriffspaare im Folgenden eng verknüpft
verwenden.
6
N° 2
»Natürlich« meint hier einen Begründungsmodus,
der durch den Rückgriff auf die Vorstellung einer
unveränderbaren und gegebenen Natur die
Geschlechterdifferenz als selbstverständlich und
unabänderlich auszuweisen sucht.
8
entstanden sei. Im Gegensatz zum liberalen Fortschrittsenthusiasmus, welcher das
Freiheitsmoment gegenüber der feudalen
Leibeigenschaft hervorhebt, verweist Marx
auf die Gewaltförmigkeit der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft. Im Zuge der
„sogenannte[n] ursprüngliche[n] Akkumulation“ (MEW 23: 741) werden die von ihren
Produktionsmitteln getrennten Produzent:innen gezwungen, ihre Arbeitskraft
auf dem Arbeitsmarkt zu verkaufen. Marx
spricht vom „historischen Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel“ (MEW 23: 742) als grundlegende Voraussetzung für die Entstehung des Kapitalismus, mit dem eine Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre, also
von Heim und Markt, einhergeht. Federici
orientiert sich in ihrer Akzentuierung der
Neubestimmung der Geschlechterverhältnisse an Marx, kritisiert jedoch seine Geschlechtsblindheit: Nicht nur die Enteignung der existentiellen Grundlagen der
Bäuer:innen sei für die Herausbildung des
Kapitalismus notwendig gewesen, sondern
ebenso die „Zerschlagung der Macht der
Frauen“ und das Vorantreiben ihrer „Unterordnung unter die Erfordernisse der Arbeitskraftproduktion“ (Federici 2015: 82).9
Nicht nur die Entmachtung der Frauen und
ihre Anpassung an die Arbeitskraftproduktion geschehe gewaltvoll, auch ihre Zuweisung zu der Sphäre des Weiblichen – der
Sphäre des Privatem bzw. des Heimes – sei
ein Akt der Gewalt. Mitunter aufgrund dieser gewaltvollen Bewegung stellt sich die
Frage, auf welche Weise die Zuweisung der
Frau zur privaten Sphäre/dem Heim und
die Zuweisung des Mannes zur öffentlichen
Sphäre/dem Markt gesellschaftlich legitimiert wird?10 Um dieser Frage nachzugehen, charakterisieren wir im Folgenden die
wissenschaftliche »Entdeckung« der Natur
und die »Erfindung« des Weiblichen.
Polarisierung der
Geschlechtscharaktere und
Verwissenschaftlichung der Differenz
Die vergeschlechtlichte Ausdifferenzierung zwischen Heim und Markt wird begleitet von einer wissenschaftlich begründeten Vorstellung von der grundlegenden
Andersartigkeit von Frauen und Männern.
Hausen (2001) macht den ideologischen Ursprung polarisierter Geschlechtscharaktere im 18. Jahrhundert aus. Die Idee der
Geschlechtscharaktere11, womit eine je
–
9
Sie sieht darin die Erklärung für die Ermordung
hunderttausender Frauen während der
Hexenverfolgungen (vgl. Federici 2015: 206). Darin,
„der Kontrolle, die Frauen über ihren Körper und die
Reproduktion ausgeübt hatten, ein Ende zu setzen“,
sieht sie einen „genuinen Krieg gegen die Frauen“
(Federici 2015: 111).
beobachten war vielmehr eine Trennung in den
finanziell bedeutsamen außerhäuslichen Bereich, in
welchem zunehmend nur Männer tätig waren und die
sozial weniger bedeutsame Hausarbeit, welche vor
allem von Frauen erledigt wurde (vgl. Honegger und
Heintz 1984: 14ff.; auch Mies 2015).
Hausen ausführlicher: „Die variationsreichen
Aussagen über »Geschlechtscharaktere« erweisen
sich als ein Gemisch aus Biologie, Bestimmung und
Wesen und zielen darauf ab, die »naturgegebenen«,
wenngleich in ihrer Art durch Bildung zu
vervollkommnenden Gattungsmerkmale von Mann
und Frau festzulegen. Den als Kontrastprogramm
konzipierten psychischen
»Geschlechtseigenthümlichkeiten« zu Folge ist der
Mann für den öffentlichen, die Frau für den
häuslichen Bereich von der Natur prädestiniert.
Bestimmung und zugleich Fähigkeiten des Mannes
verweisen auf die gesellschaftliche Produktion, die
der Frau auf die private Reproduktion. Als immer
wiederkehrende zentrale Merkmale werden beim
Manne die Aktivität und Rationalität, bei der Frau die
Passivität und Emotionalität hervorgehoben“
(Hausen 2001: 166).
11
Wir werden zwar nachzeichnen, auf welche Weise
durch vergeschlechtlichte Sphärentrennung zwischen
Heim und Markt die moderne patriarchale Ordnung
legitimiert wird, allerdings sei an dieser Stelle
erwähnt, dass im Übergang zur kapitalistischen
Gesellschaft Momente zu finden sind, in denen der
Einflussbereich von Frauen bedeutsam war. In der
frühindustriellen Arbeitsorganisation löste die sich
verbreitende Heimindustrie allmählich die
Landwirtschaft ab, wodurch die häusliche Sphäre
und die Arbeit von Frauen zunächst an Bedeutung
gewannen. In der Familienökonomie hatten Frauen
dabei eine zentrale Funktion, insofern ihre Macht auf
Produktion und direkter Kontrolle von
lebensnotwendigen Entscheidungen beruhte. Diese
Bedeutung nahm aber im Zuge der Industrialisierung
und des Niedergangs der Heimarbeit ab. Zu
10
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7
spezifische Natur gemeint ist bzw.
wodurch das „Wesen von Mann und Frau“
(Hausen 2001: 162) erfasst werden soll, ist
eine moderne Erfindung. Die Vorstellung,
dass Männer und Frauen „Träger und Trägerinnen qualitativ anderer Charaktere“
(Connell 2000: 88) sind, löst eine bis dahin
vorherrschende Vorstellung von einem Defizitcharakter von Frauen ab: „Frauen werden zwar als unterschieden von Männern
wahrgenommen, aber im Sinne unvollkommener oder mangelhafterer Exemplare des gleichen Charakters (zum Beispiel
mit weniger Vernunft begabt)“ (Connell
2000: 88). Natürliche Begründungen lösen
ständische und religiöse ab (vgl. Hausen
2001: 167f.; Badinter 1984: 18). Mit dieser
modernen Legitimierung der Geschlechterverhältnisse findet eine „Verwissenschaftlichung der Differenz“ (Honegger 1989: 146)
statt. Es sind zwar unterschiedliche Wissenschaften, die sich der neu entdeckten
Geschlechterdifferenz widmen, gemein ist
ihnen jedoch, die „Ordnung der Geschlechter“ als „getreue[s] Abbild der natürlichen
Ordnung der Dinge“ (Honegger 1989: IX)
darzulegen. Im Bezug auf die „Entdeckung
des Weibes“ (Honegger 1989: 147), die sie in
das späte 18. Jahrhundert datiert, stellt Honegger fest, dass „die Naturwissenschaften
das scheinbar objektive Arsenal abgeben,
aus dem sich Alltagswissen wie systematisierendes Denken großzügig bedienen“
(Honegger 1989: 149). Soziologische Erklärungen tragen das Ihrige dazu bei. Dies
zeigt sich etwa an den Überlegungen
zweier zentraler Begründer der Soziologie.
Durkheim sieht die Frau als weniger differenziert an, sie sei „ein viel instinktiveres
Wesen [...] als der Mann“, ihr „geistiges Leben ist weniger entwickelt“ (Durkheim
2014: 313). Mit einer ähnlichen Begründung
setzt er sich gegen aufkommende Emanzipationsbestrebungen zur Wehr: „Wer für
die kommenden Zeiten für die Frau
–
8
N° 2
dieselben Rechte verlangen will wie für
den Mann, übersieht viel zu sehr, dass das
Werk von Jahrhunderten nicht in einem
Augenblicke abgeschafft werden kann,
und dass im übrigen diese formelle Gleichheit solange nicht rechtens sein kann, als
die psychologische Ungleichheit so eklatant ist“ (Durkheim 2014: 458). Simmel dagegen ist um eine Gleichbewertung der Geschlechterrollen bemüht, die die Geschlechterdifferenz aber gleichzeitig bestätigt. Mit der Sphärentrennung von Markt
und Hauswirtschaft sei eine „schärfere Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern“
(GSG 6: 512) zu beobachten: „Aus sehr naheliegenden Ursachen fällt der Frau die
nach innen, dem Manne die nach außen gewandte Tätigkeit zu“ (GSG 6: 512). Das Tätigkeitsfeld der Frau sei von der „Natur
her“, also durch „das Tragen und die Pflege
der nächsten Generation“ (Simmel 1985:
177), bestimmt. Der Mann hingegen müsse
sich sein Tätigkeitsfeld erst suchen, der
„Mangel eines naturgegebenen Tätigkeitsinhalts wies ihn auf schöpferische Freiheit“
(Simmel 1985: 177) hin. Simmel sieht die
Frau zwar ebenso wie Durkheim als weniger differenziert als den Mann an – sie
hänge „wirklich noch enger und tiefer [...]
mit dem dunkeln Urgrund der Natur zusammen“ (GSG 6: 516) –, jedoch betont er
die Gleichrangigkeit und Komplementarität der Geschlechterrollen. Mit dem Verweis auf die Komplementarität, im Sinne
eines harmonischen Gefüges, trägt er zur
gesellschaftlichen Akzeptanz dieser vergeschlechtlichten Zuweisung und damit zur
modernen patriarchalen Ordnung bei.
Obwohl diese moderne Legitimierung der
Geschlechterverhältnisse mitunter gegen
Emanzipationsbestrebungen von Frauen
eingesetzt wurde (vgl. Hausen 2001: 172),
blieb selbst die erste Frauenbewegung von
der Kernidee nicht unberührt. Zum
Beispiel beruft sich Marianne Weber, eine
wichtige Figur der bürgerlichen Frauenbewegung, auf Simmels komplementäres
Verständnis der Geschlechterrollen (vgl.
Weber 2008). Aber nicht nur die bürgerliche Frauenbewegung transportiert diese
Vorstellung. In der proletarischen Frauenbewegung zeigt sich, trotz anderweitiger
Differenzen, eine Akzeptanz der Vorstellung vom Weiblichen. So findet sich etwa
bei Zetkin der Gedanke, dass „Frauenagitation“ (Zetkin 2008: 199) für den Sieg des Sozialismus zwar unabdingbar und daher
stark zu fördern sei, diese jedoch nicht auf
Kosten der „Pflichten als Mutter und Gattin“ (Zetkin 2008: 198) geschehen dürfe.12
Es lässt sich festhalten, dass die Neubestimmung der Geschlechterverhältnisse mit einer spezifischen Vorstellung des Weiblichen, also ihren Charaktereigenschaften
und den damit verknüpften idealtypischen
Sphären, verwoben sind. Wir zeigen im Folgenden, warum die Romantik durch ihre
Idealisierung und Überhöhung der Natur
und des Weiblichen eine wichtige Rolle für
die Akzeptanz der neu begründeten Geschlechterverhältnisse spielt und wie manche ihrer Ideale sich noch heute in den
Corona-Protesten13 der Frauen niederschlagen.
Romantisches Naturverständnis und
Idealisierung des Weiblichen
Die Romantik, verstanden als geistesgeschichtliche Bewegung mit großer Bedeutung von 1750 bis 1850, ist auf das Engste
verbunden
mit
den
zeitgleich
–
Allerdings gibt Badinter zu bedenken, dass es in
der Akzeptanz der geschlechtlichen Arbeitsteilung
auch um Folgendes ging: „Sie glaubten an die
Versprechungen und dachten, Anrecht auf die
Achtung der Männer, Anerkennung ihrer Nützlichkeit
und ihrer Eigenart zu erlangen“ (Badinter 1984: 114).
12
Vgl. Frei et al. 2021 zu den romantischen Motiven
innerhalb der Corona-Proteste.
13
hervortretenden Phänomenen von Industrialisierung, Rationalisierung, Individualisierung, Aufklärung und Säkularisierung,
indem sie insbesondere auf negativ empfundene Tendenzen und Gefahren dieser
Momente der Moderne verweist. Sie bringt
in ihrer Kritik an der Aufklärung veränderte Werte und Normen sowie Formen
des Denkens und Erlebens hervor (vgl. u.a.
Berlin 1999; Mannheim 1984). Gegenstand
der romantischen Kritik ist eine zunehmende Berechenbarkeit, Sachlichkeit, Rationalisierung. Dem „analytische[n], zergliedernde[n] und zerteilende[n] Denken“
(Klinger 1992: 226) der als »kalt« wahrgenommenen Gesellschaft wird eine Einheitlichkeit und Ganzheit, die in der »warmen«
Gemeinschaft zu suchen und zu finden ist,
gegenübergestellt. Wichtige Bezugspunkte
im romantischen Denken sind ein „nichtinstrumentelle[s] Naturverhältnis“ (Klinger
1992: 230), die Überhöhung der Natur und
die Vorstellung ihrer Reinheit als utopischer Fluchtpunkt in der als dekadent und
zerstörerisch empfundenen Moderne. Zum
romantischen, die Natur verklärenden Narrativ gehört seit Beginn der Moderne die
Auflehnung gegen die (technische) Zivilisation und eine Sehnsucht nach Einheit in
der Gemeinschaft. Kulturpessimistisch
wird eine wertende Differenzierung zwischen Natur und Kultur vorgenommen.
Diese bringt eine spezifische Vorstellung
von Weiblichkeit und eine Stilisierung der
Mütterlichkeit mit sich (vgl. Hausen 2001:
172).14 Für die Neubestimmung der Geschlechterverhältnisse wird eine Idealisierung von Weiblichkeit in Form von
14
Badinter rekonstruiert ein Ende des 18.
Jahrhunderts entstehender „Mythos vom
Mutterinstinkt oder von der spontanen Liebe einer
jeden Mutter zu ihrem Kind“. Sie stellt fest, dass
„das Neue gegenüber den zwei vorangegangen
Jahrhunderten [...] jedoch [ist], dass man die
Mutterliebe als einen zugleich natürlichen und auch
gesellschaftlichen Wert verherrlicht, der sowohl der
menschlichen Gattung als auch der Gesellschaft
förderlich sei“ (Badinter 1984: 113).
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9
Mütterlichkeit und Emotionalität, die Vorstellung einer feindlichen Außenwelt (Gesellschaft) und eines friedlichen Heims (Gemeinschaft) konstitutiv (vgl. Honegger und
Heintz 1984: 26). Die Rolle des romantischen Denkens in der sich für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft typisch erweisenden Trennung zwischen privater
und öffentlicher Sphäre liegt damit in der
Überhöhung der Rolle der Frau. In der romantisch inspirierten Suche nach Einheit
und Ganzheitlichkeit kommt der Idealisierung des Weiblichen und dem, was ihr zugeschrieben wird, eine wichtige Rolle zu:
Idealisiert werden ein spezifisches Konzept
von Weiblichkeit, das Private als weibliche
Sphäre sowie der weibliche Körper mit seiner »lebensspendenden« Kraft.
Dieser historische Abriss über die Neubestimmung der Geschlechterverhältnisse erlaubt zu verstehen, wie das Deutungsmuster der Geschlechterdifferenz eine vergeschlechtlichte Trennung zwischen privater
und öffentlicher Sphäre unterstützt. Er
skizziert zudem, auf welche Weise die Vorstellung einer weiblichen Sphäre mit der
Vorstellung einer normativen Trennung
von Natur und Kultur verbunden wird.
Zwar haben sich die Geschlechterverhältnisse seit dem Übergang in die bürgerlichkapitalistische Gesellschaft grundlegend
verändert und Frauen sind nicht zwingend
ausschließlich der privaten Sphäre verhaftet, doch gibt es nach wie vor Frauen, die
ihre gesellschaftliche Zuweisung zur privaten Sphäre und der Natur, wie wir sie
historisch nachgezeichnet haben, affirmieren.15 Betrachtet man nun die Argumente
gegen das Impfen (vgl. Reich 2017), zeigt
sich die romantisch inspirierte Vorstellung
einer Natürlichkeit der Selbstheilungskräfte, die mit einer Künstlichkeit von Medizin kontrastiert wird. In dieser Vorstellung können Impfungen, so wie sie bei den
Corona-Protesten als drohende Pflicht behauptet werden, als Angriff auf die Natur
verstanden werden. Das Impfen wird zum
artifiziellen Akt, der sich gegen eine mit
sich selbst im Einklang gedachte Natur
richtet. Verteidigen nun Frauen mit ihrem
Protest eine romantisch verstandene Natur
im Allgemeinen und das ebenso verstandene Weibliche im Besonderen, dann affirmieren sie paradigmatisch die bürgerlichkapitalistische Sphärenzuweisung. Diese
Affirmation motiviert Frauen dazu, ihren
und andere Körper gegen Eingriffe von außen zu verteidigen.16 Im Falle des Impfens
bedeutet die Verteidigung dieser Körper jedoch die Gefährdung anderer.17 Darin besteht ein ambivalentes Spannungsverhältnis zwischen der Frau, die sich auf Natur
und Weiblichkeit beruft, und der Gesellschaft, deren Mitglieder gesundheitlich gefährdet sind. Eine Entscheidung gegen eine
Impfung kann eine Entscheidung gegen
das Wohl der Gesellschaft darstellen. Dieses dialektische Moment der vergeschlechtlichten Sphärentrennung vertiefen wir im
Folgenden am Beispiel der Sorge um die
Angehörigen.
–
15
Vgl. zu den Persistenzen wie auch zum Wandel u.a.
Becker-Schmidt und Knapp 1987; Winker 2007; Lenz
2013; Walgenbach 2015; Fraser 2016; von Alemann et
al. 2017; Alischer 2018; Rendtorff et al. 2019.
Beispielsweise argumentiert Soiland, dass seit dem
Beginn des neoliberalen Umbaus in den 1970er
Jahren Frauen zwar vermehrt einer Lohnarbeit
nachgingen, ihnen jedoch die unbezahlte
Reproduktionsarbeit weiterhin zukam, wodurch die
Enteignung ihrer Lebenskraft und -zeit
fortgeschrieben wird. Sie analysiert den neoliberalen
Umbau als „Neue Landnahme“ und weist auf den
„stillschweigend vor sich gehenden
10
N° 2
Ressourcentransfer […] aus den Haushalten und
damit aus dem Care-Sektor“ in Kapital hin (Soiland
2018: 107; vgl. auch 2019).
16
Hier kommt durchaus ein
Selbstbestimmungsmoment der Frau zum Ausdruck.
17
Impfungen, wie die gegen das Coronavirus, dienen
nicht nur dem „individuellen Krankheitsschutz“,
sondern auch dem „Populationsschutz“ (Meyer et al.
2002: 323).
Zweite Perspektive: Die Affirmation
der Hoheit über die Sorge um die
Angehörigen als Gefährdung der
Gesellschaft
Die Impfkritik der Frauen, die an den
Corona-Protesten teilnehmen, beinhaltet
also nicht nur eine Affirmation ihrer gesellschaftlichen Rolle, sondern kann sich auch
gegen die Gesellschaft richten. In diesem
Abschnitt wollen wir diese doppelte Bewegung von Affirmation der bürgerlich-kapitalistischen vergeschlechtlichen Sphärentrennung und Gefährdung der Gesellschaft noch einmal genauer untersuchen
und dabei den Gefährdungsaspekt betonen. Diesen sehen wir in einem Widerspruch von Frau und Gesellschaft begründet, der sich aus der Sphärentrennung
ergibt.
Mehr noch als in der Impfthematik tritt
dieser Aspekt vielleicht zutage, wenn wir
einen weiteren Beweggrund betrachten,
der Frauen an den Corona-Protesten teilnehmen lässt, und den wir begrifflich als
»Sorge um die Angehörigen« fassen. Wir
wollen in diesem Abschnitt zeigen, dass
Frauen, denen die gesellschaftliche Rolle
des Erhalts der Gesellschaft durch Erziehung ihrer Kinder und Sorge um ihre Angehörigen zukommt, sich durch eben jene
Tätigkeiten gegen die Gesellschaft wenden
können. Abstrakter ausgedrückt: Die gesellschaftliche Trennung in private und öffentliche Sphäre birgt immer die Gefahr
des Agierens des Privaten gegen das Öffentliche.
In der Einleitung haben wir kurz aufgezeigt, wie sich die Maßnahmen gegen das
Coronavirus auf Frauen auswirken. Sie
werden zweifach getroffen: Zum einen bedeuten vor allem Maßnahmen, welche die
Lohnarbeit umstrukturieren, eine zusätzliche psychische, gesundheitliche und ökonomische Belastung von Frauen. Zum anderen greift der Staat durch Maßnahmen
wie Schul- und Kindergartenschließungen,
Masken- und Abstandspflicht und Besuchsverbote in Heimen in Bereiche der Pflege
und Erziehung der Angehörigen ein, also
in Bereiche, die in der derzeitigen Gesellschaft
primär
Frauen
unterliegen.
Coronabedingte Maßnahmen führen also
einerseits zu mehr Druck auf Frauen und
gefährden andererseits einen ihrer Hoheitsbereiche, nämlich den der Sorge um
die Angehörigen. Aus dieser zweifachen Betroffenheit lassen sich zwei Beweggründe
erschließen, die Frauen zum Protest gegen
die Corona-Maßnahmen anhält: ein Aufbegehren gegen die Mehrbelastung und ein
Aufbegehren gegen den Entzug ihres Hoheitsbereiches. Von diesen zwei Beweggründen interessiert uns hier allein der
zweite, da wir vermuten, dass die Frauen,
die unter der zusätzlichen und lohnarbeitsbedingten Belastung leiden, eher weniger,
jene Frauen hingegen, die sich vornehmlich um ihre Angehörigen sorgen, eher
mehr dazu neigen, an diesen Protesten teilzunehmen.18 Durch Rückgriff auf schon
Gezeigtes und unter Zuhilfenahme Hegels
zeigen wir auf, inwiefern die bürgerlich-kapitalistische vergeschlechtliche Trennung
in eine private und eine öffentliche Sphäre
als mitursächlich für die breite Beteiligung
von Frauen an den Corona-Protesten zu
denken wäre und wie die Proteste selbst
auf die Flexibilität dieser Trennung und
–
Das mag einerseits am hohen zeitlichen und ggf.
materiellen Aufwand der Beteiligung an den
Protesten liegen, andererseits jedoch auch an der
Ausrichtung der Corona-Proteste selbst. Diese
scheinen uns weniger materielle Aufstände, die sich
gegen existenzielle Nöte richten, als Ausdrücke
identitärer Selbstvergewisserung zu sein, die das
18
selbstverantwortliche Individuum gegen staatliche
Zwänge in Szene setzen. Gleichzeitig ist es mitunter
eben dieser Charakterzug, der die Frauen, die ihre
Identität auf das Private aufbauen, zu den Protesten
zieht.
Juni 2021
11
ihrem inhärenten Widerspruch aufmerksam machen.
Die Sorge um die Angehörigen
Was meinen wir nun, wenn wir schreiben,
die Corona-Maßnahmen gefährden den Hoheitsbereich der »Sorge um die Angehörigen«? Frauen tragen nach wie vor die
Hauptlast in der Reproduktionsarbeit. Sei
es bezahlt als Beruf oder unbezahlt im Privaten, sie sind es, die vornehmlich Kinder
erziehen, Menschen pflegen und emotionale
Arbeit
verrichten
(vgl.
u.a.
Neumann/Winker 2019; Dreas 2019; Riegraf
2019; Hobler et al. 2020). In Bezug auf
Corona sind auch sie es, die plötzlich von
Besuchen bei Pflegebedürftigen ausgeschlossen sind, aber gleichzeitig an deren
Einsamkeit partizipieren, oder deren Kinder nur noch verunsichert, wenn überhaupt, zur Schule gehen. Man könnte nun
die Anteilnahme am Leid ihrer Angehörigen als Protestbeweggrund verstehen,
wäre da nicht die Besonderheit, dass die
Sorge um ihre Angehörigen in den CoronaProtesten einen Ausdruck in Forderungen
findet, die sich gegen Maßnahmen richten,
die doch gerade ihre Angehörigen schützen sollen. Maßnahmen wie Masken- und
Abstandsregeln und Besuchsverbote bzw. reglementierungen sollen gesundheitliches Leid vermeiden und werden dennoch
als Leid verursachend abgelehnt. Es ist dieser Punkt, der uns vermuten lässt, dass die
Sorge um ihre Angehörigen nicht primär
die Angehörigen betont, sondern die Sorge
selbst. Unserer Ansicht nach geht es in den
Corona-Protesten weniger um das Leid der
Angehörigen, als vielmehr um die Frage,
wer sich wie um dieses Leid zu sorgen hat:
der Staat oder die Frau?
–
In diesem Beweggrund zeigen sich zwei zusammenhängende Momente. Zum einen
kommt in ihm ein Ringen um die Ausgestaltung der Trennung von privater und öffentlicher Sphäre zum Ausdruck, was nicht
nur daran erinnert, dass die Trennung veränderbar ist, sondern auch daran, dass sie
immer wieder verändert worden ist.19 Sie
ist in dieser Hinsicht genuin flexibel. Zum
Tätigkeiten« nachgehen ließ, hin zu neoliberalen
Etablierungen, die Frauen die Organisation des
19
Von den Anfängen einer Etablierung der strikten
Geschlechterteilung über einen Sozialstaat, der
Frauen auch in der Öffentlichkeit »weiblichen
12
Indem Frauen das Leid ihrer Angehörigen,
welches die Corona-Maßnahmen verschulden, anprangern, bringen sie eine Erfahrung ihres Aufgaben- und damit ihres
Wertverlustes zum Ausdruck: Frauen dürfen sich aufgrund der Corona-Maßnahmen
nicht mehr so um ihre Angehörigen kümmern, wie sie es gewohnt sind. Sie dürfen
ihre Angehörigen in Heimen, wenn überhaupt, nur eingeschränkt besuchen. Bei
Schul- und Kindergartenschließungen haben sie ihre Kinder zu Hause zu unterrichten und gleichzeitig sorgende Mutter und
strenge Lehrerin zu sein. Der Staat schreibt
ihnen vor, die Kontakte ihrer Kinder stark
einzuschränken und sie ggf. Maske tragen
zu lassen. In diesem Sinne entziehen
Corona-Maßnahmen den Frauen die Hoheit über den Bereich der Pflege und der
Sorge. Auf jene Bereiche, die Frauen in allen patriarchalen Gesellschaften zugeschrieben werden, jedoch gründet sich ihre
gesellschaftliche Rolle. Überspitzt gesagt
haben die Frauen, die ihr Selbstwertgefühl
primär auf diese Rolle der Sich-um-anderesorgenden Frau aufgebaut haben und die
sich durch staatliche Maßnahmen in ihrer
Rollenausübung gehindert sehen, aus ihrer
Sicht allen Grund, gegen die Corona-Maßnahmen zu protestieren: Sie bedrohen ihre
gesellschaftliche Existenz. Ihre gesellschaftliche Rolle steht immer dann auf
dem Spiel, wenn die Ausführung ihrer
Sorge um ihre Angehörigen gefährdet ist.
N° 2
anderen offenbart er einen Widerspruch,
der dieser Trennung eingeschrieben ist: Im
Zweifel sind Familie und Gesellschaft, Privates und Öffentliches, nicht nur unvereinbar, sondern gegeneinander gerichtet. Dieser Widerspruch, auf den wir im nächsten
Abschnitt genauer eingehen, tritt besonders deutlich in Zeiten der Verschiebung
der Trennungslinie, wie sie mit den derzeitigen Corona-Maßnahmen zu beobachten
ist, hervor. Frauen tragen weiterhin die
Hauptlast der privaten Reproduktion, die
sie nun zugleich in den Dienst der Öffentlichkeit zu stellen haben. Sie werden jetzt
von staatlicher Seite in der Gestaltung ihres privaten Bereiches angesprochen: Waren sie vorher für die ihren verantwortlich,
sind sie jetzt zusammen mit den Ihren für
alle anderen mitverantwortlich. Der Staat
greift so in den ihnen gesellschaftlich zugesprochenen Hoheitsbereich ein – in einer
Art und Weise, die dem hervorgehenden
Individualisierungsappell
neoliberaler
Schule in Teilen zuwiderläuft. So reihen
sich die Corona-Maßnahmen zwar in Bezug
auf eine höhere Belastung von Frauen in
den neoliberalen Umbau ein, zeichnen sich
jedoch durch eine für den neoliberalen Privatisierungsgedanken unbekannte Orientierungspflicht an das öffentliche Wohl
aus.
–
Privaten ließ und diese zusätzlich als (oft prekäre)
Arbeitskraft etablierte.
Aus Treue zum Original verwenden wir in der
Rekapitulation Hegels den Begriff »Gemeinschaft«.
Da wir jedoch der Auffassung sind, dass Hegel hier
eine Bewegung beschreibt, die auf alle menschlichen
Formatierungen zutrifft, die sich über eine
vergeschlechtliche Trennung von privater und
öffentlicher Sphäre konstituieren, setzen wir
ansonsten »Gemeinschaft« und »Gesellschaft«
synonym
20
Der Widerspruch der Trennung von
privat und öffentlich
Die These, dass im Zweifel Familie und Gesellschaft, Privates und Öffentliches, nicht
nur unvereinbar, sondern gegeneinander
gerichtet sind, wollen wir im Folgenden
mit Rückgriff auf Hegel veranschaulichen,
dessen Denken die Grundlagen und den
historischen Beginn der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft philosophisch nachzuverfolgen sucht. Wir stützen uns dafür
auf seine Überlegungen zur Familie und ihren einzelnen Mitgliedern im Verhältnis
zur Gemeinschaft20, die Hegel in seiner Antigone-Auslegung21 in der Phänomenologie
des Geistes (vgl. Hegel 1988: VI.A.a und
VI.A.b) darbietet. Diese legt einen grundlegenden Widerspruch zwischen der Frau
und der Gemeinschaft22 offen, der sich
auch in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft findet und paradigmatisch in den
Corona-Protesten der Frauen zum Ausdruck kommt. Wir kommen nun also zum
gesellschaftsgefährdenden Aspekt, der in
der Affirmation der vergeschlechtlichen
Trennung von privater und öffentlicher
Sphäre der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft enthalten ist.
Zunächst lernen wir von Hegel Folgendes
über die Rolle der Familie und ihrer Glieder
(Frau, Mann, Sohn, Tochter) in der Gemeinschaft: Die Frau folgt den Gesetzen der Familie, sorgt sich um diese und ist ausschließlich ihren Angehörigen verpflichtet. Ihre Rolle besteht allein durch die
Stelle die Polis vor Augen hat. Die bürgerliche
Gesellschaft analysiert Hegel exemplarisch entlang
des Rechts (vgl. Hegel 1986). Gleichwohl finden wir
besagte Auslegung zur Krisenbeschreibung von Frau
und Gemeinschaft, von privater und öffentlicher
Sphäre, geeigneter als die befriedete Welt der
rechtlich verfassten Bürgerlichkeit der hegelschen
Rechtsphilosophie, in der gesellschaftliche
Widersprüche eingefangen sind und die Frau ganz in
ihrer gesellschaftstragenden Rolle als
Familienverantwortliche aufgeht.
Dieser Widerspruch zur Gemeinschaft findet sich
weder beim Mann noch beim Sohn.
22
Wir beziehen uns dabei auf die Phänomenologie
des Geistes , wohl wissend, dass Hegel an dieser
21
Juni 2021
13
Familie. Der Mann hingegen ist auf das Gemeinwesen, auf das Allgemeine, ausgerichtet. Um ein Mann zu werden, verlässt der
Sohn die Familie bei Volljährigkeit und
stellt sich in den Dienst der Öffentlichkeit,
wohingegen die Tochter bei Volljährigkeit
durch Heirat lediglich von der einen in die
andere Familie wechselt, nun einer eigenen vorsteht und dadurch zur Frau wird.
Der Widerspruch, auf den wir hinauswollen, wird deutlich, wenn Hegel daran erinnert, dass der Frau nicht nur die Aufgabe
der Sorge um ihre Angehörigen zukommt,
sondern sie es auch ist, die ihre Kinder auf
ihre Rollen im Gemeinwesen vorbereitet.
Dies bedeutet für sie, die ihren Sohn unter
den Gesetzen der Familie erzogen hat, bei
Volljährigkeit ebendiesen Sohn – und damit ihre Hauptaufgabe und den Grund ihrer gesellschaftlichen Existenz – an das Gemeinwesen zu verlieren. Durch Beeinflussung ihres Sohnes versucht die Frau zwar
ihrem Verlust entgegenzuwirken und ihren Sohn auch in seiner öffentlichen Rolle
zugunsten ihrer Familie zu beeinflussen –
und damit ihre Hoheit über den Sohn zu
erhalten. Das Gemeinwesen setzt dieser Bewegung jedoch, nach Hegel, durch die Einberufung des Jünglings in den Krieg ein
Ende, denn im Krieg verliert der Jüngling
alles Private und ist nur noch Allgemeines.
Der Krieg bricht die letzte Einflussmöglichkeit der Mutter auf den Sohn und damit
ihre einzige Möglichkeit, durch ihn in der
Öffentlichkeit mit rein privaten Zwecken
zu agieren und seine Politik auf das Wohl
ihrer Familie auszurichten.
Nach Hegel agiert die Frau in Bezug auf ihren Sohn als Gefahr für die Gemeinschaft;
eine Gefahr, die sich nur durch Krieg bannen lässt, aber nicht so, dass der Krieg sich
gegen die Frau richtet, sondern so, dass er
ihr den Sohn entreißt. Für Hegel erzeugt
damit das Gemeinwesen „an der Weiblichkeit überhaupt seinen innern Feind“ (Hegel
1986: 314). Denn „[i]ndem das Gemeinwesen sich nur durch die Störung der Familienglückseligkeit und die Auflösung [...] in
das allgemeine sein Bestehen gibt, erzeugt
es sich an dem, was es unterdrückt und was
ihm zugleich wesentlich ist“ (Hegel 1986:
314).23 Die Frau richtet sich gegen das Gemeinwesen, sie steht im Widerspruch zu
ihm, und ist gleichzeitig sein integraler Bestandteil. Dieser Widerspruch – „die ewige
Ironie des Gemeinwesens“ (Hegel 1986:
314) – ist von der Gemeinschaft selbst hervorgebracht. Die Gemeinschaft gibt der
Frau erst und ausschließlich die Rolle der
Sorge um ihre Familie. Der Krieg indes bildet die Lösung, die Aufhebung dieses Widerspruches, indem er ihn einseitig zugunsten der Gemeinschaft auflöst: Der
Sohn wird der Frau entrissen, sie verliert
ihn. Er wird gänzlich allgemeines Gut.24
Aus diesem kurzen Rückgriff auf Hegels
Gedanken wollen wir vor allem eine Erkenntnis mitnehmen: Diejenigen, deren
gesellschaftliche Rolle darin besteht, nur
für die Familie zu leben, können sich im
Zweifel gegen eben die Gesellschaft stellen,
die ihnen diese Rolle zuwies. In der Hinsicht stehen Frau und Gesellschaft im Widerspruch zu einander. So, wie sich Hegels
Frau gegen den Verlust ihrer Hoheit über
–
23
Wir kürzen das Zitat um „des Bewusstseins“ und
lassen damit Hegels Anliegen in der Phänomenologie
des Geistes, eine „Geschichte des Bewusstseins“
(Bonsiepen 1988: XXIX) zu schreiben, in den
Hintergrund treten. Der Grund für dieses Vorgehen
liegt in unserem Anspruch, weniger eine eigene
Hegel-Interpretation zu liefern, als vielmehr einen
hegelschen Gedanken für eine aktuelle
Gesellschaftsanalyse fruchtbar machen.
14
N° 2
24
Das Recht in Hegels Rechtsphilosophie bietet einen
anderen Lösungsweg dieses Widerspruches an,
einen, der auch das Private »zu seinem Recht«
kommen lässt und der sich daher weit mehr als Krieg
zur Befriedung des Widerspruches und der Frau
anbietet.
den Sohn wehrt, verteidigen die an den
Corona-Protesten beteiligten Frauen ihren
Hoheitsbereich der Sorge um die Angehörigen. Erstere sucht ihren Sohn weiterhin im
Sinne ihrer Familie zu beeinflussen, letztere ihre Familie vor staatlichen Eingriffen
abzuschirmen. Indem beide ihre Familie
als höchsten Zweck ihrer Handlungen setzen, agieren sie im Zweifel gegen ihre Gesellschaften. Nämlich dann, wenn sich der
familiäre nicht mit dem gesellschaftlichen
Zweck deckt – bei Hegel zeigt sich das im
Krieg, in der Corona-Pandemie, sehr viel
schwächer, in der Ablehnung von staatlich
verordneten Maßnahmen, die den gesundheitlichen Schutz der Gesellschaft bewirken sollen.
So gefährden die Frauen der Corona-Proteste wie Hegels Frau ihre Gesellschaft:
durch die Affirmation und Verteidigung ihrer gesellschaftlichen Rolle.
Fazit
Am Protest der Frauen gegen bestimmte
Corona-Maßnahmen lässt sich veranschaulichen, wie eine Affirmation gesellschaftlicher Zustände sich gegen eben die Gesellschaft richten kann, die diese Zustände
hervorbringt. Unter genauerer Betrachtung zweier Themen der Corona-Proteste
(das Impfen und die Sorge um die Angehörigen) deuten wir die breite Beteiligung
von Frauen an den Corona-Protesten als
Verteidigung einer Vorstellung von Natur
und ihrer gesellschaftlich zugeschriebenen
Hoheit über die private Sphäre. Sie nehmen die ihnen auferlegte gesellschaftliche
Rollen des Naturwesens und der primär im
Privaten Verhafteten als natürlich an und
tragen zur anhaltenden romantischen Verklärung ihrer Rolle bei. So affirmieren sie
die für die bürgerlich-kapitalistische
Gesellschaft konstitutive vergeschlechtliche Trennung von privater und öffentlicher Sphäre. Diese Affirmation kann sich,
auch das zeigt sich beispielhaft in ihrem
Protest, gegen die Gesellschaft richten,
nämlich dann, wenn sie einen Angriff auf
ihren Hoheitsbereich sehen und dadurch
ihre gesellschaftliche Rolle auf dem Spiel
steht. Dann richtet sich die Frau gegen die
Gesellschaft, paradigmatisch indem sie
staatliche Maßnahmen zum Schutz und Erhalt dieser Gesellschaft ablehnt.
So lässt sich unser Deutungsvorschlag wie
folgt zusammenfassen: Die breite Beteiligung von Frauen an den Corona-Protesten
kann als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse interpretiert werden, in denen
ihre Affirmation zugleich ihre Gefährdung
bedeuten kann. In Bezug auf die vergeschlechtlichte Trennung von öffentlicher
und privater Sphäre zeigt sich der mit Hegel thematisierte Widerspruch von Frau
und Gesellschaft. Dabei scheint es für die
Frauen, die sich an den Corona-Protesten
beteiligen, ebenso wie für Hegel ausgemacht, dass eine Antwort auf den Widerspruch von Frau und Gesellschaft, der sich
auf die Trennung von privater und öffentlichen Sphäre gründet, für die Frau im Verteidigen ihrer gesellschaftlichen Rolle liegen muss. Sie bestätigen die herrschenden
gesellschaftlichen Verhältnisse – die Geschlechterordnung der Polis ebenso wie die
vergeschlechtlichte Sphärentrennung der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.
Juni 2021
15
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Juni 2021
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