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Jenseits und diesseits der Grenzen. Transdifferente Verschränkungen in den Kinofilmen »Auf der anderen Seite« und »Almanya – Willkommen in Deutschland« 1 Müzeyyen Ege »Die ersten Gesichter, die zwischen den Ländern ausgetauscht wurden, waren Filmgesichter.« (E MINE S EVGI Ö ZDAMAR 2003) »I don’t do migrant cinema. I don’t accept the categorisation for my films. They don’t talk about migrancy, they talk about me and my life. It is me you are looking at and the way I see things.« (FATIH A KIN IM I NTERVIEW MIT A KSOY 2005) I. B E WEGTE B ILDER UND (POST -) MIGR ANTISCHE N ARR ATIVE In ihrer autobiografischen Erzählung »Gastgesichter« (2003) beschreibt die türkisch-deutsche Autorin, Regisseurin und Schauspielerin Emine Sevgi Özdamar den bis in ihren familiären Alltag in Istanbul reichenden Einfluss europäischer Filme der 1950er und -60er Jahre, nicht nur auf sie als Kind und Jugendliche, sondern vor allem auch auf die Generation ihrer Eltern. »Sind wir Europäer? Wo fängt Europa an? Wieviel Europäer sind wir?«, fragen sich auf beiden Seiten Istanbuls die BürgerInnen einer relativ neu gegründeten Nation. Hierbei löste schon allein die geografische Lage der kosmopolitischen Metropole auf zwei Kontinenten eine permanente Diskussion um westlich-östliche, europäische oder asiatische Anteile der Identität ihrer Einwohner aus, wie die Erzählerin berichtet (Özdamar 2003: 179). In ihren mehrfach ausgezeichneten 1 | Die nachfolgenden Ausführungen basieren in weiten Teilen auf meinem Beitrag »Hyperkulturalität und/oder Transdifferenz« (siehe Ege 2014). 162 Müzeyyen Ege Werken, deren Handlung und Figuren oftmals zwischen Istanbul und Berlin angesiedelt sind, bricht Özdamar mit den in deutschsprachiger Literatur und auch im Film bis in die 1990er Jahre gängigen Opferbildern und der Betroffenheitsrhetorik von Migrationserzählungen. Mit ihrem transnationalen Schreiben, bei dem sie geschlechts- und kulturspezifisch festgeschriebene Identitätskonzepte unterläuft (vgl. Zierau 2016: 53f.), öffnet sie den Weg zur Reflexion und Darstellung nicht-homogener Ich-Vorstellungen der zweiten und dritten Generation von MigrantInnen. Die Verarbeitung der Migrationserfahrungen findet mit den Nachkommen der Eingewanderten in ihrer »identitären Verortung nicht mehr eindimensional zum Herkunftsland« statt (Foroutan 2010: 1). Während noch immer etablierte Termini fehlen, die »nationale und kulturelle Mehrfachzugehörigkeit und -identifikation von Individuen wertneutral beschreiben«, sind hier vor allem Eigenbeschreibungen von Personen mit Migrationshintergrund interessant (Foroutan 2010: 2).2 So zeichnet sich insbesondere ab den 1990er Jahren bei AutorInnen, KünstlerInnen und FilmemacherInnen mit Migrationshintergrund die Tendenz ab, sich selbst als ›Postmigranten‹ zu bezeichnen. Mit Postmigranten werden meistens RepräsentantInnen der zweiten und dritten Generation von Einwanderern bezeichnet, die ein neues identitäres Selbstverständnis und neue Perspektiven hinsichtlich einer als sekundär erlebten Migrationserfahrung entwickeln.3 In der Auseinandersetzung mit der Migrationsgeschichte der Eltern und Großeltern sowie ihrer eigenen gegenwärtigen Lebenswirklichkeit entwerfen sie »andere (urbane) Verortungspraktiken und Grenzbiographien«, die mit festschreibenden ethnisch-nationalen Kategorien nicht mehr zu fassen sind (Yıldız 2013: 72). Bereits im Jahr 2000 konstatiert Deniz Göktürk, dass im Zeitalter der Mobilität und Migration auch im Kino »Migrant/innen sich langsam aus dem Gefängnis einer subnationalen Mitleidskultur [befreien], transnationale Allianzen [eingehen] und durch ironische Rollenspiele ethnische Zuschreibungen 2 | Naika Foroutan geht in ihrer Abhandlung neben dem Begriff der »Postmigranten« auf mehrere Selbstbeschreibungen und Fremdkategorisierungen wie »Neue Deutsche«, »Paradigma-Neudeutsche« und »Bindestrich-Identitäten« ein. Siehe zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der »Hyphenated Identities« und dem transnationalen Kino auch Thomas Elsässer (2009: 28ff.), Tanja Wunderlich (2005) und Heiner Keupp (2008). 3 | Laura Peters schließt in ihrer Begriffserläuterung der postmigrantischen Literatur die erste Generation der Migranten mit ein (Peters 2012: 17). Myriam Geiser unternimmt in ihrer umfassenden, vergleichenden Studie den Versuch, anhand postmigrantischer Literatur eine Typologie poetischer Strategien der Postmigration zu erstellen (Geiser 2014). Siehe auch das von Shermin Langhoff so benannte Postmigrantische Theater im Ballhaus Naunynstraße in Berlin. Jenseits und diesseits der Grenzen und Identifizierungen [unterlaufen]« (Göktürk 2000: 344). Göktürk spricht von der Entstehung eines von Massenmigration und Globalisierung geprägten neuen Film-Genres, »das die herkömmlichen geographischen, nationalen, kulturellen und filmischen Grenzen sprengt« und »independent transnational cinema«4 genannt, als »postcolonial hybrid film«5 oder einfach als »world cinema« bezeichnet werden kann (ebd.: 331f.). Ein »Paradigmenwechsel« (Blumenrath et al. 2007) oder ein »Wandelnarrativ« (Alkın 2017) wird auch innerhalb der deutschen Filmwissenschaft konstatiert, und zwar zeige sich dies ebenfalls darin, dass Filmlandschaften zunehmend hinsichtlich ihrer transkulturellen und transnationalen Einflüsse und Verflechtungen untersucht werden. So äußert sich in deutsch-türkischen Filmen, die transnationale Zusammenhänge thematisieren, nach den 1990er Jahren, aber vor allem seit der Jahrtausendwende ein verändertes Selbstbewusstsein, das sich weg von rigiden binären Fremdzuschreibungen hin zu einem reflektierten Umgang und Ausdruck von Mehrfachzugehörigkeit in einer pluralisierten und multiperspektivischen Gesellschaft bewegt. Unter anderen ist hier vor allem Fatih Akın als Filmemacher dieser Couleur zu nennen, der auf vielfältige Weise hybride Identitäten der zweiten Generation thematisiert und internationale Aufmerksamkeit erregte, etwa mit seinen mehrfach preisgekrönten Filmen »Gegen die Wand« (2004) und »Auf der anderen Seite« (2007). Auch sieht man vermehrt das Genre der Komödie, in der mit humoristischen Überzeichnungen und Spiegelungen Stereotypen unterlaufen werden (Neubauer 2011: 211). Beispiele dazu wären unter anderem Hussi Kutlucans »Ich Chef, du Turnschuh« (1998), Anno Sauls »Kebab Connection« (2004) oder etwa der Episodenfilm von Sinan Akkuş »Evet, ich will!« (2008). Der Film »Almanya − Willkommen in Deutschland« der Şamdereli-Schwestern markiert hier mit seinem postmigrantischen Blick auf das Integrationsthema einen weiteren Meilenstein in der Entwicklungslinie von Filmen, die sich nach Göktürk von der »subnationalen Mitleidskultur« ablösen und sich in »transnationale Gefilde« begeben (vgl. Göktürk 2000: 341). Postmoderne Identitäten und transdifferente Verschränkungen Wie die Filmwissenschaftlerin Margrit Tröhler in ihrer Studie »Offene Welten ohne Helden« erörtert, ist spätestens in den 1990er Jahren eine Häufung von pluralen, dezentrierten und kollektiven Figurenensembles festzustellen, die aktuelle Entwicklungen als kulturgeschichtliches Phänomen verdeutlichen. Diese Veränderung der Figurenkonstellationen im transnationalen Kino be- 4 | Göktürk zitiert hierbei Hamid Nacify (1996). 5 | Die Autorin referiert hier Ella Shohat/Robert Stam (1994: 42). 163 164 Müzeyyen Ege schreibt sie als eine »mosaikartige Vernetzung einzelner Figuren«, der eine postmoderne Ausdrucksweise naheliegt (Tröhler 2007: 11). Folgen wir dem Soziologen Stuart Hall, so ist die Annahme einer in sich kohärenten, einheitlichen und festen Identität illusionär. Das postmoderne fragmentierte Subjekt, das nicht biologisch, sondern historisch zu definieren ist, ist einem ständigen gesellschaftlichen Wandel ausgesetzt und wird mit einer »Vielfalt möglicher Identitäten konfrontiert«, die ihm eine temporäre Neukonzeption seines Selbst erlaubt (Hall 1994: 183). Pluralistisch ausgerichtete, so genannte »postmoderne« theoretische Ansätze, wie der zur Transkulturalität von Wolfgang Welsch (1994) oder auch Homi Bhabas Hybriditätsbegriff (2000) deuten diese Instabilität und Fragmentierung von Identitätskonzepten als positiv. Sie implizieren Beweglichkeit und die Freiheit, zwischen verschiedenen Subjektpositionierungen wählen zu können und damit Identität selbst als ständig fortschreitenden Prozess anzusehen. Neuere Konzepte, wie beispielsweise das der Transdifferenz, worauf im Folgenden näher eingegangen werden soll, kritisieren jedoch auch hierarchisch geprägte Kulturbilder wie »das Treppenhaus« oder »die Brücke« von Homi Bhaba und positionieren sich konsequenter gegen binäre, polarisierende Sichtweisen auf Kultur. Vor dem Hintergrund zunehmender Mobilisierung und Vernetztheit des modernen Menschen sollen hierbei dynamische Aspekte von kulturellem Austausch und Wandel in den Vordergrund gestellt werden, die festgeschriebene Kategorien auflösen und eine selbstbestimmte Vielfalt an Identitätsdiskursen ermöglichen sollen. Transdifferenz oder kreative Momente der Ungewissheit Mit dem von den deutschen Kulturwissenschaftlern Helmbrecht Breinig und Klaus Lösch im Rahmen des Erlanger Graduiertenkollegs 2001 entwickelten kulturhermeneutischen Begriff der Transdifferenz sollen ebenfalls neue Perspektiven jenseits konfliktorientierter Denkweisen eröffnet werden.6 Dieser Begriff bedient sich der »Rhizom-Metapher« der französischen Philosophen Gille Deleuze und Félix Guattari (Deleuze/Guattari 1992: 16). Das Bild des Wurzelgeflechts steht hier für die sinnbildliche Darstellung einer kulturellen Vielfalt ohne Zentrum, die die subversive Kraft der globalen Pluralisierungsprozesse zum Ausdruck bringt. Transdifferenz ist damit ein weiterer alternativer bzw. komplementärer Ansatz zu Interkulturalität, der eine zeitgemäße Erfassung multiperspektivischer Kultur- und Identitätskonzepte unternimmt. Helm6 | Das Graduiertenkolleg hat mehrere Sammelbände u.a. Allolio-Näcke/Kalscheuer/ Manzeschke (2005) herausgegeben. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den Beitrag von Klaus Lösch (2005) in diesem Band. Jenseits und diesseits der Grenzen brecht Breinig und Klaus Lösch versuchen mit dem analytischen Konzept und der Denkfigur der Transdifferenz eine neue Sichtweise »für die Beschreibung und Analyse der komplexen Konstruktions- und Dekonstruktionsprozesse von kultureller Identität und Alterität« zu ermöglichen (Lösch 2005: 22). Mit der Vorsilbe trans – im Anschluss an die Bedeutung »quer hindurch« – soll der Differenz-Begriff in diesem Ansatz etwas gleichsam sich Auflehnendes, »Widerspenstiges« gegen die Einordnung in die Polarität binärer Differenzen einbringen. Genauer gesagt, soll nach Lösch Transdifferenz hierbei verstanden werden als »Keim des Widerstandes« gegen strikte Schemata von Inklusion und Exklusion und gegen soziale Normierungsversuche (ebd.: 27, 36). Mit Transdifferenz soll »durch gezogene Grenzlinien quer hindurchgegangen werden und ursprünglich eingeschriebene Differenzen« in Bewegung gebracht werden. Grenzen werden dadurch bildlich gesprochen »ausgefranst« bzw. durchlässiger (ebd.: 23). Der »gewalttätige Charakter der binären Logik, auf der symbolische Ordnungen, Sprache und Identitäten gleichermaßen basieren«, soll nach Lösch damit aufgedeckt und in seiner »Gültigkeit temporär suspendiert werden, ohne dass sie damit endgültig dekonstruiert werden« (ebd.). Somit »zielt der Begriff Transdifferenz auf die Untersuchung von Momenten der Ungewissheit, der Unentscheidbarkeit und des Widerspruchs, die in Differenzkonstruktionen auf der Basis binärer Ordnungslogik ausgeblendet werden« (ebd.), und in Zonen der Überlappung und Überlagerung Phänomene der kulturellen Interferenz offenlegen. Das Transdifferenzierungskonzept will sich von benachbarten Konzepten wie Transkulturalität und Hybridität abgrenzen, denen es eine eurozentrische und politisch orientierte Perspektive zuweist (vgl. ebd.: 40). Im Begriff der Transdifferenz werden die Konjunktionen und/oder miteinander in Beziehung gesetzt. In Momenten der Ungewissheit soll unter Beibehaltung der Differenz Raum für neue Potenziale von Identitätskonstruktion ermöglicht werden. Damit »verschiebt sich die Identität zu einem Interferenzphänomen« (ebd.: 40) und fungiert gegen sozialen Normierungsdruck und eindeutige Identifikationsforderungen (ebd.: 36). Das Konzept der Transdifferenz bedeutet also keine Aufhebung der Differenz oder eine »höhere Synthese«, sondern Differenz bleibt als Referenzpunkt in kulturellen Kontaktzonen erhalten. Die Begriffe des Eigenen und des Fremden (bzw. des Selbst und des Anderen) geraten in den genannten Zonen der Unbestimmtheit in eine Wechselwirkung miteinander und »verlieren dadurch ihre Trennschärfe, d.h. dort entfaltet sich Transdifferenz« (ebd.: 30). Lösch beschreibt schließlich mit dem Begriff der Transdifferenz ein dynamisches Konzept, das kulturelle Kontaktzonen als Räume permanenter Verschiebungen und Neuverknüpfungen identitärer Zuordnungsansprüche ansieht. Damit reiht sich sein Ansatz in die postmoderne Pluralitätsvorstellung von Realität und Kultur ein. Vor diesem Hintergrund scheint das Konzept der 165 166 Müzeyyen Ege transdifferenten Verschränkungen von kulturellen und identitären Kategorien geeignet, transnationale Filme aus dieser differenztheoretischen Sichtweise zu betrachten. Im Folgenden sollen solche Verschränkungen in den Filmen »Auf der anderen Seite« und »Almanya – Willkommen in Deutschland« sowohl in Raum und Zeit als auch in den generationsübergreifenden Verhandlungen und Verortungen nationaler und kultureller Identitätskonzepte auf filmästhetischer und inhaltlicher Ebene herausgestellt werden. II. I DENTITÄTEN IN B E WEGUNG . R EISE UND TOD ALS Ü BERGANGSR ÄUME IM F ILM »A UF DER ANDEREN S EITE « VON F ATIH A KIN »Es sind nicht nur Filmgesichter, die die Menschen zwischen den Ländern zuerst austauschen, sondern auch die Toten.« (Ö ZDAMAR 2003: 177) Auf die Frage, was ihn hauptsächlich zu dem Film »Auf der anderen Seite« motiviert habe, antwortet Fatih Akın in einem Interview: »Es geht um Bewegung, das war eines der ersten Worte, die ich mir notiert habe, Bewegung und Weite« (Kilb/Körte 2007: 2). Im Film geht es hierbei nicht allein um die topografische Mobilität der Figuren, die zwischen den Länderkoordinaten Deutschland und der Türkei nationale, aber auch kulturelle Grenzen überschreiten, sondern es ist vor allem der Tod als radikaler Bruch, der im Film über jedwede nationale, kulturelle und identitäre Zuschreibung hinweg die Ebenen existenzieller Erfahrungen öffnet. Der Film »Auf der anderen Seite« (2007) bildet den zweiten Teil von Akıns »Liebe, Tod und Teufel«-Trilogie, deren erster Teil »Gegen die Wand« (2004) in die Kinos kam, und die mit dem 2014 erschienen Film »The Cut« ihren Abschluss fand. Der Regisseur und Drehbuchautor beschreibt im Zusammenhang mit seinem Film den Tod als eine Art Tür, »ein[en] Übergang, Bewegung, das Dazwischen« (cineworx 2007: 4). Tatsächlich changiert der Film mit den nicht-linearen raumzeitlichen Verschränkungen der Lebenslinien seiner sechs Figuren zwischen Bewegung und Stillstand. Der Tod fungiert hier als Strukturelement für die Dreiteilung des Films (»Yeters Tod«, »Lottes Tod« »Auf der Anderen Seite«) und dient zudem als Katalysator für sich verändernde Dynamiken von psychischen und identitären Befindlichkeiten sowie zwischenmenschlichen Beziehungen der handelnden Personen. Auch Kategorien von türkisch und deutsch oder türkisch-deutsch sind in Bewegung und kommen eher mit ihren Binnendifferenzierungen in den Figuren zum Ausdruck. Jenseits und diesseits der Grenzen Zu den Protagonisten gehören der in Hamburg zurückgezogen lebende türkischstämmige Germanistikprofessor Nejat und sein verwitweter Vater Ali in Bremen. Ali, Migrant erster Generation, geht eine Beziehung mit der türkischstämmigen Yeter ein, ebenfalls Migrantin erster Generation, die sich prostituiert, um für das Studium ihrer Tochter Ayten aufzukommen. Ayten ist Soziologie-Studentin und politische Linksaktivistin, die vor der Polizei in Istanbul unter dem Decknamen Gül nach Hamburg flieht. Dort macht sie sich auf die vergebliche Suche nach ihrer Mutter, lernt die deutsche Lotte kennen, die ihr Unterschlupf anbietet und in die sie sich verliebt. Als Lotte ihrer Freundin Ayten nach deren Abschiebung in die Türkei folgt, wird sie am Ende einer Verfolgungsjagd von Klebstoff schnüffelnden Straßenkindern in Istanbul erschossen. Lottes Mutter Susanne, eine im bürgerlichen Leben angekommene Alt-68erin, folgt in ihrer Trauerarbeit den Spuren ihrer Tochter in Istanbul, lernt Nejat kennen und kümmert sich um Ayten. Yeter und Lotte überschreiten nicht nur metaphorisch nationale und kulturelle Schwellen, sondern mit ihrem Tod als Übergang auch die Schwelle auf die andere Seite, ins Jenseits. Ali, der im Rausch handgreiflich wird und Yeters Tod verursacht, sowie Ayten, die Lottes Hilfeangebote für ihr politisches Netzwerk nutzt und somit eine Kette von unglücklichen Umständen in Gang setzt, die Lottes Tod zur Folge haben, laden unbeabsichtigt Schuld auf sich. Existenzielle Erfahrungen wie Schuld und Sühne, Reue und Vergebung, letztendlich Empathie und Engagement prägen die Dynamik des Beziehungsgeflechts zwischen den Figuren. Es entsteht ein bewegliches Netzwerk, das über nationale und kulturelle, aber auch biologisch bestimmte Grenzen und Zugehörigkeiten hinausgeht. Die vielschichtigen Erzählstränge in den ersten beiden Teilen des Films kommen mit ihren teilweise offenen Enden, aber auch mit den sich überkreuzenden und verschränkenden Vernetzungen im dritten Teil (»Auf der anderen Seite«) des Films zusammen, sodass der Zuschauer trotz der Unbestimmtheiten eine Art Kohärenz zwischen den sich überlappenden Zeitebenen, Orten und Lebenslinien herstellen kann. Zahlreiche Überkreuzungen schaffen transdifferente Situationen, in denen ein Wechselspiel von assoziierten (vermeintlichen) Ähnlichkeiten und Differenzen über nationale und kulturelle Zuschreibungen hinweg stattfindet und unterlaufen wird, wie an den folgenden beiden Beispielen zu sehen ist. Die Türkisch-Deutsche Buchhandlung Istanbul Nach dem Tod Yeters fährt Nejat nach Istanbul zur ihrer Beerdigung und macht sich auf die Suche nach ihrer Tochter Ayten, um ihr das Studium zu finanzieren, zumindest ist das der Grund, den er auf einer türkischen Polizeistation angibt. 167 168 Müzeyyen Ege Während seiner Suche in den Straßen Istanbuls, bei der Nejat Suchanzeigen mit Yeters Foto an Wände klebt, sieht er eine türkisch-deutsche Buchhandlung, die zum Verkauf steht. Als er mit dem Eigentümer Markus Obermüller ins Gespräch kommt, zeigt dieser offen seine Faszination angesichts der Überkreuzung ihrer Situation und Befindlichkeiten. Nach eigener Aussage als Deutscher in der Türkei nun von Heimweh nach dem Herkunftsland und der Sprache gepackt, sieht er in Nejats Situation eine Art spiegelbildliche Entsprechung: »Das wäre ja lustig. Ein türkischer Germanistikprofessor, der in einer deutschen Buchhandlung in der Türkei landet. Das passt doch!«- »Ja, vielleicht«, erwidert Nejat (35:22-35:40)7. Beide Figuren finden sich in derselben Nische, dem transitorischen Raum einer türkisch-deutschen Buchhandlung wieder. Aufgewachsen und (teil-)sozialisiert in Deutschland, ist Nejats ›Neuverortung‹ in der Türkei jedoch keine ›Rückkehr in die Heimat‹, wie die von Markus Obermüller gewünschte, vielmehr erscheint sie als eine Entdeckungsreise und ein Neubeginn, zugleich auch eine Rückverfolgung der Spuren seines Vaters Ali in das heimatliche Trabzon am Schwarzen Meer (vgl. Esen 2009: 236). Interreligiöse Verschränkungen: Die Opfergabe Ibrahims/Abrahams In einer weiteren Szene findet eine Verschränkung auf interreligiöser Ebene statt, die von den Vater/Sohn (Nejat/Ali)- und Mutter/Tochter (Susanne/Lotte)Paarungen geprägt ist. Susanne folgt den Spuren ihrer verstorbenen Tochter Lotte nach Istanbul und sucht dabei Personen und Orte auf, die mit ihrer Tochter in Verbindung standen. So trifft sie Nejat, bei dem sie sich später in das ehemalige Zimmer von Lotte einmietet und besucht Ayten, derer sie sich im Andenken an Lotte annimmt. Beide Begegnungen finden in Räumen transitorischen Charakters statt: einem Hotel (Nejat) und einem Gefängnis (Ayten). Vom Balkon ihres Hotelzimmers aus beobachtet Susanne türkische Männer auf ihrem Gebetsgang in die Moschee. Auf ihre Frage nach dem Anlass erklärt ihr Nejat die Bedeutung des religiösen Opferfestes aus muslimischer Sicht: Es ist die Geschichte von Ibrahim, der auf Gottes Forderung hin bereit ist, seinen Sohn zu opfern, stattdessen am Ende jedoch ein Schaf als Ersatz opfern darf. Die offensichtliche Parallele zur biblischen Geschichte Abrahams erstaunt Susanne. Die Vater/Sohn-Beziehung in Verbindung mit dem religiös motivierten Opfertod erinnert Nejat an ein Gespräch als Kind mit seinem Vater, in dem der Vater ihm die Furcht vor dieser Geschichte nimmt als er dem Sohn absoluten Schutz vor der denkbar höchsten, der göttlichen Autorität zu7 | Referenzen zu den Filmen werden nachfolgend als Minuten- und Sekundenangabe zitiert. Jenseits und diesseits der Grenzen sichert (vgl. 1:40-1:41:11). Das Geborgenheitsgefühl bzw. Vertrauen von Nejat in der Vater/Sohn-Beziehung restauriert sich hier durch den Abruf dieser Erinnerung im Gespräch mit Lottes Mutter. Er überwindet offensichtlich den inneren Bruch mit seinem Vater, denn spontan macht er sich auf den Weg in die heimatliche Schwarzmeerregion. In der folgenden und damit letzten Szene des Films sehen wir die sich an verschiedenen Stellen wiederholende Rahmenhandlung des Films: Nejats Fahrt in seinem Wagen auf der türkischen Landstraße, umgeben von einer offenen und lichten Landschaft. Diesmal führt ihn seine Reise jedoch durch Trabzon hindurch und endet an der Küste des Schwarzen Meeres, wo er in der Schlusssequenz am Ufer steht und zum Horizont blickt. Mit dem Tod als Dreh- und Angelpunkt in diesem Werk bezeichnet Fatih Akın »Auf der anderen Seite« als seinen bisher »spirituellsten Film« (Kilb/ Körte 2007: 5). Der Tod greift an mehreren Stellen des Films stark in die Dramaturgie ein, eröffnet einen Möglichkeitsraum neuer Verknüpfungen und Verschiebungen. Alte Bindungen werden dadurch aufgelöst, Bewegung geschaffen, die zu Selbstreflexion führt und damit variierende Konstellationen von Orten, Figuren und menschlichen Befindlichkeiten erfahrbar macht. In diesem Sinne kann der Film auch als »lichtes Requiem« gesehen werden, »ein Requiem, das nach vorne weist und voller kleiner Utopien steckt« (Nicodemus 2007: 3), sowie voller zirkulärer Neubeginne, in denen Heimat und Identität immer wieder von den Personen selbst neu verhandelt und konfiguriert werden. III. »A LMANYA – W ILLKOMMEN IN D EUTSCHL AND «: TR ANSNATIONALE M IGR ATIONSBE WEGUNGEN »Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.« (M AX F RISCH 1965) 8 In einem Interview äußert sich die Regisseurin Yasemin Şamdereli zur Entstehungsidee ihres Films, dessen Drehbuch sie zusammen mit ihrer Schwester Nesrin Şamdereli geschrieben hatte, folgendermaßen: 8 | Das Zitat stammt aus einem Text, den Max Frisch 1965 als Vorwort zu »Siamo Italiani« schrieb, einem Gespräch mit italienischen Gastarbeitern, das Alexander J. Seiler aufgenommen hatte und auch verfilmte. Die Regisseurin Yasemin Ş amdereli verwendet dieses Zitat auch als einleitendes Motto ihres Films »Almanya − Willkommen in Deutschland«. 169 170 Müzeyyen Ege »Wir wollten einen Film machen, wie er uns gefällt und der der Gruppe entspricht, die wir darstellen. Wir hatten immer das Gefühl, dass über diese Gruppe von Leuten, die das alles gut hinbekommen haben und keine großen Dramen durchleiden mussten, niemand spricht.« (vgl. Rettig 2011: 4) Nach einer längeren mit Finanzierungsproblemen belasteten Anlaufphase lief der Film der Regisseurin Yasemin Şamdereli erstmals im März 2011 in den deutschen Kinos. Er wurde von der deutschen Presse und Kritik begeistert aufgenommen und bekam verschiedene Auszeichnungen.9 Als politische »Einwandererkomödie« und »fröhlich bewegtes Integrationsmärchen« (Krekeler 2011) bezeichnet, wird der Kinofilm als überzeugende und »leichtfüßige« Antwort auf die durch die Thesen Thilo Sarrazins konfliktbelastete Integrationsdebatte gefeiert (Martenstein 2011). Auf zwei Zeitebenen wird zum einen die Geschichte der türkischstämmigen Großfamilie Yilmaz über drei Generationen hinweg erzählt, die auf einer vom Großvater Hüseyin initiierten gemeinsamen Urlaubsreise in die Türkei zusammenfinden. Zum anderen wird in Rückblenden die Erinnerung an den Anfang der Liebes- und Lebensgeschichte von Hüseyin und Fatma, der ersten Migrationsgeneration der Familie, von ihrem Dorf in Anatolien bis in das gegenwärtige Deutschland nachgezeichnet. Das Oszillieren zwischen den kulturellen, geografischen und zeitlichen Räumen wird filmästhetisch durch mehrere über den Film verteilte Rückblenden und Bildmontagen wirkungsvoll eingesetzt. Dabei thematisiert und hinterfragt der Film auf verschiedensten Ebenen kategoriale Zuordnungen und Identitätszuschreibungen, spielt mit klischeehaften Vorstellungen und unterläuft auf humorvolle Weise stereotype Bilder und Vorurteile auf beiden Seiten, von Deutschen und Türken. Anhand einiger ausgewählter Szenen soll hier kurz aufgezeigt werden, wie der Film Exklusionsstrategien durch die ›andere‹ Gesellschaft offenlegt, aber auch die Furcht vor gänzlicher kultureller Vereinnahmung durch ›die Anderen‹ bei der ersten Generation parodierend und mit großzügigem Irritationspotenzial zum Ausdruck kommt. Die Frage nach der Identität: »Was sind wir denn nun?« Der Film spielt, so kann man hier ganz im Zeichen der Transdifferenz deuten, mit Momenten der Unbestimmtheit und Ungewissheit, die die Durchlässigkeit kultureller und nationaler Grenzen unterstreichen. So wird die Frage nach der kollektiven kulturellen Identität gleich zu Beginn mit der Frage des sechsjährigen Cenk in das Zentrum der Handlung und der Aufmerksamkeit gerückt. Kurz nach der Einbürgerung seiner Großeltern, die jedoch an dem9 | Beim Deutschen Filmpreis 2011 etwa erhielt der Film die Auszeichnung für den besten Film und einen weiteren Preis für das beste Drehbuch. Jenseits und diesseits der Grenzen selben Abend eine gemeinsame Reise in das heimatliche Dorf in Anatolien ankündigen, fragt der irritierte Cenk in die Familienrunde hinein: »Was sind wir denn nun? Türken oder Deutsche?« (10:50-12:40). Cenk ist der jüngste Vertreter der dritten Generation in der Familie Yılmaz. Er hat einen türkischen Vater und eine deutsche Mutter, sieht südländisch aus, spricht kein Türkisch, dafür aber perfekt Deutsch und doch oder gerade deshalb will kein Schulteam ihn beim Fußballspiel – Deutsche gegen Türken – in seiner Mannschaft haben. Seine Mitschüler, und auch er selbst, scheinen ihn nicht in diese binäre Aufteilung einordnen zu können. Dementsprechend offen lautet auf Cenks Frage die Antwort seiner älteren Cousine Canan, einer 22-jährigen Studentin, die selbst zur dritten Generation gehört: »Wir können beides sein« (ebd.). Nicht allein die zentrale Frage Cenks, die eine zweite narrative Ebene einleitet, auf der Canan, in Rückblenden die Familiengeschichte erzählt, sondern vor allem die Antwort auf Cenks Frage ist es, die die Achse des Films ausmacht. Somit wird vor allem die dritte Generation bezüglich ihrer national und geografisch zugeschriebenen identitären Verortungen jenseits von Dichotomisierung und damit in einem Möglichkeitsraum positioniert, in dem Identitäten und Räume nicht durch ein ›Entweder-oder‹, sondern ein ›Sowohl-alsauch‹ bestimmt sind. Die Europakarte Die unbestimmte, auszuhandelnde Verortung und die damit in Bewegung geratene Zugehörigkeitsbeschreibung wird an einer anderen Szene gleich zu Beginn des Filmes ebenfalls deutlich: In der Schule fordert Cenks Klassenlehrerin die neu eingeschulten Kinder der Klasse auf, ihre »Herkunftsorte« auf einer Landkarte zu benennen und mit einem Magneten den Klassenraum somit kartografisch abzustecken. Da es sich hierbei um eine Europakarte handelt, die geografisch nur bis Istanbul reicht, positioniert sich Cenk mit seinem Magneten gezwungenermaßen in einem leeren Raum außerhalb der Karte. Die Lehrerin stellt mit der kartografischen Markierung von Herkunft ungewollt einen Ausschlussprozess offen, der Cenk als nicht zugehörig, weil auf der vorhandenen offiziellen Karte nicht konkret lokalisierbar und dadurch in vorgegebenen Kategorien auch nicht identifizierbar macht.10 Er scheint damit ins 10 | An dieser Stelle kann man sich die Frage stellen, inwiefern die Geste der Aufforderung der Lehrerin zur kartografischen Markierung hier als Darstellung eines (gescheiterten) didaktischen Konzeptes einer multikulturellen Gesellschaft zum Tragen kommt. Diese wird zwar als gut gemeint vermittelt, bedeutet aber in letzter Konsequenz eine Fortschreibung kulturessenzialistischer Differenzierungsstrategien durch eine »Überbetonung von Ethnie und Herkunft als Instrument der Abgrenzung und Hervorhebung der Andersartigkeit von Migranten« (Çil 2011: 198). 171 172 Müzeyyen Ege unbestimmte und für den eurozentrischen Blick unsichtbare und unbenannte ›Irgendwo‹ bzw. ›Nirgendwo‹ zu gehören. Folglich muss sich das Kind ausgeschlossen und verloren fühlen, wie die Nahaufnahme des Gesichts von Cenk dem Zuschauer auch suggeriert (vgl. 04:50-05:28). Statt eines erhobenen Zeigefingers setzt der Film jedoch auf einen emanzipatorischen Gestus und lässt seine Figuren selbstbestimmt auftreten. So bringt Cenk gegen Ende des Films nach dem Familienurlaub eine Türkei-Karte in die Schule mit, die die Lehrerin neben die Europakarte an die Wand heftet, womit nun das heimatliche Dorf von Cenks Großeltern in Anatolien sichtbar kenntlich gemacht werden kann. Durch seine Initiative trägt Cenk dazu bei, den »kulturellen Raum« geografisch und kognitiv im Klassenraum zu erweitern. Cenks Intervention ermutigt auch einen weiteren türkischstämmigen Mitschüler, der zwar anfangs vorgab, aus Istanbul zu kommen, nun jedoch mit neuem Selbstbewusstsein den wirklichen Herkunftsort seiner Familie in Anatolien benennt und markiert. Auf dem Einwohnermeldeamt Um die Angst vor dem Verlust der ursprünglichen Identität durch einen total vereinnahmenden Assimilierungsprozess hingegen geht es in dem Filmkapitel »Auf dem Einwohnermeldeamt«, das mit humorvoll überzogenen, stereotypisierten Bildern gezeichnet wird. Am Abend vor der beantragten offiziellen Einbürgerung durchlebt Hüseyin in zu einem Albtraum kompilierten Bildern eine grotesk überzogene Bürokratie auf dem Einwohnermeldeamt. Mit einem alle Maße übersteigenden Stempelaufwand und bitterer Ernsthaftigkeit fordert der im Albtraum erscheinende deutsche Sachbearbeiter von dem frischgebackenen ›neudeutschen‹ Paar Hüseyin und Fatma bei der Aushändigung der Dokumente eine radikale Anpassung und Übernahme deutlich karikierter ›typisch-deutscher‹ Lebensweisen: etwa in der Urlaubsplanung (alle zwei Jahre Ferien auf Mallorca) oder beim Essen (Eisbein, Sauerkraut und Klöße). Selbst seine Ehefrau Fatma erscheint an Hüseyins Seite plötzlich deutsch anverwandelt in einem Dirndl (vgl. 06:00-07:31). Seine durch den Einbürgerungsvorgang ausgelöste persönliche Krise scheint das Familienoberhaupt Hüseyin als Repräsentant der ersten Migrationsgeneration offensichtlich dadurch bewältigen zu wollen, dass er eine familiäre Neubindung zur ursprünglichen Heimat Türkei herstellt: Er kauft heimlich ein Stück Land und ein Haus in seinem Heimatdorf, womit er eine Reise der ganzen Familie zu den heimatlichen Wurzeln veranlasst. Auf diese Jenseits und diesseits der Grenzen Weise stellt er sich der Enteignung, der Auflösung seines identitären Selbstbildes entgegen.11 Die Familienreise in das heimatliche Dorf von Hüseyin und Fatma erfährt einen Bruch durch den Tod Hüseyins, der auf der Autofahrt von allen unbemerkt entschläft. Hüseyins unerwarteter Tod führt für die Familienmitglieder zu einer paradoxen, wenn nicht gar grotesken Situation, da dem verstorbenen Hüseyin von den türkischen Behörden eine Beerdigung auf dem Friedhof seines heimatlichen Dorfes aufgrund seiner deutschen Einbürgerung verwehrt wird. Das Problem wird umgangen, indem die Familie beschließt, Hüseyins Leichnam auf seinem neu gekauften Grundstück heimlich zu begraben. Neben inter- und intrakulturellen Begegnungen und Auseinandersetzungen mit national-ethnischen Identitätsvorstellungen werden im Film Generationskonflikte und Geschlechterrollen vielseitig behandelt und über starre Kategorisierungen hinausgetragen, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. So ist es gerade der Patriarch Hüseyin, der Toleranz und Akzeptanz gegenüber seiner Enkelin Canan zeigt, die von ihrem britischen Freund ein uneheliches Kind erwartet und ihrem Großvater diesen Umstand auf ihrer Familienreise eröffnet. Auch seiner Tochter Leyla, deren Faszination für die Pünktlichkeit deutscher Müllmänner in ihrer Kindheit einst den Wunsch erweckte, selbst Müllmann bzw. ›Müllfrau‹ zu werden, was bei ihrem Bruder wegen ihres Geschlechts auf Ablehnung stieß, begegnet als Erwachsene dann nicht in Deutschland, sondern ausgerechnet auf ihrer Türkeireise ›Müllfrauen‹, die einen solchen ›Männerberuf‹ ausübten (vgl. 49:16-49:42). Neben Themen wie deutsch-türkischen kulturellen Begegnungen und der Hinterfragung von festgeschriebenen nationalen Identitätskonzepten wird die Familiengeschichte mit all den universellen Themen wie Liebe und Tod, Generationskonflikten und Familienstreitigkeiten erzählt. Dies enthebt diesen Film einer Polarisierung, wie sie in einer Reihe anderer interkultureller Filme zu beobachten ist. IV. B E WEGTE UND BE WEGENDE B ILDER DES M ANNIGFALTIGEN Während die Schwestern Şamdereli in »Almanya – Willkommen in Deutschland« teilweise in phantastisch-märchenhafter Erzählsprache, vermischt mit dokumentarischem Archivmaterial die Migrationsthematik in ihrer Polarität – »Unintegriertheit« versus »Assimilation«, Aneignungs- und Enteignungsstrategien – mit eindrucksvollen Szenen und humorvoller Sprache immer wieder unterlaufen und auflösen, werden in Fatih Akıns »Auf der anderen Seite« 11 | Nach dem britischen Kulturwissenschaftler und Soziologen Stuart Hall wird erst im Moment der Krise die Identität zum Problem (vgl. Hall 1994: 181). Das entspricht hier der Erfahrung der Figur Hüseyins in Ş amderelis Film. 173 174 Müzeyyen Ege Themen wie Kulturkonflikt oder Kulturdialog im migratorischen Kontext vermieden. In dem ausschließlich diesem Film von Fatih Akın gewidmeten wissenschaftlichen Band »Kultur als Ereignis« (Ezli 2010) bringt der Kulturwissenschaftler Özkan Ezli seine Kritik an Repräsentationsverfahren von Kultur und Identität vor, die binäre Oppositionen schaffen. Er plädiert für eine Vorstellung von Kultur, die von einer »Unbestimmtheit getragen« wird, wie er sie in Fatih Akıns Film »Auf der anderen Seite« umgesetzt sieht. In Anlehnung an Michel Foucaults Begriff der Evenementalisierung (frz.: événementalisation – ›ZumEreignis-Machen‹) wird hier Kultur als ein Ereignis gesehen, das mit linearkausalen Narrationen bricht (ebd.: 9). Mit der »Vervielfältigung der Oberflächen« tritt der Film in einen Möglichkeitsraum der Mannigfaltigkeit ein, »der die Phänomene Nation, Kultur, Lokalität und Globalität aus Lebensgeschichten speisend in neue Verhältnisse jenseits einer Entweder-oder-Logik von Integration und Desintegration setzt« (ebd.). Wiederholte Blickrichtungswechsel und kulturelle Grenzüberschreitungen rücken beide Filme in das diskursive Feld neuerer pluralisierender Ansätze, wie das beschriebene Konzept der Transdifferenz, das sich gegen dichotome Kategorisierung wendet und Mehrfachzugehörigkeit als Produkt des Nebenund Ineinander übergreifender Kollektiv- und Teilidentitäten betrachtet. Fatih Akın und Yasemin Şamdereli lassen in Gesamtidee und Szenarien ihrer Filme die von pluralistisch orientierten Konzepten eingeforderte Leichtigkeit des Miteinanders und die Dynamik gegenseitiger Aneignungsprozesse aufleben. In Zonen der Unbestimmtheit und Ungewissheit finden Überlappungen, Überkreuzungen und Verschränkungen nicht nur auf der Raum- und Zeitebene, sondern in der Dynamik der Figurenkonstellationen statt, in denen vor allem existenzielle Themen wie Tod und Liebe, Verlusterfahrung, Vergebung und Empathie im Vordergrund stehen. In den beiden hier untersuchten Filmen ist erkennbar, wie hierarchische und dichotomische Strukturen von Kultur- und Identitätsbildern durch die Filmästhetik, durch inhaltliche Auf bereitung und Umsetzung aufgebrochen und in symmetrische Strukturen ohne Zentrum überführt werden. Diese bestehen nicht nur in einer Desynchronisierung von Zeit und mehrfachen Verschränkung von Lokalitäten auf der Erzählebene, sondern auch in der Konzeption offener dynamischer Identitäten, die in nicht-linearen zirkulären Bewegungen Neuverknüpfungen und -konstellationen eingehen, ohne gleichzeitig ihre Differenzen aufgeben zu müssen, die sie immer wieder neu verorten und verhandeln können. Die Freiheit zur permanenten Ausverhandlung eigener Differenzen jenseits einer Entweder-oder-Struktur, aber auch die selbstbestimmte Neuschreibung der Migrationserfahrung der vorhergehenden Generationen sowie die eigene Neupositionierung kann hier in Verbindung mit den Strategien des Empower- Jenseits und diesseits der Grenzen ment-Konzeptes12 gesehen werden, das ein humanistisches Menschenbild zur Grundlage hat und asymmetrische gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse in Frage stellt. Die Bemächtigung des eigenen Potenzials und Selbstbestimmungsrechts korreliert hier mit dem Konzept der Transdifferenz, das als »Keim des Widerstandes« (Lösch 2005: 36) gegen strikte Schemata von Inklusion und Exklusion und gegen soziale Normierungsversuche angeht. Auf diese Weise sind transnational orientierte Filme im deutsch-türkischen Kino zugleich postmigrantische Erzählungen, die in kreativen Momenten der Unbestimmtheit und Ungewissheit individuelle Neuverortungen innerhalb des gesellschaftlichen Kontextes schaffen und damit einen emanzipatorischen Gestus zum Ausdruck bringen. L ITER ATUR Akın, Fatih 2007: Auf der anderen Seite, ca. 116 Min., Drehbuch: Fatih Akın, DVD (Deutschland). Alkın, Ömer (Hg.) 2017: Deutsch-Türkische Filmkultur im Migrationskontext. Wiesbaden. Aksoy, Asu 2005: Reality: Check, Vertigo, Volume 2, Issue 8, Interview, https:// www.closeupfilmcentre.com/vertigo_magazine/volume-2-issue-8-springsummer-2005/reality-check/ (abgerufen am 18.08.2017). Bhaba, Homi 2000: Die Verortung der Kultur. Tübingen. Blumenrath, Hendrick/Bodenburg, Julia/Hillman, Roger/Wagner-Egelhaaf, Martina (Hg.) 2007: Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und Film. Münster. Cineworx 2007: Auf der anderen Seite. 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